Gelähmt lag sie da. Gerade erst konnte sie ihre linke Hand bewegen. Tastete sich entlang eines Stoffes der sanft war wie Seide. Sie war wach, doch ihre Augen geschlossen. Unwissend wo sie sich gerade befand versuchte sie mit der tastenden Hand ihre Umgebung zu spüren. Durch die verschlossenen Augenlider konnte sie Helligkeit erkennen. War sie tot? Dabei war sie doch gerade dreißig geworden, hatte ihren Mann und Beruf. Was war geschehen?
Es dauerte eine Weile bis auch die rechte Hand ihr gehörte und auch die Zehen an ihren Füßen. Sie konnte die Wimpern bewegen und einen Schlitz weit öffnen.
Eine Ewigkeit verging wie sie immer weiter aus der Starre ihren Körper befreite. Sie hatte die Augen geöffnet und auch an das Licht gewöhnt. Ein gewölbtes Glasfenster war über sie gelegt unter ihr eine Matratze bezogen mit weißen Laken. Sobald sie die Arme bewegen konnte tastete sie die Scheibe ab die sich wohlig warm anfühlte. Noch immer hatte sie keine Ahnung wo sie war. Tot konnte sie aber nicht sein. Hinter dem Glas war ein steriler Raum zu erkennen. Sie stemmte beide Arme gegen das Glas und versuchte es über sich weg zu drücken, doch es rührte sich keinen Millimeter.
„Identifizieren sie sich!“, erklang eine schrille, mechanische Stimme. Sie erschrak unter diesem plötzlich lauten Klang der durch die ungewisse Stille schnitt.
„Identifizieren sie sich, bitte!“, erklang es wiederholt, schrill, kalt, auffordernd.
„Edmont,“ erklang es auf ihren Lippen, „Jill Edmont“. Sie sprach es hastig aus um das nochmalige Erklingen der Stimme zu verhindern. Es funktionierte. Stattdessen mit einem Ruck und Zischen hob sich das gewölbte Glas über Jill und ein Hauch frischer Luft wehte hinein. Sie stolperte aus dem Behältnis heraus und lehnte sich daran. Noch war sie nicht ganz von der Lähmung befreit. Erschöpft sprach sie einfach in den Raum: „Wo bin ich?“ Doch es antwortete niemand.
Sie blickte um sich und entdeckte mehrere metallische Zylinder mit einer gewölbten Glasscheibe auf der Oberseite, ähnlich diesem aus dem sie geklettert war. Doch diese waren leer. Sie muss wohl alleine hier sein. In der Wand entdeckte sie ein kleines rechteckiges Fenster. Als sie an dieses näher trat, konnte sie nur pechschwarze Dunkelheit und weiße Punkte, Sterne, erkennen. Verdammt, dachte sie bei sich. Was ist hier los.
Hinter ihr, außerhalb des Raumes, erklang ein Zischen und Schritte die auf metallenen Boden rhythmisch bis zu ihr schallten. Sie erschrak. Nicht wissend wie sie hier her kam, konnte ein hier Anwesender für sie Unheil bedeuten. Jill blickte durch den Raum entdeckte keine Möglichkeit zum verstecken. Da aber die Tür auf den Korridor offen war, spähte sie heraus. Die Schritte kamen eindeutig durch diesen Gang näher. Gegenüber war ebenso eine Tür geöffnet. Sie huschte herüber. Fand sich in einer Abstellkammer. Schnell, lautlos verbarg sie sich hinter einem Metallschrank. Als sie sich an diesen lehnte entdeckt sie einen Schraubenschlüssel vor sich auf einem Regal, welchen sie sich gleich aneignete, um die drohende Gefahr abzuwehren. Still wartend verharrte sie als die Schritte langsamer wurden.
Mit einem quietschenden Dreh blieb die Person im Korridor stehen. Jill vermutete dass diese Person erst einmal den Raum mit den Zylindern inspiziert würde und sie dann an ihr vorbei könnte. Doch sie betrat exakt den Raum wo Jill stand. Ein Knoten schnürte sich in ihren Hals. Sie umklammerte den Schraubenschlüssel mit beiden Händen. Ein großer, schmaler Typ mit weißem glatten Haar, das wie aus Glas schien. Mit glänzend weißen Teint, wie Porzellan und einem kerzengeraden Körperhaltung. Er stand mit seiner Linken zu ihr. Sein Gewand war makellos weiß mit vergoldeten Rändern. Einen ewigen Moment lang war nur eine Möglichkeit in ihren Kopf. Das muss ein Engel sein.
„Hallo Jill“, erklang es frei von Emotionen und Bewegung aus seinem Mund und sie holte zum Schlag aus. Ohne in ihre Richtung zu blicken griff aber der Engel genau nach dem Schraubenschlüssel und entwendete es ihr.
„Du bist doch sonst nicht gewaltbereit.“, wunderte sich die Kreatur. Jill aber war auf ihre Knie gestürzt.
„Bist Du ein Engel, bin ich tot?“, wollte sie wissen. Während er sie aufrichtete erklärte er ihr.
„Ich bin kein Engel, Jill. Ich bin ein Androide der euch auf dem Weg zu eurer Bestimmung bewacht.“
Jill schüttelte den Kopf: „Was für ein Ding? Und welche Bestimmung?“
„Ein Androide, ich bin eine dem Menschenbild nachempfundene Maschine. Typ CI 903. Aber das ist irrelevant. Ich begleite Euch damit ihr eurer Bestimmung, die Erhaltung der menschlichen Rasse erfüllen könnt.“
Jill vernahm diese Aussage als unglaubwürdig. Dem entsprechend ignorierte sie seine Ausführungen und drängte: „Wo bin ich jetzt wirklich?“
„Wir hatten schon angenommen dass du mit dieser Erklärung nicht zufrieden sein wirst. Doch, Jill, das ist die Wahrheit.
Wir befinden uns hier auf dem Flug durch den Weltraum. Wir haben vor circa 40 Stunden das dir bekannte Sonnensystem verlassen. Es ist 16 Uhr 32 und 52. Sekunde der alten Erdzeit nach am 24. Dezember 2012. 76 Stunden nach Zerstörung der Erde.“
„Nach was?!“, schrie sie, völlig entrüstet, den Androiden an.
„Was für ein Zerstörung der Erde? Was ist mit dir los?“. Jill stürzte aus dem Raum, lief den Korridor runter bis zu einer massiven Metalltür. Drückte an ihr herum und hämmerte dagegen mit der Faust, doch es tat sich nicht.
„Es ist sinnlos, Jill“, folgte ihr der Androide. „Du muss die Wahrheit akzeptieren.“
Die Tür wurde auf sein Kommando geöffnet und er brachte Jill in einen dunklen Raum. Setzte sie vor einer halb runden Konsole. Eine holografische Wand erstrahlte vor ihr. Der Androide gab ihr einen Stift. Mit dem sie wie mit einem Zauberstab durch die angezeigten Inhalte dirigieren konnte. Er zeigte ihr das Ende der Welt, wie der gigantische, entgleiste Planet durch das Sonnensystem flog und den Saturn, Jupiter, Mars und schließlich die Erde erwischte. Dabei war der blaue Planet gerade mal so groß wie ein Tischtennisball gegenüber einer Bowlingkugel. Jill musste sich übergeben.
„Wir haben euch zwei Wochen vor dem Geschehnis in einen Schlaf versetzen müssen um nicht das Protokoll zu gefährden. Durch das verwendete Medikament kann es zu einer Amnesie, die auch weit in die Vergangenheit reichen kann, kommen. Doch keine Sorge, diese wird sich selbständig zurückbilden. Am 16. Dezember sind wir gestartet um genug Abstand zu haben vor dem Einschlag. Wir brauchen aber noch 10 Tage bis zum Ziel. Diese solltet ihr im Schlaf verbringen. Doch es gab Komplikationen. Ein unbekannter Fehler ist aufgetreten. Nach und nach waren die Narkosen nicht aufrecht zu erhalten. So mussten wir euch wecken. So will es das Protokoll.“
Jill saß mit dem Gesicht zu Boden vor dem Holo-Bildschirm: „Wer seid ihr? Und was ist den mit den Anderen passiert?“
„Wir sind das System welches zur Sicherung der menschlichen Rasse erschaffen wurde. So wie auch das Protokoll. Die Anderen sind gestorben. Wir mussten sie vom Bord entfernen, so will es das Protokoll.“
„Gestorben? Aber warum ich nicht? Wie sind sie den gestorben?“, richtete sie sich auf und blickte den Androiden fordernd an. „Das ist irrelevant, Jill. Wichtig ist, dass du erhalten bleibst“.
„Bin ich den die Einzige, der letzte Mensch der existiert?“.
„Das wissen wir nicht. Es wurden mehrere Kapseln angefertigt und entsandt. Doch seit wir das Sonnensystem verlassen haben, wurde der Kontakt unterbrochen.“ Jill sprang auf, so agil wie sie es in ihrer Verfassung konnte. „Dann bring mich zu Brücke, wir müssen sie suchen!“, der Androide verneinte: „Das sind keine Parameter des Protokolls“.
„Wie Parameter? Über welches Protokoll redest du die ganze Zeit?“
„Das Menschenrasse Erhaltung Protokoll, kurz MEP, schreibt vor, wie am Ende der Menschheit vorgegangen werden muss um diese zu erhalten. Dabei vertraute die Menschheit auf ihre Schöpfung, die Maschinen. Welche einmal programmiert und eingestellt ihr Ziel bis zum Ende verfolgen. Ohne dabei sich durch Einflüsse aufhalten zu lassen. Der Mensch wäre sich selbst keine große Hilfe bei der Erhaltung. Deshalb ist es die Aufgabe des Erhaltung-Systems euch in Sicherheit zu bringen und den Fortbestand der Menschheit zu sichern.“
„Na das ist ja 'euch' bestens bisher gelungen“, spottete Jill kopfschüttelnd. „Soll das heißen ihr bestimmt jetzt über mich?“.
„In gewisser Weise ist das korrekt ausgesprochen. Ja, das System ist euch weisungsbefugt. Ihr habt es selbst so eingestellt“.
„Das ist ja toll. Wohin fliegen wir jetzt?“, schrie sie ihm an. Während er im ruhigen Ton fortsetzte:
„Unser Ziel ist die Raumstation Progenies in einem sicheren Quadranten. Dort wird die Menschheit neu gegründet um sie, auf einen bereits ausgesuchten Planeten wieder aus zu setzen.“
Jill nickte fassungslos, apathisch blickte sie um sich. Tränen verließen ihre Augen.
„Ich weiß das kann alles sehr verwirrend sein, Jill. Doch es wird dir nach und nach alles logisch erscheinen und du wirst erkennen“, Jill unterbrach die Ausführung des Androiden mit einer agressiven Stimme: „Warum gerade ich? Warum mussten Alle sterben und ich bin hier?“
Der Androide schüttelte den Kopf und setzte fort: „Frag nicht nach dem warum, Jill. Du bist auserwählt und das sollte dich erfreuen“. Jill wischte sich die Tränen. In ihr wuchs der Glaube an diese ganzen Geschichten mit Protokollen und das Ende der Welt. Ihre Familie, ihre Freunde würde sie aber nie wieder sehen. All dies wurde ihr klar und das beraubte sie jeglichen klaren Denkens.
„Erfreuen? Ich soll mich freuen dass meine Familie und die ganze Menschheit verreckt ist! Und wir hier durch den Raum ins Niergendwo rasen, als letzter Überlebender werde ich auch noch von einem Roboter kommandiert und ich soll mich freuen!? Mein Leben, was ist das noch wert. Als ein alleiniger Mensch im ganzen Universum“. Jill war außer sich, gestikulierte mit den Händen. Sie war dabei komplett den Verstand zu verlieren, je deutlicher ihre Lage für sie wurde. Doch der Androide ermahnte sie eindringlich: „Jill, verliere nicht die Beherrschung. Das Protokoll sieht es auch vor dich selbst vor dir zu schützen.“ Sie atmete viel zu schnell, war in Rage geraten. In Panik floh sie aus dem Raum in den Korridor. Alles schnürte sich zu. Sie fühlte als müsste sie durch ein Strohhalm atmen. Sie konnte nicht mehr laufen. Brach zusammen. Der Androide hatte sie aufgefangen. War ihr nachgegangen. Sie konnte nicht mehr reden, atmen nur noch atmen. Schneller. Flacher. Sie erstickt. Ihre Hände krampften sich an ihre Brust. Ihre Füße streckten sich. Ihr ganzer Körper schmerzte und krampfte. Dann wurde es dunkel.
Jill's Körper brannte. Überall spürte sie Nadelstiche als sie erwachte. Schreiend wälzte sie sich auf der Liege. Der Androide stand regungslos daneben. Musterte sie. „Ich habe dich gewarnt. Wir müssen dich auch vor sich selbst schützen wenn das nötig ist. So will es das Protokoll.“ Sie versuchte ihn an zu schreien, doch etwas war in ihren Mund. Panisch blickte sie herunter. Ein Schlauch ragte aus ihrem Rachen. „Wir müssen darauf achten, dass du uns nicht wieder hyperventilierst. Du sind womöglich das letzte Exemplar“. Erklang es zynisch. Jill versuchte nach ihm zu schlagen, doch ihre Arme und Beine waren befestigt. „Wir können es nicht riskieren dass du dich selbst verletzt oder das Protokoll gefährdest, du wirst es verstehen“.
So fixiert und machtlos lag sie an die Decke starrend. Immer wieder hörte sie irgendwelche Schritte, Stimmen. Leise, flüsternd rief Jemand ihren Namen. Erschrocken blickte sie um sich. Versuchte wieder zu sprechen. Es ging nicht. Außer einem Stöhnen konnte sie nichts vorbringen. Sie versuchte zu schreien. Der Androide betrat wieder den Raum. „Du sollst dich nicht aufregen“. Sprach er auf sie ein. „In wenigen Tagen werden wir die Raumstation erreicht haben. Bis dahin, und das möchte wir ungern, müssten wir dich still legen wenn du das so herausforderst“, drohte er ihr.
Sie überstand es, apathisch gegen die Decke blickend. Manchmal, um den Verfall ihrer Muskeln zu stoppen, streckte sie sich oder zerrte an den Schnallen. Nach Tagen verstand sie aber nicht warum sie noch lebte. Offenbar wurde sie künstlich ernährt. Sie erinnerte sich an etwas. Sie war Ärztin bevor das alles geschah. Und sie freute sich auf Weihnachten. Sie hatte schon mit der Familie den ersten Advent gefeiert. Es war wohl wie der Androide sagte. Am 7. Dezember war sie wohl in den Schlaf gelegt worden und am 16. verließen sie die Erde. Mutter Erde. Geliebte Mutter. Jill war bei Verstand und doch verlor sie ihm.
„Wir sind angekommen“, erklang eine Stimme neben ihr. Sie muss wohl in Gedanken versunken ihm nicht bemerkt haben. „ Wir werden dich jetzt auf die Raumstation überführen“. Die Liege bewegte sich und sie wurde gefahren. Noch immer konnte sie sich nicht bewegen, war an der Liege fixiert. Doch in ihrem Mund war nichts mehr. Sie wollte aber jetzt nicht schreien. Hatte zu große Angst. Was würde jetzt kommen. Grelles Licht, fremder Geruch. Noch nie hatte sie vorher diesen Geruch vernommen. Irgendwie künstlich, steril, ekelhaft.
Die Schnallen wurden geöffnet und sie konnte sich wieder bewegen. Schwach, als ob sie noch nie ihre Arme und Beine benutzt hätte stand sie sofort auf von der Liege. Wackelig stand sie da. Eine Gestalt in ebenso weißen Anzug kam auf sie zu. Er hatte hell graues Haar und einen hellgrauen Bart. Sah sehr freundlich aus und sympathisch. War in einen makellosen weißen Smoking gekleidet mit goldenen Verzierungen. Es musste Gott sein.
„Hallo Jill“, entglitt es seinen Lippen wie ein warmer Sommerwind. Sie lächelte ihm an. Dachte bei sich: Und ich habe es doch geschafft. Ich bin tot.
„Setzen wir uns Jill und dann erzählst Du mir, was Dich bedrückt“.
Den hellen Gang, in dessen Boden sich das Licht spiegelte, betrat der Pfleger aus dem Zimmer kommend. Seine Kollegin erwartete ihm schon. Zu ihr meinte er: „Der Psychiater ist jetzt bei ihr. Das ist ein trauriges Schicksal, dass man so dem Wahnvorstellungen verfallen kann“. Beide schüttelten betroffen den Kopf und folgten den Gang zu einem Balkon.
„Sie ist beim Fernsehen wohl vor so einer blöden 'was wäre wenn' Dokumentation eingeschlafen“, meinte die Kollegin zu wissen. „Über das Ende der Welt wegen dem Maya-Kalender. Ihr Mann fand sie dann als sie hypervetilierte und rief den Rettungsdienst. Seit dem haben wir sie so weit aufgepäppelt, dass sie sich wieder bewegen kann. Sie muss aber innerlich einen Alptraum durchlebt haben“. Bestürzt über diese Geschichte fügte der Pfleger noch hinzu: „Dabei ist doch morgen zweiter Advent, das Weihnachten ist doch für die Familie gelaufen“. Auf dem Balkon angelangt entzünden sie beide ihre Zigaretten. Weiter unten in der Straße wurden schon die ersten Lichterketten, Sterne und Figuren in den Fenstern geschallten in der früh abendlichen Winterdunkelheit, als die Pflegerin nach erstem Zug zitternd in der Kälte meint: „Deshalb schaue ich mir so ein Mist nie an“.
Tag der Veröffentlichung: 22.05.2012
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