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Nachtspaziergang

Sie lief allein nach Hause. Draußen war es bereits dunkel. Auf der anderen Straßenseite stand eine Gruppe von Jugendlichen. Sie schienen bereits ein paar Bierchen zu viel getrunken zu haben, denn sie lallten „Alle meine Entchen“, wobei sie probierten, den Text in Englisch zu übersetzen.

Doch sie bekam dies alles gar nicht wirklich mit. Viel zu sehr war sie damit beschäftigt, in den Himmel zu starren. Zu sehr fasziniert war sie von den vielen scheinbar kleinen Sternen.

Wie oft hatte sie sich schon vorgestellt, wie er da oben saß und sie beobachtete. In seiner eigenen kleinen Galaxie. Bei diesem Gedanken umspielte ein kleines Lächeln ihre Lippen.

Doch schon bald spürte sie die eisige Kälte des Winters und sie vergrub ihre Finger tiefer in den Taschen ihres schwarzen Mantels.

Schwarz war momentan so ziemlich die einzige Farbe, welche sie trug. Der dunkle Farbton bildete einen starken Kontrast zu ihrer blassen Haut.

Heute Abend war sie von der Reise nach Hause gekommen. Sie hatte einen alten Freund in Frankfurt besucht. Früher waren sie zusammen zur Schule gegangen. „Ja, das war die beste Zeit meines Lebens“, flüsterte sie in die Nacht. Sie hatten viele Jahre zusammen verbracht, gelacht und geflucht. Am Ende wurden sie sogar ein Paar. Alle hatten immer gesagt, wie wunderbar die beiden harmonierten. Und doch hatte es nicht sein sollen.

Nach ihrem Schulabschluss, ging er nach Frankfurt und studierte. Sie blieb zurück und kümmerte sich um ihre Familie. Ihre Oma war pflegebedürftig geworden und so blieb sie, obwohl sie die besten Noten hatte und schon immer davon träumte, in England zu studieren. Sie blieb und wurde Auszubildende in einer kleinen Steuerkanzlei. Bei dem Gedanken daran funkelten Tränen in ihren Augen. Sie holte tief Luft und sog die kalte Nachtluft in ihre Lungen.

Er hingegen war weg. So sehr sie es sich am Anfang auch versprochen hatten, es war einfach zu schwierig gewesen, als Paar zusammen zu bleiben.

Sie ballte ihre Hände in den Manteltaschen zu Fäusten. Die Besoffenen stimmten „Oh du fröhliche“ an.

So entfremdeten sie sich immer mehr. Er lernte eine hübsche Frau kennen und meldete sich in Folge dessen immer seltener bei ihr. Sie konnte es ihm nicht einmal übel nehmen, sie hatte einfach zu wenig Zeit. Die Ausbildung wurde immer stressiger, die Familie stritt wegen kleinsten Details.

Eines Tages dann trennten sie sich, blieben jedoch stets in Kontakt.

Schon bald heirate er, sie war seine Trauzeugin gewesen.

Sie kam bei der Ampel an und musste warten. Die Autos nahm sie nur noch verschwommen wahr, da sich ihre Tränen verdichteten. Sie blickte nach oben, konnte den Sternenhimmel jedoch kaum noch erkennen, zu stark erleuchteten die Straßenlaternen mit ihren gelben Lichtern die Nacht. Sie griff nach einem Taschentuch, welches sie jedoch nicht gleich fand. Stattdessen hielt sie plötzlich eine Tüte Gummibärchen in der Hand. Sie biss sich auf die Lippen und wartete auf den metallischen Geschmack des Blutes.

Früher hatten sie immer alle Süßigkeiten geteilt. Sie hatte meist extra dafür ein paar Gummibärchen oder sogar Schokolade mitgenommen. Und nun war sie allein.

Dabei wollte sie doch nur alles richtig machen. Sie wollte bleiben, sich um alle kümmern und ein kleines einfaches Leben führen. Schon immer träumte sie davon, zu heiraten und dann mit allen zusammen im Haus ihrer Ahnen zu wohnen.

Die Ampel wurde grün. Sie überquerte diese in zügigen Schritten. Der angestaute Ärger beschleunigte diese noch, bald würde sie daheim ankommen.

Sie hatte dann auch bald jemanden kennengelernt. Einen netten jungen Mann. Er gefiel ihr wirklich gut, war zwar nicht besonders hübsch, aber kümmerte sich stets um sie. Nach dem sie den Segen ihrer Eltern hatte, heiratete auch sie. Die Zeremonie war klein, nur ihre Eltern kamen. Der Freund war eingeladen gewesen, konnte allerdings nicht kommen, da seine kleine Tochter erkrankte.

Das Ehepaar zog ins Haus ihrer Eltern und alles war wie immer.

Der Gedanke daran brachte sie kurz zum Schmunzeln.

Die junge Familie ging arbeiten, einmal im Jahr fuhren sie in den Urlaub. Nicht weit, nur in den Harz. Sie traute sich nicht, weiter weg zu fahren. Zu groß war die Sorge, ihren Eltern könnte ein

Missgeschick widerfahren und sie konnte nicht helfen.

Jetzt war sie schon fast zu Hause angekommen, doch eigentlich wollte sie gar nicht heim. So blieb sie vor der Tür stehen, drehte sich um und schaute in die Baumkrone der alten Birke vor ihrem Haus. Die Blätter wehten sacht im Wind.

Es geschah eines Abends. Er war wie jeden Morgen mit dem Motorrad auf Arbeit gefahren. Nachmittags regnete es. Eigentlich kein Problem, wäre der Regen nicht gefroren. Sie hatte schon Tee gekocht, das Abendessen stand bereit. Und dann kam der Anruf.

Sie wandte ihren Blick von den Blättern ab und starrte erneut in den Sternenhimmel.

Sie hatte es zunächst nicht wahrhaben wollen. Der Polizist sprach von einem tragischen Unglück.

Sie hatte aufgelegt und sich an den Tisch gesetzt. Gewartet hatte sie. Die ganze Nacht saß sie an dem Tisch mit der Teekanne und den Schnittchen. Doch er kam nicht. Er kam nie wieder.

Sie hatte sich mit den Fingernägeln ins Fleisch geschnitten, zu stark war die Hand zur Faust geballt.

Die Beerdigung fand nur zwei Wochen später statt. Kinder hatten sie keine.

Sie drehte sich um und schloss die Haustür auf. Ihre Eltern warteten schon. Sie brachte ihre Mutter ins Bett, deckte ihren Vater zu. Dann räumte sie die Reste des Abendessens bei Seite. Ihre Mutter hatte wieder einmal kaum etwas gegessen und der Vater hatte vergessen den Herd auszuschalten. Töpfe standen zwar keine mehr auf der Platte, das Gas jedoch war angeschaltet. Sie drehte es aus.

Dann setzte sie ihr Brille ab, fuhr sich durch die Haare.

Ja, heute war sie bei ihrem Freund gewesen. Er hatte sich von seinem Ersparten ein Haus gekauft, lebte mit Frau und Kindern ihr Leben.

Wäre sie damals doch nur mit ihm gegangen. Doch sie konnte nicht. Sie konnte ihre Familie einfach nicht im Stich lassen.

Sie schaltete das Licht aus, zog sich aus, und ging schlafen. Morgen musste sie wieder früh aufstehen und auf Arbeit gehen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 11.12.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
An meine Oma Ich liebe dich, wo auch immer du gerade bist.

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