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Stonehenge

 In mattem Dunkelgrau, das langsam heller wurde, wölbte sich der Nachthimmel über Stonehenge. Die massiven Steine inmitten von grünen Hügeln schimmerten verheißungsvoll im letzten Rest des Mondlichts.

Die Frau saß in sich versunken in den Steinkreisen genau zwischen dem Eingang und dem Altarstein und wartete. Sie kauerte auf dem Boden und ließ bei jedem Atemzug die Kraft des megalithischen Monuments auf sich wirken. Ihr Blick wirkte verschleiert, als ob sie nicht sehen wollte, was hinter oder vor ihr lag.

In der rechten Hand hielt sie ein Stück Papier, welches schon ein wenig abgegriffen und vergilbt war. Trotzdem konnte man die feinsäuberlich gemalten Buchstaben noch mühelos lesen:

die roten Blitze
zucken grell
über tote Steine
voll Glut
die Winde toben -
zerschmilz
du Eis des Kreises
und Schwärze
dring nach oben –
so zügellos
mit Mut
und Übermut

 

Immer wieder las sie diese Zeilen und als ihr ein Windstoß das Papierstück aus der Hand riss, stieß sie einen erschrockenen Schrei aus, bevor sie es doch noch mit einer schnellen Handbewegung einfangen konnte.

Sie legte sich nun zusammengerollt in das kühle Gras und dachte daran, dass das rätselhafte Steinmonument eine Achse zwischen der Richtung des Sonnenaufgangs an Mittsommer und der des Sonnenuntergangs bei der Wintersonnenwende bildete. Die Ausrichtung der Megalithen nach dem Lauf der Gestirne regte ihre Fantasie schon seit langer Zeit an und nun war sie endlich an diesem geheimnisvollen Ort angekommen.

Heute war Mittsommer und sie wartete auf die ersten Strahlen der Morgensonne. Ganz langsam hellte sich ein schmaler Streifen am Horizont in zarten Farben auf. Es konnte nicht mehr lange dauern und alles Bedrückende und Schwere würde von ihr abfallen und nur mehr Freude und Leichtigkeit zurücklassen.

Äußerst langsam schob sich nun die Sonne über den Heelstone und ihre ersten warmen Strahlen fielen gleißend auf den Altarstein und ließen ihn in einem eigenartig blutrot strahlenden Licht glänzen. Gleichzeitig warfen einige der bis zu sieben Meter hohen Steine von Stonehenge, eigentümlich lange Schatten, die einen verschlungenen Weg durch die Steinkreise zeigten. Und sie wusste, dass ganz zum Schluss, das Tor in eine andere Welt auf sie wartete. Sie musste nur mehr das letzte Stück der fast endlosen Strecke schaffen.

Die Frau erhob sich und las ein letztes Mal die Zeilen, die sie schon auswendig kannte. Dann spürte sie, wie alle Lasten von ihr fielen, Helligkeit in sie drang und sie ganz leichtfüßig, bürdenlos und schuldbefreit, dem von Schatten vorgezeichneten Weg folgen konnte.

Das zerknitterte Stück Papier war ihre Eintrittskarte in eine andere und bessere Welt und sie ließ es erst los und vom Wind davon tragen, als sie endgültig durch das Tor schritt.

 

Impressum

Texte: Gabriele Jarosch
Bildmaterialien: samhain-wicca.ch.jpg
Tag der Veröffentlichung: 12.09.2012

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