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Am Bahnhof

Sie stand am Bahnhof und drehte sich ein allerletztes Mal um. Da stand er. Er, von dem sie dachte, er würde sie ein Leben lang begleiten. Sie reichte ihm ein letztes Mal die Hand. Trotz der Hektik in der Bahnhofshalle schien auf einmal alles still zustehen. Sie schaute in seine blauen Augen und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, in ihnen zu versinken. Doch genau das durfte sie nicht. Er konnte ihr sehr schnell gefährlich werden.

Er hingegen steht am Bahnhof, den Koffer in der linken Hand, und möchte eigentlich nur schnell wieder weg. Weit entfernt von der Heimat sein Leben weiterführen. Sie nervt ihn eigentlich nur noch, obwohl sie sich einmal so nah gestanden haben. Er genießt die Hektik um ihn herum. Sie ermöglicht ihm ein schnelles Untertauchen in der Masse. Der Höflichkeit halber reicht er ihr seine Hand, die durch die Sommerhitze schon verschwitzt ist. Er schaut ihr kurz in die Augen und da ist es wieder, ein Gefühl der Schuld, das in ihm nagt.

Ihre Wangen glühten und sie wand den Blick ab. Eigentlich durfte sie ihn nicht so ansehen. Er hatte sein Leben und sie ihres. Zu Hause wartete bereits ihr Verlobter, der ihren kleinen Sohn hütete. Ihr Verlobter war ein wirklich guter Mensch, er symbolisierte die Ruhe zu ihrer Hektik. Sie hätte keinen besseren Mann finden können. Doch trotzdem stand sie hier am Bahnhof, sah ihrer großen Liebe in die Augen und ihre Knie wurden weich. Nach einer gefühlten Ewigkeit nahm sie seine Hand an und schüttelte sie. Früher hatte er sie immer umarmt.

Er zieht die Augenbrauen zusammen. Sie darf ihn nicht so anstarren. Nicht nach allem, was er getan hat. Es ist die richtige Entscheidung gewesen. Er liebt seine Ehefrau und die drei kleinen Kinder. Natürlich hat er sie auch einmal geliebt, aber sie ist zu dominant für ihn. Heute hingegen wirkt sie so schüchtern. Sie nimmt seine Hand und er spürt den sanften Händedruck. Er schielt auf seine Armbanduhr.

Sie merkte, wie er versuchte sich aus dem Händedruck zu lösen und ließ ihn gewähren. Es war schön, dass er sich seit Jahren wieder in der Heimat aufhielt, auch wenn sein Kommen mit dem Gehen einer Anderen in Verbindung stand. Ihre gemeinsame Freundin war bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Sie hatte unzählige Tränen vergossen. Durch die Beerdigung trafen die alten Freunde aufeinander. Plötzlich erfasste sie die Schwere der Situation. Ihr stiegen erneut die Tränen in die Augen. Ihre beste Freundin tot und ihr erster Freund wieder auf dem Heimweg.

Er entwendet sich dem Händedruck und will zum Bahnsteig gehen, um ihr endlich zu entkommen. Da sieht er es plötzlich. Tränen steigen in ihren Augen auf. Er weiß nicht so recht, wie er handeln soll, entscheidet sich jedoch dafür, ihr sein letztes sauberes Taschentuch zu reichen. Heute hat man eine langjährige Freundin beerdigt, die für seinen Geschmack viel zu früh verstarb. Bis zur Beerdigung hat er nicht mehr viel von dieser gehört. Sie ist eine seiner ältesten Freunde gewesen, aber er führt ein neues Leben. An ihrem Grab hat er kurz an seiner Entscheidung gezweifelt. Dabei tut er das Richtige. Er ist glücklich.

Sie nahm das Taschentuch dankbar an und wischte ihre Tränen vorsichtig ab. Dann drehte sie sich um, schaute nicht mehr zurück und bahnte sich ihren Weg durch die Menge. Sie wollte plötzlich nur noch zu ihrem Verlobten. Sie würde sich neben ihn auf das Sofa setzen und er würde ihr über den Rücken streichen. Sie verließ den Bahnhof und spürte schlagartig die Sommerhitze auf ihren Wangen.

Er beobachtet, wie sie plötzlich davon stapft. Noch lang schaut er ihr hinterher. Einerseits ist es gut, dass sie endlich geht, aber andererseits hat er heute gemerkt, wie wenig er eigentlich über seine ehemaligen Freunde und vor allem über sie weiß. Er bedauert dies und doch möchte er sein neues Leben nicht missen. Die Hektik am Bahnhof wird ihm plötzlich zu viel. Er dreht sich um und bahnt sich seinen Weg durch die Menge bis er den Zug erreicht. Als er sitzt und der Zug losfährt zieht die Stadt und mit ihm sein altes Leben vorbei. Er lehnt sich zurück und greift nach der Zeitung.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 09.07.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An die besten Freunde der Welt. Ihr seid meine zweite Familie. Ich liebe euch.

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