Die Stunde des Siegers
Die Schläge waren wie immer schnell und unerwartet gekommen. Und wie immer hatte er sich nicht gewehrt. Auch nicht, als sie ihn gepackt und aus dem Lokal geworfen hatten.
Er hatte sich nie gewehrt.
Er wischte sich das Blut aus dem Gesicht und betastete seine schmerzenden Glieder. Zum Glück schien nichts gebrochen zu sein. Mühsam rappelte er sich hoch und machte sich auf dem Heimweg.
Nach ein paar Schritten musste er stehenbleiben, weil ihm plötzlich schwindelig wurde. Er würgte, unterdrückte einen heftigen Brechreiz und sank auf eine Treppenstufe, um sich auszuruhen. Während sein Gesicht immer mehr schmerzte, begann er sich auszumalen, was nächstes Mal geschehen würde.
Sie würden ihn immer wieder als Prügelknaben benutzen. Egal wohin er ging, sie fanden ihn.
Und immer wieder bekam er Prügel.
Wieder sah er in Gedanken die von Bosheit und Aggressivität verzerrten Gesichter vor sich, spürte die Fäuste, die Schläge, die auf ihn niederprasselten, die Finger die sich in sein Fleisch gruben. Hörte das Gelächter und die lauten, gehässigen Bemerkungen, die sie ihm zuriefen.
Und er spürte wieder das Gefühl der Erniedrigung, das er so hasste.
Das Gefühl von Scham und Ekel, das sich in seinem Gehirn festgesetzt hatte.
Er stützte den Kopf auf seine Hände.
Irgendwann
würde er zurückschlagen. Zurückschlagen in diese verzerrten, gemeinen Gesichter. Igendwann würde auch seine Stunde kommen.
Die Stunde des Siegers.
Er würde ausholen und mit dem Gefühl wilden Triumphes in diese widerlichen Gesichter zurückschlagen. Sich wehren. Alle Demütigungen, die er ertragen mußte, in die Kraft seiner Fäuste legen.
Er spürte, wie sich ein Gefühl wilder Freiheit in ihm ausbreitete. Er kostete den Geschmack der Überlegenheit aus, den er förmlich spüren konnte. Und er genoß das Gefühl, einmal der Sieger zu sein.
Er konnte sehen, wie sich das Gesicht seines Gegners zu einer Maske ungläubigen Erstaunens verzog. Er hörte den hohlen Schmerzenslaut, als sein Widersacher auf dem Boden aufschlug.
Er fühlte den Zornesschrei in seiner Kehle aufsteigen und hatte Mühe, ihn zu unterdrücken.
Er stöhnte auf, warf den Kopf in den Nacken und ballte seine Hände zu Fäusten.
Als er seinen Kopf wieder senkte, konnte er spüren, dass seine Wangen von Tränen nass waren. Das Salz der Tränen brannte auf seiner aufgeplatzten Lippe.
Und wieder flackerte wild sein Zorn auf. Er konnte sehen, wie seine Gegner überrascht zurückwichen, weil sie nicht gewohnt waren das er sich wehrte.
Und er würde sich wehren!
Nie mehr der Verlierer sein!
Nie mehr der Letzte sein!
Nur einmal der Sieger sein...und er konnte sehen, wie er aufrecht aus dem Lokal ging. Aufrecht und völlig unbehelligt.
Die Stunde des Siegers.
Einmal würde sie auch für ihn kommen.
Sein Puls beschleunigte sich, als er den Geruch von Angst und Niederlage roch, der aber in seinen Gedanken nicht von ihm kam, sondern von seinem Gegner.
Mit zurückgeneigtem Kopf und geschlossenen Augen genoß er das Gefühl des Sieges. Er konnte die aufplatzende Haut unter seinen Fäusten spüren.
Das Blut riechen.
Doch als er die Augen öffnete, sich erhob und nochmals das Blut abwischte, spürte er wieder die Schmerzen.
Die Erniedrigung.
Die Scham.
Und er wußte: es würde sich nie etwas ändern.
Niemals.
Langsam ging er nach Hause,
Wie immer.
Es würde sich nie etwas ändern,
Niemals.....
Tag der Veröffentlichung: 31.08.2014
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