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Neptuns Reich

Niemand wusste, woher die junge Frau gekommen war. Stundenlang saß sie schon am Meeresufer auf einem Stein und ließ ihre Beine vom Salzwasser umspülen. Dabei wirkte sie so entspannt, als hätte sie alle Zeit der Welt zur Verfügung.

Ich beobachtete sie schon eine ganze Weile. Manchmal sah sie in meine Richtung, wobei mir schien, dass sie mich öfters kurz anlächelte. Bis jetzt hatte ich noch nie Schwierigkeiten beim Ansprechen hübscher Frauen gehabt, aber bei dieser hielt mich etwas zurück.

Allerdings wusste ich nicht, was es war. Schließlich war ich ein gutaussehender junger Mann, wie mir schon sehr oft von verschiedenen Seiten bestätigt worden war. Die Mädchen und Frauen rissen sich um meine Gesellschaft, worauf ich natürlich sehr stolz war.

Die Abendsonne näherte sich goldfarben dem blutroten Horizont, als sich die zauberhaft schöne Frau erhob und den Strand entlang schritt.
Der Wind war stärker geworden, verfing sich in ihren Haaren, die ihr wie ein goldener Wasserfall über den Rücken flossen. Ein hauchzartes Kleid umhüllte sie, von seinem Saum tropfte Wasser auf den sandigen Boden.

Ich stand in diesem Moment auf und tat so, als ob ich den herrlichen Sonnenuntergang bewundern würde, doch in Wirklichkeit wollte ich nur eine bessere Aussicht auf sie haben. Ich hatte sie nun genau im Blickfeld und war fasziniert von dem wunderschönen Bild das sich mir bot.

Dieses junge Wesen am Strand vor der unendlichen Wassermasse, die in allen Grüntönen schimmerte, bot einen herrlichen Anblick. Nun bückte sich die junge Frau und hob aus dem Sand, der noch die Hitze des Tages gespeichert hatte, ein Schneckenhaus.

Lange horchte sie daran, schüttelte es, horchte weiter. Vielleicht hörte sie eine Melodie, denn sie begann sich zu wiegen, drehte sich zuerst langsam und dann immer schneller im Kreis.

Sie hob dabei das Gehäuse der Meeresschnecke hoch in die Luft und ich hörte ihre helle Stimme vom Salz der Erde singen sowie vom Meer mit bunten Unterwasserwelten. Ihr Tanz wurde schneller und sie bewegte sich stetig Richtung Meer.

Ich spürte ein unheimliches Gefühl in mir hochsteigen. Was hatte das zu bedeuten? Wie von unsichtbaren Fäden wurde ich zu ihr hingezogen, dann hörte ich ihr sehnsuchtsvolles Lied:

Goldbeschuppte Fische schwimmen
zwischen Regenbögen,
die aus Meeren wachsen
und zum Himmel reichen.
Rosenkränze treiben welkend
auf den Wellenkämmen,
sinken taumelnd abwärts,
trudeln mit den Fischen
heim in Neptuns Reich.

Ein paarmal sang sie es und ihre Stimme klang dabei faszinierend und einschmeichelnd.
Ich war ihr nun so nahe gekommen, dass wir Augenkontakt hatten. Lockend war ihr Blick, ließ mich nicht mehr los. Ihre strahlend grünen Augen, die tiefer als das Meer wirkten, zogen mich fesselnd an.

Wie unter Zwang folgte ich ihr, genoss das salzige Wasser zwischen meinen Zehen und wie es immer weiter an mir empor strebte, mich als schützenden Mantel umhüllte und schließlich fest umschloss.

Sie schritt sehr langsam vor mir her, das Meerwasser schien Kreise um sie zu ziehen. Als sie die ersten Schwimmbewegungen machte, fielen die letzten Strahlen der untergehenden Sonne auf ihre Beine, die plötzlich einem Fisch mit herrlich glänzenden Silberschuppen ähnelten.

Wortlos schwamm ich neben der noch immer Singenden. Fast sekündlich trafen sich unsere Blicke, bis wir schließlich gemeinsam untertauchten und ziemlich tief bis fast zum Meeresgrund vordrangen. Ich spürte, dass ich mich noch nie in meinem Leben so frei gefühlt hatte.

„Heim in Neptuns Reich“, sangen wir sehnsuchtsvoll im Duett, bevor wir uns zum ersten Mal leidenschaftlich küssten.

Impressum

Texte: Gabriele Jarosch
Bildmaterialien: Gabriele Jarosch
Tag der Veröffentlichung: 05.02.2014

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
1. Platz beim 3. Wettbewerb der Gruppe "Luviniana und Shishara leihen Texten ihre Stimme". Folgende Wörter mussten vorhanden sein: Aussicht | Schneckenhaus | Salzwasser | Wer lieber hören als lesen möchte, kann "Neptuns Reich" auf YouTube hören: https://www.youtube.com/watch?v=120-5hUxMmw

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