1. Der verzweifelte Weg des Norbert Schröder
2. Male - aus dem Leben eines Huhns
3. Ich, der Medicus
4. Blut, Trödel, Justiz
5. Ein Mann
6. Kamera des Todes
7. Herr Fuchs zieht um
8. Paula und Paul
9. Tilo und die Jäger
10. Die Weiße Frau
11. Am ersten Urlaubstag
12. Mein Kind hat von Krieg geträumt
13. Sarah - Nebel über Aberdeen
14. Elfriede - Die Nacht vor der Prüfung
15. Maryla - Der Wolf am See
16. Elsie und Gernie - Rückkehr zur Unschuld
17. Elke - Die Welt ist eine Manege
18. Der Hirt und die Bestie
19. Im alten Park
20. Der Spuk
21. Verirrt im Winterwald
22. Ausgeweidet und verbrannt
23. Amok - Der Traum von Madeira
24. Schwanhilde
25. Seine neue Puppe
26. Ein Schachspiel
27. Der junge Arzt
28. Die alte Ärztin
29. Die Gärtnerin
30. Die Uhr im Kopf
September 2012
Der Rückweg
Heftige Schauer aus stechenden Schmerzen jagen über Rücken und Schultern. Der Schweiß strömt beständig übers Gesicht, er macht einen klaren Blick völlig unmöglich. Jeder kleine Schritt vorwärts bringt eine neue Höllenqual mit sich. Die den Weg säumenden Pflanzen schaukeln, verändern ihre Farben, scheinen sich über den gemarterten Wanderer zu amüsieren. Dieser versucht immer wieder, sich mit beiden Händen die Augen frei zu wischen. „Wie weit wird es noch sein?“ fragt eine leise Stimme tief in seinem Kopf. „Wie viele Schritte muss ich noch unter diesen Schmerzen gehen?“ fragt Norberts verbrannter Mund. Schleim fließt dabei heraus, doch den können die verkohlten Hände nicht abwischen. Zuviel unnötige Kraft ginge dabei verloren.
Norbert hält inne, versucht angestrengt durch zu atmen. Beim dritten Versuch geht es fast ohne Schmerzen. Die Welt ringsum bekommt wieder ein klein wenig Farbe zurück. Jetzt führt er langsam beide Hände zum Gesicht, wischt vorsichtig Augen, Nase und Mund frei. Der vor ihm liegende Weg wird deutlich sichtbar, erscheint noch unendlich lang. Nirgendswo ist ringsherum ein Haus zu sehen, oder auch nur ein Geräusch zu hören, welches an die Anwesenheit der Zivilisation erinnern könnte. Norbert senkt den Kopf und sieht die Reste seiner verbrannten Kleidung, die durchschimmernde rote und schwarze Haut. „Hilfe, Hilfe!“ schreit die Stimme in seinem Kopf verzweifelt. „Wir gehen jetzt langsam weiter,“ sagt der verbrannte Mund.
September 2011
Norbert
„Einen Weg aus dieser Scheiße muss ich finden!“ murmelte Norbert leise vor sich hin. Er hockte auf seiner alten Couch, hielt die Fernbedienung lässig in der rechten Hand. Im Fernsehgerät lief eine Dokumentation über einen wilden Stamm, der noch völlig frei und von jeder Zivilisation unbehelligt am Ufer des Amazonas lebte. Vor ihm, auf dem verschmutzten Tisch, lag ein chaotischer Wulst von Schreiben der unterschiedlichsten Behörden. „Dieses irrsinnige Beschäftigungsprogramm macht mich krank,“ resümierte er und raffte all diese Papiere ruckartig mit beiden Händen zusammen. Dann erhob er sich von der Couch, ging zur Schrankwand und schob die Schreiben in ein Fach, in dem bereits eine stattliche Ansammlung ähnlicher Papiere lag. „Das kann es nicht sein...“ zischte Norbert und schaute nachdenklich auf den Bildschirm. Glücklich sahen diese Indianer aus, wenngleich etwas verschmutzt und irgendwie vernachlässigt – zumindest die etwas Älteren unter ihnen, stellte er fest. Aber er, Norbert, war jetzt auch bereits ein Stück weit über die Fünfzig. Und auch er fühlte sich oft schmutzig und vernachlässigt. Glücklich sah er ganz sicher nicht aus, das stand für ihn fest. Alles und jedes Ding hatte er allein zu tun und zu erledigen. Das begann bei den Antragsstellungen auf Behörden und Ämtern, ging über die Hausarbeit, die Körperpflege, die Unterhaltung jedweder Art. Irgendwie schien es ihm bereits seit längerer Zeit, dass er keine Lebensqualität besäße. „Aber wie kann ich denn das nur beenden?“ schrie er laut und trat gleich darauf kräftig gegen seinen Stubentisch.
Der darauf folgende Tag, ein mäßig warmer und sonniger Montag, begann für Norbert wie immer mit seinen üblichen Wegen. In der Hand zwei seiner verschlissenen Plastiktüten haltend, verließ er den großen Wohnblock und ging er zum nahe gelegenen Supermarkt. Wie üblich wollte er dort seine Einkäufe erledigen, die Waren kaufen, welche bis zum Donnerstag reichen mussten. Schäbig fühlte er sich, schäbig und von den Passanten angestarrt, die ihm unterwegs begegneten. Er, der bereits behäbig gewordene Mann mit grauen Haaren, in seinen einzigen Klamotten steckend – die natürlich müffelten. Was für einen abstoßenden Eindruck würde er wohl machen? Nein, nein, da ging nicht mehr viel mit ihm und dem Rest der Welt. Aber was tun? Sich erhängen bei Nacht und Nebel, an irgend einen Baum hier in der Siedlung? In den Fluss springen und einfach treiben lassen, bis man tot ist? „Buh!“ stieß er leise hervor und schaute kurz auf eine ältere Frau, die ihm mit gefüllten Einkaufstaschen entgegen kam. Sofort sagte er sich: „Die schaut genau so dämlich aus der Wäsche wie ich.“
Im Supermarkt war nicht viel los an diesem Morgen. Mit seiner üblichen Routine nahm Norbert einen Einkaufswagen an sich und steuerte das Gefährt durch die Regale. Bier, Brot, Kaffee, Margarine, etwas abgepackte Salami, all das wanderte in den Wagen. Als er am Stand mit den Textilien vorbei fuhr, fielen Norbert sofort oliv-grüne Jacken und Hosen auf. Die gab es hier zum ersten Mal. „Auswandern könnte man damit,“ sagte die Stimme in seinem Kopf. „Aber wohin auswandern?“ fragte sich Norbert gleich darauf. „Wer will mich denn noch haben?“ Er winkte lässig ab und schob den Wagen weiter durch die Regale. Dennoch, die grünen Jacken und Hosen hatten sich in seinem Gedächtnis einquartiert. Tief in Gedanken versunken verließ er wenig später den Einkaufsmarkt.
Jahresbeginn 2012
Leben wie ein Amish
„Dieser Frust hat Methode!“ schrie Norbert an einem kalten Freitag gegen 20 Uhr aus dem geöffneten Fenster seines Schlafzimmers. Jedoch, der verzweifelte Satz verhallte ohne Echo in der Dunkelheit. „Nichts, nichts außer Akten, Formulare, Druck, Kosten, Einsamkeit, billiges Essen, grauer Tapeten, einem kaputten Klo und dummes Zeug in den Nachrichten!“ sagte ihm seine innere Stimme wenig später. Dann fügte sie noch hinzu: „Niemand will dich mehr auf der Welt. Du wirst hier in deinem grauen Käfig elend zugrunde gehen.“
Norbert verbrachte die ersten Monate des Jahres fast ausschließlich damit, sich im Fernsehgerät Sendungen der besonderen Art anzuschauen. Spannend fand er darin auch das Leben der Amish in Amerika. Bei denen gab es kein Strom, fast keine Technik und alles wurde gemeinsam von Hand gearbeitet. Ja, er war sich dessen bewusst, dass er bei diesen Leuten eine Rolle spielen könnte. Dort hätte er seine Aufgaben, er würde akzeptiert und sicher auch eine Frau finden. Und was war hier? „Endstation!“ sprach seine innere Stimme nun immer öfter zu ihm. „Endstation!“
Der Winter dauerte ungewöhnlich lange und Norbert befand sich inzwischen an der Grenze zum Wahnsinn. Immer öfter waren nun auch üble Sprüche von Passanten zu hören, die ihn und seine Leidensgenossen auf der Straße offen als Faule Schmarotzer beschimpften. Er musste sein Leben verändern, das war ihm klar. Sonst wäre es bald zu ende damit. Ständig grübelte er darüber nach, wie ein Ausstieg für ihn machbar wäre. Ein Leben in der freien Natur, das ginge irgendwie, hier in den Weiten der Uckermark. Aber ganz allein in der Wildnis hausen? Das war es ja nun auch nicht gerade, fand er. Wenn es aber gar nicht mehr anders möglich wäre, dann müsse es eben so sein.
Den letzten Anstoß zum Ausstieg erhielt Norbert von einem Mitbewohner seines Wohnblockes. Dieser Anstoß traf ihn so heftig, dass er tagelang unter schweren Magenschmerzen leiden musste. Sie begegneten sich völlig unvermittelt auf der Treppe, er und der ältere, offensichtlich gut betuchte Mitbewohner. Ob er sich denn nicht wasche, fragte der Mann. Und seine Kleidung gleiche der einer Vogelscheuche, stellte der fest. Immerhin bekäme er doch reichlich Stütze vom Amt und das auf seine Kosten. In Norbert stieg sofort starker Ekel auf und er schluckte heftig. Dann rannte er in seine Wohnung. Tagelang verließ er sein Bett nicht mehr, aß und trank nichts. Nach mehreren Tagen in seinem klammen Bett, rief seine innere Stimme laut: „Es muss sein!“
„Es muss so sein!“ redete sich Norbert fortan ständig selber zu. „Wann hast du zum letzten Mal eine Frau gehabt? Warum bist du überhaupt noch in dieser Welt, die dich nur verletzt? Ob hier oder in der Ödnis, allein bist du dort wie hier,“ sprach seine innere Stimme beständig zu ihm. Und bald war auch der letzte Rest an Vernunft in ihm davon überzeugt, dass der Weg des Ausstieges für ihn der bessere wäre. All das, was er jetzt hatte und besaß, würde er nicht vermissen. Jedoch würde der ständige Druck der Behörden und Ämter nicht mehr auf ihm lasten. Und das war durchaus akzeptabel für ihn. Nur den Beginn des Frühlings wollte er noch abwarten, bevor er alles hinter sich lassen würde.
April 2012
Der Ausstieg
Waren während des Winters gelegentlich doch noch leise Zweifel in Norbert aufgekommen, hinsichtlich seines Ausstiegsplanes, so wischte das herannahende Frühjahr diese endgültig weg. Vor dem Wohnblock, direkt unter seinem Fenster, begannen die Bäume und das Gras zu grünen. Die Sonne schien kräftiger, alle Vögel begannen zu singen. An einem zeitigen Morgen, gegen ende April, erhob er sich mit einem Ruck aus seinem Bett. Zielstrebig ging er zur Kochnische und füllte die Kaffeemaschine auf. Noch einmal warf er einen kurzen Blick auf seine zerwühltes Bettdecke, dann begab er sich unter die Dusche. Als das warme Wasser zu rauschen begann, pfiff er fröhliche Lieder vor sich hin.
„Ja, nun ist es vorbei!“ sagte Norbert leise, als er gegen Neun Uhr mit gepacktem Rucksack vor dem Wohnblock stand. Viel besaß er ja nicht, was in dem alten Fetzen hätte Platz finden können. Einige Waschutensilien, Rasierzeug, Strümpfe, etwas Unterwäsche. Die geschmierten Brote und das wenige Werkzeug aus dem Keller, das hatte er sorgfältig in seiner schwarzen Umhängetasche verstaut. „Dann man los!“ sprach seine innere Stimme zu ihm. „Aber erst geht es noch zur Bank,“ antwortetet Norbert voll Freude. „Heute wird ja das Geld vom Jobcenter überwiesen.“ „ Wie schön,“ flüsterte es in ihm. „Willst du dich denn dort gar nicht abmelden?“ „Nein!“ antwortete er. „Die merken doch gar nicht, wenn ich nicht mehr da bin.“
Norbert erreichte rasch den Rand seiner kleinen Stadt. Da lag sie nun vor ihm, die gigantische Natur, die unendlich scheinende Weite der Uckermark. Leise sprach er zu sich: „Wasser im Überfluss, Fische im Überfluss. Wald und Wiese bieten mehr an, als es je der größte Supermarkt gekonnt hätte.“ „Ich habe es dir doch gesagt!“ flüsterte seine innere Stimme. „Warum bin ich da nicht schon viel früher drauf gekommen?“ sprach Norbert vor sich hin, während er langsamen Schrittes eine ausgedehnte Wiese betrat, deren Ende erst am fernen Horizont auszumachen war. Er beschloss an diesem Morgen solange zu marschieren, bis er vor Hunger oder Müdigkeit nicht mehr konnte. Dann wollte er sich ein Lager für seine erste Nacht im Freien einrichten.
Freiheit
Viele Kilometer war Norbert bereits über die große Wiese gegangen, von der auch am späten Nachmittag noch kein Ende in Sicht war. Immer wieder tauchte in der Ferne eine Baumgruppe auf, die sich jedoch später nur als kleine Insel im endlos scheinenden Grasland entpuppte. Die Sonne stach auch noch um diese Tageszeit heftig, hin und wieder wurde sie von dunklen Wolken verdeckt. Norbert hatte sich längst seiner einzigen Jacke entledigt, die er jetzt um seinen dicken Bauch gebunden trug. Schweiß rann ihm über die Stirn, seine Beine begannen zu schmerzen. Für den eins achtzig großen Mann war das ständige Marschieren eine völlig ungewohnte Sache. Er begann sich über sein Erscheinungsbild Gedanken zu machen. Sicher würden seine letzten drei Haare durchgeweicht in alle Richtungen stehen, - und bald hätte er wohl auch einen Sonnenbrand auf der Glatze. „Was soll es,“ sprach plötzlich seine innere Stimme, „du bist hier nicht auf Brautschau. Du willst doch vielmehr dein ganzes Empfinden verbessern.“ „Stimmt,“ brummte Norbert und ging entschlossen vorwärts. Ohne, dass er es bemerkte, zog hinter ihm eine dunkle Wolkenfront heran.
Das Gewitter kam völlig überraschend und schon gleich nach dem ersten Donner setzte ein starker Landregen ein. Norbert entknotete die blaue Windjacke von seiner Schulter und zog sie sich über den Kopf. Er rannte jetzt auf eine in seiner Nähe stehende Gruppe Weiden zu, dort wollte er erst einmal Schutz suchen. Unter den weit ausladenden Bäumen angekommen, fiel ihm sofort eine alte, krumme Weide auf. Schräg ragte ihr dicker, knorriger Stamm in die Höhe. Erst in Mannshöhe begannen sich ihre Äste zu verzweigen. Unter dem mächtigen Stamm fand sich ein Unterschlupf, zumindest für den Augenblick. Norbert kauerte sich in diese Höhle und zog sich hastig den Rucksack von seinen Schultern. Dann entledigte er sich der Umhängetasche, so konnte er noch näher an den Stamm rücken. „Das wird nicht lange dauern,“ sprach die Stimme in seinem Kopf. „Bekomme ich die Klamotten vor der Nacht wieder trocken?“ fragte er zurück. „Wenn ich so schlafen muss, dann habe ich morgen früh eine Lungenentzündung. Und überhaupt, kann ich jetzt noch ein Feuer machen für die Nacht?“
Am Abend war das Gewitter abgezogen. Norbert war es nach dem heftigen Regen gelungen, ein kleines Lagerfeuer vor seinem Unterschlupf zu entfachen. Unter den vielen schrägen Weidenstämmen fand er reichlich trockenes Holz. Seine Feuerzeuge taten auch noch ihren Dienst. Jedoch ging dabei die halbe Rolle Klopapier drauf, die er noch aus der Wohnung mit nahm. Seine durchnässten Sachen hingen an dünnen Ästen über den Flammen, während er damit beschäftigt war, unter seinem Stamm ein Nachtquartier einzurichten. Äste und Laub fand er reichlich, auch lag unter einem anderen Stamm eine alte Wolldecke. Offensichtlich hatten hier schon oft Kinder Cowboy und Indianer gespielt, denn ein Messer und ein kleines Beil lagen auch herum. Mit diesem Beil konnte sich Norbert einen ordentlichen Holzvorrat für die Nacht hacken. Als diese dann angebrochen war, lag er frierend auf seinem Lager und starrte nachdenklich in das kleine Feuer. Eins seiner geschmierten Brote kauend, sagte er sich: „Das ist nicht der Bringer. Ich muss mir etwas solideres suchen, oder bauen.“ Seine innere Stimme flüsterte: „Kommt Zeit, kommt Rat.“ Norbert zog sich die alte Wolldecke über den Kopf. Er wollte jetzt ein wenig schlafen.
Erste Begegnung
Immer wieder wurde Norbert während der Nacht wach. Zweige legte er ins Feuer, sein Lager richtete er sich neu. Der alternde Mann verspürte Stiche im Rücken und heftiges Ziehen in beiden Beinen. Als der Morgen zu grauen begann, erhob er sich mühsam und rieb sich die verklebten Augen. Vom Feuer war nicht mehr als ein Häufchen Asche geblieben, die Kleidung roch muffig und feucht. Er erfasste die halbe Rolle Klopapier und ging unter eine der anderen Weiden. Nachdem er sich erleichtert hatte, wurde ihm bewusst, dass er kein Wasser besaß, mit dem er sich waschen könnte. Und zum Trinken müsste er ja auch etwas haben. „Aber, erst einmal wird gefrühstückt,“ sprach er zu sich. „Noch haben wir ja fünf geschmierte Schnitten.“ Gesagt, getan. Norbert hockte sich auf sein Lager und begann zu essen. Später packte er seine Sachen zusammen und brach auf.
Die Sonne stand hoch am Himmel, Vögel zwitscherten ihre Lieder. Schritt für Schritt ging der tapfere Wanderer seines Weges in Richtung Horizont. Die Schmerzen in Rücken und Beinen beachtetet er nicht. Immer wieder ging sein Blick nach unten, die alten Arbeitsschuhe machten ihm Sorgen. „Wenn die nochmal durchweichen, dann kann ich sie vergessen,“ sprach er nachdenklich. „Barfuß geht es auch,“ flüsterte seine innere Stimme. „´Hast recht,“ ranzte Norbert zurück. „Aber jetzt sollten wir langsam Wasser finden. Ich habe einen schrecklichen Durst und waschen will ich mich auch.“
Die Stunden verstrichen, die große Wiese gewann immer mehr an Weite. Hin und wieder tauchten kleine Baumgruppen auf und zogen vorüber. Eines seiner letzten Brote kauend stand Norbert plötzlich vor einem breiten Wassergraben. Klar war das Wasser, klar und sehr tief. Er schmiss den Rucksack von den Schultern, beugte sich über den Graben und sog gierig das kühle Nass ein. Es mundete ihm sehr gut, da war keine Spur von Fäulnis oder Moosgeschmack. Üppige grüne Wasserpflanzen wucherten kurz unter der Oberfläche, hier und da schwamm eine Meerlinse. Schnell war sein Durst gelöscht und Norbert bemerkte einen großen Frosch, der neben ihm im Gras hockte. „Du hast es doch gut, bis überall zuhause,“ raunte er dem grünen Gesellen zu. Dann entledigte er sich der Umhängetasche und seiner Kleidung. Er warf das ganze Bündel, samt Rucksack, auf die andere Seite des Grabens. Vorsichtig stieg er ins Wasser und tauchte seinen Körper vollständig unter. „Badend das Hindernis überwinden! Ist das nicht echte Lebenskunst?“ Norbert rief das laut aus, während er sich halb schwimmend, halb krabbelnd durch den Graben auf das gegenüber liegende Ufer zu bewegte.
Der Abend nahte und noch immer schien die Sonne. „Wiese, Wiese Wiese, nichts als Wiese,“ flüsterte die Stimme in Norbert. „Viel Grün, viel Glück,“ antwortete der. „Wir werden uns wohl wieder eine krumme Weide als Schlafzimmer suchen müssen. Und eine geschmierte Schnitte haben wir ja noch. Geld ist auch da, also, Herz – was willst du mehr?“ Norbert sagte es und sah in diesem Augenblick hinter einer Baumgruppe ein größeres Grundstück auftauchen. Es war wohl so eine Art ehemaliger Bauernhof. Und der machte den Eindruck, als wäre er bewohnt. Langsam näherte er sich dem Gehöft uns sah bald Hühner, Enten und Gänse herumlaufen. Eine niedrige Mauer aus alten Bruchsteinen umgab das Gelände, die war jedoch an einigen Stelle bereits zusammen gebrochen. Daher bewegte sich das Geflügel auch ungehindert auf der Wiese. Norbert betrat durch eine der Mauerbreschen den Hof. Sein Blick musterte das alte Haus, den maroden Stall, die Scheune, mit ihren vielen fehlenden Dachziegeln. Bunte Wäsche hing auf einer Leine, die von Erwachsene, die von Kindern. Er ging zielstrebig auf die Haustür zu und klopfte beherzt an. Nach wenigen Augenblicken öffnete ihm eine Frau, welche Norbert auf etwa Mitte dreißig schätzte. Ihre hellblonden Haare waren zu zwei langen Zöpfen geflochten, ihr Gesicht voller Sommersprossen. Sie trug ein altbacken wirkendes, buntes Kleid. Neugierig schauten ihre blauen Augen den Fremden an.
Die Lebensgemeinschaft
Die Nacht war bereits angebrochen und Norbert saß mit vierzehn Leuten an einem langen, aus rohen Brettern gezimmerten Tisch. Die sieben Erwachsenen, Frauen und Männer, schwiegen beim essen. Die sieben Kinder, die den Fremden keinen Augenblick lang aus den Augen ließen, alberten und kicherten verstohlen. Auf dem Tisch standen mehrere lange, weiße Kerzen in tönernen Haltern. Ihr schwacher Schein beleuchtete die Gesichter der Anwesenden nur schwach. Die Speisen auf dem Tisch waren karg und schlicht gehalten. Grobe Brotscheiben auf einem großen Teller, Gänseschmalz in einer irden Schüssel, kalter Schweinebraten in Scheiben. Auf einem sehr großen, bunten Teller war ein hoher Berg Äpfel aufgetürmt. Nachdem alle satt geworden waren, sprach jene junge Frau, die Norbert ins Haus gebeten hatte, einige Worte zu ihrem Gast. Sie meinte, er wäre doch sicher jetzt müde und kaputt. Sie werde ihm nun sein Nachtlager zeigen. Der nickte stumm, erhob sich und folgte ihr über den Hof in die alte Scheune.
Sonnenstrahlen spielten in Norberts Gesicht, Halme vom Heu stachen ihn am Hals und auf der Glatze. Das Krähen eines Hahnes war laut zu hören. Als er erwachte, fiel es ihm schwer, seine Gedanken zu ordnen. „Wo bist du hier?“ fragte er sich. Erst ganz allmählich fiel ihm wieder ein, dass er ja hier auf diesem Hof um Kost und Logis gebeten hatte am Abend zuvor. Er drehte sich auf den Rücken und sah das hohe Scheunendach über sich. Sofort fiel ihm auf, es fehlten in diesem Bereich keine Ziegeln. Das waren also die Schlafplätze im Heu, von denen die junge Frau am Abend sprach. Und es war auch so, ringsherum um ihm befand sich eine Vielzahl solcher Kojen. Einfache Bretterkisten auf dem Sandboden, mit Heu gepolstert und einer alten Wolldecke ausgestattet. Norbert rekelte sich aus seinem Lager und ging durch das halb offen stehende Scheunentor auf den Hof hinaus. Vor ihm thronte die alte Schwengelpumpe auf dem Brunnen, welche offensichtlich schon seit Generationen ihren Dienst versah. Unter ihr stand ein gewaltiger, steinerner Trog. „Gründliches Waschen ist angesagt,“ flüsterte die Stimme in ihm. „Noch schlafen die im Haus alle...“ Er folgte dieser Aufforderung, nachdem er sich all seiner Kleider entledigt hatte.
Norbert trocknete sich von oben bis unten mit seiner blauen Windjacke ab. Hastig zog er sich dann wieder an, denn immerhin konnte ja jeden Augenblick einer der Bewohner auf dem Hof auftauchen. Mit der rechten Hand stellte er fest, – sein Bart begann zu stacheln. Dann schlenderte er auf dem Hof herum und wollte sehen, was es für ihn hier möglicherweise an Arbeit geben könnte. Darüber war am Abend zuvor zwar kein Wort geredet worden, aber er, ein Mann der Tat, konnte ja auch selber darauf kommen. Als gelernter Maurer sah er sofort die vielen maroden Stellen an allen Gebäuden. Vieles gäbe es hier für ihn zu tun, das war klar. Aber, würden ihn die jungen Hausherren auch dafür hier wohnen lassen? Ihn verpflegen? „Eine Frage, ist keine Klage,“ sprach er schließlich und betrat den Hühnerstall. Da stand eine große, alte Truhe, gleich daneben ein emaillierter Schöpftopf. In der Truhe fanden sich Weizenkörner. Norbert begann die Hühner zu füttern, dann suchte er sich einen Hofbesen und kehrte einfach darauf los. Nur wenig später erschien Sabine, die junge Frau vom Vorabend, auf dem Hof. Noch in ihrem Nachthemd steckend sprach sie zu Norbert: „Es gibt gleich Frühstück.“
Alle Bewohner des Hauses saßen zum Frühstück am großen Tisch vereint. Die sieben Kinder waren bereits fertig angezogen für die Schule. Wieder musterten sie neugierig den Fremden, der auf sie wie ein Außerirdischer zu wirken schien. Schließlich erhob sich einer der jungen Männer und nickte den Kindern zu. Die folgten ihm anstandslos. Wenig später knatterte draußen ein Dieselmotor. Norbert sah aus dem Fenster und sah den jungen Mann mit einem weißen VW Bus vorfahren. Die Kinder stiegen ein und das Auto fuhr vom Hof. „Merkwürdig,“ dachte Norbert bei sich. „Warum habe ich den Bus noch nicht gesehen? Verstecken die den?“ Dann räusperte er sich und wandte sich Sabine zu, die gerade mit beiden Hände ihre Kaffeetasse zum Mund führte. „Sabine, sagen Sie bitte,“ sprach er unterdrückt. „Wie ist das hier bei Ihnen? Gäbe es unter Umständen die Möglichkeit für mich, hier zu arbeiten und zu wohnen?“ Die junge Frau ließ ihre Tasse sinken und wurde leicht blass um die Augen.
Stunden waren bereits seit dem Gespräch mit Sabine vergangen. Norbert lief wieder über die unendlich scheinende Wiese, auf der die kleinen Baumgruppen vorüber zogen. Die Umhängetasche voll geschmierter Brote von Sabine, im Rucksack seine sieben Sachen. In seinem Portmonee befanden sich jetzt fünfzig Euro weniger, die wollte Sabine für Kost und Logis von ihm haben. So richtig verstand er die ganze Sache immer noch nicht. Die Sabine hatte ihm am Morgen bei einem ausführlichen Gespräch erklärt, der ganze Hof und dessen Bewohner dienten ausschließlich pädagogischen Zwecken. `Will heißen, meinte sie, interessierte Menschen können kommen, logieren und lernen, wie man in Zukunft auf eine alternative Art lebt. Das natürlich gegen Bezahlung. Die Morbidität des Hofes gehöre dabei zum Konzept. Und er, Norbert, sei wohl schlichtweg zu alt, um so etwas noch lernen zu können. „Na, sollen sie machen, diese eingebildeten Berliner,“ brummte Norbert, während er seinen Weg über die Wiese fortsetzte.
Im Biwak
4 Monate später
Grillen zirpten gleichmäßig, eine Lerche sang hoch am blauen Himmel ihr endloses Lied. Immer wieder wischte sich Norbert Fliegen aus dem Gesicht, die sich besonders in seinem inzwischen stattlich gewordenen Bart wohl zu fühlen schienen. „Man sollte wie die Schwalben in den Süden fliegen,“ brummte er leise vor sich hin. Mit freiem Oberkörper ruhte er entspannt auf seiner alten Wolldecke. Die Sonne stand bereits ein wenig schräg, was ihm sagte, dass es schon nachmittags ist. Aber das störte ihn wenig, wie ihn eigentlich gar nichts mehr störte. Zumindest während dieser Tage nicht. Er besaß weder eine Uhr, noch einen Kalender. Und so fühlte er sich von einer gewissen Last befreit, welche ihm vor seiner Flucht ständig zusetzte. Langsam neigte er den Kopf zur Seite und blinzelte auf den Eingang seiner kleinen Holzhütte. Da er ein wenig Hunger verspürte, sah er sich dazu gezwungen, sich von seinem gemütlichen Lager zu erheben. Aber, er ging es langsam an, denn zu essen hatte er momentan genug und auch sonst gab es weiter nichts, was ihn anfocht. Also streckte er erst einmal beide Arme kräftig durch und brummte dabei laut. Dann erhob er sich gemächlich.
Nachdem Norbert die Lebensgemeinschaft und deren Bauernhof verlassen hatte, wanderte er noch mehrere Tage hindurch in die Richtung des Sonnenaufganges. Das ging ganz gut, denn ein weiteres Gewitter überraschte ihn nicht mehr. Die Nächte verliefen ruhig, hungern und dursten brauchte er nicht. Lediglich seine innere Stimme quälte ihn auf seinem Marsch leidlich. Sie machte ihm Vorwürfe dahingehender Art, er habe sich zu wenig bei Sabine darum bemüht, ein Mitglied dieser Wohngemeinschaft zu werden. `Habe sich benommen, wie ein dummer Stoffel. Kein Geschick bewiesen, oder gar eine Taktik angewandt. Jedoch tröstete sich Norbert mit dem Gedanken, - er habe ohnehin nicht vorgehabt, bei denen zu bleiben. Sie seien ihm eine Idee zu schmierig. Wie auch immer, nachdem er tagelang über die weite Wiesenlandschaft gelaufen war, stieß er auf eine Stelle, die ihm günstig für eine Quartier erschien. Ein großer, glasklarer Weiher, von hohen Weiden umsäumt, wenige Meter davon entfernt verlief ein breiter Graben. Weit hinter dem Graben waren in der Ferne die Konturen einer Kleinstadt zu erkennen. Der Graben würde ihn mit Trinkwasser versorgen und vor Besuchern aus dieser Stadt schützen. Im Weiher gab es sicher Fische und unter den Weiden könnte er sich, gut versteckt, eine kleine Hütte errichten. Die Nähe der kleinen Stadt verlieh ein schwaches Gefühl der Sicherheit. Umgehend ging Norbert daran, mithilfe seines kleinen Beiles Weidenstämme zu schlagen.
Ein heißer Tag neigte sich seinem Ende entgegen. Norbert war damit beschäftigt, seine selbst geflochtenen Fischreusen im flachen Uferwasser des Weihers zu platzieren. Später wollte er sich dann vor die Hütte setzen und die Sterne beobachten. Das tat er bereits seit längerem und es beruhigte sein inneres Wesen auf eine ganz besondere Art. Nein, er vermisste die Menschen nicht wirklich, jedoch wäre er schon wieder einmal gern jemandem begegnet. Am liebsten jemandem, der ein ähnliches Leben führte wie er selber. Erfahrungen hätte er mit diesem austauschen können, womöglich sogar mit ihm zusammen leben und wirtschaften. Oder, einfach nur einmal reden. Der ständige Disput mit seiner inneren Stimme, das war auf die Dauer nicht das Ding für ihn. Später, die Nacht kündigte sich bereits an, setzte sich Norbert auf seinen Weidenstuhl und schaute in den Himmel.
Das Firmament pechschwarz, die dünne Mondsichel fahl, zahllose Sterne breiteten über der Weite der Uckermark ihr diamantenes Funkeln aus. Vom Weiher her erklang das laute Quaken unzähliger Frösche. Bereits seit Stunden schaute Norbert in das große Nichts und ließ sanfte Glücksgefühle durch seinen Körper strömen. Allmählich begann sich die Müdigkeit seiner zu bemächtigen. Langsam erhob er sich aus dem wackeligen Stuhl und wollte sich in die Hütte zu seinem Lager begeben. Plötzlich verstummten die Frösche, Norbert lauschte in die Dunkelheit hinein. Schwere Schritte näherten sich, das leise Schnaufen eines Pferdes war zu hören. Bald tauchte im Schein des erlöschenden Lagerfeuers ein gutgebauter, junger Mann mit langen, hellblonden Haaren auf. Hinter ihm ging ein sehr gepflegt wirkendes, großes, weißes Pferd mit Sattel und Zaumzeug. „Hallo,“ sagte der Fremde lässig zu Norbert. Der erwiderte den Gruß mit einem überraschten „Guten Abend.“ Der blonde Jüngling mochte so um die dreißig Jahre alt sein, schätzte Norbert und bot ihm freundlich einen Platz am Feuer an. Hastig legte er einen Bund Zweige in die Flammen, dann schaffte er aus der Hütte einen Stuhl herbei.
Allmählich begann sich während der folgenden Stunden ein angeregtes Gespräch zwischen den beiden zu entwickeln. Sie aßen gebratenen Fisch und tranken Wein, den der Gast in seinen Satteltaschen mitbrachte. Der Schimmel stand regungslos ein Stück abseits unter einer Weide.
Lars Hense
In Norberts Körper kehrte allmählich das Leben zurück. Er verspürte Kopfschmerzen, sein Magen verkrampfte sich gemein, den Mund füllte ein furchtbarer Geschmack, wie er ihn seit Jahren nicht mehr kannte. „Was ist los?“ fragte er sich völlig verwirrt. Langsam öffnete er seine Augen und bemerkte sofort, er lag auf dem Boden im freien, ohne eine Decke. Das Lagerfeuer war erloschen, die Sonne stand hoch am Himmel. Am Ufer des Weihers verharrte ein weißes Pferd und schaute zu ihm herüber. Nur ganz allmählich begann es in Norberts Kopf zu dämmern, dass ja während der Nacht ein Fremder gekommen war. Er mit diesem eine Unmenge Wein trank, das völlig gegen seine ganzen Gewohnheiten. Unter Schmerzen richtete er sich auf und streckte seine Arme durch. Ja, wo war der Fremde? Ringsherum konnte er ihn nicht sehen. Das Pferd war abgesattelt, sämtliches Zeug lag ordentlich aufgestapelt im Gras. Blieb nur die Hütte, wo der Fremde sich aufhalten konnte. Und da fand er ihn auch, schlafend auf dem Bett aus Weidenästen. Bis über den Kopf zugedeckt. „Na - ja,“ sagte Norbert zu sich, „dann werde ich mal das Frühstück vorbereiten.“
Es dauerte noch geraume Zeit, bevor der Gast erwachte und aus der Hütte kam. „Herrlich hast du es hier, Norbert,“ sagte er laut und strich seine langen Haare nach hinten. Dann zog er seinen bunten Pullover aus, warf ihn auf den Boden und rannte zum Ufer des Weihers. Beim laufen ließ er seine Hosen fallen und sprang schließlich ins Wasser. „Jung müsste man sein,“ knurrte Norbert in sich hinein, während er zwei frisch gebratene Schleien vom Spieß nahm. Ausgelassen schwamm der blonde Jüngling währenddessen mehrere große Runden im Weiher. Schließlich kehrte er zum Ufer zurück. Kaum aus dem Wasser gestiegen, ging er zu seinen Satteltaschen und fingerte sich eine Weinflasche heraus. Während er einen langen Zug daraus nahm, schaute er auf seinen Gastgeber. Norbert wurde unsicher, konnte er den splitternackten Jungen jetzt so zum Frühstück einladen? Der bemerkte jedoch die Verlegenheit des wesentlich älteren Mannes und zog seine Hosen wieder an. Nur wenig später hockten beide am Feuer und ließen sich die Schleien schmecken.
Er heiße Lars Hense, sei achtundzwanzig Jahre alt und habe bei seiner Oma in der Nähe von Berlin gelebt, - erzählte der junge Mann nach dem Frühstück. Bis vor kurzem studierte er noch und wolle später einmal als Sozialwirt arbeiten. Ein Praktikum habe er auch bereits hinter sich, - in einem Heim für seelisch behinderte Menschen, mit angeschlossener Tierpension. Von dort habe er als Lohn auch sein Pferd, samt Zubehör, erhalten. Und jetzt, ja jetzt, wäre er auf der Suche nach einem echten Praktikum. Nach einem, welches das reale Leben diktiere. Norberts Frage, ob er unterwegs an einem Bauernhof vorbei gekommen wäre, dort eine Sabine getroffen habe, bejahte er. Fügte aber gleich hinzu, dass er von solchen Lernmodellen nicht viel halte. „Wem nützt das Wissen um derlei Dinge, wenn ihm dann die praktischen Grundlagen dafür fehlen?“ sprach er, während er bereits wieder an seiner Weinflasche nippte. „Stell dir vor, Norbert. Du hast dir ein umfassendes Wissen über Landwirtschaft erfahren, samt der ganzen schönen Philosophie um die Romantik darüber. Und dann ist es für dich völlig unmöglich, auch nur einen Hektar Land irgendwo zu pachten, oder zu kaufen. Alles ist schon lange fest verteilt und vergeben. So ist es...“ fügte er noch hinzu. Norbert nickte stumm, obwohl er das Gerede von Lars eigentlich nicht so recht verstand.
Später kümmerte sich Lars um sein Pferd, während Norbert die Reusen leerte. „Norbert!“ rief Lars laut zu ihm hinüber. „Hast du es noch nicht über, immer nur von Fisch und Wasser zu leben? Da bekommst du ja Kiemen und Flossen irgendwann.“ Norbert räusperte sich verlegen. „Bis jetzt geht es noch so.“ Lars erwiderte: „Und was willst du eigentlich machen, wenn es kalt wird und dir der Weiher zu friert? Löcher ins Eis hacken? Mit deiner Hütte wirst du auch Probleme kriegen im Winter. Hast du darüber schon mal nachgedacht?“ Natürlich hatte Norbert darüber schon nachgedacht, aber noch keine Lösung gefunden. Lars wartete eine Antwort nicht ab, er sagte entschlossen, während er seinen Schimmel mit trockenem Laub abrieb: „Es ist noch ein wenig Zeit, bis der Winter kommt. Mache dich doch auf den Weg nach Parchim, zu den Schenkern. Ist sehr weit nach dort, aber bis zum ersten Schnee könntest du es schaffen. ´Musst dann aber jeden Tag forsch gehen. Die lassen dich sicher überwintern, wenn du dich ein wenig nützlich machst. Eine helfende Hand können die immer brauchen.“ Norbert überlegte angestrengt, von den Schenkern hörte er noch nie. Und die Stadt Parchim kannte er so vom Hörensagen. Aber, es schien ein realistischer Vorschlag zu sein, den ihm dieser Lars da gerade gemacht hatte. Jetzt wollte er mehr wissen. Er beschloss, seinen Gast am Abend gründlich auszufragen.
Norbert und Lars kauten an ihren gebratenen Karauschen, hin und wieder tranken sie einen Schluck Wein. Gemächlich brannte das Lagerfeuer, ein Schwarm Mücken tanzte vor der Hütte. Lars redete im Verlauf des Abends unentwegt über die Organisation der Schenker. Und darüber, dass er vorhabe, bei denen sein Lebenspraktikum zu absolvieren. Deren Philosophie allein habe Zukunft, so meinte er. Das ganze Ding, welches da heute in Wirtschaft und System laufe, sei doch ganz offensichtlich am Ende. „Schau dich und dein Schicksal an,“ sprach er zu Norbert, während die Nacht bereits ein Stück fortgeschritten war. „Deine Generation hat am meisten zu leiden an der ganzen Entwicklung. Euch hat man doch von frühester Jugend an konditioniert, ohne dass ihr es gemerkt habt. Jetzt fällt es euch wahnsinnig schwer, mit den neuen Strukturen klarzukommen. Von daher haltet ihr euch selber für unmöglich.“ Norbert nickte nachdenklich, hustete mehrere male und sagte schließlich entschlossen: „Lars, ich möchte dir einen Vorschlag machen. Auf meinem Girokonto sollten jetzt einige Überweisungen vom Jobcenter aufgelaufen sein. Ich habe das noch nicht abgehoben. Wir können morgen früh dort rüber in diese Stadt gehen. Ich hebe das Geld ab und wir teilen es uns. Du reitest dann nach Parchim voraus und machst dort für uns beide Quartier.“ Lars lauschte angestrengt. Nach einer kurzen Zeit des Schweigens nickte er. „Ja,“ sagte er später, „wäre mein Gaul größer und stärker, dann könnten wir zusammen reiten. Aber, so wie er ist, mit seinen schwachen Beinen...“ Norbert schmunzelte.
In die Stadt
Norbert und Lars machten sich bereits sehr früh fertig, um in die nahe Stadt zu laufen. Am Abend zuvor gingen sie zeitig schlafen, - Norbert in seinem Weidenbett, Lars auf einer Decke am Lagerfeuer. Nach einem schellen Frühstück packten beide ihre sieben Sachen zusammen, was bei Norbert sehr schnell ging. Er wollte sein Biwak so verlassen, wie er gekommen war. Immerhin, es war ja nicht ausgeschlossen, dass er es später einmal erneut aufsuchen musste. Schließlich zogen sie los, in die Richtung der schemenhaften Häuser am Horizont. Doch bereits nach wenigen Metern standen sie vor dem breiten Wassergraben. Und jetzt waren beide ratlos. „Ich schlage diese Richtung vor,“ sagte Lars, der sein Pferd am Zügel führte. Seine rechte Hand wies auf ein weiter entferntes Waldstück. „Vermutlich wird es da eine Brücke geben. Wie sollen die aus der Stadt sonst in den Wald kommen?“ Norbert, mit seinem desolaten Rucksack und der alten Umhängetasche beladen, stimmte zu.
Noch geraume Zeit musste sich das Trio durch sehr hohes Gras bewegen, bevor tatsächlich eine schmale Holzbrücke in Sicht kam. Sie war schlicht aus Fichtenstämmen gefertigt und ohne Geländer. Ein unbefestigter Feldweg führte von ihr aus zum nahen Wald, in der anderen Richtung ging es zum Stadtrand. Beim Überqueren der Brücke blieb Norbert stehen und sah zu seinem Biwak zurück. Nur noch schwach konnte er die hohen Weiden erkennen. Lars bemerkte die aufkommende Wehmut in ihm und sagte mit fester Stimme: „Mögest du nie zurück schauen, sondern immer nur nach vorn. So machen es die glücklichen Menschen.“ Dann nahm er eine der letzten Weinflaschen aus den Satteltaschen. „Lass´ uns langsam vorwärts gehen, Norbert. Lass´uns dabei reden.“ Er nahm einen langen Zug aus der Flasche, hielt sie in Norberts Richtung und zeigte mit seiner linken Hand auf die Stadt. „Oh, diese unglücklichen Leute dort,“ seufzte er leise und sah Norbert an. Der zuckte mit den Schultern, wies gleichzeitig mit der Hand den Wein zurück. „Nicht so zeitig am Tag. Erzähle mir doch lieber noch ein wenig von Deinen Plänen und Ideen.“
Wie ein Wasserfall redete Lars, während sie die wenigen Kilometer bis zur Stadtgrenze zurücklegten. Immer wieder hielt er kurz inne, trank einen Schluck Wein und wurde dann umso redseliger. „Analysiere deine Generation, Norbert. Und mache dir bitte dabei nichts vor. Auf eine gewisse Art seid ihr verwöhnt worden, es gab Arbeitsplätze zur Genüge, Wohnungen reichlich. Alles war selbstverständlich, auch die medizinische Versorgung, der ihr voll vertraut habt. Ein großer Teil in euch hat das alles als gegeben wahrgenommen. Ihr fühltet euch emanzipiert der Welt gegenüber. Aber glaube mir, das Ganze trug eher religiöse Züge, als denn realistische. Du siehst, dass du heute am Leben und sogar zu Glücksgefühlen fähig bist. Einzig nur, dir macht die Einsamkeit zu schaffen. Denn nur nach und nach fallen einzelne Leute wie du aus der Gesellschaft heraus. Die werden dann von der Gesellschaft gemieden. Dies aber nur darum, weil die Leute in der Gesellschaft etwas in dir sehen. Etwas, was sie selber bald treffen kann. Sie sehen sich ohne Liebe, ohne jede Nestwärme. ´Fühlen sich einer zahlendidaktischen Medizin ausgeliefert. Falls überhaupt, wähnen sie sich in einer Arbeitswelt, die Verhältnisse bietet, wie sie im Dschungel herrschen. Das alles rührt von einem gestörten Ich her...“ Norbert ging hinter Lars und dessen Pferd her. Voller Interesse hörte er dem Redeschwall zu.
Der staubige Feldweg endete an einer großen Linde, von dort an begann eine schmale, asphaltierte Straße. Erste Häuser waren deutlich zu erkennen, weiß gestrichen leuchteten sie im Sonnenschein. Auf den Balkonen standen große Blumenkübel, manchmal waren auch Gartenmöbel und bunte Vorhänge zu erkennen. Lars schwieg nun, Norbert begann sich Gedanken über sein Erscheinungsbild zu machen. Für was würden ihn die Leute hier wohl halten? Für einen verwilderten Landstreicher, einen Gammler? Gar für einen entsprungenen Sträfling, oder Verrückten? Er musste ja wirklich verheerend wirken auf einen zivilisierten Menschen. Von seinen großen Arbeitsschuhen klafften die Sohlen ab, seine Wollsocken waren durchlöchert. Die einzige Hose glich eher einem Fischernetz, als einem Kleidungsstück. Als Gürtel diente ein blauer Plastikfaden, wie sie die Landwirte zum bündeln von Stroh benutzten. Sein Hemd war lasch und farblos, vom vielen Waschen im Weiher. Die blaue Windjacke, um seine Hüfte gebunden, ähnelte einem alten Scheuertuch. Lars erkannte die Situation, zog seinen Kamm aus der Hosentasche und gab ihn Norbert. Der kämmte sich die wenigen wirren, langen Haare nach hinten. „Siehst du,“ sprach Lars, „später bindest du das zu einem Pferdeschwanz zusammen. So, nun lass´ uns in die Höhle des Löwen gehen.“
In der kleinen Stadt schien nicht allzu viel Leben zu herrschen. Hier und da huschte einmal ein Kind auf seinem Fahrrad vorbei, alte Leute saßen vor ihren Häusern auf Bänken. Norbert, Lars und der Schimmel mussten nicht sehr lange suchen, bis sie eine kleine Sparkassenfiliale fanden. Beim Betreten der gepflegten Räume wurde es Norbert zwar ein wenig schwindelig, jedoch bekam er sich schnell wieder unter Kontrolle. Mit seiner EC Karte konnte er feststellen, dass offenbar beim Jobcenter noch keiner sein Verschwinden bemerkt hatte. Die Bezüge waren vollständig auf dem Konto eingegangen. Schnell zog er schließlich das Geld aus dem Automaten und verließ das Gebäude. Draußen, am Bürgersteig, wartete Lars und Norbert gab ihm sofort dessen Hälfte. „Und was machen wir nun?“ fragte Lars. „Ich müsste einige Dinge einkaufen,“ fügte er gleich hinzu. „Wein, einige Konserven und so. Mal sehen, ob es hier einen Landwarenhandel gibt. Etwas Hafer wäre auch nicht schlecht...“ Norbert dachte kurz nach, auch er könnte einige Sachen gebrauchen. Er vereinbarte mit Lars, dass man sich in etwa vier Stunden unter dem alten Lindenbaum am Stadtrand wieder träfe.
Lars hockte unter dem Lindenbaum, sein Pferd stand schwer beladen vor ihm und schaute in die Richtung der Stadt. Es war später Nachmittag, die Luft heiß und stickig. Schließlich tauchte Norbert zwischen den weißen Häusern auf, sein Äußeres schien wie verwandelt. Er trug eine nagelneue Militärhose mit Tarnflecken, weiße Turnschuhe, ein grünes T-Shirt und eine schwarze Baskenmütze. Auf seinen Schultern schleppte er einen prall gefüllten, neuen Rucksack. Die alte Umhängetasche fehlte. Als er näher kam erkannte Lars, dass er seine Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden trug. „Es kann losgehen,“ sagte Norbert schließlich, als er bei der Linde angekommen war. „Ja,“ erwiderte Lars, „es geht los. Immer in Richtung Nordwesten, Norbert, da kommst du früher oder später nach Parchim. Frage dort einfach nach den Schenkern, ich werden schon dort sein.“ Während er sprach, stieg er auf sein Pferd. Ein kurzes Schnalzen mit seiner Zunge ertönte und der Schimmel ging langsam in die Richtung des Grabens. „Wie heißt eigentlich dein Pferd?“ rief ihm Norbert nach. Lars drehte sich kurz um und schrie zurück: „Ab heute heißt es Norbert!“
Richtung Nordwesten
Norbert wartetet mit seinem Aufbruch auch nicht mehr lange. Lars und sein Pferd waren noch in der Ferne zu sehen, da zog er sein neu erworbenes Campingmesser aus der Hosentasche. In dessen oberem Griffende befand sich ein kleiner Kompass. Die Richtung, welche Lars ritt, war korrekt. Und wie Norbert vermutete, bog er hinter der kleinen Holzbrücke nach links ab. Also ging er auch einfach gemächlich in Richtung Graben. Es würde mindestens noch drei Stunden hell sein und da könnte er noch einige Kilometer schaffen. Auf der Brücke angekommen, schaute er noch einmal zum Biwak. Nach einem kurzen Seufzer bog er auf den schmalen Graspfad links von der Brücke ein. Keine Menschenseele war zu sehen. Vor ihm führte die Pferdespur in die scheinbare Unendlichkeit.
Norbert lief und lief ohne auch nur eine Pause einzulegen. Die Schmerzen in seinen Beinen schienen wie weggezaubert. Als allmählich die Dämmerung hereinbrach, ging der Graspfad plötzlich in einen schmalen Asphaltweg über. „Ein Radweg,“ dachte er. „Umso besser, darauf kann man ordentlich wandern.“ Und es flutschte dann auch förmlich mit seinen zurückgelegten Kilometern. Zu seiner Linken wandelte sich der Graben allmählich in einen Fluss, der zunehmend mit Bäumen gesäumt war. Später, der Mond war bereits aufgegangen, sang Norbert laut. Er sang einfache Lieder, die er von früher kannte, - Schlager, Volkslieder... Seine gesamte Gedankenwelt lief mehr und mehr aus ihren gewohnten Rudern. Und mit jedem Schritt, den er tat, flossen immer mehr Glücksmomente in sein Bewusstsein. Flügel schienen die mitzubringen, der alte Körper wurde leichter und leichter. Erinnerungen an seine Kindheit, an die Jugend, stiegen aus längst verschüttet geglaubten Tiefen empor. Wie war das Bild doch herrlich warm und bunt, das vor ihm plötzlich auftauchte. Klein Norbert saß ganz brav mit seinen drei Geschwistern am Küchentisch. Die Mutter schnitt Kuchen auf, goss dann heißen Kakao in große Tassen. Der Vater schmückte im Nebenraum den Weihnachtsbaum, durch die halb offen stehende Tür beobachteten die Kinder heimlich sein Tun. Unterm Tisch lag der zottelige Hund Packo und wartete auf herunter fallende Krümel. Die grau-rote Katze Pinki döste auf der Eckbank vor sich hin. Das Radio auf dem Küchenschrank spielte Weihnachtslieder... Norbert hielt abrupt inne und schüttelte heftig seinen Kopf. Um ihn herum war nebelige Nacht, ein Käuzchen machte sich in den Bäumen bemerkbar. „Soll es möglich sein,“ fragte er sich, „noch einmal solche Glücksmomente erleben zu können?“ Mühsam nahm er den schweren Rucksack ab und stellte ihn auf den Radweg. Rasch fand er das, was er darin suchte. Eine Flasche Wein und die Stange Ernte 23. Singend, trinkend und rauchend zog er bald weiter.
Tage und Nächte vergingen, ohne dass der tapfere Wanderer nur einmal eine größere Pause eingelegt hätte. Er rauchte, trank, knabberte gelegentlich an einer Tafel Schokolade. Seine Beine bewegten sich wie von allein vorwärts. Bei Tage begegneten ihm oft Radfahrer, sie waren sportlich bekleidet, trugen grell farbige Helme. In regelmäßigen Abständen tauchten hölzerne Schutzhütten am Rand des Weges auf. Auf deren Bänken konnte sich Norbert immer wieder für einige Zeit ausruhen. Zeit zum Schlafen nahm er sich jedoch nicht. Sein Ziel stand ihm zu deutlich vor Augen, - das Leben und Schaffen in einer gleichberechtigten Gesellschaft. Das Leben unter Menschen, bei dem noch so etwas wie ein wenig Glück möglich wäre.
Wieder graute ein nebeliger Morgen und es war empfindlich kühl. Norbert strich seinen wilden Bart glatt, brannte sich dann eine Zigarette an. „Es wird Zeit, eine längere Pause zu machen,“ sprach plötzlich seine innere Stimme zu ihm. „Schön, dass du dich auch wieder einmal meldest,“ antwortete er. „Und ob,“ zwitscherte es zurück. „Sag mal, bitte, hast du dir nicht das Rauchen und Trinken schon vor einiger Zeit abgewöhnt?“ Norbert hielt sich die brennende Zigarette vor die Augen. „Ja, das habe ich einmal getan,“ antwortete er. „Ich tat es, weil ich damals gemerkt habe, dass diese Dinge einem nicht dabei helfen können, seinen Träumen schneller nahe zu kommen. Aber, was... was soll das dämliche Gefrage jetzt?“ Er schmiss die Zigarette auf den Weg und trat sie aus. Egal wie, aber die leise Stimme in seinem Kopf rief jetzt plötzlich Erinnerungen herauf. Es war die Zeit der späten 70er Jahre, als er und seine Kumpels regelmäßig mit dem Bus zu einer Diskothek fuhren. Wozu, das wussten sie selber nicht richtig. Außer saufen und qualmen lief ja eh nichts. Ständig waren sie in Geldnot, ständig litten sie unter Kopfschmerzen. Und mit Frauen ging sowieso nichts. Wer wollte schon so einen Trottel vom Dorfe? Dann, in einer schrecklich kalten Nebelnacht, fuhr Norbert betrunken auf seinem neuen Moped von der Diskothek nach Hause. Da tauchte sie plötzlich am Straßenrand zwischen den Bäumen auf und sprang genau vor ihm auf die Fahrbahn. Es gab einen fürchterlichen Schlag, er stürzte mit dem Moped, das Mädchen lag tot auf der Straße. Flucht, Flucht, das war alles, was ihn da noch antrieb. Und nie kam die Sache heraus... „Nein!“ schrie er laut und ging entschlossen weiter. Nach wenigen hundert Metern tauchten drei kleine Zelte aus dem Nebel heraus. Sie waren unterhalb des Weges aufgebaut, direkt am Flussufer. Ein Stück abseits konnte Norbert sechs moderne Fahrräder erkennen, sie waren je zu zweit aneinander gelehnt. „Hier kann ich ein wenig schlafen,“ sprach er zu sich. Ging den flachen Damm hinunter und schmiss den Rucksack ab. Schnell zog er die alte Wolldecke hervor und legte sich zwischen den Fahrrädern nieder.
Junge Leute
Wie aus weiter Ferne drangen leise Stimmen in Norberts Bewusstsein ein. Albernes Lachen folgte, dann klapperte etwas leise. Der sanfte Duft von frischem Kaffee lag in der Luft. Er öffnete seine Augen und schaute in die Richtung der Zelte. Da hockten sechs junge Leute um einen winzigen Gaskocher herum im Gras. Sie trugen farbige Jogginganzüge. In ihren Händen hielten sie Plastikbecher, aus denen sie hin und wieder einen winzigen Schluck nahmen. Erst nach und nach konnte Norbert erkennen, es waren drei Mädchen und drei Jungen,- etwa siebzehn bis zwanzig Jahre alt. „Guten Morgen,“ rief eines der Mädchen leise zu ihm herüber. „Hast du gut geschlafen?“ fragte einer der Jungen. „Es ging so leidlich,“ brummte Norbert hervor und richtete sich ein Stück auf. „Kann ich von euch eine Tasse Kaffee bekommen?“ fragte er, noch immer nicht richtig wach. „Ihr könnt dafür von mir einige Konserven bekommen.“ Die Jugendlichen schauten sich lachend an. „Komm her,“ sprach schließlich der Junge. „Ist schon gut, deine Konserven kannst du doch sicher auch selber ganz gut gebrauchen.“ Schließlich erhob sich Norbert unter Stöhnen und setzte sich mit zu der Gruppe.
Wo er denn hin müsse, wollten die jungen Radwanderer von ihm wissen. Wie alt er wäre, wo er herkäme, wie er heiße. Und überhaupt, sie fanden den alternden Tramp total spannend. Nur kurz spulte Norbert seine Geschichte ab und als er darauf kam, dass er noch bis nach Parchim gehen müsse, schauten ihn betroffene Gesichter an. Das wäre noch ziemlich weit. Und ohne einen minimalen Komfort wohl kaum für ihn zu schaffen, meinte einer der Jungen. Zumindest nicht, bevor der Winter hereinbräche. Sie selber kämen von da aus der Nähe und wollten noch bis nach Berlin. Von dort aus werden sie dann mit der Eisenbahn wieder nach Hause fahren. Über die Schenker wussten sie nicht sehr viel. Bekannt war ihnen lediglich, dass die bereits zu einer älteren Generation gehören. „Schau, Norbert,“ sagte schließlich eines der Mädchen, das bisher geschwiegen hatte. „Wir haben jetzt September und die Nächte sind schon ziemlich kalt. Wir haben ein kleines Zelt als Reserve bei uns. Das werden wir kaum noch benötigen, für die kurze Strecke bis Berlin. Für einen kleinen Obolus können wir es dir geben. Da hast du wenigstens unterwegs ein ordentliches Nachtlager.“ Norbert willigte sofort ein und fragte, ob sie denn mit zwanzig Euro zufrieden seien. Das Mädchen lächelte kurz und nickte schließlich. Sie ging zu einem der zwei schwarzen Fahrradanhänger, die versteckt hinter den Zelten standen, zog das Verdeck zurück und nahm eine dicke, blaue Rolle heraus. Norbert kramte zwei zehner aus seiner Tasche hervor und schon war er Besitzer eines Zeltes geworden, das ihm durchaus als leicht zu transportieren erschien.
Etwa zur Mittagsstunde brachen die jungen Leute ihre Zelte ab, was zu Norberts Erstaunen sehr schnell ging. Nachdem alles in den Anhängern verstaut war, machten sie sich auch schon auf den Weg. „Norbert, das ist ein schöner Name,“ sagte das Mädchen zu ihm, welches ihm das Zelt verkaufte. „Eigentlich schade, dass es den heute nur noch so selten gibt. Wenige Kilometer von hier sind wir an einem alten Kloster vorbei gekommen. Dort steht auf der Weide ein Pferd. Auf einem Schild an der Koppel steht, das Pferd heißt Norbert. Na - ja, ist ja auch ganz nett.“ Sie zeigte mit ihrer linken Hand weg vom Radweg, dann fuhr die Gruppe los. Norbert schaute ihnen noch einige Augenblicke nach, sofort musste er über das Pferd nachdenken. „Ist schon eigenartig, dass es noch mehr Pferde mit diesem Namen gibt.“
Allein am Radweg, hungrig und durstig. Norbert beschloss, an dieser Stelle eine längere Pause einzulegen. Erst am nächsten Morgen wollte er weiter ziehen. Also packte er sein neues Zelt aus und begann sofort mit dem Aufbau. Das ging sehr schnell und schon nach etwa fünfzehn Minuten stand es vor ihm. Zwar klein, aber dafür fein und ganz sicher wasserdicht. Die Zeit bis zum Abend verschlief er darin. Als er wieder heraus kam verschwand die Sonne bereits am Horizont. „Holz sammeln ist angesagt,“ flüsterte seine innere Stimme ihm zu. „Ach, das ist ja schön, dass es dich auch noch gibt,“ antwortete er mürrisch. Aber klar, er musste Holz sammeln, um sich ein Lagerfeuer machen zu können. Etwas kochen, sich daran wärmen. Oben, auf dem Damm, standen reichlich alte Bäume, also ging er Holz einsammeln...
Ein großer Haufen alter Äste ragte vor dem Zelt auf. Norbert öffnete seinen Rucksack und nahm die in der Stadt gekaufte Flasche mit Brennspiritus heraus. Nur ein wenig davon schüttete er über das Holz, dann hielt er sein Feuerzeug daran. Sofort loderte eine helle Stichflamme auf. Er trat erschrocken zurück, bemerkte nicht gleich, dass die offene Flasche in seiner Hand brannte. Nach wenigen Augenblicken ging er wieder auf das Feuer zu, schüttelte dabei reflexartig die Flasche mit seiner rechten Hand. Seine Hose stand plötzlich in Flammen, mit beiden Händen wollte er das Feuer ausklopfen, - schüttete sich dabei den brennenden Spiritus am ganzen Körper breit. Schlagartig war er von Feuer und Hitze eingehüllt. Die Flasche fiel ihm auf die Füße, hohe Flammen schlugen an ihm nach oben. Norberts Hirn suchte verzweifelt nach einer Lösung, seine beiden Hände fuchtelten wild am ganzen Körper herum. Schließlich rannte er die wenigen Meter bis zum Flussufer und sprang ins Wasser.
Die Kälte im Fluss tat gut und in Norberts Hirn trat eine kurze Ernüchterung ein. Nachdem er wieder aufgetaucht war, schwamm er zum Ufer und zog sich an Grasbüscheln nach oben. Nur mit viel Mühe schaffte er es, wieder an Land zu gelangen. Das Zelt war niedergebrannt und rauchte, sein Rucksack stand in hellen Flammen. Erst jetzt nahm er die brennenden Schmerzen am ganzen Körper wahr. Ihm wurde es unerträglich heiß. Was sollte er jetzt tun? Er war doch sicher schwer verletzt, weit und breit kein Mensch. „Das Kloster!“ jagte es durch seinen Kopf. Dort hinüber hatte die junge Frau zum Abschied gezeigt. Unter Qualen gelangte er auf den Radweg, ging dann einige hundert Meter. Schließlich erkannte er in der Dunkelheit einen abzweigenden, unbefestigten Weg.
Verzweifelter Weg
Der Tag war angebrochen, heiß brannte die Sonne. Heftige Schauer aus stechenden Schmerzen jagten über Rücken und Schultern. Der Schweiß strömte beständig übers Gesicht, er machte einen klaren Blick völlig unmöglich. Jeder kleine Schritt vorwärts brachte eine neue Höllenqual mit sich. Die den Weg säumenden Pflanzen schaukelten, veränderten ihre Farben, schienen sich über den gemarterten Wanderer zu amüsieren. Dieser versuchte immer wieder, sich mit beiden Händen die Augen frei zu wischen. „Wie weit wird es noch sein?“ fragte leise die Stimme tief in seinem Kopf. „Wie viele Schritte muss ich noch unter diesen Schmerzen gehen?“ fragte Norberts verbrannter Mund. Schleim floss dabei heraus, doch den konnten die verkohlten Hände nicht abwischen. Zuviel unnötige Kraft wäre dafür verloren gegangen.
Norbert hielt inne, versuchte angestrengt durch zu atmen. Beim dritten Versuch ging es fast ohne Schmerzen. Die Welt ringsum bekam wieder ein klein wenig ihre normale Farbe zurück. Jetzt führte er langsam beide Hände zum Gesicht, wischte vorsichtig Augen, Nase und Mund frei. Der vor ihm liegende Weg wurde deutlich sichtbar, erschien noch unendlich lang. Nirgendswo war ringsherum ein Haus zu sehen, oder auch nur ein Geräusch zu hören, welches an die Anwesenheit der Zivilisation erinnern konnte. Norbert senkte den Kopf und sah die Reste seiner verbrannten Kleidung, die durchschimmernde rote und schwarze Haut. „Hilfe, Hilfe!“ schrie die Stimme in seinem Kopf verzweifelt. „Wir gehen jetzt langsam weiter,“ sagte der verbrannte Mund. Eine leichte Anhöhe ging es hinauf, in der Ferne konnte Norbert die Umrisse eines größeren Gebäudes erkennen.
Das alte Kloster
Lars Hense war an diesen warmen Vormittag damit beschäftigt, ein großes Beet von Unkraut zu befreien. Mit einer schweren, alten Hacke schlug er verblühende Disteln um. Später wollte er das alles noch umgraben, damit er im kommenden Frühjahr hier Futterrüben anbauen konnte. Ein Stück weit abseits stand sein Schimmel auf einer kleinen, völlig verwilderten Wiese, direkt an der Mauer des Grundstücks. Nur eine notdürftige Absperrung, aus alten Brettern gezimmert, grenzte diese Weide ein. Hier, in diesem fast vergessenen, nur von drei Brüdern bewohnten Franziskaner Kloster, war er hängen geblieben. Und dies erst vor wenigen Tagen. Dass seine Reise so abrupt bei einer kirchlichen Einrichtung enden sollte, hätte er sich noch vor kurzer Zeit nicht vorstellen können. Aber, so war nun einmal sein Wesen. Er tat das, was er für richtig hielt. Einmal hier geschlafen und gegessen, schon war er mit dabei. Der Vorsteher erlaubte ihm sogar, sein Pferd zu behalten. Als Gegenleistung sollte er die um das Kloster herum verstreuten, kleinen Gärten wieder in Ordnung bringen. Darin könnte er sich dann eben auch das Futter für sein Pferd anbauen. Mit dem Beginn seines Noviziats jedoch, solle er noch bis zum kommendem Frühjahr warten, so meinte der Vorsteher. Also steckte er während dieser warmen Spätsommertage in einem blauen Overall, übte sich in landwirtschaftlichen Tätigkeiten.
Die alte Turmuhr schlug die elfte Stunde. Lars ging zur Koppel, stellte die Hacke an den Bretterzaun und graulte Norbert an den Ohren. Der Schimmel schnaufte unruhig, hob seinen Kopf, schüttelte heftig die Mähne. Etwas hatte ihn beunruhigt, aber was? Lars blickte in alle Richtungen und sah, dass sich eine dunkle Gestalt auf dem unbefestigten Zufahrtsweg näherte. Langsam ging dieser Mensch, gebückt war seine Haltung, als würde er Schmerzen leiden. Schnell rannte er diesem gequälten Wesen entgegen. Als er vor ihm stand, konnte er sich kaum noch unter Kontrolle bringen. „Norbert!“ schrie er laut. „Was ist denn mit dir passiert?“ Vorsichtig griff er seinem alten Freund unter den Arm, stützte ihn ab. Langsam gingen sie zur Klosterpforte.
Das weitere Leben
Wegen seiner schweren Verbrennungen wurde Norbert mit einem Rettungshubschrauber in eine Spezialklinik nach Berlin geflogen. Viele Monate musste er das Krankenbett hüten, schwierige Behandlungen über sich ergehen lassen. Manchmal kam Lars ihn besuchen, sie redeten dann lange, machte sich gegenseitig Mut. Nach seiner Entlassung aus der Klinik wurde Norbert berentet. Zu gravierend waren die Folgeschäden der erlittenen Verbrennungen, als dass er zu körperlicher Arbeit noch fähig gewesen wäre. Er wurde in ein kleines Pflegeheim eingewiesen, welches in jener Stadt ansässig ist, in der er und Lars einst die Einkäufe für ihre lange Reise tätigten. Lars selber wurde Novize in seinem kleinen Kloster und hat diesen Weg bis heute nicht bereut. An manchen sonnigen Tagen telefonieren die beiden Freunde miteinander, verabreden sich zu einem Treffen. Norbert müht sich dann mit seinen zwei Krücken bis zum alten Biwak am Weiher, wo Lars meistens schon mit seinem Schimmel auf ihn wartet.
Ende
Der erste Tag
Hart war die Schale und die kleine Male musste sich sehr anstrengen, bis sie es endlich geschafft hatte, ein winziges Loch heraus zu picken. Schwaches Licht konnte sie mit ihren noch verschlossenen Äuglein wahrnehmen. Die Mutter Glucke näherte sich und berührte mit ihrem Schnabel sanft die Schale des Eies, dann Mahles kleinen Kopf. Schließlich setzte sie sich wieder auf das Gelege, das sie erst vor wenigen Augenblicken verließ, um sich mit Weizenkörnern und Wasser zu stärken. Dunkel und warm war es nun, Male hackte unaufhörlich gegen die Schale. Sie hackte so lange, bis sie befreit war und dann vor Erschöpfung einschlief. Nur hin und wieder erwachte sie kurz während der nächsten Stunden, leise hörte sie dann das Glucksen der Mutter und das sanfte Piepsen ihrer Geschwister. Unter sich spürte sie das weiche Stroh des Nestes.
Viele Stunden waren schon vergangen, als sich die Mutter Glucke wieder vom Nest erhob. Males Augen waren jetzt geöffnet und sie schaute sich die Umgebung an. Nur wenige Schritte entfernt drang Tageslicht in den Stall, in welchem die alte Obstkiste stand, in der Male und ihre neun Geschwister lagen. Die Mutter lief zu diesem Licht, gluckste unaufhörlich dabei, schaute immer wieder zum Nest zurück. Was nun tun? Rings um schickten sich die Geschwister an, durch die breiten Ritze der Kiste zu kriechen. Wackelig waren ihre ersten Schritte, nachdem sie auf den Boden fielen. Sofort folgten sie jedoch ihrer Mutter. Male kroch schließlich als letzte aus der Kiste und folgte taumelnd den anderen.
Das Licht schien durch eine offen stehende Stalltür, vor der blieb die Glucke stehen. Kurz überschaute sie ihre versammelte Kinderschar, plusterte sich kräftig und betrat schließlich den Hühnerhof. Die zehn Küken folgten ihr dicht, schauten ängstlich und unsicher in jede Ecke dieser neuen Welt. Da standen flache Wasserbehälter, kleine Tröge mit herrlich duftendem Futter, ein großer Berg geschnittenes Gras lag in der Nähe. Die Mutter Glucke trank ausgiebig am Wasserbehälter, ihre Kinder machten ihr das sofort nach. Dann lief die ganze Schar zu einem Trog und pickte vom feinen Futter. Argwöhnisch wurden sie dabei von den vielen großen Hühnern beobachtet, die sich aber in gebührendem Abstand hielten. Hier war es schön, das merkte klein Male schnell. Viel Platz, die Sonne schien vom Himmel, keines der alten Hühner suchte Streit. Ein Stück weit entfernt saß ein großer, alter Gockelhahn auf einer niedrigen Mauer und krähte laut. Ganz vorn auf dem Hof stand ein großer Zaun, hinter dem begann eine große, grüne Wiese und die schien unendlich weit zu sein. Erst am fernen Horizont verloren sich ihre Grenzen. Jedoch schienen alle Hühner des Hofes die Nähe dieses Zaunes zu meiden. Male konnte hinter ihm einen großen, weißen Hund sehen, der vor seiner Hütte lag und herüber sah. Sicher fürchteten den alle hier und gingen deshalb nicht zum Zaun.
Den ganzen Tag über war es sehr warm. Die Mutter Glucke hatte es geschafft, ihren Küken den gesamten Hühnerhof zu zeigen. Selbst in den kleinsten Winkeln und Ecken gab es noch etwas zu entdecken. Hin und wieder kam auch einmal eines der alten Hühner in die Nähe und besah sich die Kleinen etwas genauer. So verstrich der Tag und es nahte der Abend. Als es zu dunkeln begann, kam die Bäuerin auf den Hof. Während sie mit einem großen Besen kehrte, trieb sie alle Hühner allmählich in den Stall. Unablässig redete sie dabei auf die Mutter Glucke ein. Die schickte sich schließlich an, mit ihren Kindern wieder in die alte Obstkiste zurück zu kehren. Da drin krochen die schnell alle unter ihr Gefieder und schliefen gleich ein. Dieser erste Tag war sehr anstrengend.
Die Zeit als Küken
Die folgende Wochen und Monate brachten für Male und ihre neun Geschwister vieles an Ereignissen und Abwechselungen. Fast jeden Tag schien die Sonne und Mutter Glucke unternahm mit ihrer Kükenschar ausgedehnte Exkursionen über den großen Hühnerhof. Es gab da kaum einen Tag, an welchem die Kleinen nichts neues kennengelernt oder entdeckt hätte. Da waren die frechen Sperlinge, die sich immer wieder dreist am Futtertrog der alten Hühner mit Weizen bedienten. Anfangs glaubte Male ja noch, dass diese grauen Gesellen mit zum Hühnervolk gehörten. Jedoch sah sie dann oft, wie diese vom Gockel vertrieben wurden. Oder der alte, schwarze Kater Peter, den galt es nach Möglichkeit zu meiden, dies machte Mutter Glucke ihren Küken unmissverständlich klar. Oft schlich sich das unheimliche Tier heimlich in den Hühnerhof und beobachtete vor allem Male und ihre Geschwister. Jedoch geschah niemals etwas schlimmes wenn er da war. An manchen Tagen, wenn es regnete oder stürmte, blieb das ganze Hühnervolk in seinem Stall. Dann geschahen auch die weniger schönen Ereignisse. Immer und immer wieder bekamen dann die Küken von den alten Hühnern kräftige Schnabelhiebe. Gackernd machten die alten Damen deutlich, dass sie ihren Platz behaupten wollten. So sehnten sich Male während solcher Tage nach nichts mehr, als dass die Sonne bald wieder scheinen möge.
So verging der Sommer und alle zehn Küken wuchsen allmählich zu stattlichen Junghühnern heran. Nach und nach bekam ihr Gefieder die gleiche gescheckte Färbung, wie sie die Alten trugen. Es erschien ihnen, hier auf dem großen Hof wirklich wie in einem Paradies zu leben. Täglich brachte die Bäuerin frisch gemähtes Grünfutter, Weizen, gekochte Kartoffeln, klares Wasser. Als Dank für diese schönen Gaben nahm sie sich die gelegten Eier der alten Hühner mit. Und alle schienen mit diesem Geschäft einverstanden zu sein. Es wurde keines der Hühner jemals vom Hof fortgeholt, hier gab es das nicht. Die Bauersleute aßen kein Fleisch, das hatte Mutter Glucke ihren Küken den Sommer über beigebracht. Alle könnten ihr ganzes Leben hier glücklich fristen. Ja, Male war auch auf eine gewisse Art glücklich. Dennoch verließ sie nie ihre Neugierde darauf, was es wohl so alles auf der großen, grünen Wiese hinter dem hohen Zaun zu entdecken gäbe. Oft lief sie ganz allein zu der Barriere und schaute lange Zeit durch den Maschendraht in die Ferne. Argwöhnisch beobachtete sie der Hofhund dabei, während er vor seiner Hütte döste.
Es kam der Herbst und schließlich der Winter. Male fror fast ununterbrochen bei Tag und Nacht. Im Stall war es kalt und draußen auf dem Hof lag hoher Schnee. Die meiste Zeit verbrachten alle Hühner des Hofes damit, eng zusammen gekuschelt in Ecken oder auf ihren Stangen zu sitzen. Oft war es sehr dunkel überall und Male schlich sich immer öfter nach vorn zum hohen Zaun. Dort, am anderen Ende der großen Wiese, brannten viele Lichter. Und von da war auch immer wieder das Gackern vieler Hühner zu hören. Sicher würde es dort einen großen, warmen Stall geben, in dem viele Hühner glücklich lebten. An klaren Tagen waren ja auch die schwachen Umrisse eines langen, weißen Gebäudes zu erkennen. Wie gern wäre sie hin gelaufen, hätte sich diesen glücklichen Hühnern angeschlossen. Wenn, ja, wenn nur der Zaun nicht so hoch gewesen wäre, wenn da nicht der alte Hund seine Wache hielte.
Male geht fort
Wieder hatte ein kalter, dunkler und langweiliger Wintertag begonnen. Die Sonne wollte einfach nicht durch die Wolken scheinen, hier und da auf dem Hof kratzte ein altes Huhn im Schnee herum. Males Geschwister waren an diesem Morgen im Stall geblieben. Sie selbst stand vor dem hohen Zaun und beobachtete die vielen Lichter hinter der großen Wiese. Schon ganz früh am Tage waren die Bauersleute mit dem Hofhund zum Tierarzt gefahren. Er zog sich wohl eine Erkältung zu und konnte sich darum nur ganz schlecht bewegen. Unruhig lief Male am Zaun auf und ab. Ja, sie wollte diese gute Gelegenheit nutzen, um zu den glücklichen Hühnern am anderen Ende der Wiese gehen zu können. Aber, der Zaun war sehr hoch. Male flatterte auf den niedrigen Stapel aus Brennholz, dann visierte sie den obersten Saum des Maschendrahtes an. Ein kräftiger Sprung, heftiges Schlagen mit den Flügeln und sie war oben gelandet. Noch einige Augenblicke schaute sie in alle Richtungen, dann startete sie in die Richtung der Hundehütte. Sanft landete sie schließlich neben dem Fressnapf des Hundes. Ohne noch lange zu zögern, ging sie direkt auf die Lichter zu.
Der Schnee auf der Wiese war tief und locker. Male kam nur sehr langsam und mühselig voran. Hin und wieder blieb sie stehen und sah zu ihrem kleinen Hühnerhof zurück. Dort war alles ruhig, niemand schien ihr Verschwinden bemerkt zu haben. Immer wieder schaute sie auch beängstigt nach oben um zu prüfen, ob sich ein Greifvogel näherte. Aber der Himmel war nur voller grauer Wolken, nicht einmal der kleinste Vogel war weit und breit zu erkennen. Also ging sie weiter zu dem weißen Stall, der ganz allmählich immer größer erschien. Sicher könnte es dort für sie wohlschmeckendes Futter und warmes Wasser geben, wenn sie angekommen wäre. Ganz viele nette, alte Hühner würden sie begrüßen und mit ihr spielen. Und drinnen im Stall war es gewiss schön warm und gemütlich.
Dicke Schneeflocken begannen vom Himmel zu fallen. Für Male wurde es immer schwerer vorwärts zu kommen. Aber sie mühte sich von Kräften, denn sehr weit war es ja nicht mehr. Schon konnte sie das lange, weiße Gebäude deutlich vor sich sehen, dessen Fenster hell und vielversprechend erleuchtet waren. Noch ein kurzes Stück des Weges und schließlich stand sie wieder vor einem hohen Zaun aus grünem Maschendraht. Nun war guter Rat teuer. Hier gab es keinen Holzstapel, oder irgend etwas, von wo aus sie hätte starten können. Also ging sie erst einmal am Zaun entlang, in der Hoffnung, eine günstige Stelle zu finden. Unablässig beobachtete sie dabei die hellen Fenster, lauschte dem lauten Gackern der vielen Hühner dahinter.
Die Dunkelheit brach bereits an, noch immer fiel dichter Schnee vom Himmel. In Male stieg eine leise Angst auf. Sie ging am Zaun entlang und hatte bisher keine Möglichkeit gefunden, ihn zu überwinden. Würde sie die Nacht allein in Schnee und Kälte verbringen müssen? Die da drinnen im großen Stall, denen ging es gut. Sie saßen im warmen und ließen sich ihr Futter schmecken. Für sie, das kleine gescheckte Huhn, blieb die Kälte und Finsternis. Aber da tat sich plötzlich Hoffnung auf. Direkt vor sich sah Male ein kleines Loch im Maschendraht. Ohne zu zögern schlüpfte sie hindurch und lief auf die hellen Fenster zu.
Auf der Farm
Male stand allein im Schnee und schaute voller Hoffnungen zu den hell erleuchteten Fenstern hinauf. Schon wieder wusste sie sich keinen Rat, denn eine Tür oder ein kleiner Durchschlupf war an dem großen Gebäude nicht zu sehen. Es war nun bereits völlig dunkel geworden und die Schneeflocken fielen immer dichter vom Himmel. So ging sie an der Wand entlang und hoffte wieder auf ihr Glück. Plötzlich sah sie vor sich viele Spuren im Schnee. Sie ähnelten denen, die der alte Hofhund immer hinterlassen hatte. Nur waren die hier viel kleiner und sie rochen sehr stark. Neugierig folgte Male der Fährte, denn die müsste ja irgendwo hinführen. Es dauerte auch nicht lange und sie verlor sich in einem kleinen Bretterschuppen, der versteckt unter einem hohen Strauch stand. Vorsichtig äugte Male in alle Richtungen, dann ging sie in diesen Verschlag hinein. Es war zwar bereits Nacht, aber dennoch reichte der Lichtschein der Fenster völlig aus, damit ihre Augen die vielen gestorbenen Hühner erkennen konnten, die zu einem Haufen aufgetürmt darin lagen. Doch das war noch nicht genug des Schreckens, denn vom Zaun her näherte sich gut hörbar ein Tier. Sicher würde es das sein, von welchem die Spuren stammten. Laut gackernd und kreischend flatterte Male aus dem Schuppen und floh hastig an der Wand des Stalles entlang. Sie blieb erst wieder am Ende des Gebäudes stehen, dort brannte eine helle Lampe auf dem Hof. Menschen waren zu sehen und ein großes Auto stand da.
Noch immer völlig aufgeregt näherte sich Male den Leuten auf dem Hof. Es waren mehrere junge Männer, die blaue Arbeitsanzüge trugen. In ihren Händen hielten sie breite Reisigbesen. Da führte eine breiter Steg von der geöffneten Stalltür aus auf das große Auto hoch. Viele Hühner mit weißen Gefiedern rannten hastig diesen Steg hinauf und verloren sich dann schnell im Bauch des Autos. Aus dem Stall war jetzt lautes Rufen und Schreien von anderen Männern zu hören. Die Männer draußen lachten laut, als sie die völlig verwirrte Male auf sich zukommen sahen. Einen von ihnen schlug kräftig mit seinen Besen nach ihr und gab ihr dann noch einen Tritt mit dem Fuß. Male floh kreischend in die Dunkelheit. Als sie am Maschendrahtzaun angekommen war, blieb sie stehen und atmete hastig mit offenem Schnabel. Was sollte sie nun tun? Vom Glück war hier ganz sicher nicht die kleinste Spur. Tote Hühner, wilde Tiere, schlagende Menschen. Sie ließ sich in den kalten Schnee sacken und schloss die Augen.
Als der neue Tag allmählich graute, erhob sich Male und schüttelte kräftig ihr Gefieder. Es war bitter kalt und sie spürte die Füße kaum. Ganz vorsichtig schaute sie durch den Maschendraht. Nur ganz schwach konnte sie dort in der Ferne die Konturen ihres kleinen Hühnerhofes ausmachen. Über Nacht hatte der Schneefall aufgehört, feuerrot ging am Horizont die Sonne auf. Male quälte sich langsam am Zaun entlang, sie musste das kleine Loch wieder finden, durch das sie am Abend hier hinein gelangte. Nach einiger Zeit fand sie es schließlich und schlüpfte hindurch ins freie. Wieder begann sie nun mühsam durch den hohen Schnee zu wandern, immer in die Richtung ihrer alten Heimat.
Die Heimkehr
Auf dem kleinen Bauernhof herrschte an diesem Abend ein wenig Unruhe. Dem alten Hofhund ging es immer noch schlecht und die Bauersfrau führte ihn ein wenig an der Leine herum. An dieser und jener Stelle schnüffelte er einmal, scharrte verlegen im Schnee. Sicher, man hatte bereits am vergangenen Abend bemerkt, dass eine der jungen Hennen fehlte. Aber darum konnte sich derzeit niemand kümmern, denn der Hund zog alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Bäuerin ging mit ihm ein Stück auf die große Wiese hinaus, dort sollte er sein Geschäft erledigen. Als sie bereits ein ganzes Stück weit gegangen waren, begann der Hund plötzlich heiser zu bellen. Heftig zog er seine Herrin an der Leine hinter sich her und blieb schließlich an einem unförmigen, gescheckt farbigen Bündel stehen, das im Schnee kauerte. Die Bäuerin erkannte natürlich sofort, dass es ihr fehlendes Huhn war, welches da so jämmerlich in der Kälte vor sich hin dämmerte. Vorsichtig hob sie es mit beiden Händen auf und lief dann schnell zum Hof zurück.
Die Nacht war längst angebrochen. Male hockte in einem großen Karton, der vor dem Küchenherd des Bauernhauses stand. Sie war rundherum von Holzwolle umgeben, fror jedoch noch immer fürchterlich. Hin und wieder erschien die Bäuerin in der Küche und schaute nach ihrer heimgekehrten Ausreißerin. Sanft streichelte sie dabei dem kranken Huhn über die Federn, flüsterte ihm beruhigende Worte zu. Male rührte sich nicht, sie genoss jetzt einfach nur ihr Dasein. So verging allmählich die Nacht und von Stunde zu Stunde ging es ihr ein Stückchen besser. Als dann der Morgen graute, trug die Bäuerin ihre Male nach draußen auf den Hühnerhof.
Fortan lebte Male wieder auf ihrem kleinen Hühnerhof. Ja, sie fühlte sich hier ein ganzes Stück weit glücklich. An den langen Abenden, wenn alle Hühner gemütlich auf ihren Stangen saßen, dann erzählte sie den anderen oft von der großen, weiten Welt da draußen. Und alle hörten ihr gespannt zu.
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Texte: Michael Loeper
Bildmaterialien: Michael Loeper
Tag der Veröffentlichung: 20.06.2014
ISBN: 978-3-7368-2155-2
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