Kai verschlang gerade den letzten Löffel seiner Buchstabensuppe, während Achim noch einen halben Teller vor sich hatte.
„Darf ich schon raus?“, fragte Kai ungeduldig die Oma. Sie blickte prüfend auf die beiden Teller und meinte:
„Erst wenn Achim auch so weit ist.“
Was Oma sagte, war Gesetz. Gerade hatten die Sommerferien begonnen. Diese verbrachten sie fast komplett bei der Oma, denn ihre Eltern arbeiteten bis in die Abendstunden. Doch heute hatte Mama versprochen, etwas früher nach Hause zu kommen, damit sie noch ins Schwimmbad konnten. Die Wartezeit bis dahin mussten sie aber noch überbrücken. Dabei war es erst mittags.
Als Achim endlich den letzten Löffel in sich gezwungen hatte, sprangen sie beide auf und liefen zur Garderobe. Auf dem Boden sitzend zogen sie sich schnell die Schuhe über. Achim hatte ganz neue Sandalen geschenkt bekommen. Schön rot, glänzend und auffällig, weil seine Alten kaputt gegangen waren. Sie waren noch etwas zu groß, aber er würde noch in diesem Sommer hineinwachsen. Kai hatte seine noch vom letzten Jahr, sie drückten etwas.
Wenn sie Langeweile hatten, was oft in den Ferientagen passierte, gingen sie zu einer nahe gelegenen Autobahnbrücke. Sie war vom Hoftor aus keine zwei Minuten entfernt. Es war eine Fahrradbrücke, deshalb war die Oma einverstanden damit, dass sie da hingingen.
Dort zählten sie die Autos bestimmter Farben, schlossen Wetten ab, wessen auserwählter Wagen schneller ist. Oder sie winkten einfach den Insassen zu. Später setzten sie sich auf den Rand der Brücke, steckten die Beine durch das Geländer und ließen sie über der belebten Autobahn baumeln. Das durfte die Oma nicht wissen, dabei war das gerade am schönsten. Die Sonne hatte über den ganzen Vormittag den Asphalt der Brücke erwärmt, auf dem sie saßen und jedes Auto, das unter ihnen durchraste, ließ die Brücke ganz sanft vibrieren. Sie erzählten sich ihre Gedanken, Geschichten oder Witze und lachten. Dieser entspannte Moment wurde durch ein ungutes Gefühl vergiftet.
Kai bemerkte, wie Achim erstarrte, noch bevor ein furchtbares Quietschen die Stille zerschnitt. Er konnte nicht schnell genug seinen Kopf von Achim auf die vor ihm liegende Autobahn wenden, als er Folgendes sah: ein schneller Kombi, hart bremsend, rutschte plötzlich quer. Dabei touchierte er den rechts von ihm fahrenden PKW, welcher dann auch in die Eisen stieg. Er drehte sich, jedoch langsamer, und geriet hinter den Kombi. Während dieser unter der Brücke und aus der Sicht der Jungen verschwand, erblickten sie vor sich einen Kleinlaster, welcher nun mit Mühe bremsend frontal auf das Geschehen zu rutschte. Ein Knall, dann das fürchterliche Geräusch von sich verbiegendem, platzendem, reißendem Blech. Brechendes Plastik und klirrendes Glas. Der kleine PKW war ebenso unter ihnen verschwunden, als es das zweite Mal laut knallte.
Der Kleinlaster war gerade auf ihrer Höhe, als Kai endlich begriff, was vor sich ging. So etwas hatten die beiden noch nie erlebt. Die Sonne war hinter Wolken verschwunden und ein Schauer lief Kai eiskalt den Rücken runter. Er versuchte, sich hoch zu rappeln, denn hinter dem Laster waren zwei Sportwagen und ein Van zu sehen. Die Sportwagen hatten keine Chance, das war abzusehen. Der Kleinlaster war noch nicht ganz unter der Brücke, als es noch lauter und erschreckender knallte, als zuvor. Wie ein Gewitter, das näher kommt, spürte Kai die Gefahr. Es passierte direkt unter Ihnen. Er packte Achim an der Schulter:
„Komm wir müssen hier weg!“ Doch der Junge war wie festgefroren, klammerte sich an das Geländer der Brücke und blickte starr nach vorne. Es krachte zwei Mal. Die beiden Sportwagen hatten mit noch gut über 100 Kilometern pro Stunde den Aufprallpunkt erreicht. Zerborstene Teilchen der Fahrzeuge flogen in die Höhe. Ein Spiegel. Ein Tankdeckel.
„Komm schon Achim – wir müssen weg!“, flehte Kai, zerrte entsetzt an der Schulter seines Bruders. Der Van knallte bereits, für sie deutlich zu sehen, in den Kleinlaster und die darauf folgenden drei Fahrzeuge schienen schon zu bremsen. Doch der Schein trog. Sie näherten sich immer noch unheimlich schnell. Schon fuhr der Erste in die mittlere Leitplanke, der darauf
Folgende in ihn hinein. Der Dritte stellte sich quer auf der rechten Spur und berührte den Van mit seinem Heck. Es knallte und klirrte. Alles untermalt von ständig neuen Bremsgeräuschen, ausgelöst von erschrockenen und mit der Trägheit ihrer Fahrzeuge kämpfender Menschen.
Kai spürte, wie Achim schwächer wurde. Endlich konnte er ihn vom Geländer reißen.
„Achim! Jetzt steh doch auf! Wir müssen weg!“, er zerrte ihn weg. Kai hatte Tränen in den Augen. Er hatte Angst, konnte aber seinen Bruder nicht zurücklassen, welcher völlig von dem Moment gebannt schien. Kai hatte seinen Bruder schon vom Geländer weg gezerrt und seine Beine fast hochgezogen, als er über Achims Schulter einen riesigen, schweren LKW entdeckte, welcher ungebremst auf die Unfallstelle zuraste. Kai verließen die Kräfte. Er spürte sein gesamtes Blut in die Beine sacken und Gänsehaut überzog die Körper beider Brüder. Als der Koloss dann doch endlich bremste, erklang nicht nur ein Quietschen des Gummis auf dem Asphalt, auch ein Zischen der Druckluft, ein Heulen des Motors und ein Brummen, welches vom Beben des Bodens zu stammen schien. Wie in einem Film sahen die Beiden, wie der LKW ausbrach. Sein Sattelzug schien ihm dabei zu überholen. Die Geschwindigkeit des Gefährtes verlangsamte sich dabei trotz harten Bremsens nur unwesentlich. Kai erkannte, dass der Sattelzug direkt auf den mittleren Pfeiler der Brücke zusteuerte. Er wusste nicht, was genau dann passierte, aber ahnte, es würde nicht gut ausgehen. Weinend zerrte er an Achim, der nun mit Angst in den Augen sich erhob. Als ob er vor dem riesigen LKW fliehen wollte, schob er sich gegen seinen Bruder. Kai schrie zwar, es wurde aber alles von dem nahe kommenden Gigant und seinem Bremsversuch übertönt. Sie lagen fast mittig auf der Fahrradbrücke, als sie den Schwerlaster hinter der Kante verschwinden sahen. Kai hielt sich an Achim fest, als der LKW mit einem ohrenbetäubenden Knall mit dem Pfeiler kollidierte. Die Brücke erbebte, sodass beide zu Boden geworfen wurden. Risse sprangen auf im Asphalt und überall war Rauch. Die Brücke neigte sich. Die strapazierte Konstruktion machte Laute, als ob Metall gedehnt werden würde.
Kai zog Achim auf die Beine, denn seine Geduld war aufgebraucht. Er selbst konnte kaum stehen, doch er rannte, mit seinem Bruder am Arm, los. Er sah das Ende der Brücke und sein Instinkt sagte ihm, dass sie so schnell wie möglich hier runter mussten. Achim flehte, nicht so schnell zu laufen. Doch Kai hörte nicht auf ihn, bis sie den sicheren Boden erreicht hatte. Anstatt anzuhalten, lief er einfach weiter und zerrte den stolpernden Achim hinter sich.
„Bleib stehen..halt!“, schrie Achim und fiel hin. Kai, noch in Schwung, machte drei Schritte, bis er anhalten konnte. Er drehte sich rasch um: „Komm schon – steh auf wir müssen weg!“, schrie er Achim an, welcher weinend am Boden kauerte.
„Ich kann nicht“, meinte er. „Wir müssen aber!“, meinte Kai drängend und hob seinen Bruder wieder auf, als er Blut bemerkte.
Achim stand auf seinem linken Bein und hielt das Rechte angewinkelt. Seine Socke war zerrissen und sein Fuß war mit kleinen Schnittwunden übersät. Darin steckten kleine Steinchen und Scherben, die überall auf den Asphalt lagen. Durch Kai fuhr eine böse Ahnung. Entsetzt fragte er:
„Achim, wo ist deine Sandale?“ Doch der gab ihm keine Antwort. Er brach in Tränen aus.
„Wo ist dein Schuh?“, Kais Angst wuchs, schnürte ihm die Kehle zu.
„Du hattest ihn doch, als wir zur Brücke gingen!“
Texte: Gabriel
Bildmaterialien: Gabriel
Lektorat: Sissi Kaiserlos
Tag der Veröffentlichung: 22.07.2012
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Mein Dank gilt allen, die diesen Beitrag gelesen, die ihm kommentiert und für ihm beim Wettbewerb gestimmt haben. Ohne Euch wären es nur leere Worte.
Besonderer Dank gilt meiner Freundin und Lektorin Sissi Kaiserlos