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Viktoria kommt zu Besuch

Seit Tagen ist es bitterkalt. Der Wind macht alles noch kälter und wer nicht unbedingt nach Draußen muss, bleibt lieber im Warmen.
Ich sitze in meinem Lieblingssessel und lese ein Buch. Da es ja immer schon früh dunkel wird, habe ich die Leselampe angemacht. Um die Beine habe ich mir eine Decke gewickelt, damit die Füße nicht kalt werden. Nichts hasse ich mehr, als kalte Füße.
Die kuschelige Wärme und das eher langweilige Buch haben mich schläfrig gemacht. Langsam beginnen die Buchstaben vor meiner Nase zu tanzen.
Genau in dem Moment, als mein Kopf zur Seite gleitet, lässt die beste aller Ehefrauen die Tür krachend gegen die Wand fahren. „Hast du gehört, unsere Tochter wird zu Besuch kommen?“ schmettert sie mir entgegen.
Ich bin noch ganz benommen, da poltert sie schon weiter: „Und sie bringt Viktoria mit.“
Das lässt mich sofort wach werden.
Wenn die Enkelin zu IHREM Opa kommt! Das wird eine feine Zeit.
Freudig springe ich aus dem Sessel, da fällt mir das Buch auf den Zeh. Jetzt weiß ich, warum es schwere Literatur heißt.
Ich ignoriere dem Schmerz und will natürlich wissen, wann die Beiden kommen.
Erst am Wochenende. Das ist ja erst in zwei Tagen.
In ZWEI Tagen!!!
Wie schnell die Zeit vergeht!
Ich werde mir was ausdenken, was ich mit meiner Enkelin unternehmen kann.
Der Freizeitpark ist zu teuer und zu dieser Jahreszeit eher für die Großen interessant. Viktoria ist ja erst fünf. Nein, fünfeinhalb, wie sie immer darauf besteht.

Im Wildgehege in der Nähe ist es auch eher im Sommer schön.
Und der Abenteuerspielplatz ist auch nicht so reizvoll.
Also werden wir uns im Haus beschäftigen.
Mensch-ärgere-dich-nicht werden wir spielen, da kann ich wenigstens mal ein Feld überspringen, wenn sie nicht aufpasst. Bei Memory hab ich keine Chance gegen sie. Da ist sie Meisterin.
Vielleicht können wir zusammen Plätzchen backen.
Ich hab da so ein Rezept, nur Mehl, Zucker, Ei und Butter. Gibt einen leckeren Teig, den man mit kleinen Fingern stundenlang bearbeiten kann. Und wenn die Fingerchen sauber sind, kann man den Teig auch backen.
Die Beste aller Ehefrauen lässt ja sonst niemanden in ihr Reich.
Schon gar nicht mich.
Aber wenn es Zeit ist, Plätzchen zu backen, da wird ich selbst zum Kind.
Da muss ich einfach auch einen Teig machen und kneten und formen und ausstechen und verzieren und backen.
Wenn die Wohnung so lecker nach Plätzchen riecht.
Wenn man dann mit einer Tasse Kaffee ein paar Plätzchen essen kann. Herrlich!
Die Adventszeit ist die schönste Zeit.

Nur das verflixte Lied von der Weihnachtsbäckerei kann ich nicht mehr hören. Jeder Kindergarten glaubt, etwas besonders originelles zu bieten, wenn die Kleinen zu dem Lied so tun, als würden sie Plätzchen backen.
Überhaupt, diese Lieder sind ein Graus. Wer schon mal sechs Stunden mit einem Kindergartenkind im Auto gefangen war, und zum tausendsten Mal hören muß: “Mein Platz im Auto ist hinten“, der weiß wovon ich rede.
Aber ich will ja nicht jammern.
Ein Tag, bevor der Besuch kommt, scheit es. Schöne dicke weiße Flocken. Es hat ganz langsam angefangen. Zuerst waren es nur ein paar dünne Flöckchen. Die sind gleich geschmolzen, als sie auf der Strasse landeten. Aber auf dem Rasen bildete sich nach und nach eine dünne weiße Schicht..
Dann werden die Flocken dicker und schwerer. Und der Schnee bleibt liegen. Die ganze Nacht hindurch hat es geschneit.
Entsetz sehe ich aus dem Fenster. Die Straße vor unserem Haus ist zwar geräumt, aber auf dem Bürgersteig liegt die weiße Pracht . Und im Stadtpark, der in der Nähe ist, ist alles unter der Schneedecke verhüllt.
Ich mache mir schon Gedanken, ob Julia den kommen wird.
Aber sie ist eine sichere Fahrerin und hat einen Wagen mit Allrad-Antrieb.
Der bleibt so leicht nicht liegen.
Tatsächlich kommen die Beiden am vereinbarten Tag an. Natürlich nimmt mich meine Enkelin sofort in Beschlag.
„Wir gehen Schlittenfahren“ trompetet sie mir entgegen.
Sie hat schon ihren Schneeanzug an, in dem sie immer aussieht wie ein blauer Astronaut.
Natürlich habe ich damit gerechnet, und den Schlitten aus dem Keller geholt. Es ist ein alter Holzschlitten, auf dem unsere Julia schon die Hügel im Stadtpark herunter gerauscht ist.
Ich ziehe meine dicke Jacke an und die gefütterten Winterstiefel und schon kann es losgehen.
Direkt vor der Haustür will sie schon gezogen werden. Das geht aber nur da, wo nicht geräumt wurde.
Wir kommen im Stadtpark an und ich bin erstaunt, wie viele Kinder schon da sind und die kleinen und größeren Hügel heranfahren.

Man sieht die tollsten Schlitten. Es gibt neumodische Plastikschalen, auf denen man fast im direkten Kontakt zum Boden den Berg herunter fährt.
Aber es gibt auch Holzschlitten, wie wir einen haben.
Oben am Berg angekommen, macht sich Viktoria bereit für die erste Schlittenfahrt des Jahres.
Doch da verlässt sie der Mut. Sie sitzt auf dem Schlitten, die Zugleine in der Hand und den Abhang fest im Blick. Doch sie Bewegt sich keinen Millimeter.
Links und rechts von ihr fahren andere Kinder kreischend die Piste hinab und Viktoria sitzt auf dem Schlitten wie versteinert.

Das kann ich nicht mit ansehen. Also setze ich mich hinter sie auf den Schlitten, stoße uns ab und schon geht die wilde Fahrt den Berg hinab.
Viktoria sagt keinen Mucks, als wir unten ankommen. Doch als ich absteige, sehe ich, dass sie übers ganze Gesicht strahlt.
Und jetzt zieht sie den Schlitten alleine den Berg hinauf.
Oben angekommen, schwingt sie sich auf den Schlitten, wie ein Cowboy auf sein Pferd. Schon geht’s wieder Bergab. Diesmal ganz alleine.
Jetzt hat sie den Bogen raus und traut sich immer mehr zu. Ich dagegen stehe oben am Berg und beobachte die Szene.
Langsam wird mir kalt. Ich sehe mich um und stelle fest, dass ich der einzige Erwachsene bin.
Und weil mir immer kälter wird, fange ich an, einen Schneeball zu formen.
Den werfe ich in den Schnee und rolle ihn hin und her. Langsam wird er größer und größer.
Da kommt mir der Gedanke, einen Schneemann zu bauen.
Ich lasse die Schneekugel immer größer werden. Als sie fast nicht mehr zu bewegen ist, fange ich eine zweite Kugel an.
Plötzlich kommen einige größere Kinder und helfen mir, die Schneekugel zu rollen. Immer mehr Kinder kommen dazu und als die zweite Kugel so groß ist, wie die erste, heben wir sie gemeinsam auf die unterste.
Wir merken schnell, dass wir eine dritte Kugel nicht ohne weiteres heben können. Also bauen wir den Kopf des Schneemannes direkt auf dessen Rumpf.
Einer der Jungs hatte einen alten Kochtopf als Schlitten zweckentfremdet.
Diesen Topf benutzten wir jetzt als Hut für den Schneemann.
Zweige bildeten die Arme und aus Tannenzapfen formten wir Nase und Mund. Gerade als wir fertig waren, kam Viktoria dazu. Ihre Bäckchen glühten vor Eifer. Sie war die ganze zeit über unablässig den Berg hinab gefahren.
Aber jetzt war es Zeit, wieder nach Hause zu gehen. Die ersten Lichter im Park gingen an und es wurde langsam dunkel.

Zu Hause angekommen, merkten wir erst, wie kalt es draußen war.
Aber jetzt wärmten wir uns vor der Heizung. Und die beste aller Ehefrauen hat schon Kakao gekocht und Plätzchen bereitgestellt.
Welch ein Genus nach einem schönen Wintertag.

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Tag der Veröffentlichung: 06.09.2013

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