1. Das Gesicht
2. Das schwarze Monstrum
3. Brief aus dem Jenseits
4. Briefe
Erfurt im Herbst des Jahres 1991.
Es war am Totensonntag. Es war an einem jener düsteren Novembertage, zu welchen die Menschen ihrer verstorbenen Angehörigen gedenken. Herbert Schmalstieg tat genau das auch an diesem Morgen. Er erinnerte sich an seine schöne Frau, die vor knapp elf Jahren leidvoll an Krebs verstarb. Er tastete sich durch seine geräumige Vierraumwohnung, um in die Küche zu gelangen. Mit geübten Griffen füllte er die Kaffeemaschine und schnitt sich dann mit dem langen Messer drei Scheiben Brot ab. Auch die restliche Arbeit war für ihn längst zur Routine geworden und in wenigen Minuten war der Frühstückstisch gedeckt. Seine völlige Erblindung setzte ihm immer noch gehörig zu. Jedoch hatte er es während der vergangenen drei Jahre erlernen müssen, auch ohne Augenlicht durchs Leben zu kommen. Es bewegte ihn an diesem kühlen Sonntagmorgen, dass er fast auf den Tag genau vor eben drei Jahren die Diagnose erhielt, - unheilbar erblindet. - Aufgrund seiner starken Diabetes. Sein schönes Wohnhaus in Erfurt-Marbach hatte er daraufhin verkaufen müssen. Denn es war aussichtslos, für einen stockblinden Mann wie ihm, sich allein darin zurecht zu finden. Oder möglichweise gar alle Räume des Hauses sauber halten zu können. Hier in der Warschauer Straße fand er schließlich eine Erdgeschosswohnung, die seinen Bedürfnissen ideal entsprach. Sogar einen kleinen Schrebergarten konnte er ganz in der Nähe übernehmen; Was eigentlich für einen Blinden ein Unding war. Jedoch fanden die Gartennachbarn Herberts Parzelle recht ansehnlich und ordentlich. Und genau das war ihm äußerst wichtig. Er schlürfte laut an der Kaffeetasse und dachte an seinen, gegen Anfang Dezember wiederkehrenden Geburtstag. Sein einundsechzigster Geburtstag mittlerweile. Den Gedanken daran, wie viele Geburtstage wohl noch kommen mögen, verdrängte er hastig. Aus dem Radio erklang die bekannte Stimme des Sprechers, der stets um diese Tageszeit das Programm des Ortssenders moderierte. Ein flüchtiger Sträfling bewege sich in oder um Erfurt. Und die Polizei rufe alle Bürger dazu auf, verstärkte Wachsamkeit zu üben. Es wären schon verrückte Zeiten, meinte Herbert für sich und trank seinen Kaffee aus. Bis zum Mittag wollte er es noch schaffen, im Garten das Regenwasserfass zu leeren und selbiges in der Laube unterzustellen.
Der Weg zum Garten führte Herbert über einen großen Spielplatz und am Rande eines Kleefeldes entlang. Sicheren Schrittes gelangte er bei seinem „Kleinod“ an, wie er seinen Garten oft nannte. Und zu allererst prüfte seine rechte Hand, ob sich seit seinem letzten Besuch hier jemand am Riegel der eisernen, kleinen Tür zu schaffen gemacht habe. Aber soweit er es einschätzte, war alles in Ordnung. Zielsicher ging er auf dem schmalen Rasenweg hinter die Laube und ertastete sich den Plastikeimer, der da wie immer am Wandhaken hing. Das Regenwasserfass war bis zum Rand gefüllt und es würde wohl eine Zeit lang dauern, bis es völlig leer wäre.
Nur langsam ging dann das Wasserschöpfen voran und nach dem zehnten Eimer legte Herbert eine Verschnaufpause ein. Diese Zeit wollte er nutzen, um an seiner Laube zu überprüfen, ob denn draußen und drinnen alles in Ordnung war. So tastete er sich an der Wand entlang nach vorn und gelangte in den Vorbau. Seine Hände suchten das kleine Vorhängeschloss und fanden es geöffnete vor. Ein Schreck durchzuckte seinen Körper. Was wäre, wenn sich der geflohene Sträfling hier aufhielt? Verwirrt trat Herbert ins Freie und ging wieder an der Wand entlang zum Wasserfass. Da traf ihn von hinten ein fürchterlicher Schlag auf die Schulter und er schrie vor Schmerzen laut auf. Ein weiterer wuchtiger Schlag traf ihn genau auf den Kopf.
Im Jahr 1995.
Eva arbeitet bis 1990 in der Rheinmetall Sömmerda, bevor der Betrieb schloss. In Sömmerda wollte sie noch so lange wohnen bleiben, bis ihr Sohn Anton einigermaßen selbständig durchs Leben kam. Und im Frühjahr 95 schien es ihr angebracht, nach Erfurt zu übersiedeln. Anton war gerade 18 geworden und wohnte mittlerweile bei Evas geschiedenen Mann, seinem Vater. In Erfurt fand sich dann relativ schnell eine geräumige Wohnung und sie zog mit Sack und Pack dorthin. Genauer gesagt, in eine Erdgeschosswohnung eines Wohnblockes in der Warschauer Straße. Nach einigem Suchen fand sie auch ganz in der Nähe eine seit Jahren ungenutzte Kleingartenparzelle, mit gut erhaltener Laube und all den dazugehörigen Dingen. Eva war auf ihre Art glücklich mit ihrem neuen Leben, wenngleich ihr die ewigen Geldsorgen mitunter ordentlich auf die Nerven gingen.
Über eine längere Zeit hinweg war die Welt für Eva also soweit ganz in Ordnung. Dies hielt auch so lange an, bis sie am frühen Morgen des Totensonntages 1995 in ihrer Küche etwas äußerst Sonderbares wahrnahm. Mitten in dem kleinen Raum stieß sie auf eine Stelle, an der es eiskalt war. Sie als rational denkender Mensch nahm das nicht allzu tragisch und sagte sich, dass das wohl bald wieder von allein verschwände. Doch das tat es nicht und einige Tage später befühlte Eva diese eiskalte Stelle mit beiden Händen und fand dabei heraus, dass sich die Kälte in Form einer breiten Säule in der Küchenmitte präsentierte. Wenn sie sich diesem Zentrum näherte, sah sie deutlich den Hauch ihres Atems und die rund Form der eiskalten Säule. Sie nahm dies dann als gegeben hin und schob die Ursache einem Baufehler zu. Jedoch sollte diese kalte Säule nicht die einzige Merkwürdigkeit in ihrem Leben bleiben. Um die Weihnachtszeit des selben Jahres entdeckte sie an der Wand ihres Schlafzimmers, in schwachen Umrissen, einen etwa zehn Zentimeter großen Männerkopf, der sich im Profil zeigte. Die ganze Sache erschien ihr mehr und mehr unheimlich, zumal das Profil an der Wand mit jedem verstreichenden Tag an Schärfe und Kontur gewann. Kurz entschlossen klopfte Eva einen Nagel in die Wand und hängte ein großes Bild über das dunkle Dingsda. So würde sie diese unheimliche Erscheinung nicht mehr ständig sehen müssen, hoffte sie zumindest. Doch bereits wenige Tage später erschien der gleiche Männerkopf unmittelbar neben dem Bild und gewann rasch an Deutlichkeit. Sie musste etwas unternehmen, so viel war ihr klar. Denn sonst würden ihr diese sonderbaren Erscheinungen den Verstand rauben. Aber wer könnte sich mit solchen Phänomenen auskennen? Wer könnte ihr bei diesem Problem helfen?
In einer großen Erfurter Bibliothek wurde Eva schnell fündig. Gleich mehrere Autoren hatten sich in den letzten 50 Jahren mit solch sonderbaren Vorkommnissen beschäftigt und es gab sehr bizarre Fotos in deren Büchern. So stieß sie auf einen Bericht aus dem Jahre 1961, in welchem über ein Haus in Spanien geschrieben wurde, auf dessen Fußboden im Erdgeschoss Schimmelpilze wucherten. Dieser Schimmel bildete deutliche Körperabbilder einer Frau und eines Mannes. Und so oft auch die Hausbewohner diesen Bildern mit Wasser, Seife und Bürste zu Leibe rückten, sie erschienen immer wieder. Dieses Spiel wiederholte sich solange, bis man das Haus eines Tages aufgrund seiner Baufälligkeit abriss. Beim Ausheben der neuen Baugrube, an der Stelle des alten
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Michael Loeper
Bildmaterialien: Michael Loeper
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2015
ISBN: 978-3-7396-1883-8
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