Mein Radio spielte, während ich mich durch den Morgenverkehr kämpfte, Juice Newton
mit Queen of Hearts. Ich mochte dieses Lied und klopfte im Rhythmus auf das Lenkrad. Gut gelaunt begab ich mich auf dem Weg ins Universitätsklinikum, wo ich seit Anfang letzter Woche ein Praktikum, im Operationsbereich, absolvierte. Es war bereits Donnerstag der zweiten Woche und morgen war der letzte Tag. Ich genoss die Zeit, doch sie flog so schnell vorbei.
Allmorgendlich spielte sich dabei das selbige Ritual ab. Erst in die Personalumkleide. Dort raus aus den Straßenklamotten und rein in die weiße Uniform, welche in ihrer Form, Praktikanten und Schüler deutlich von den restlichen Rängen in einem Klinikum absonderte. Diese Tracht war jedoch nur für den Weg zum Aufzug, aus dem Aufzug raus betrat ich die OP-Umkleide. Dort wiederum raus aus der Praktikanten Kluft und rein in den grünen OP-Kittel. Noch bevor man diese Umkleide verließ, musste ein Papiernetz über die Kopfbehaarung, eine Maske und die grünen Gummi Clogs überzogen sein.
Nach dieser Prozedur stand ich wieder im Korridor der OP-Abteilung, die über einige Säle verfügte. Für mich waren Saal drei bis 14 vorgesehen. So schlenderte meine Wenigkeit zum OP-Plan, wo die für heute vorgesehenen Eingriffe, auf die jeweiligen Säle aufgeteilt, gelistet waren. Saal 12 bis 14 standen dabei für mich außer Frage. Urologische Säle. Nur das eine Mal hab ich mich rein getraut. Als ich entdeckte, was dort operiert wurde, fiel ich rückwärts wieder raus und betrat nie wieder einen der Säle. Also begrenzte sich die Auswahl auf Saal drei bis elf.
Noch während ich die Zeilen auf dem Plan mit dem Finger abfuhr erklang eine Stimme den Gang runter direkt auf mich zukommend:
„Versuchst du dich wieder vor der Arbeit zu drücken?“, was nicht ernst gemeint klang. Mein Blick glitt weg vom Plan zum Absender, dem ich schlicht nicht erkannte.
Es blieb mir immer ein Rätsel, wie die maskierten OP-Mitarbeiter sich untereinander erkannten. Für mich waren sie alle einheitlich grüne Kobolde. Da lediglich die Augen und die Unterarme sichtbar waren, konnte ich in den meisten Fällen gerade mal zwischen weiblich und männlich unterscheiden. Dieser Kobold zeigte klopfend auf Saal drei:
„Das muss du dir ansehen.“ Seinem Zeigefinger folgend las ich in der Zeile als Titel: Herztransplantation.
„Sie haben schon angefangen aber das Spenderherz ist noch nicht da. Ist aber schon im Anflug. Also nichts wie hin“, sprach er noch, während wir uns zusammen auf den Weg über den Korridor machten.
Im Saal herrschte eine professionelle Stille, welche trotz meines Betretens keine Unterbrechung fand. Leise meldete ich mich beim Narkosearzt, was allgemein üblich war, um meine Anwesenheit anzuzeigen. Nebenbei bemerkte ich, etwas Abseits stehend, die Monika. Ebenfalls eine Praktikantin jedoch im chirurgischen Bereich, während ich in der Anästhesie meine Erfahrung sammelte.
Sie war hier, da sie selbst ihre Tauglichkeit für ein Medizinstudium prüfen wollte. Für ihren Bereich üblich, war sie in den sterilen, blauen Papierumhang gehüllt. Doppelte Handschuhe und ein Haarnetz fürs ganze Köpfchen, da sie auch einen Haarzopf trug. Ich grüßte sie und freute mich über ihr fröhliches Erwidern. Sie war bildhübsch, auch wenn sie vermummt war. Im Gegenteil zu den Anderen habe ich sie schon die ganze Woche über erkannt. Unsere Pausen verbrachten wir gemeinsam in der Kantine und schlenderten nach dem Dienst zusammen zu unseren Autos. Dann erzählten wir uns das Gesehene und Erlebte. Dann vergaßen wir die Zeit und standen auf dem sich leerenden Parkplatz. Manches, was man in so einem Praktikum sieht, hätten wir uns vorher nicht einmal vorstellen können. Während der Eingriffe war sie die schüchtern und zurückhalten reagierte. Die Operateure mussten sie oft erst zum Mitmachen auffordern. Das war keines Falls ein mangelndes Interesse. Sie hatte schlicht Angst den Patienten zu verletzen, etwas falsch zu machen.
Ich zweifelte, dass sie das Medizinstudium antreten würde.
Während sie Klemmen oder Zange halten durfte, war ich an der Beatmungsmaschine. Was meine Neugier nicht schmälerte. Bei diesem Eingriff steckte ich meine Nase über die Schultern, um den offenen Brustkorb zu betrachten. Dabei musste ich aufpassen die Sterilität, der Operateuren und Tischen zu wahren, sie durften nicht berührt werden. Scheinbar war alles in Ordnung. Man wartete auf das Spenderherz.
Mit einem Mal waren im Vorraum Gespräche und Geräusche zu vernehmen. Ein Chirurg kam durch die Tür und meinte, dass es so weit wäre. Um Patient versammelten Operateuren war die Erleichterung anzumerken. Auf einem Rollwagen, in einer Schale in Nährflüssigkeit schwimmend, wurde es hereingefahren. Ich blickte hinein, ohne dem Transplantat zu nahe zu kommen. Ein Herz. Still, kräftig, rosig. Schwamm auf der Oberfläche der Flüssigkeit. Wie in Zeitlupe fuhr es an mir vorbei und ich fragte mich ob es ein echtes, lebendiges Herz war. So plastisch. Kühl. Fremd. Wem hat es bisher das Leben geschenkt? Und warum tat es nun nicht mehr? Es war keine Austauschware. Ein Herz. Ein Anblick, dem ein Sterben vorangegangen war. Doch es verhalf ein Leben zu retten.
„Dann wollen wir mal“, erklang die Aufforderung des führenden Professors, auf welche alle ihre Positionen besetzten und den Eingriff fortführten. Zur Lebenserhaltung war der Patient assistierend, während des Eingriffes, an einer Pumpmaschine angeschlossen, welche die Herzfunktion unterstützte. Bei der Auswechslung der Herzen würde sie für kurze Zeit die alleinige Pumpe im Kreislauf des Patienten sein. Die professionelle Stille schlug um in angespannte Konzentration. Es durften nun weder Fehler passieren, noch darf man zögern. Die Hauptgefäße wurden abgeklemmt. Ich entfernte mich etwas vom Geschehen. Wollte nicht bei auftretender Hektik im Wege stehen. Eine Verletzung in diesem Bereich würde schwerwiegende Komplikationen hervorrufen. Ich blickte zu Monika, welche mit blassem Gesicht den Operationstisch anstarrte. Sie richtete den Blick zu mir. Nickte. So konnte ich davon ausgehen, dass so weit bei ihr alles in Ordnung war.
Das alte Herz wurde angehalten. Am EKG erklang ein Alarm, den der Anästhesist unterdrückte. Auch er stand nun daneben und beobachtete genau den Vorgang. Wie das Herz von seinen Hauptgefäßen getrennt, aus dem Herzbeutel gelöst, tot herausgenommen wurde. Der Professor legte es sanft in eine Schale ab. Der assistierende Chirurg spülte den leeren Brustkorb. Die Lungenbewegung von der Beatmungsmaschine durchgeführt, war deutlich zu erkennen. Ein herzloser Körper. Für wenige Augenblicke hing das Leben des Patienten ausschließlich an der Pumpmaschine.
Das neue Herz, aus der Schale genommen, wurde nun vorsichtig eingesetzt. Wie ein Uhrwerk arbeitete jeder Hand in Hand. Es wurde nicht einmal laut gesprochen. Einzelne kurze Anweisungen. Und jedes Blutgefäß wurde mit Konzentration wieder angenäht. Wurde auch an alles gedacht? Bevor er zum Neustart überging, überprüfte der Professor nochmals alle Verbindungen. Gut.
Die Klemmen von den Hauptgefäßen genommen wurde das Herz mit Blut geflutet. Doch es passierte nichts. Einen Augenblick, wenige Schläge der Pumpmaschine lang, wartete man, dann gab der Professor, mittels seines Mittelfinger, den alles entscheidenden Anstoß. Ein neues Leben erwachte in dem Herzen und es bewegte sich agil im Brustkorb seines neuen Eigentümers. Das EKG selbst tutete freudig den rhythmischen Ausschlag und alle Versammelten atmeten durch.
Es war vollbracht. Alle Versammelten? Nein, nicht alle. In meiner Euphorie richtete ich meine Aufmerksamkeit auf Monika. Sie stand, bleich wie eine Porzellanpuppe, starr auf den offenen Brustkorb blickend. Sie erwiderte diesmal nicht. Ihre Augen verdrehten sich nach oben. Ihre Position abseits, nähe der Wand, schützte sie vor direktem Sturz. Viel mehr glitt sie plötzlich, an dieser Wand sich anlehnend, zu Boden. Ich sprang zu ihr herüber um ihren Körper und Kopf vor einem Bodenkontakt zu schützen. Gerade noch rechtzeitig. Hinter mir war auch gleich der Anästhesiepfleger und flüsterte nur:
„Wir müssen sie hier raus bringen“, und griff nach ihren Beinen. Ich nahm vorsichtig den Oberkörper und so trugen wir sie raus. Auf einer Ersatzliege abgelegt lösten wir erst mal den sterilen Kittel und die Maske. Stellten den Tisch am Fußende höher und schon wurde sie wieder wach. Sie blickte mich benommen an.
„Was ist passiert?“ Fragte sie. Ich erzählte ihr, wie ich sie entgleiten sah und wie wir sie raus brachten. Ich war mit Monika alleine geblieben. Der Pfleger musste wieder rein. Das Personal lief an uns vorbei, während wir plauderten. Sie wurde zunehmend stabiler und ich senkte das Fußende der Liege und setzte mich dazu. Sie bestätigte mir dann, dass sie es doch lieber mit der Medizin lassen sollte. Etwas verlegen vernahm ich, wie sie mich ihren Retter nannte. Bedankte sich.
Der alarmierte Ausbilder gesellte sich zu uns und empfahl ihr lieber Feierabend zu machen. Dagegen hing ich noch den Rest des Tages fest. Es freute mich, sie noch den Gang runter zu den Türen zu begleiten. Wir versprachen uns, am nächsten Tag, darüber weiter zu unterhalten.
Sie lächelte, als sie in der OP-Umkleide verschwand, ich tat dasselbe in ihre Richtung und spürte die Wärme in meiner Brust. Wie mein Herz plötzlich raste, vor Freunde herausspringen wollte. Verrückt. Ich schwebte zurück über den Korridor. Erfüllt mit Freude. Erfüllt mit innerer Erheiterung. Als links an mir vorbei ein Pfleger stürmte. Dann rechts einer. Dann noch weitere grüne Kobolde. Aus meiner Stimmung, wie weit, weit weg, wurde ich schroff zurück gezerrt. Alle stürmten in den OP-Saal drei. Reanimation. Herzstillstand. Das frische, junge, rosige, kräftige Herz, es wollte doch nicht. Ich stürmte ebenso hinein. Im Saal waren jedoch schon Unmengen an Personal. Es wurde direkt am Herzen reanimiert. Sie waren gerade am Verschließen gewesen, als das Herz anhielt. Einige der Pfleger zogen Unmengen von Medikamenten auf. Jemand stürmte mit Blutentnahmen raus und ins Labor. Was war schief gelaufen? Keiner würde mir Antworten geben in der Hektik. Minuten vergingen wie Stunden. Das Herz sprang nicht an. Immer mehr Spezialisten betraten den Saal. Die Ergebnisse aus dem Labor erreichten telefonisch die Versammlung. Offenbar wurde das Herz abgestoßen. Die Hektik wurde größer. Während der Professor sich zurückzog mit wenigen aus den Rängen, die Verantwortung und die Erfahrung hatten. Ich wäre gerne gefolgt. Stand tatenlos und ahnungslos da. Bis der Professor und seine Berater den Raum wieder betraten und ich eine böse Gewissheit aus ihren Gesichtern lesen konnte.
Der Eingriffleiter trat an den Operationstisch, blickte noch mal aufs EKG und auf das schlaffe Herz im offenen Brustkorb und musterte die Anwesenden, um ihnen seine deutliche Anweisung auszusprechen, die lebenserhaltenden Maßnahmen einzustellen.
Allesamt musste erst mal schlucken. Ich gehörte dazu. Das EKG zeichnete eine absolute Nulllinie. Zur Uhr blickend erwähnte der Professor kühl den Todeszeitpunkt. Mir war als hätte man mich mit warmen und kalten Wasser geduscht. Starr lehnte ich mich an die Wand, war dabei bleicher als die weißen Kacheln.
Nach und nach leerte sich der Saal. Die Chirurgen am Tisch verschlossen den leblosen Körper. Für mich war hier nichts mehr zu tun. Ich verließ den Saal und blickte gegen den Boden. Musste erst mal in den Aufenthaltsraum mir einen Kaffee einschenken. Bis zur Pause konnte ich mich nicht mehr für einen andern Saal entscheiden. In der Kantine saß ich seit fast zwei Wochen das erste Mal allein. Mit schmerzender Brust würgte ich das Mittagsessen runter. Ich war einsam, wie noch nie zuvor. Vier Stunden müsste ich noch überbrücken. Die Freude war verblasst. Ich schleppte mich zurück in den OP. Mein einziger Lichtblick an diesen tristen Tag war Monika.
Am nächsten Tag erschien sie jedoch nicht mehr. Ich sah sie nie wieder.
Texte: Gabriel
Bildmaterialien: Design + Fotos - Gabriel
Tag der Veröffentlichung: 24.06.2012
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