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„Na, dann wollen wir mal!“ sagte der Mann im schwarzen Anzug betont freundlich. Er lächelt mich an, doch ich erwidere es nicht. Mein Gesicht bleibt ausdruckslos, während mir der Mann fortwährend seine blitzend weißen Zähne zeigt. Langsam sehe ich die mir schon bekannt Irritation in seinen Augen aufsteigen und schließlich wendet er sich ab und öffnet mir die Türen des Autos. Ohne mich nochmals anzusehen geht er auf die Fahrerseite und steigt ein. Ich drehe mich ein letztes Mal um und sehe den Garten und das Schloss, welches so lange meine einsame Heimat gewesen war. Für einen Augenblick erlaube ich es meinem Gesicht meine Gefühle widerzuspiegeln und Tränen steigen in meine Augen. Doch bevor sie meine Wangen hinunterlaufen können ist mein Gesicht wieder eine Maske- leer und ausdruckslos. In einem Zug drehe ich mich um und steige in das Auto. Ohne mich zu wehren füge ich mich in mein Schicksal.

Schon seit vier Stunden sind wir unterwegs und rasen durch die Landschaft, doch trotz der hohen Geschwindigkeit schnurrt das- wahrscheinlich- sehr teure Auto nur leise- Ich bin hundemüde doch ich darf nihct schlafen und so bemühe ich mich, mir meine Müdigkeit nicht anmerken zu lassen. Aus dem Radio dudelt leise irgendeine Popmusik, doch ich kenne weder Stück noch Sänger. Gelangweilt schaue ich durch das Fenster nach draußen. Es geht auf Nachmittag zu und die Sonne steht schon ziemlich tief, doch noch kommt keine Dämmerungsstimmung auf. Die Landschaft hat sich seit unserem Aufbruch kaum verändert. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, ich sehe kaum ein Ticken der Zeiger der analogen Uhr in der Mittelkonsole. Meine Langeweile ist mir selbst verschuldet, das weiß ich wohl, doch trotzdem finde ich sie ätzend. Aus den Augenwinkeln betrachte ich meinen Fahrer. Er ist noch ziemlich jung, vielleicht Mitte dreißig und sieht aus, als würde er regelmäßig Sport treiben. Er wirkt etwas verloren in seinem Anzug, obwohl dieser akkurat sitzt. Wahrscheinlich hat er einen Sommerurlaub in einem warmen Land hinter sich, oder er ging ins Sonnenstudio, denn seine Haut ist stark gebräunt. Sein Haar ist zu einem Stoppelschnitt gekürzt und schwarz. Eigentlich ist er freundlich und hat sich redlich bemüht mit mir ein Gespräch zu beginnen, doch wie jeder andere war er immer wieder an meiner kalten Blockade abgeprallt und hatte seine Versuche schließlich eingestellt. Jetzt sieht er stur geradeaus und auch er wirkt ziemlich müde. Hoffentlich sind wir bald da, nicht dass wir noch an einer Raststätte eine Pause einlegen müssen. In diesem Augenblick setzt er den Blinker und verlangsamt seine Fahrt. Mein Blick fällt auf das blaue Abfahrtsschild: Rebenberg. Na meinetwegen. Wo auch immer dieses Kaff liegen mag. „In einer halben Stunde sind wir da!“ Die Stimme meines Chauffeurs klingt abweisend und einen Tick resigniert. Fast schon tut er mir leid, dass ich ihn habe abblitzen lassen, doch dann erinnere ich mich wieder, wo er mich hinbringt und mein Mitleid verschwindet mit einem Schlag. Nach weiteren zwanzig Minuten glaube ich, dass der Trottel neben mir sich bestimmt verfahren hatte, denn wir sind mitten in einem Wald und weit und breit scheint es kein Ende zu geben. Mit einem Schlag, als wir um die Kurve biegen, hört der Wald auf und mein Blick fällt auf das Gebäude und ich komme nicht umhin es zu bewundern. „Willkommen in Rebenberg!“ Wow. Das sollte mein Internat sein? Eine Burg? „Ich denke, dir wird es hier gefallen.“ Die Stimme meines Begleiters hat seinen reserviert klingenden Tonfall fast verloren, sie wirkt schon fast ein bisschen aufgekratzt. „Aber“ höre ich ihn mit einem plötzlich belehrenden Tonfall sagen: „an meinem Internat wird es solch ein Verhalten nicht geben. Ich kann mir vorstellen, dass es für dich nicht einfach sein wird, dich in einer Gemeinschaft einzugliedern, doch ich bitte dich, nicht mit solch einer Haltung deinen neuen Mitbewohnerinnen gegenüber zu treten.“ So. Das muss ich erstmal verarbeiten. Dieser junge Mann ist also mein neuer Rektor, das heißt, ich habe es mir gleich mal mir meinem neuen Direx verscherzt. Na meinetwegen. Viel schlimmer war das, was er danach gesagt hatte und vor allem ein Wort klingt mir immernoch in den Ohren nach: Mitbewohnerinnen. Mit-be-woh-ne-rin-nen. Was zum Henker sollte das denn? Sie holen mich aus meinem Schloss und sperren mich mit mehreren Leuten in ein Zimmer! Ich bekomme schon jetzt fast Panikattacken und plötzlich sehe ich die Burg in einem ganz neuen Licht: Mein Gefängnis. Das Schlagen des Kofferraums reißt mich aus meinen trübsinnigen Gedanken. Ich sehen meinen Rektor vor mir stehen mit meiner Tasche in der Hand. „Komm mit!“ Na super. Laufen. Jetzt weiß ich auch, warum er so sportlich ist. Ich merke, dass ich immer sarkastischer werde. Aus langjähriger Erfahrung weiß ich, dass das kein gutes Zeichen ist. Mein Rektor hat schon ein gutes Stück Vorsprung und so bemühe ich mich ihn einzuholen. Ich selber bin nun auch nicht gerade unsportlich, aber trotzdem muss ich mich anstrengen um mit seinem forschen Schritt mitzuhalten. Meine Tasche, die weniger Klamotten als Erinnerungsgegenstände enthält, scheint ihn dabei kaum zu stören. Nach einer knappen Viertelstunde, die sich anfühlte wie zwei, erreichen wir den Burggraben. Es gibt sogar eine Zugbrücke, die, so verschweigt mir mein Internatsleiter nicht, in der Nacht auch hochgezogen wird. Ich sagte ja bereits- Gefängnis. Die alte Holzbrücke knarrt, als wir über sie hinweglaufen. Dann stehen wir im Burginnenhof. „Das Burggelände ist sehr groß, es ist eine der größten Burgen überhaupt.“ Erzählt mir mein Reiseleiter. Ich entsinne mich nicht, eine Führung gebucht zu haben. Ich frage mich, warum ich noch nichts von der Burg gehört habe, wenn sie doch so groß sein soll. Muss wohl daran liege, dass ich seit nahezu zehn Jahren keine Schule mehr besucht habe. Zielstrebig geht mein Begleiter auf ein Haus zu, dass nicht besonders alt aussieht während er Jahreszahlen vor sich hin redet. Ich tue so, als würde mich das interessieren, während ich das Haus näher betrachte. Roter Klinker und schwarze Fensterläden. Müsste ich dort nicht wohnen müssen, würde ich es vielleicht sogar hübsch finden. Als ich meinem – wahrscheinlich- Geschichtslehrer mal kurz zuhöre, bekomme ich mit, dass die Steine, aus denen das Haus besteht noch original sind, nur der Anstrich und die Einrichtun sind neu. Wenigstens die Einrichtung hätten sie ja lassen können. Schließlich kommt mein wandelndes Geschichtslexikon wieder in die Gegenwart zurück und erklärt mir den Grundriss und die Zimmeraufteilung. „Die Zimmer sind sehr groß und gehen über zwei Etagen. In der oberen Etage sind Betten und Schränke, unten ist dann der Wohnraum mit Schreibtischen, Regalen und so weiter. Du wirst die vierte von vieren in deinem neuen Zimmer sein. Eures ist nicht ganz so riesig, aber immernoch schön groß.“ Heute ist wirklich mein Glückstag. „Ich denke, deine Zimmerkameradinnen werden schon da sein und dich in die Zeiten und Abläufe einweihen. Hast du das soweit verstanden?“ Ich nicke kaum merklich. „Könntest du mir bitte laut antworten?“ Ich spare mir eine Antwort und schaue ihm unbeteiligt in die Augen. „Naja, das wird sich schon geben. Aber setz doch wenigstens eine freundlichere Miene auf!“ Ich gebe meiner ausdruckslosen Maske den letzten Schliff. Dabei übermannt mich beinahe ein tiefe Hoffnungslosigkeit doch ich reiße mich noch einmal zusammen. Mein Zimmer ist ganz oben, logisch, aber das stört mich diesmal gar nicht. Dann stehe ich vor der Zimmertür und lese die Namen, die nichtssagend klingen. Kaum habe ich die Augen von den kleinen Namensschildern gelöst, da klopft mein Rektor an die Zimmertür. Kurz danach öffnet sich diese und ich habe beinahe einen Wust Locken im Gesicht. Reflexartig zucke ich zurück und will sie anschnauzen, doch meine jahrelange Übung lässt meine Wut klein genug werden um nicht gleich loszubrüllen. Schnell überprüfe ich meinen Gesichtsausdruck und bin mit meinem Ergebnis zufrieden. „Willkommen in Rebenberg!“ sagt das Mädchen mit dem Lockenkopf und lächelt mich an. Ich zeige keine Reaktion, doch das Mädchen lässt sich davon nicht beirren. „Ich bin Leila Martin. Die anderen zwei sind noch nicht da, sie sind noch unterwegs. Aber komm doch erstmal herein!“ „So jetzt hast du eine neue Mitbewohnerin kennen gelernt und bist jetzt in den besten Händen. Dann geb ich dir mal deine Tasche und wünsche dir viel Glück und Freude hier auf Rebenberg! Guten Abend Frau Martin!“ fügt er mit leichtem Tadel hinzu, doch seine Augen blitzen. „Entschuldigen Sie, Herr Moorbach, ich habe sie nicht gesehen. Guten Abend!“ erwidert sie unbekümmert. Dann nimmt sie meine Tasche und trägt sie ins Zimmer. Wie von ihr magnetisch angezogen laufe ich meiner Tasche hinterher und höre, wie die Tür hinter mir ins Schloss fällt. Das Geräusch lässt mich beinahe zusammenzucken. Der Rektor hat Recht, das Zimmer ist ziemlich groß, aber für mich doch zugleich zu klein und ich muss gegen Klaustrophobie – ähnliche Krämpfe ankämpfen. Mich überkommt ein Zittern und es kostet mich viel Kraft, meine Gleichgültigkeit aufrecht zu erhalten und nicht aus dem Zimmer zu stürmen. Leila hingegen scheint die personifiziert Fröhlichkeit zu sein, denn noch immer lächelt sie und redet munter drauf los. „Endlich sind wir wieder zu viert, du kannst dir gar nicht vorstellen, wie langweilig es zu dritt gewesen ist!“ Nee, kann ich nicht. Zu dritt und langweilig? Mir wäre zu zweit schon zu stressig! „Also, hier ist die Leiter. Mit der kommst du hoch zu unserem „Schlafzimmer““ sagt sie und malt mit den Fingern Gänsefüßchen in die Luft. Ach was. Eine Leiter ist zum Hochgehen, was für eine Überraschung. „Am Besten ich sage dir gleich mal die Zeiten, damit du mal eine ungefähre Ahnung bekommst, wie das hier so abläuft. Also, um 5:30 Uhr wird allgemein geweckt, mit Musik, um 6:00 Uhr geht jedes Internat gesammelt zum Frühstück. Um 6:45 Uhr geht dann der Unterricht los. Du hast ja morgen erst mal deine Prüfung, danach bekommst du dann deinen Stundenplan.“ Bei dem Gedanken an meine morgige Prüfung wird mir ganz schlecht und außerdem bin ich müde und möcht ins Bett. Doch der Lockenschopf redet in einem Fort weiter: „Das Mittag ist gut, und ab 14:00 Uhr geht es weiter, dann hast du maximal noch eine Stunde. Danach beginnen die AG´s. Du musst mindestens eine Sport – AG belegen und eine mit kreativem Inhalt. Du kannst soviele AG`s machen wie du willst und schaffst.“ Während sie mir aufzählt, was es so alles für AG´s gibt gehe ich zu meiner Tasche. Ich schwinge sie mir über die Schulter und mache mich auf dem Weg zur Leiter. Diese bereitet mir, obwohl sehr schmal, keine Schwierigkeiten. Oben angekommen schaue ich mich erstmal um, während Leila mich von unten weiter zutextet, doch ich ignoriere sie und versuche meine aufkeimende Panik zu ersticken. Die Betten stehen dich an dicht, nur ein schmaler Nachttisch passt in die kleinen Lücken. Wie soll ich darin schlafen ohne das Gefühl zu haben, das ich gleich erdrückt werde? Die Schränke stehen Gott oder wem auch immer sei Dank, weiter auseinander und sind sehr geräumig. Indem ich alle Schränke öffne schaue ich, welcher mir ab heute gehören wird. Es ist der, der meinem Bett gegenüber steht, ein kleiner Lichtblick. Dort drinnen liegen schon vier Garnituren unserer „hübschen“ Schuluniform, die wir zu allen schulischen Veranstaltungen tragen müssen. Am Abend dürfen wir dann anziehen, was wir wollen. Um mich von meinen Angstzuständen abzulenken beginne ich damit, meine Tasche auszupacken. Meine wenigen Klamotten sortiere ich nach Farben, eine Marotte von mir, die es mir aber ermöglicht, für eine kurze Zeit abzuschalten. „Demiresa?“ Mein Name lässt mich aufschrecken. Bis auf den Direktor heute morgen hat mich seit über einem Jahrzehnt niemand mehr so genannt und es fühlt sich seltsam an, wieder mit vollem Namen gerufen zu werden. Leila bemerkt mein Stocken und stellt nochmals ihre Frage: „Woher kommst du eigentlich?“ Ich nehme meine Tasche und lege sie auf mein Bett, dann beginne ich, meine Erinnerungsgegenstände herauzuräumen und zu sortieren. Kälte überkommt mich, als ich sie betrachte und ich habe das Gefühl, vor Trauer sterben zu müssen. Ich verschränke die Arme vor der Brust um nicht wie wild zu zittern. Bevor mich meine Schwäche aber richtig übermannen kann höre ich, wie Leila die Stufen hinauf kommt. Als ich mich zu ihr umdrehe, sieht man mir nicht mehr an, was mich für innere Qualen peinigen. Sie lächelt noch immer als sie ihren Kopf durch die Luke steckt. „Du bist sicherlich müde. Ih werde den anderen sagen, dass sie leise sein sollen wenn sie kommen, damit du in Ruhe schlafen kannst. Gute Nacht!“ Hau bloß ab du dumme Ziege! Ich weiß genau dass ich ungerecht bin und sie nur nett sein wollte, doch ich bin nicht in der Stimmung, hier bei irgendwem Gnade walten zu lassen. Gerade hasse ich hier alles und jeden und am Liebsten wäre ich jetzt ganz weit weg. Ich versuche, mir nicht Fluchtpläne zu überlegen und gehe dafür zum Schrank um meine Kleidung zu wechseln. Vielleicht kann ich besser einschlafen, wenn ich alleine hier oben bin, denn obwohl ich sehr müde bin, habe ich das Gefühl, vor Panik keinen klaren Kopf bekommen zu können.
Als ich mit Umziehen fertig bin, lege ich mich ins Bett und ziehe nir die Bettdecke über den Kopf. Doch ich bin unruhig, kann nicht schlafen. Ich will hinaus aus diesen engen Räumen, doch gleichzeitig bin ich so müde, dass ich im Stehen einschlafen könnte, wenn ich nicht solche Panik hätte. Ich drehe mich hin und her, schließe die Augen und öffne sie wieder. Dann höre ich es unten klopfen, einen Herzschlag später fliegt unten die Tür auf und Mädchenstimmen wehen laut von unten nach oben, bis ein scharfes „Psssst!“ sie zum Verstummen bringt. Ich höre Schritte und andere Geräusche, die ich nicht zuordnen kann. Wahrscheinlich verständigen sie sich mit Zeichensprache. Dann höre ich Schritte auf der Leiter. Schnell schließe ich die Augen und stelle mich schlafend. Wer auch immer nach oben gekommen war schleicht sich wieder nach unten. Gleich darauf höre ich die Schritte des anderen Mädchens. Auch sie kommt nicht bis ganz nach oben, ich vermute, sie strecken bloß schnell den Kopf über den Rand, um mich, ihre neue Zimmermitbewohnerin, begutachten zu kommen. Als auch diese Schritte sich wieder entfernen öffne ich meine Augen wieder. Müde fühle ich mich nun ganz und garn nicht mehr. In meinen Gedanken versetze ich mich weit, weit weg von hier. Doch diese Gedanken werden irgendwann so schmerzhaft, dass ich dann doch wieder in die Realität zurückkehre. Nach einer geschätzten weiteren halben Stunde kommen die anderen drei nach oben. Den Geräuschen nach ziehen sie sich um. Doch sie tun es schweigend. Es fällt kein Wort. Das überrascht mich, doch noch immer bin ich nicht in der Lage, Dankbarkeit zu empfinden. Das erste Mädchen ist fertig mit dem Wechseln ihrer Kleidung und geht zu ihrem Bett. Es steht genau neben meinem und der Abstand ist so gering, dass sie meine Bettdecke berührt, als sie zu ihrem Kopfende geht. Am liebsten möchte ich aufspringen und sie anfahren, was ihr einfällt, so dich an meinem Bett vorbei zu laufen, doch ich kann mich gerade noch beherrschen. Kurz danach schlüpfen auch die anderen beiden unter ihre Decken und es dauert nicht lange, bis sie alle tief und fest schlafen. Schnell krieche ich aus meinem Bett. Nun hält mich hier nichts mehr. Ich husche die Leiter hinab. Hier unten kann ich schon ein wenig freier armen, doch meine Brust ist noch immer wie zugeschnürt. Auf einem Schreibtisch sehe ich Schlüssel liegen und nehme sie mit. Dann schleiche ich mich aus dem Zimmer. Der Flur ist dunkel, doch mein Orientierungssinn leitet mich, so dass ich ohne Probleme zur Haustür gelange. Ich öffne sie einen winzigen Spalt breit. Kein Alarm. Außer den Geräuschen der Nacht ist es still. Ich öffne die Tür nun gerade so weit, dass ich mich hinauszwängen kann. Als ich den Sternenhimmel über mir sehe, fühle ich mich schon deutlich wohler, doch die Burgmauern umschließen mich noch immer. Zu meinem Glück steht das Haus nahe an der Mauer. So ist mein Weg nicht weit und die Gefahr, entdeckt zu werden, sinkt. Im Licht des Mondes untersuche ich die Mauer auf Unebenheiten und kleine Löcher. Ich bin eine recht passable Kletterin und die wenigen Vorsprünge, die ich sehen kann, reichen mir aus. Efeu, der an der Mauer rankt tut sein übriges dass ich weitestgehend problemlos auf die Mauer klettern kann. Auf der anderen Seite wächst zwar kein Efeu, aber dafür weist die Mauer mehr kleine Löcher uaf, sodass mir der Abstieg auch keine Mühe macht. Nach kurzer Zeit berühren meine Füße die Wasseroberfläche. Ich stoße mich ab und beginne zu Schwimmen. Das Wasser ist recht frisch, doch es tut mir gut, denn so werde ich im Kopf wieder etwas klarer. Am Ufer angekommen richte ich meinen Blick wieder gen Himmel. Ich musste schauen dass ich immer in die gleiche Richtung lief. Meine innere Uhr die meist recht verlässlich ist, sagt mir, dass ich für meine Flucht nicht viel mehr als eine halbe bis dreiviertel Stunde gebraucht habe. Vor mir sehe ich die schwarzen Konturen des Waldes gegen den tintenblauen Himmel. Ich mache mich auf den Weg, dort ist mein Ziel.
Ich erreiche den Waldesrand atemlos, ich war so schnell ich konnte gerannt. Die Luft ist warm, mein Schlafanzug ist schon fast wieder trocken. Ich drehe mich so, dass ich die Burg nicht mehr sehe und doch noch ein bisschen freies Feld vor meinen Augen habe. Fast meine gesamte Last weicht von mir und die Müdigkeit senkt sich auf mich wie Blei. Erschöpft sinke ich auf den Waldboden. Er ist weich und viele Blätter bedecken den Boden. Ich schiebe mir einen kleinen Berg zusammen, der mir als Kopfkissen dient. Kaum hat mein Kopf dieses berührt, bin ich auch schon eingeschlafen.
Am nächsten Morgen erwache ich durch den Gesang des ersten Vogels. Die Sonne ist noch nicht aufgegangen, doch ich bin trotz der recht kurzen Nacht ausgeschlafen. Ich zögere nicht lange und mache mich seufzend auf den Weg in mein neues Gefängnis. Der Weg zurück dauert länger, da ich etwas brauche, die Mauer vom Wasser heraus hinauf zu klettern. Doch schließlich gelingt mir auch das. Pitschnass erreiche ich die Haustür. Wieder leise ziehe ich sie auf und mache mich auf den Weg in mein Zimmer. Dabei hinterlasse ich auf dem Boden lauter diunkle Tapsen. Mist. Naja, darum würde ich mich später kümmern müssen. Als ich in das Zimmer komme, lukt gerade der erste Sonnenstrahl durch das Fenster. Leise klettere ich die Leiter hinauf und klaube mein Duschzeug und – grrrr – die Schuluniform aus meinem Kleiderschrank. Anschließend begebe ich mich auf die Suche nach dem,Badezimmer. Vorher lege ich den Schlüssel noch schnell auf seinen ursprünglichen Platz zurück. Leila hatte mir gar nicht gezeigt, wo sich die Waschräume befinden, so brauchte ich ein paar Minuten, bis ich die richtige Tür fand. Zum Glück zeigte mir ein großes Hinweisschild an der Tür an, dass ich den richtigen Raum betrete. Wäre schon peinlich, wenn ich mitten in einem fremden Zimmer gestanden hätte. Für meine Morgenwäsche brauche ich nicht lange. 5:05 Uhr zeigt die Uhr im Bad an. Ich nehme mein Handtuch und wische gewissenhaft meine ganzen Tapsen weg. Dann gehe ich ins Zimmer. Die Beklemmung ist wieder da. Besser, wenn ich mich schnell daran gewöhnte, sie würde wohl meine ständige Begleiterin werden. Plötzlich schwappt eine Welle des Schwindels über mich hinweg. Ich klammere mich an die erstbeste Tischkante, die sich mir bietet. Schnell setze ich mich auf den dazugehörigen Stuhl. Ich atme tief eine und aus und versuche, gegen den Schwindel anzukämpfen, der mich erfasste, als ich daran dachte, was mich am heutige Tag erwartet. Plötzlich höre ich Musik von oben. Ich erkenne das Musikstück sofort. „Die Sinfonie mit dem Paukenschlag“. Wie passend zum Wecken. Oben höre ich lautes Gähnen und erste Füße, die sich auf den Boden stellen. „Demiresa?“ In Sekundenschnelle ist meine Maske wieder auf meinem Gesicht. Mit ihr kommt die Wut, die ich auf alle habe, sie vertreibt das Schwindelgefühl. Oben höre ich schnelle Schritte und ein mir unbekanntes Gesicht schiebt sich in mein Blickfeld. Anscheinend liegt das Mädchen dort oben auf dem Bauch und sieht von dort auf mich herab. „Mensch, sag` doch, dass du schon unten bist! Du hast uns einen gehörigen Schrecken eingejagt.“ Ich überhöre den Vorwurf in ihrer Stimme und tue so, als hätte ich nichts gehört. „Aber erstmal: Herzlich Willkommen in Rebenberg!“ Ich sehe zu, wie der Kopf des Mädchens knallrot anläuft. Wenn sie mich noch länger so anstarrt, sieht es nicht gut für ihren Kopf aus. Können Köpfe eigentlich platzen? Doch bevor ich mir darüber genauer Gedanken machen kann verschwindet er und das große Trappen beginnt. Nacheinander kommen alle drei Mädchen nach unten, und mit jeder wird die Luft im Raum enger. Ich habe das Gefühl, als würde jemand einen Schraubstock um mich legen und ihn immer enger drehen. Das Mädchen, das sich heute morgen so um mich gesorgt hat ist ein Winzling, gerade mal ungefähr eins sechzig groß, hat aber umso längere wasserstoffblonde Haare. Sie ist auch vom sonstigen Bau sehr zierlich, aber eine typische Schönheit. Sanfte Wangenknochen, blaue Augen. Das typische eben. Das Mädchen neben ihr ist groß und ein bisschen moppelig. Natürlich nicht so, dass sie Schwimmringe um den Bauch hätte, vielleicht wirkt sie auch nur so, weil sie direkt neben dem Winzling steht. Sie hat sehr lange, dunkelblonde und leicht gewellte Haare, die ihr bis über die Hüfte reichen. Sie begrüßt mich mit dem selben Satz wie das andere Mädchen zuvor. Der Rebenberg-Gruß. Na toll, wie einfallsreich. Immerhin kommen keine Sprüche wie: „Und, hast du dich schon gut eingelebt?“ oder ähnliche. Ich beachte sie nicht groß, drehe meinen Oberkörper dem Tisch zu und so verschwinden die drei ins Bad. Kurz vor sechs kommen sie wieder. Ihre Schulranzen sind schon gepackt, das haben sie wahrscheinlich gestern Abend noch gemacht. „So, dann kommt mal, alle meine Schäfchen!“ sagt Leila mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ich kann mich gerade noch beherrschen und verdrehe angesichts dieser immerwährenden Fröhlichkeit nicht die Augen. Aus ihrer Aussage entnehme ich, dass sie diejenige ist, die alle Leute aus dem Internat zusammentrommeln muss, damit sie pünktlich zum Essen kommen. Auch das noch. Die anderen beiden lachen, nehmen ihre Tasche und gehen Leila hinterher. Ich atme tief durch und folge ihnen. Vorher nehme ich noch den Schlüssel, der auf dem Schreibtisch liegt, an dem ich mich in meinem schwachen Moment abgestützt habe. Offensichtlich ist es meiner. Ich gehe hinaus und schließe die Tür ab. Leila und die anderen beiden warten auf mich.
Als wir unten ankommen sind schon einige da. Leila holt mit einem einzigen Griff ein Blatt aus ihrer Tasche. Sie ist doch bitte nicht noch durchorganisiert. Natürlich ist sie es. Auf dem Zettel ist eine Tabelle mit Namen in einer, und Daten in einer anderen Spalte. Die Hälfte ist schon gefüllt mit fein säuberlichen Häkchen nach jedem Namen. Leila lächelt in die Runde. „Es ist zwei vor sechs, das heißt die anderen müssten auch gleich kommen.“ Sie hat den Satz kaum ausgesprochen, da kommen sechs Mädchen um die Ecke. Als ich meinen Blick schnell durch die Runde schweifen lasse, merke ich, dass alle mich mehr oder weniger offensichtlich beobachten. Na toll. Ich achte aber genau darauf, dass mein Gesicht nichts von meinen Gedanken preis gibt. Leila beginnt, die Namen auf dem Papier durchzugehen. „Aker, Melanie.“ „Ja!“ Aha, die winzige Schönheit heißt also Melanie. Sie hatten es ja vorhin nicht erwähnt, wie sie heißen. Nicht dass es mich wirklich interessiert hätte, aber es war immer so lange „Engelsgesichtchen“ oder „Lockenhaar“ zu denken, Namen gingen da schneller. „Döhler, Sabine“ heißt meine andere Mitbewohnerin. Schließlich kommen wir zu „Zabarela, Demiresa!“ Ich gebe nicht zu erkennen, dass ich gerade meinen Namen gehört habe. Leila hakt mich auch so ab. Doch Rettig, Franziska meckert mich an: „Na, das ist wohl nicht dein Name?“ Melanie springt mir zur Seite. „Mensch, was soll das, Franzi. Wir wissen doch alle, dass sie es ist und Leila weiß schließlich, dass sie da ist.“ „Ach, schon hat sie Privilegien, nur weil sie mit der Internatssprecherin auf einem Zimmer wohnt, oder was?“ Melanie möchte etwas entgegnen, doch Leila zieht die Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Sie ist einfach schüchtern und neu. Keine Angst, sie wird ab morgen die gleichen Regeln haben wie wir alle.“ Trotz dieser scharfen Worte klingt ihre Stimme noch genauso freundlich, als hätte sie dem Mädchen gerade ein Kompliment über gut sitzende Haare gemacht. „Wenn jetzt keiner mehr etwas anderes zu sagen hat, schlage ich vor, dass wir uns auf den Weg zum Speisesaal machen, sonst bekommen wir Essensdienst.“ Sofort ersterben sämtliche Gespräche und alle stellen sich schweigend in Zweierreihen auf. Ich stehe neben Melanie. Als die Aufstellung fertig ist, gehen wir los. Den gesamten Weg über versucht Melanie nicht, mir irgendetwas aus der Nase zu ziehen, und ich bin ihr dankbar dafür. Ich atme tief die Morgenluft ein und lausche auf das Zwitschern der Vögel in den wenigen Bäumen, die auf dem Burginnenhof gepflanzt sind. Es tut mir gut, die Enge in dem überfüllten Hausflur hinter mir zu lassen. Wir gehen auf ein langes Gebäude zu. Melanie erklärt mir kurz, dass dies ursprünglich mal das Lagerhaus gewesen war und das einzige Gebäude, dass sowohl von Innen als auch von Außen noch nahezu so aussah, wie vor sieben Jahrhunderten. Wir betreten das flache Gebäude und ich wäre vor Freude fast an die Decke gehüpft. Oder hätte wenigstens fast gelächelt. Bis auf die Einrichtung war wirklich alles noch alt, und es war einfach wundervoll. Die alten Steinwände strahlten etwas Beruhigendes auf mich aus, sie gaben mir Halt, seltsamer Weise. Es gibt sechs lange Tafeln, die senkrecht zu einer kürzeren Tafel eng beieinander stehen. Das waren die Haustische. Ich hatte nur mal kurz in einen „Harry Potter“-Film hinein geschaut, doch so ähnlich muss es wohl in Hogwarts gewesen sein. Auf jedem der Haustische waren lange Tischdecken gelegt, auf denen sich die Farben der Schuluniform wieder fanden. Außerdem hatte jeder der Tisch noch eine individuelle Farbe. Als ich die Uniformen der Mädchen an den anderen Tischen ansehe, bemerke ich, dass sich diese Farben in den Krägen wiederholen. Also konnte man die Zugehörigkeit zu den einzelnen Internaten an den Kragen erkennen. Außerdem waren die Knöpfe der Uniform in diesen Farbe und auch die Haargummis, ja, auch die gehören zur Uniform, waren in dieser spezifischen Farbe gehalten.
Wir haben alle diese kleinen Accesoires in dunklem blau. Dann gibt es noch welche in rot, weiß, gelb, grün, und, ich kann es kaum fassen, in herrlichem schweinchenrosa. Zum Glück muss ich nicht diese bescheidenen Klamotten tragen, das wäre echt peinlich. Wir sind das vorletzte Haus, die kleinen Schweinchen fehlen noch. Bevor wir uns setzen, müssen wor uns vor dem Lehrertisch verbeugen. Sind wir hier im Mittelalter? Als auch das letzte Haus eingetroffen ist, erhebt sich unser Rektor. Wie war das doch gleich mit Harry Potter? Er scheint eine kleine Ansage tätigen zu wollen. „Guten Morgen, meine lieben Schülerinnen! Ich heiße euch herzlich Willkommen in Rebenberg, nach dem Wochenende. Ich hoffe ihr konntet es genießen und ein bisschen Kraft schöpfen für die nächsten zwei Monate, die ihr nun hier verbringen werdet. Wie einige von euch schon wissen, haben wir eine neue Schülerin bekommen. Ich bitte dich, einmal aufzustehen, Demiresa!“ Ich soll aufstehen? Nein danke. Ich habe keine Lust, von allen beglotzt zu werden. Ich starre auf die Wand mir gegenüber. Neben mir sitzt Leila, sie stupst mich an. „Komm, steh schon auf!“ Mir gegenüber feixt Franziska: „Ach, auch dazu ist sie zu schüchtern? Na, das ist ja mal ein Häschen!“ Ich fühle mich von Sekunde zu Sekunde immer mehr unwohl. Ich bin solch große Menschenmassen nicht gewohnt und ich fühle mich eingeengt und von allen Seiten bedrängt. Leila sagt nochmals: „Bitte, Demiresa! Mach doch kein solches Theater.“ Bevor sie mich nochmals anstupsen kann stehe ich auf und nicke knapp. Dann setze ich mich wieder. Ich starre auf meinen Teller, da ich weiß, dass gerade um die zweihundert Augenpaare auf mich gerichtet sind. Ich brauche ziemlich viel Kraft, meinem Gesicht nichts anmerken zu lassen. Ich bin innerlich aufgewühlt wie schon lange nicht mehr. Erst nachdem er aufgehört merke ich, dass mir Applaus gezollt wurde. Ich konzetriere mich wieder auf das, was der Rektor zu verkünden hat, um die Enge um mich herum zu vergessen. „Demiresa wird heute ihre Prüfung schreiben, damit wir feststellen können, in welche Klasse sie gehen wird.“ Getuschel wird laut. Zwei Plätze neben mir fragt ein Mädchen ihre linke Nachbarin: „Warum das denn? War sie auf einer Sonderschule? Sonst müsste man ihre Klasse doch wissen?“ Bevor das andere Mädchen antworten kann fährt der Rektor fort. „Ich denke, dass ich im Namen aller spreche, wenn ich dir viel Glück wünsche!“ Wieder ein Handgeklapper. Werd fertig und komm zu einem neuen Thema! Ich bin doch nicht Gesprächsstoff Nummer eins. Oder doch. „Da du ja nun bald zu unserer Schulgemeinschaft gehören wirst, denke ich, ist es angebracht, dass du dich einmal kurz vorstellst.“ Nein, das denke ich ganz und gar nicht. „Komm doch bitte nach vorne.“ Einen Teufel werde ich tun! Diesmal können mich alle bitten, wie sie wollen, sie können vergessen, dass ich mich hier vor die versammelte Mannschaft stelle und eine Rede halte. „Demiresa?!“ Die Stimme des Rektors klingt schon etwas schärfer, aber das beeindruckt mich nicht. Ich starre auf meine Hände, die sich ein in meinem Schoß verkrampfen. Eine Bewegung neben mir lässt mich kurz aufschauen. Leila ist aufgestanden. Sie spricht mit klarer und ruhiger Stimme: „Entschuldigen Sie bitte, Herr Rektor. Demiresa ist ein schüchterndes Mädchen und außerdem sehr aufgeregt. Deswegen bitte ich Sie, Herr Rektor, sie heute noch zu verschonen. Ich denke, morgen wird sie shcon eher bereit sein, etwas zu ihrer Person zu sagen.“ Da ist aber ja mal jemand optimistisch! Sie setzt sich und richtet ihren Blick starr auf den Rektor. Dieser scheint noch zu überlegen. Dann tritt er wieder nach vorne: „Ich verstehe, dass du heute noch sehr aufgeregt bist, denn hier ist alles neu für dich und du musst nachher fit sein, wenn du deine Prüfung erfolgreich absolvieren möchtest. Deswegen werde ich heute nachsichtig sein. Aber morgen wirst du dann bitte hier vorme stehen und etwas sagen.“ Sein Mund lächelt aber seine Augen schauen ernst. Dann kommt er endlich zu Schluss. „Jetzt werde ich ber aufhören, damit ihr noch zum Essen kommt! Guten Appetit!“ Wieder folgt ein kurzer Beifall als sich der Rektor setzt, aber er erstirbt sehr schnell, als alle zu ihrem Besteck greifen. Neben mir langen alle zu, doch ich bekomme nichts hinuter. Ich kann nichts essen, ich will einfach nur ruas und an die frische Luft. Ich fange mir mit meinem Fasten einige ungläubige und besorgte Blicke ein, doch ich ignoriere sie. Ich brauche kein Mitleid. Um 6:35 Uhr ertönt ein Gong. Alle, die noch gegessen haben, lassen wie auf Befehl ihr Essen und ihr Besteck fallen. Der Rektor steht auf und verlässt ohne ein Wort den Speisesaal. Nun geht das große Bänkerücken los. Endlich mixen sich alle Schülerinnen zu ihren jeweiligen Klassen. Auf dem Burghof bleibe ich unschlüssig stehen. Was soll ich jetzt machen? Ich stelle mich ersteinmal an die Hauswand und genieße deren Kühle auf meiner Haut. Außerdem herrscht hier der größtmögliche Abstand zu den anderen Schülern, die fröhlich miteinander erzählen, währedn sie sich auf den Weg zu ihren jeweiligen Klassenräumen machen. Plötzlich spüre ich eine Hand auf meiner Schulter und ich fahre herum. Herr Moorbach steht vor mir und lächelt mich an. Haben hier alle die Fraundlichkeit mit Löffeln gefressen, oder was? Ich schaue ihn ausdruckslos wie immer an. „Du kommst jetzt bitte mit mir. Ich werde dich zu deinem Prüfungsraum bringen. Es wird ein anstrengender Tag, aber ich bin mir sicher, dass du das meistern wirst. Naja, immerhin glaubt schon mal einer an mich, wenn ich es schon selbst nicht tue. Ich fragte mich, was zum Teufel ich hier eigentlich sollte. Ich war die letzten zehn Jahre ohne Schule ausgekommen, und hatte es mir geschadet? Und wahrscheinlich komme ich jetzt in die fünfte Klasse, habe ich doch keine Ahnung von Chemie. Das wären dann noch sieben Jahre hier. Denk an etwas anderes! Befehle ich mir. Leichter gesagt als getan. Ich finde es immer toll, wenn man in Büchern liest, dass man kontrollieren kann, was man denken will und was nicht. Ich bekam das nicht hin, aber vielleicht bin ich da ja auch eine Ausnahme.
Das Gebäude, welches wir gleich betreten, ist recht lang. Wahrscheinlich war das früher mal ein Stall, so sieht es jedenfalls aus. Und ich bin nicht falsch. Als wir das Haus betreten, fällt mir ein Schild an der Wand ins Auge. „Schafstall“ steht darauf. Der Raum, den wir jetzt betreten, ist sehr groß und ich atme erleichtert durch. Da würde mich die Panik nicht ganz so unter Kontrolle haben wie in den anderen Räumen, in denen ich bisher war. Ein Tisch steht in der Mitte, dahinter ein einfacher Stuhl. Das ist ie gesamte Möblierung des Raumes. Ich frage mich, wozu der Raum sonst noch genutzt wird. Nicht mal einen Schrank oder ein Regal ist hier. Als ich an den Tisch trete sehe ich, dass dort schon drei Arbeitsblätter für mich parat liegen. Natürlich mit der weißen Seite nach oben. Außerdem liegen dort noch sechs linierte Blätter, ein Füller, ein Bleistift, ein Lineal und ein Radiergummi. Außerdem steht ein großes, volles Wasserglas nahe dem oberen Rand auf meinem Arbeitstisch. „Deine reine Arbeitszeit beträgt acht Stunden. Diese beinhaltet schon die Einleseszeit. Nach jeweils zwei Stunden hast du eine Pause von einer Viertelstunde. Der erste Block ist Deutsch. Im zweiten wird dich Mathe erwarten. Nach der zweiten Pause kannst du dich auf Fremdsprachen einstellen. Wir haben dir vier verschiedene herausgesucht, bei denen wir denken, dass du sie gehabt haben könntest. Im letzten Block wirst du dich dann mit den Naturwissenschaften auseinandersetzen. So, dann wünsche ich dir viel Spaß und Erfolg. Wenn du dich gesetzt hast und das erste Blatt nimmst, werden wir mit dem Stoppen der Zeit beginnen. Ach ja, hier habe ich noch ein kleines Gerät. Wenn du etwas brauchst, musst du nur den roten Knopf drücken, kommt jemand. So, dann viel Glück nochmals!“ Er geht zur Tür und wartet darauf, dass ich beginne und er den Raum verlassen kann. Ich setze mich, atme nochmal innerlich tief durch und greife dann nach dem ersten Arbetisblatt. Ich höre, wie Herr Moorbach auf die Stoppuhr drückt und dann leise die Tür hinter sich schließt, als er mich allein lässt. Zuerst lese ich mir die gesamten Aufgaben durch. Naja, die ersten waren ja wirklich Kinderkram: 1. Zeitformen 1.1 Nennen Sie die Zeitformen der folgenden Sätze 1.2 Transformieren Sie die folgenden Sätze in sämtliche Zeitformen, die Sie kennen! 2. Zeichensetzungsregeln: 2.1 Setzen Sie in folgenden Sätzen die entsprechenden Kommata! 2.2 Begründen Sie Ihre Entscheidung, wenn möglich mit den entsprechenden Fachtermini! Mein Gott, wenn das so weiterging, konnte ich ja gleich ihr Abi schreiben! Ich seufze und beginne mit dem Arbeiten. Die ersten zehn Arbeitsaufträge erledige ich ohne Probleme. Ich schaue auf und sehe mir gegenüber eine Uhr hängen. Ungefähr eine dreiviertel Stunde habe ich dafür gebraucht. Der letzte Aufgabenkomplex war schon komplizierter. Er enthält Fragen nach stilistischen Mitteln und Interpretationsansätzen. Da kenne ich mich nicht ganz so gut aus, aber es würde schon werden. Ich schrieb gerade meinen Schlussatz, als ein Gong ertönt. Zeitgleich setze ich den Punkt und sehe auf. Direkt vor meinem Tisch steht der Rektor und lächelt mich an. Beinahe wäre ich zurückgezuckt, ich hatte ihn nicht kommen hören, aber ich kann mich gerade noch fassen. „Du hast jetzt fünfzehn Minuten Zeit um dich auszuruhen und ein bisschen zu entspannen. Ich bitte dich allerdings, den Raum zu verlassen, damit wir deinen Tisch neu bestücken können und du kannst derweil ein bisschen frische Luft schnappen. Ich hole dich dann rechtzeitig wieder herein.“ Nichts lieber als das. Zwar ist dieser Raum nicht so eng und schneitet mir nicht so sehr die Luft ab, aber langsam reicht es und ich sehne mich danach, die Sonne auf meinem Gesicht spüren zu können. Als ich dann allerdings draußen bin, weiß ichnicht, wasich machen soll und so beginne ich, wie ein Tiger im Käfig immer hin und her zu laufen, ein paar Schritte in die, ein paar Schritte in die andere Richtung. Und so fühle ich mich auch, wie ein Tiger im Käfig, eingesperrt und nicht fähig, auszubrechen. Ich möchte nach Hause, ich möchte mich nicht in einen frmedbestimmten Tagesablauf zwängen lassen, ich möchte wieder frei sein. Ich bin verzweifelt, um mcih abzulenken, zähle ich meine Schritte. Einundfünfzig, zweiundfünfzig. Immer fünf Schritte von der Tür weg und fünf Schritte wieder zurück. Gerade möchte ich meinen einundachzigsten Schritt machen, da ertänt wieder der Gliockenshclag und wie aus dem Boden gestampft steht der Rektor vor mir. „Unser aller Freundin, die Mathematik erwartet dich!“ und dabei lächelt er. Er ist wohl zu allem Übel auch noch Mathelehrer. Mathe stört mich nicht besonders, es macht mir so sogar Spaß, aber einen Lehrer so reden zu hören ist schon beängstigend. Wir gehen wied erin den Raum zurück. Ich setze mcih hin und beginne sofort mit dem Arbeiten, je eher ich hier fertig bin, desto besser. Ich höre, wie Herr Moorbach den Sartknopf drückt und sich anschließend wieder entfernt. Mathe läuft ähnlich wie Deutsch, vielleicht sogar ein bisschen besser. Diesmal bin ich sogar etwas vor Ende der Arbeitszeit fertig. Wieder wwerde ich hinausgeschickt und wieder zähle ich meine Schritte, beginnend bei einundachtzig. Nach weiteren einhundertachtundneunzig Schritten ertönt ein neuer Gong und nochmals gehe ich hinein. Viereinviertel Stunden später ertönt zum – hoffentlich – letztem Mal der Gong. Ich lege meinen Stift beiseite und reibe die Hände aneinander. Meine Finger sind ziemlich verkrampft, es ist lange her, seit ich so viel am Stück geschrieben habe. Wieder werde ich hinausgeschickt und muss mich nun etwas länger gedulden, meine letzte Arbeit muss erst noch ausgewertet werden, die anderen wurden es schon, während ich an der nächsten schrieb. Endlich werde ich wieder hereingerufen. Und als ich den Raum betrete, wäre ich fast wieder umgedreht, denn plötzlich waren dort drei längere Tische aufgestellt worden, am denen Lehrer saßen. Wo kamen die denn so plötzlich her? Hatte das Gebäude einen Hintereingang, denn an der vorderen Tür hatte ich die ganze Zeit gestanden. Sieben Personen, die meisten haben die Hälfte des Lebens schon überschritten, schauen mich erwartungsvoll an. Sie haben einen Blick in ihren Augen, den ich nicht deuten kann und der mir ein mulmiges Gefühl in der Magengrube beschert. Natürlich bekommen diese Lehrer nichts davon mit, mein Gesicht zeigt keine Regung. Nicht der Rektor erhebt zuerst das Wort, sondern eine ältere, korpulente Frau, die links neben ihm sitzt. „Liebe Demiresa!“ und sie hat eine Stimme wie ein Reibeisen. „Nun hast du deine Prüfung abgelegt und bist doch sicherlich sehr gespannt auf dein Ergebnis.“ Sie macht eine Pause, wahrscheinlich wartet sie auf eine Antwort, doch den Gefallen tue ich ihr nicht. Ein noch älterer Herr am rechten Ende der Tafel erhebt seine Stimme: „Ich glaube ich spreche allen hier anwesenden Personen – dir ausgenommen – aus dem Herzen, wenn ich sage, dass uns das Ergebnis sehr überrascht hat.“ Irgendwie sprach dieser alte Mann sehr komisch, er schien kein „sch“ sprechen zu können und er rollte sehr stark das „r“. Ich habe eine Frage an dich. Naja, fragen kannst du ja, aber ob ich dir antworte steht auf einem ganz anderen Blatt! „Haben dich deine Eltern unterrichtet?“ Ok, und das geht dich ja mal absolut gar nichts an. Mit ausdruckslosem Gesicht sehe ich ihm in die Augen. Anscheinend hat der Rektor die anderen Lehrer noch nicht über meine „kleine Eigenart“ in Kenntnis gesetzt, denn der Lehrer wartet verwirrt auf eine Antwort. Dann schaltet sich Herr Moosbach ein: „Sie redet also noch immer nicht mit uns.“ Hallo?! Ich stehe vor Ihnen! Als stände ich nicht hier. Idiot. „Macht euch keine Sorgen,“ sagt er mit einem gezwungenen Lächeln zu den anderen Lehrern, „wir werden sie schon noch zu Reden bringen.“ Mir scheint es, als will er sich selbst von seinen Worten überzeugen. Er lacht gekünstelt. Dann fährt er fort: „Aber kommen wir zum Punkt.“ Das klingt doch mal gut. „Bis auf Russisch, Französisch und Chemie war deine Arbeit überraschend gut. Warum das so ist, das weißt nur du. Ich will dich jetzt nicht weiter mit Fragen bombardieren, ich hoffe nur, dass du uns früher oder später darüber aufklärst. Ich glaube, das interessiert uns alle brennend.“ Darauf können Sie alle lange warten. Trotz meiner giftigen Gedanken behalte ich meine Unschuldsmiene. „Im Klartext heißt das, dass wir dich ersteinmal in die 10. Klasse stecken. Dann werden wir sehen, wie du dich machst. Den Chemieunterricht wirst du in der 7. Klasse mitmachen. Nach unseren Informationen kannst du das mit deinem Stundenplan vereinbaren. Heute hast du keinen Unterricht, du musstest schon genug leisten.“ Ich wäre froh, wenn der Rektor mal zum Ende kommen könnte. Mir sind das hier einfach auf Dauer viel zu viele Menschen in einem viel zu kleinen Raum. Vor allem weil sie alle so auf mich fixiert sind. „In der Mappe, die ich dir jetzt gebe, sind sämtliche AG’s aufgelistet. Du musst mindestens eine sportliche und eine künstlerische Arbeitsgemeinschaft besuchen. Du kannst auch gerne mehr belegen, aber ich denke, das solltest du erst machen, wenn du weißt, dass du dir das zeittechnisch leisten kannst. An diesen nimmst du ab heute teil. Die Teilnahme ist ab deiner Eintragung in die Teilnehmerliste Pflicht und eine Freistellung wird nur auf Antrag in Ausnahmefällen gestattet. Für jeden ist etwas dabei. Außerdem liegen in deiner Mappe ein Abholschein für deine Materialien, ein Stunden- und Raumplan, ein Klassenphoto und die Anforderungen des Schuljahres. Du solltest di das alles recht bald anschauen, damit du eventuelle Unklarheiten schnell mitbekommst und beseitigen kannst. Die genaue Auswertung deiner Arbeit wird in wenigen Tagen nachgereicht. Wir alle wünschen dir hier eine wunderschöne Zeit. Wir hoffen, dass du dich hier bald eingelebt und Freunde gefunden hast. Dein Zimmer gefällt dir hoffentlich und deine Mitbewohnerinnen sind sehr pflegeleicht und beliebt, sie werden dich schnell in die Freundeskreise integrieren können.“ Er steht auf und kommt auf mich zu. Seite an Seite gehen wir nach draußen, wo es inzwischen ein wenig kühler geworden ist. Er wendet sich mir zu und schaut mir tief in die Augen. „Dein Vormund kommt morgen 16:00 Uhr. Da du keine Verwandten hast, die für dich als Vormund in Frage kämen und du dich um keinen gekümmert hast, haben wir einen besorgt. Er wird sich um deine Anlagen kümmern und kann für dich rechtliche Entscheidungen treffen. Ihr werdet euch morgen hier treffen und alle wichtigen Anträge ausfüllen und die wichtigsten Dinge besprechen. Und ich bitte dich: Sei vernünftig und rede mit ihm und uns. Wir wollen dir nichts Böses, wir wollen dir wirklich nur helfen.“ Das sagen sie alle und am nächsten Tag steckst du in der Klapse. Er will sich schon wegdrehen, da sieht er mich mit einem Blitzen in den Augen an: „Ach ja, wenn du jetzt in den Speisesaal gehst, bekommst du bestimmt noch ein Stück Kuchen.“ Sehr witzig. Herr Moosbach dreht sich um und geht mit federnden Schritten seiner Wege. Ich schaue auf meine Armbanduhr. 17.15 Uhr. Ich klappe dir Mappe auf und lese mir die Angebote für Arbeitsgemeinschaften durch. Als sportliche AG käme für mich nur Leichtathletik in Frage. Und die künstlerischen… Naja, das würde wahrscheinlich Klavier sein. Ich schlage die Mappe zusammen. Unbewusst bin ich gelaufen und stehe nun direkt vor dem Tor. Ich muss nicht lange überlegen, dann drehe ich mich um, und als ich niemanden sehe, laufe ich nach draußen. Kaum habe ich die Mauern hinter mir gelassen, da fühle ich mich freier und der ganze Druck fällt von mir ab. Als ich den Waldrand erreiche, lasse ich die Mappe fallen und laufe ohne groß nachzudenken in die grüne Masse. Irgendwann bleibe ich stehen und atme tief ein und aus. Es riecht nach feuchtem Waldboden und Pilzen. Das Harz der Nadelbäume und der Geruch von weichem, sanften Moos steigt mir in die Nase. Mit geschlossenen Augen laufe ich weiter. Nirgendwo stoße ich an, ich gehe weiter und schalte alle meine anderen Sinne ein. Mit geschlossenen Augen streife ich meine Schuhe von den Füßen und laufe nun barfuß durch das Dickicht. Es war ein wunderschöner Wald. Es scheint, als würden hier kaum Menschen durchlaufen und Wege schlagen, sondern einfach den Wald wachsen und gedeihen lassen. Ich strecke meine Arme aus und lasse die Blätter meine Hände streicheln. Dann fühle ich nichts mehr und öffne verwirrt die Augen. Ich bin auf einer kleinen Lichtung gelandet. Das Gras ist grün und viele kleine Champignons. Ich lasse meinem Ausdruck freien Lauf und meine Augen fangen an, zu strahlen. Ich lasse mich auf die Knie sinken und genieße die sanften Sonnenstrahlen auf meiner Haut. Es ist so schön. Ich lege mich auf den Rücken und schließe wieder die Augen. Dann drehe ich mich wieder auf die Seite. Da steigt mir stark der Geruch nach Pilz in die in die Nase. Als ich die Augen öffne, sehe ich direkt vor meiner Nase einen Champignon aus der Erde sprießen. Plötzlich merke ich, dass ich hungrig bin und drehe den Pilz aus der Erde. Langsam führe ich ihn zum Mund und beiße eine kleine Ecke ab. Es schmeckt mir so gut, dass ich die Augen schließe und ganz langsam kaue. Ich lasse den Geschmack meinen ganzen Mund in Beschlag nehmen. Ich kann mir gerade nichts Schöneres vorstellen, als hier zu sitzen und mir den Pilz im Munde zergehen zu lassen. Es ist das beste Essen, was ich seit langem gegessen habe, jedenfalls kommt es mir so vor, denn der Pilz schmeckt nach Freiheit. Ich vergesse für einen wunderbaren Augenblick die Schule, die AGs und meine Zimmermitbewohnerinnen. Ich lebe ganz im Hier und Jetzt und es fühlt sich gut an.
Ein Regentropfen schreckt mich aus meinen Träumen auf. Ich schaue verwundert in den Himmel, der plötzlich nicht mehr blau, sonder tiefgrau ist. Schnell springe ich auf und laufe in den Schutz des Blätterdaches. Normalerweise habe ich kein Problem mit Regen und wäre trotz allem liegen geblieben, aber hier hatte ich nicht so viele Sachen und keine Lust, mich ewig in den Waschraum zu stellen, um die Grasflecken aus meinen Sachen zu waschen. Und schon bin ich wieder in der Wirklichkeit angelangt. Ich schaue auf die Uhr und bekomme voller Schreck mit, dass es schon 20:00 Uhr ist. Nun sollte ich nicht mehr zögern und so mache ich mich sofort auf den Weg. Der Rückweg kommt mir viel länger vor als der Hinweg, und obwohl ich aus Intuition genau weiß, wo ich langlaufen muss, dauert es doch zwanzig Minuten, bis ich wieder am Waldrand ankomme. Die wenigen Trpofen haben sich inzwischen in einen Sturzregen verwandelt und ich hoffe, dass meine Mappe das überlebt hat. Zum Glück hatte ich sie unter die ersten Bäume getan, so dass sie außer wenigen Wasserspritzern recht trocken geblieben ist. Außerdem ist sie aus Plastik und so vor dem Gröbsten geschützt. Ich stecke sie mir unter mein T-Shirt, damit sie auch weiterhin einigermaßen trocken bleibt. Dann atme ich noch einmal tief ein und stürze hinaus in den strömenden Regen. Die prasselnden Tropfen auf meiner Haut tun mir gut, ich strecke während des Rennens meine Arme aus, um den Regen zu genießen.
Am Tor angekommen bin ich trotz meiner ziemlich guten Ausdauer ganz schön außer Atem. Meine langen Haare haben sich aus dem Zopf gelöst und hängen mir ins Gesicht. Ich beuge mich leicht nach vorne, so weit es mit der Mappe vor der Brust denn geht und stütze mich auf meine Oberschenkel. Dann schaue ich mit zusammen gekniffenen Augen nach vorne, wo ich die ersten Gebäude durch die graue Regenwand erkennen kann. Nach einem tiefen Atemzug mache ich mich auf die letzten Meter.
Als ich die Wohnheimstür hinter mir zuziehe lege ich den Kopf in den Nacken. Dann sehe ich auf den Boden. Dort hat sich schon eine kleine Pfütze gebildet. Mit großen Schritten gehe ich zur Treppe und nehme gleich drei Stufen auf einmal. Die Anstrengung des Tages habe mir gut getan, die enge Treppe löst in mir nicht die erwartete große Panik aus, sondern „nur“ eine enge Kehle und ein beklemmendes Gefühl in der Magengegend. Dann stehe ich vor der Zimmertür. Ich möchte sie nicht öffnen, will am liebsten wieder umdrehen. Gerade greife ich nach der Klinke und möchte sie nach unten drücken, da wird sie aufgerissen. Ich höre nur einen mehrstimmigen Schrei: „Demiresa!“ Dann packen mich mehrere Hände und ziehen mich ins Zimmer. Die vielen Hände lösen in mir Panik und einen Reflex aus. Mein Kopf wird leer und ich merke nur, wie sich die Wut in mir zu einem großen Berg auftürmt. Dann hält mich nichts mehr. Ohne ein Wort, doch mit ein paar gezielten Schlägen und Würfen bin ich wieder frei. Schwer atmend presse ich mich an die Wand mir wird schwindelig und langsam sinke ich zu Boden. Dann erst realisiere ich, dass mich meine drei Mitbewohnerinnen aus der größtmöglichen Entfernung betrachten. Ihnen steht der Schock ins Gesicht geschrieben, meine Miene ist ausdruckslos. Melanie hat einen kleinen Riss in der Augenbraue und Greta, meine andere Mitbewohnerin laut Schild, blutet aus der Nase, doch sonst sind sie alle unversehrt. Leila, als einzige von den dreien ganz unversehrt, fängt sich als erste: „Wo bist du gewesen?“ Ihre Stimme klingt scharf, doch ich antworte nicht. „Wir haben dich gedeckt, als du zum Silentium nicht da gewesen bist, wir haben dich gedeckt, als wir zum Abendbrot sind, und zum Dank verprügelst du uns?“ Ihre Stimme klingt vorwurfsvoll, kein Anflug von Heiterkeit ist mehr in ihrer Stimme. Ich bebe innerlich vor unterdrückter Wut. Warum ich wütend bin und mich nicht schuldig fühle, kann ich nicht sagen. Ich sehe Leila in die Augen. Als unsere Blicke sich treffen, weicht sie etwas zurück. Erst dadurch merke ich, dass sich meine Wut in meinen Augen wiederspiegelt. Ich schließe meine Augen und atme tief ein. Dann öffne ich sie wieder. Nun kann man mir nichts mehr ansehen. Beherrscht stehe ich auf, gehe zur Leiter und steige hinauf. Oben angekommen werfe ich mich auf das Bett. Am liebsten würde ich schreien, um mich schlagen und weinen, doch ich kann mich gerade noch beherrschen. Stattdessen beiße ich einmal kurz in das Kopfkissen und dann ist es wieder gut. Ich höre den Regen auf das Dachfenster prasseln und konzentriere mich ganz auf das Geräusch, damit ich nicht nachdenken muss oder die Stimmen von unten höre. Nach einiger Zeit stehe ich auf und gehe zu meinem Schrank. Dann ziehe ich meine durchweichten Sachen aus und suche mir etwas dickere Sachen aus meinem Schrank heraus. Unten drunter ziehe ich noch einen Badeanzug. Als ich fertig bin, hole ich meine wasserfeste Tasche aus dem Schrank und packe ein Handtuch hinein. Dann schiebe ich sie mitsamt einer Isomatte unter mein Bett. Zum Glück konnte ich die ganzen Sachen von zu Hause mitnehmen. Schließlich lege ich mich ins Bett. Mir wird schnell warm, aber ich kann mich nachher nicht erst noch anziehen, das würde nicht funktionieren. Wahrscheinlich würden sie jetzt wie die Schießhunde aufpassen, dass ich mich nicht davonschlich, da musste ich so viel wie möglich gleich griffbereit haben. Dann konzentrierte ich mich wieder auf das Prasseln des Regens, das auf mich eine beruhigende Wirkung hatte. Nach einer Ewigkeit kamen dann meine Mitbewohnerinnen nach oben. Sie zogen sich um und legten sich ins Bett. Doch ich hatte Recht, sie lagen noch lange wach, sprachen zwar kein Wort, aber ich höre an ihrem Atem, dass sie noch lange wach liegen. Der Vorteil bei mir ist, dass ich vor Panik nicht schlafen kann. Ich bin ziemlich erschöpft, aber ich kann einfach nicht einschlafen, dazu spüre ich Leilas Anwesenheit zu dicht bei mir und dazu ist die Decke einfach zu niedrig. Nach einiger Zeit schlafen sie dann doch endlich ein. Ich warte noch ein wenig, dann ist der Sog nach draußen zu groß. Auf nackten Sohlen schleiche ich mich zum Fußende meines Bettes und ziehe die Tasche hervor. Es macht mehr Lärm, als ich es wollte. Als ich die beiden Sachen hervorgezogen habe, halte ich die Luft an. Leila dreht sich auf die andere Seite, aber sie schläft ansonsten ruhig weiter. Die Isomatte stecke ich dann doch noch in die Tasche und setze mir diese wie einen Rucksack auf die Schultern. Dann schleiche ich mich auf leisen Sohlen aus dem Zimmer.
Vor der Mauer ziehe ich meine Sachen aus und quetsche alle in die Tasche. Zum Glück ist sie sehr dehnbar, sonst würde das alles nicht klappen. Hoffentlich brauche ich die Isomatte nicht immer, das wird vieles erleichtern. Durch die Tasche, die auf meinem Rücken sitzt, ist das Hinaufklettern etwas komplizierter als am Vortag, doch das stört mich nicht. Noch einmal laufe ich zum Waldrand. Dort angekommen rolle ich die Isomatte aus und kaum liege ich, da schlafe ich auch schon.
Am nächsten Morgen wache ich wieder recht zeitig auf. Ich mache mich schnell auf den Rückweg, und durch das Handtuch bin ich auch bei weitem nicht so durchnässt wie gestern und werde auch nicht wieder den ganzen Flur putzen müssen, um meine Spuren zu verwischen. Nach dem Duschen packe ich meine Schultasche für meine erste Unterrichtsstunde. Dann setze ich mich an meinen Schreibtisch und lasse den gestrigen Tag Revue passieren. Ich bin mit meiner Rückschau noch nicht weit, da bekomm ich Angst. Heute hatte ich mich vorzustellen. Das hatte Herr Moorbach gestern unmissverständlich mitgeteilt. Doch ich konnte das nicht. Das konnte er vergessen. Und was sollte auch schon passieren. Er konnte mich herausschmeißen. Das wäre ja genau in meinem Sinne. Ich würde mich nicht dazu herablassen, heute irgendwas zu sagen, da würde ich Schwäche zeigen, das geht nicht. Tief in meinem Inneren spürte ich zum ersten Mal so etwas wie Schuld. Doch bevor ich meinen Gefühlen auf den Grund gehen kann, höre ich von oben wieder Musik und dann Stimmen. Ich sehe in dem Moment zur Treppe, als ein Paar Beine herunterkommen. Sie tragen einige blaue Flecken. Es sind die von Leila, also ist sie doch nicht so ganz ohne Blessuren davongekommen. Nach ihr kommen auch die anderen beiden herunter, zum Glück ist die Augenbraue von Melanie nicht geschwollen, man sieht nur einen kleinen roten Riss. Alle ignorieren mich. Gut, wenn das ihre Strategie war, mich nun so zu behandeln, dann kann ich mir dazu nur gratulieren. Mit Ignorieren komme ich auf jeden Fall besser klar, als mit Aufmerksamkeit.
Natürlich fordert mich Herr Moorbach beim Frühstück wieder zum Vorstellen auf, doch ich bleibe bei meinem Entschluss und von Reue ist in mir zum Glück keine Spur mehr. Der Rektor sieht nicht überrascht aus, als ich mich weigere. Er fährt nach meiner Weigerung mit seiner kurzen Ansprache fort. „Ich werde dich jetzt jeden Tag fragen, irgendwann wirst du schon noch etwas sagen. Für die anderen: Demiresa hat zu unserer aller Überraschung bei ihrer gestrigen Prüfung erstaunlich gut abgeschnitten. Sie wird nun in die 10. Klasse gehen.“ Einige Mädchen klatschten Beifall. Das würden also meine neuen Klassenkameradinnen sein. Denen würde die Freude darüber, dass ich in ihre Klasse komme, schon noch schnell genug vergehen.
Als das Frühstück vorbei ist, kommen gleich einige Mädchen auf mich zu. „Hallo, ich bin Christina.“ Sagt da schon ein selbstbewusstes, großgewachsenes Mädchen zu mir. Schön für dich, ich nicht. Ich antworte nicht. Warum sollte ich auch. „Komm mit, wir zeigen dir, wo es lang geht. Wenn du nach diesem Plan gehst, dann machst du einen großen Umweg, das muss ja nicht sein, oder?“ Sie grinst mich frech an, doch mir ist nicht nach Lachen zumute. Sie gehen los und ich dackele ihnen hinterher. Tatsächlich gehen wir durch kleine Gässchen und sehen von Weitem das Tor. Ich bleibe kurz stehen und sehe hinaus, am liebsten würde ich dort hinaus in den Wald, zu der Champignon – Lichtung. „Demiresa?“ Ich wende mich wieder nach vorne und gehe den anderen hinterher, um nicht den Anschluss verliere. Irgendetwas muss ich tun, damit sie mich nicht mehr Demiresa nennen. Während ich noch überlege, wie ich das anstellen könnte, erreichen wir unseren Klassenraum. Dieser liegt in der ehemaligen Scheune. Hier sind mehrere Räume eingebaut, wir gehen in den ganz links. Als ich den Raum betrete, bin ich im ersten Moment etwas erleichtert, die Raum ist groß und die Tische stehen recht weit auseinander, doch dann sehe ich mir diese genauer an und bemerke, dass das Zweiertische sind. Viele Mädchen sind schon da und sitzen schön nebeneinander an aufgeräumten Plätzen. Auch meine Begleiterinnen beginnen, sich zu setzen, während ich noch unsicher herumstehe und keine Ahnung habe, was genau ich jetzt tun soll. Mir fällt ein Tisch hinten in der Ecke auf, an dem noch niemand sitzt. Dort würde ich in Ruhe sein und wahrscheinlich sitzt auch niemand schon dort. In diesem Moment nehmen an eben diesem Tisch zwei Mädchen Platz. Mist. Ich sehe mich weiter um und kann nur noch zwei leere Tische ausmachen. Natürlich beide in der ersten Reihe. Hinter mir betreten noch zwei Klassenkameradinnen den Raum. Zwei setzen sich an den Tisch rechts in der Ecke, die andere geht zu dem Tisch direkt vor dem Lehrerpult. Neben ihr ist noch ein Platz frei. Bitte lass noch jemanden kommen. Bitte. Es kommt auch noch jemand. Der Lehrer. Alle Schüler stehen auf, nur ich habe noch keinen Platz und stehe im Mittelgang. Natürlich bemerkt mich der Lehrer sofort. „Sie müssen die neue Mitschülerin sein. Nun, schlagen Sie hier keine Wurzeln, sondern setzen Sie sich. Die Platzauswahl dürfte Sie doch nicht überfordern.“ Seine Worte sind sehr sarkastisch und ich habe schon jetzt eine Wut. Mit großen Schritten gehe ich zum Tisch und setze mich. Dann erst schaue ich auf den Stundenplan, was ich eigentlich jetzt habe. Deutsch steht da. Ich krame in meiner Tasche und suche mein Deutschzeug zusammen. „Halten Sie in Ihrer Tasche besser Ordnung, gerade wenn Sie erst noch ein paar Minuten brauchen, bevor Sie am Unterricht teilnehmen können.“ Das Gelächter von hinten kommt mir vor wie Verrat und ich habe eine Wut, auf all die Mädchen, die hier mit mir im Raum sind. Am liebsten wäre ich hinausgerannt, doch ich beherrsche mich, auch wenn ich mich frage, wieso. „Da nun auch die letzte für den Unterricht bereit ist, könne wir ja mit dem eigentlichen Stoff dieser Stunde beginnen. Wer kann mir die Merkmale des Barock nennen?“ Die Aufmerksamkeit richtet sich sofort auf den Lehrer, und er hat kaum die Frage zu Ende gesprochen, da schnellen schon die ersten Finger in die Höhe. Auch ich weiß die Antwort und deshalb schalte ich ab und lasse den Unterricht an mir vorbei ziehen. Die Stunde bei Herrn Kretzmer, wie ich mit einem flüchtigen Blick auf den Stundenplan feststelle, besteht vor allem aus Mitarbeit. Ich mache mir nur wenige Notizen, denn der Lehrer kann mir nichts Neues sagen. Das Mädchen neben mir hat fast ständig den Arm oben und schreibt trotzdem ständig mit. Am Ende der Doppelstunde hat sie vier Seiten mit enger Schrift in Stichpunkten vollgeschrieben, während ich gerade einmal sechs Stichpunkte in meinem Hefter stehen habe.
Anschließend geht es zu Mathematik. Hier läuft der Unterricht ganz anders ab. Hier ist es so, dass Frau Maltmer uns alles an die Tafel schreibt und uns dann Übungsaufgeben gibt. Es sind viele und man ist lange mit Arbeiten beschäftigt, doch die Mitarbeit besteht ausschließlich darin, die Ergebnisse zu vergleichen. Mit den meisten Aufgaben habe ich keine Probleme, doch ich merke, das ich ein wenig aus der Übung bin, doch ich beiße mich durch und habe am Ende zwar nicht alle Aufgaben geschafft, dafür aber diese korrekt. Ich glaube, Mathe könnte zu meinem Lieblingsfach werden.
Anschließend habe ich eine Doppelstunde Chemie. Dahin muss ich jetzt alleine laufen, doch das bereitet mir kaum Probleme. Das Kabinett befindet sich in einem ehemaligen Speisesaal und ich muss aufpassen, dass mir der Mund nicht offen stehen bleibt angesichts der, soweit ich das beurteilen kann, hochmodernen Technik, die hier steht. Im vorderen Teil stehen Bänke in zwei langen Reihen, an denen wir die Theorie lernen werden. Dahinter, und das nahm den weitaus größten Teil des Raumes ein, standen weit auseinander zahlreiche Experimentiertische. Der Lehrer, Herr Spateneĉ, auch nur kurz der Spaten genannt, begrüßt mich mit Handschlag. Er siezt uns nicht, und das ist mir nur recht. Die Mädchen hier sind hier irgendwie sehr klein, ich komme mir so groß neben ihnen vor. In diesen Stunden haben wir nur Theorie. Endlich lerne auch ich einmal etwas Neues, auch wenn ich einige Dinge schon einmal selbst gelesen habe. Nach diesen Stunden gibt es ersteinmal Mittag. Mir reicht es. Auch wenn der Unterricht gar nicht so übel ist, so fehlt mir frische Luft, ich fühle mich einfach nur eingeengt. So gerne würde ich jetzt durch den Wald streifen und das Gras unter meinen Füßen spüren, den Geruch von Moos und Pilzen in meiner Nase. Den einen oder anderen Champignon essen und einfach nur daliegen und die Sonne meine Haut streicheln lassen. Ich sehne mich nach Freiheit. In der Mittagspause möchte ich mich eigentlich von dannen machen, doch der Rektor bittet mich zu sich.
„Deine Lehrer sind der Meinung, dass du gut im Unterricht mitkommst und dass wir die richtigen Entscheidungen getroffen haben. Es freut mich zu hören, dass du dich ohne größere Probleme in das Klassengefüge integriert und dich nicht den Lehrer widersetzt hast, was ich, ehrlich gesagt, erwartet habe. Ich hoffe, dass das auch so bleibt und du die ersten Tests mit Erfolg bestehen wirst. Ich werde dich in ein paar Wochen nocheinmal zu mir bestellen, dann können wir deine Lernerfolge durchgehen. Ich hoffe, dass ich dann nicht immernoch den Alleinunterhalter spielen muss. Denke heute bitte an den Termin mit deinem Vormund. Ich gebe dir noch einen Rat: Bitte lies dir immer alles genau durch, was du unterschreiben sollst, und wenn du dir nicht sicher bist, dann nimm den Vertrag mit und wir schauen zusammen nocheinmal drüber.“ Ich nicke kaum merklich nur zum Zeichen, dass ich ihn verstanden habe. Mit den Worten: „Ich wünsche dir noch einen wunderschönen Tag.“ Entließ er mich nach draußen. Mit einem Blick auf die Uhr stelle ich fest, dass mir gerade noch Zeit bleibt, meine Sachen umzupacken und dann meine Bücher aus der Bibliothek zu holen, was ich gestern ja versäumt habe. In meinem Zimmer ist zum Glück niemand. Mit wenigen Griffen ist alles neu eingepackt und ich mache mich auf den Weg in die Bibliothek. Dort sitzt eine Schülerin, die erwartungsvoll eine Hand ausstreckt, um mir meinen Abholschein abzunehmen. Ich gebe ihn ihr und sie greift nur unter ihr Pult, dann reicht sie mir einen großen Stapel Bücher. „Hier. Viel Spaß!“ wünscht sie mir mit einem leicht ironischem Lächeln im Gesicht. Ich nehme die Bücher an mich und verschwinde wieder. Draußen schließe ich die Augen und lasse mir die Sonne ins Gesicht scheinen. Doch kurze Zeit später muss ich weiter zu meinem Nachmittagsunterricht. Ich muss ein wenig suchen, bis ich den Raum finde, wo mein Klavierunterricht stattfinden soll. Das Gelände ist zwar nicht groß, aber doch verwinkelt, sodass es mir auch mit meinem sehr guten Orientierungssinn manchmal nur schwer gelingt, die Orientierung zu behalten. Nach meinen anfänglichen Problemen komme ich dann aber doch schnell zu dem Musikraum. Klavier. Na toll. Dann klopfe ich an. Nur einen Wimpernschlag später ertönt von drinnen ein „Herein!“ Ich öffne die Tür und betrete den Raum. Meine Klavierlehrin sitzt hinter dem Klavier – Pardon, Flügel – und sieht mich an. Sie steht nicht auf und sagt keinen Ton. Sie schaut mir nur in die Augen. Als erste Person, die ich kenne, schafft sie es, meinem Blick stand zu halten und nicht, trotz meines verschlossenen Gesichtsausdrucks und meines kalten Blicks, verschüchtert wegzuschauen. Damit ist sie auch die erste Person, die mir wirklich Respekt einflößt. Noch dazu hat sie in ihrem Gesicht ein dauerhaft freundliches Lächeln, keines, das aussieht, als tue sie es nur, um freundlich zu wirken, sondern weil sie freundlich ist. Die Stille dehnt sich aus, nagelt mich an meinem Platz fest. Ich kann keinen Schritt weiter gehen. Ich kann nicht atmen, es entsteht eine Spannung, die mich verkrampfen lässt. Es bereitet mir erstaunlich viel Mühe, unbeeindruckt zu wirken. Ich frage mich, wie weit die Spannung noch anwachsen kann und wer von uns beiden zuerst aufgeben wird. Als die Spannung ihren Höhepunkt erreicht durchbricht sie die Stille mit einem Satz, der mir jetzt noch nichts sagt, mir jedoch lange im Gedächtnis bleibt: „Ich mach ein Lied aus Stille.“ Sie lässt eine kleine Pause, dann fährt sie fort: „Tut mir leid, dass ich nicht aufstehe und dich begrüße, aus einem mir unersichtlichen Grund fällt mir das etwas schwer.“ Mit einem Schlenker ihrer linken Hand winkt sie mich um den Flügel. Erst jetzt registriere ich so richtig, dass meine Lehrerin noch sehr jung ist, wahrscheinlich nicht einmal 25. Langsam gehe ich zu ihr und dann verstehe ich ihren merkwürdigen Begrüßungssatz: Sie sitzt im Rollstuhl. Ich versuche, sie nicht anzustarren, aber sie tut mir so leid. Eine solch junge Person muss schon im Rollstuhl sitzen. Das ist wirklich traurig. Trotz meiner Bestürzung lasse ich mir von meinen Empfindungen nichts anmerken, gehe wie gleichgültig zu dem Stuhl, der etwas abseits von dem Flügel steht und setze mich. „Wie du sicherlich schon gelesen hast, heiße ich Amanda Geruschka.“ Sie wartet auf eine Reaktion meinerseits, doch ich tue ihr den Gefallen nicht. „Hast du schon einmal gespielt?“ Sie sieht mich fragend an. Ich starre auf meine Hände. „Ich gehe mal schnell Noten kopieren, derweil kannst du ja schon einmal den Klang ausprobieren, ich denke, er wird dir gefallen.“ Mit einer Geschwindigkeit, die ich ihr gar nicht zugetraut hätte, rollt sie aus dem Zimmer und schließt die Tür. Ich schaue auf die Tastatur. Schwarz, weiß, schwarz, weiß. Mein Blick wird von diesem gleichmäßigen Muster gefangen genommen. Überwinden, die Tasten zu berühren, kann ich mich jedoch nicht. Meine Hände krampfen sich umeinander. So vergehen wenige Minuten, dann geht die Tür wieder auf. Das Geräusch reißt mich aus meiner Starre und ich setze mich wieder gerade hin. „Sei doch nicht so schüchtern! Du hättest ruhig etwas klimpern können. Das Klavier nimmt die ein paar falsche Töne nicht übel!“ Sie rollt vor mich und drückt mir ein Notenblatt in die Hand. Darauf sind ein paar einfache Tonleitern und Fingerübungen. „Komm doch her und spiel das!“ sagt sie aufmunternd zu mir. Ihre funkelnden Augen sprühen über vor Freude. Ich rühre mich nicht vom Fleck. Ich starre auf meine Hände. Die Knöchel meiner rechten Hand sind weiß, so sehr verkrampfen sie sich wieder um meine Linke. Ich kann nicht aufsehen, teils weil ich es nicht will, teils weil ich es nicht kann. Ich habe ein leichtes Gefühl von Scham, aber ich versuche, es schnell wieder zu vertreiben. Plötzlich ertönen leise Töne. Sie entlassen meinen Kopf aus der Starre und ich sehe zu dem Flügel. Amanda sitzt davor und hat ihre Armlehnen von dem Rollstuhl irgendwie weggeklappt. Nun hat sie die Augen geschlossen und ihre Finger spielen von ganz alleine eine sehr ruhige, aber schöne Melodie. Das Bild fasziniert mich. Anscheinend ist sie nicht querschnittsgelähmt, denn ihr rechter Fuß tippt in regelmäßigen Abständen auf das Pedal. Wie von einer fremden Macht schließen sich meine Augen. Ich lasse mich ein wenig treiben, auch wenn mein Gesicht das – hoffentlich – nicht zeigt. Die Musik wird nun ein bisschen schneller, sie gewinnt an Spannung. Es klingt wie eine schnelle Improvisation über das eben gespielte Thema. Langsam wird es immer schneller. Ich habe keine Ahnung, wie lange das Stück nun schon andauert, aber es fühlt sich an, als hätte es gerade erst angefangen. Ein rasanter Höhepunkt ist nun erreicht, die Töne klingen laut und klar durch den für seine Größe erstaunlich halligen Raum und füllen mich ganz aus. Nach und nach wird es nun wieder leiser. Erst jetzt bemerke ich, dass sich mein Pulsschlag während der rasanten Melodie mit beschleunigt hat. Mit dem Verlangsamen der Musik wird auch dieser wieder ruhiger. Zum Ende erkling wieder die Melodie vom Anfang. Sie wird immer leiser und schließlich verklingt sie ganz. Der letzte Akkord klingt noch lange nach und meine Klavierlehrerin und ich lauschen ihm hinterher. Auch nach seinem Verschwinden bin ich noch immer von der Musik gefangen. Als ich die Augen wieder öffne, erhebt Amanda wieder das Wort: „Ich hoffe, das Stück hat dir gefallen. Unsere Stunde ist jetzt leider schon vorbei. Wir sehen uns dann nächste Woche wieder.“ Ich kann es gar nicht fassen, doch mit einem Blick auf die Uhr stelle auch ich fest, dass die dreiviertel Stunde schon um ist. Ich erhebe mich. „Verzeih bitte, dass ich dich nicht zur Tür bringe, aber ich denke, du findest den Ausgang auch alleine:“ Sie lächelt, auch wenn es mir scheint, dass sie ein bisschen traurig dabei wird. Wie lange sie wohl schon im Rollstuhl sitzt? Frage ich mich. Ich verlasse den Raum ohne ein Abschiedswort, doch ich denke, sie nimmt mir das nicht übel. Erst als ich das Gelände draußen betrete, bemerke ich, dass ich kein Gefühl von Angst in dem kleinen Raum hatte. Das Gefühl von Eingeengtheit kam gar nicht erst auf. Eher im Gegenteil. Ich fühle mich hier draußen wieder viel klammer, als das drinnen der Fall war. Irgendwie ist mir das unheimlich. Langsam gehe ich weiter. Das Klvierstück klingt mir noch immer in den Ohren. Irgendwoher kommt mir die Melodie bekannt vor, auch wenn ich zu Anfang ohne Zögern behauptet hätte, dass ich das Stück gar nicht kenne. Sie leise in meinem Kopf vor mich hin summend gehe ich weiter.

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Tag der Veröffentlichung: 19.08.2010

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