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Falling to the end

Irgendwo über der Ostküste Mexikos wabberte dichter Nebel. Nahezu kahle Bäume streckten sich geisterhaft anmutend zum Himmel. Einige Möwen kreisten darüber hinweg. Ihre Schreie verloren sich in der Einsamkeit der weißen Dunstwolken. Ein kleines Fischerdorf lag wie verlassen da, weil die Bewohner sich wegen einem drohenden Unwetter in ihren Häusern verschanzt hatten. Nur die aufgeregten Rufe einiger kleiner Kinder mischten sich in die Stille. Das Meer war nicht zu erblicken- zu dicht hing der Nebelschleier über der Wasseroberfläche. Dennoch konnte der alte Mann die Kinder sehen; in ihren leuchtenden Regenjacken, die wie bunte Glühwürmchen aus dem Grau der Uferlandschaft hervorstachen, knieten sie neben den heranrollenden Wellen und deuteten aufgeregt auf einen im Ozean schwimmenden Gegenstand. "Das ist doch nur ein Stock!", bemerkte ein älterer Junge enttäuscht. 

Der Mann beugte sich etwas weiter in seinem Stuhl vor, doch seine trüben Augen konnten den Gegenstand nicht identifizieren. Noch ehe er den offensichtlich neugierigen Kindern zurufen konnte, sie sollen sich nicht zu nahe über die Wogen beugen, hatte ein kleines Mädchen den Gegenstand mit spitzen Fingern hochgenommen und beobachtete es mit einer Mischung aus Misstrauen und unverhohlenem Interesse. "Eine Schlange?", rief sie erstaunt aus und beobachtete, wie eine schmierige, dunkle Flüssigkeit den schlafen Körper des Wesens hinunterlief. Sie rümpfte die Nase- das Zeug verströmte den unangenehmen Geruch von faulen Eiern. Doch die Schlange war faszinierend. Ihren langen, schmalen Körper zierten zahlreiche kleine Schuppen, die zusammen ein Streifenmuster ergaben.  

"Opaaa!", rief sie aufgeregt und rannte zu dem alten Mann, wobei ihre schwarzen Haare hinter ihr im Wind flatterten, "Schau mal!" Er kniff die Augen zusammen und begutachtete, was seine Enkelin da in der Hand hielt. Er riss erschrocken die Augen auf, als ihn die Erkenntnis wie ein Blitz traf. Eine Dubois Seeschlange- die Giftigste aller Seeschlangen! "María! Wirf es weg! Sofort!", rief er panisch. Iritiert ließ das Mädchen die Schlange fallen und starrte das Tier an. Es rührte sich nicht.

Erleichtert stieß der alte Mann ein Seufzen aus. Dass man sich vor diesen Schlangen in Acht nehmen sollte, war das Erste gewesen, was er von seinem Vater auf dem Fischerboot gelernt hatte. Doch augenscheinlich war das Wesen tot. Verwundert nahm er den Körper in Augenschein. Die Flüssigkeit an seinen Schuppen konnte Farbe, Konsistenz und Geruch nach zu urteilen nur Erdöl sein. Der Mann hatte in seinem Leben schon viel davon gesehen, da er in jungen Jahren passionierter Tiefseeforscher gewesen war. 

Doch das war schon seit langer Zeit vorüber. Seit die Pole abgeschmolzen waren und sich das Klima rapide verändert hatte, hielt man die Ozeane für unberechenbar. Und das waren sie auch. Es schien, als würde die Natur in einem letzten Aufbäumen noch einen Racheakt an der Menschheit, die sie zerstört und mit den Füßen getreten hatte, verüben. Immer wieder gab es verheerende Tsunamis und Unwetter- so viele, dass es beinahe schon Alltag war.

Heute war ein außergewöhnlich kühler und nasser Tag. Ein Sturm würde aufziehen. Er blickte in die erwartungsvollen Gesichter seiner Enkelin und der anderen Kinder, die sich inzwischen um ihn gescharrt hatten. "Wir werden gehen. Das Unwetter wird bald hereinbrechen", erklärte er und erhob sich schwerfällig mit einem Ächzen. "Hoffen wir, dass es uns nicht erreicht", fügte er in Gedanken hinzu. Protestierendes Gemurmel machte sich breit, doch die Kinder gehorchten und machten sich auf den Weg zu den schützenden Häusern. Der Mann drehte sich noch einmal um und schaute auf die von Nebel überwucherte See hinaus. "Kaputte Welt. Arme, kaputte Welt", murmelte er. Dann folgte er seiner Enkelin.

 Irgendwo über der Ostküste Mexikos lichtete sich dichter Nebel. Nahezu kahle Bäume streckten sich geisterhaft anmutend zum Himmel. Einige Möwen kreisten darüber hinweg. Ihre Schreie verloren sich in der Einsamkeit. Ein kleines Fischerdorf lag wie verlassen da. Nicht weil die Bewohner sich in ihren Häusern verschanzt hatten; nein, es war verlassen. Wassermassen hatten es überrollt und hungrig alles mit sich gerissen, was ihnen im Weg stand. Es herrschte Stille. Das Meer war wieder zu erblicken. Weit draußen konnte man Bohrtürme und Plattformen sehen, die windschief und in Trümmern standen; als stumme Zeugen der zerstörenden Kraft des Wassers. Um sie herum breitete sich ein dunkler Teppich aus. Von einem kahlen Baum fiel ein einzelnes, gelbes Blatt und landete beinahe sanft auf der mit Öl überzogenen Wasseroberfläche. Arme Welt. Arme, kaputte Welt.

Impressum

Bildmaterialien: Cover: klapeg, "Blatt im Wasser" | Vinoth Chandar, "Save our planet before it's too late" http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/de/deed.de Quelle: www.piqs.de
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2013

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Widmung:
Dieses Buch widme ich der Natur und allen, die sie schützen.

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