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Von wegen Feierabend

Geschafft! Siebzehn Kannen Wasser geschleppt und dazu noch die ganzen Beete mit dem Schlauch gegossen; da musste sich eine Frau in Friederike Bauers Alter doch mal ein Minutchen in die weichen Polster fallen lassen. Diese Hitze im Juni! Normal war das nicht. Ihr graute schon vor dem dringend nötigen Gewitter. Das ließ bestimmt wieder so lange auf sich warten, bis es sich zu einem saumäßigen Unwetter entwickelt hatte. Diese Schwüle setzte nicht nur Rike zu, auch die Tiere ächzten, und selbst der Hornissensee, diese mittlere Pfütze vor dem Haus, schwitzte wie ein vollgefressener Fettwanst bei einer Bergbesteigung.
Nur den verdammten Schneckenviechern schien auch dieses Wetter nichts auszumachen. Für sie war die Lage hier im Wald und direkt am See ein El Dorado. Und sie kamen jede Nacht unter ihren feuchten Villen aus verrottendem Laub hervor, um sich im Restaurant „Friederikes Garten“ über deren mühsam gezogenen Gemüsepflänzchen herzumachen.
Aber dieses Jahr würde sie den Kampf gewinnen, hatte sie sich vorgenommen. Dieses Jahr gab es Bierchen in der Falle zum Aperitif. Höchstpersönlich ausgeschenkt und verbuddelt von Friederike Bauer: Vierundzwanzig Cent die Flasche, das waren ihr ihre Lieblingserzfeinde durchaus wert. Das Bier für die Scheinecken, den Salat für sie, wenn das kein fairer Deal war. Und sie durften noch als fröhliche Alkoholiker sterben.
„Ja, ja, ich geh ja gleich...“ Wie kleine Kinder waren die beiden. Kaum setzte Rike, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, sich mal hin, da dachten die Hunde gleich wieder: Die Alte hat nichts zu tun. Wir müssen sie beschäftigen. Und dann schauten sie ihr Frauchen an mit ihren braunen Hundeaugen. Da war man doch als Frau so wehrlos, wie man es eigentlich nie wieder gegenüber männlichen Wesen sein wollte. Also ab in die Küche, Friederike. Zwei Schöpflöffel Hundeflocken in jeden der Eimer und jeweils einen Liter Milch drauf. Fertig war das Schäferhundediner.
„Arko, Hasso, her mit euch. Fressen ist fertig.“ Und schon kamen sie um die Ecke geflitzt. Die Hundemutter wunderte sich jedes Mal wieder, dass sie immer alle Gliedmaßen noch rechtzeitig aus der Einrenn-Schneise bekam.
Auch Friederike hatte Hunger wie ein Bär. Den ganzen Tag Gartenarbeit bei diesem schweren, trockenen Boden, das ging nicht nur in die Knochen, sondern machte auch mächtig Hunger. Viel gab es ja nicht bei ihr. Vesper, wie man das Abendessen hierzulande nannte. Brot, Butter, Käse und ein gesalzener Rettich. Weiß Gott also keine Fürstenmahlzeit. Aber da sie sowohl das Brot, als auch die Butter und den Käse selbst gemacht hatte und auch der Rettich allabendlich von ihr mit Wassertropfen verwöhnt worden war, hatte sie trotzdem ein fürstliches Geschmackserlebnis. Kein Vergleich zu dem, was im Handel alles an so genannten Nahrungsmitteln angeboten wurde. Ehrlich gesagt hatte Rike bei vielem davon den Verdacht, dass es sich eher um Sterbehilfe als um Lebensmittel handelte. Wie dem auch sei, sie machte fast alles, was sie brauchte, selbst. Schließlich hatte sie ja die komplette Einrichtung, um fast autark zu leben. Das große Haus, einst das Wirtshaus „Hornissensee“, bot genügend Raum, die Küche war riesengroß und der Garten ernährte eine Person spielend. Und hier hatte sie ihre Ruhe.

Am Anfang, ja, da war es schlimm gewesen. Da dachte die Einsiedlerin manchmal, sie würde noch verrückt vor Einsamkeit. Aber dann hatte sie stets ihren Hunden die Ohren voll geweint und sie mit endlosen Selbstgesprächen gequält. Und irgendwie hatten die es immer wieder geschafft, sie ins Leben einer nur mäßig frustrierten Frau zurückzuholen. Als Therapeuten waren die beiden unbezahlbar. Dank ihrer Hilfe den letzten Jahren hatte Friederike sogar gelernt, dieses Leben in der Natur zu genießen. Uns sie wusste es mittlerweile zu schätzen, was ihr hier in der Einöde erspart blieb. Vielleicht wurde man ab Fünfzig als Frau ja auch weise? Rike bildete sich mittlerweile ein, erste Anzeichen bei sich zu erkennen.
Viel Nachbarschaft gab es hier ja nicht. Nebenan war das Schützenhaus. Da knallten grade ein paar Schüsse herüber, weil Dienstag und somit Übungsabend war. Sonst war Ruhe. Dann und wann mal Wettkämpfe am Wochenende. Das störte sie nicht. So war wenigstens ab und zu hier was los. Und die Schützen waren alle ausnahmslos freundlich. Es hatte noch nie was Unangenehmes gegeben. Die meisten kannte Friederike sogar noch von früher. Waren oft Gäste im ehemaligen Lokal.
Da nervten sie schon eher die, die sich am anderen Ende des Sees am Grillplatz dann und wann zusammenfanden, um sich die Köpfe vollzusaufen. Glücklicherweise schluckten der See und die Bäume den größten Teil des Gegröles. Und wenn sich ab und zu einmal eine Gruppe zu nahe ans Haus wagte, dann tat Rike einfach so, als öffne sie das Gartentor, und Arko und Hasso, beide hervorragende Schauspieler, erledigten den Rest. Auf diese Weise hatten die Waldbewohner es bisher immer geschafft, ungebetene Besucher fernzuhalten.
Nur wenige Minuten saß Friederike entspannt auf ihrer Bank vor dem Haus. Sie erinnerte sich schnell wieder an die Arbeit, die es noch zu erledigen gab. Noch schnell das Geschirr abräumen und die Küche sauber machen. Und dann diesen herrlichen Abend auf der Gartenbank ausklingen zu lassen. Ein paar Nadeln stricken und eine Tasse Tee aus selbst gesammelten Kräutern und Früchten. Mit den Jahren hatte sie gelernt, welcher Tee das Einschlafen erleichterte.
Wo die Hunde bloß blieben? Das gab es doch nicht, dass die sich ihren Keks entgehen ließen. Den bekamen sie nämlich immer, wenn sie die leeren Eimer in die Küche brachten. Ja, Erziehung musste sein. Wäre Rike das nur damals bei ihrem Mann auch gelungen!
„Arko, Hasso! Aus, ihr beiden!“ Verdammt, was war denn jetzt wieder los? Machte sich etwa jemand an ihren Blumen zu schaffen? Hoffentlich jagten sie nicht wieder einem Reh hinterher.
„Arko, Hasso, sofort her mit Euch!“ Warum hörten die denn heute nicht? Da stimmte doch was nicht? Mist, jetzt sprangen die Tiere auch noch übern Zaun und machten sich davon. Da musste Rike hinterher. Man wusste ja nie. Normalerweise taten die Hunde wirklich niemandem was, aber... Die da drüben waren nicht mehr ganz nüchtern. Die ehemalige Hornissenwirtin wollte kein Theater wegen der Hunde. Ohne sie hätte sie das Leben hier nämlich nicht ausgehalten. Wo war denn nur die Taschenlampe? Ah, hier, gut. Also, nichts wie hinterher.
„Arko, Hasso, wo seid ihr?“ Sie schienen stehen geblieben zu sein. Da, rechts, wenn sie sich nicht täuschte. Also, Friederike, ab mir dir ins Unterholz. So stellte man sich den gemütlichen Abendspaziergang vor. Ah, da vorne waren sie. Gleich war Rike bei ihnen.
Verdammt, jetzt sind waren schon wieder weg. Was jagten die bloß?
„Arko, Hasso, hierher jetzt!“ Die beiden scherten sich eine Bohne um Rikes Geschrei, und sie stellte fest, dass sie sich überhaupt nicht zur Hindernisläuferin eignete. Na wartet, kommt ihr mir nach Hause, dachte sie sich. Kein Wort rede ich mehr mit Euch. Mindestens eine Woche, na ja, mindestens einen halben Tag. Und wenn ihr noch so bettelt. Ich werde stark sein. Es gab Momente, da tat es einfach gut, sich selbst zu belügen. Zu ihnen gehörten die am Abend im Unterholz als Frau so ganz alleine.
Also, nichts als den Hunden hinterher. Au, da war was, worüber war Friederike denn gestolpert? Fast hätte sie sich auf die Nase gelegt. Hätte ihr grade noch gefehlt. Sie konnte sich dunkel erinnern, dass sie den Abend gemütlich ausklingen lassen wollte. Hatte sie nicht vorgehabt, sich ein Teechen zu brühen? Und jetzt arbeitete sie sich hier durchs Gestrüpp und statt mit einer Machete war sie mit einem Taschenlämpchen bewaffnet. Und ihre Hunde, die sie eigentlich hatten beschützen sollen, amüsierten sich vermutlich gerade dabei, ein Rehfräulein durch den Wald zu jagen. So waren sie, die Kerle.
I, was war das denn? Woran hing denn Rikes Fuß? Ganz komisches Gefühl. So warm. Sie traute sich nicht, den Fuß zu bewegen. Verdammt, das Etwas atmete. Fühlte sich wie ein Tierkörper an. Ob jemand es angeschossen hatte? Konnte Rike sich nicht vorstellen. Im Wald hier hatte noch nie jemand rumgeballert. Hoffentlich biss es nicht zu. Mal hinleuchten. Hilfe!!! Wo waren nur die Hunde? Das hier..., das war nicht möglich. Friederike wurde schlecht! Was war hier los? Was sollte sie denn jetzt machen? Arko, Hasso, bitte helft mir doch, bettelte sie in Gedanken. Wie kam denn diese Kreatur...? Der sah ja übel aus.
„Was..., was machen Sie denn da? Sie sind ja verletzt.“ Was für eine dämliche Frage, Friederike. Dieser Mann war ganz schön zugerichtet. Fragte sich nur, warum? Von wem, darüber hatte sie ihre eigene Idee. Glücklicherweise kamen in diesem Moment die Hunde wieder. Rike musste was tun.
„Können Sie aufstehen? Kommen Sie, ich helfe Ihnen. Es geht, gleich sind Sie auf den Beinen.“
„Aua!“
Meine Herren, der Typ sah nicht nur furchterregend aus; er schrie auch so. Musste ja ganz schöne Schmerzen haben.
„Warten Sie, halten Sie sich an dem Baum fest!“ Schien zu gehen. Irgendwie musste den Mann ins Haus bringen. Sie musste sehen, was genau mit ihm los war. Immerhin, er war bei Bewusstsein. Eine Krücke, sie musste nach einem geeigneten Stecken, auf den er sich stützen konnte, suchen. So musste es gehen.
„Hier, nehmen Sie das. Wir müssen es bis zum Haus schaffen. Mit der anderen Hand stützen Sie sich auf meine Schulter. Es ist nicht weit. Hier lang.“ Na, viel Kraft zum selbständig Gehen hatte der aber nicht. Er hing der zierlich gebauten Frau vollkommen im Kreuz. Gott sei Dank wog er keine zwei Zentner.
„Was ist denn passiert?“
„Zu... zusammengeschlagen.“
„ Hab ich mir fast gedacht. Diese Schweine. Wenn sie gesoffen haben, vergessen sie, dass sie Menschen sind.“ Friederike kannte die Sorte, die sich den Grillplatz am Hornissensee zu dem ihren erkoren hatten. Junge Rotzlöffel, noch keine zwanzig Jahre alt, allesamt aus „gutem Hause“. Gut genug, um sie sich selbst zu überlassen, sie hervorragend dafür zu bezahlen und nicht merken zu müssen, in welch fatale Richtung sie sich entwickelten.
„So, da sind wir. Moment, ich muss aufschließen. Brav, Arko, öffnest mir die Tür. Vielleicht überleg ich mir das mit dem beleidigt sein mit euch beiden noch mal. Hier, setzen Sie sich.“
Meine Herren, bei Licht besehen, sah der ja noch schlimmer aus. Der Zustand des Fremden navigierte Rike an den Rand des Wahnsinns. Das ganze Gesicht war blutunterlaufen. Der musste einen Tritt mitten hinein bekommen haben. Aber da war noch was. Wintermantel bei den Temperaturen, unrasiert und um die Taille zwei Plastiktüten mit einem Stück Schnur gebunden. Offenbar sein ärmlicher Besitz. Dieser Fremde war nicht nur schwer verletzt – er war eindeutig ein Penner. Und er stank erbärmlich. So, als hätte er in einer Jauchegrube gebadet. Eine, den wollte Friederike keinesfalls in ihrem Haus versorgen. Sie würde jetzt einen Krankenwagen rufen und dann sollten die Sanitäter schauen, wo sie das Stinktier unterbringen konnten. Aber sofort meldete sich Rikes Gewissen: Super, Friederike, du bist ja mal wieder die Güte in Person. Ich dachte, du wolltest in den Himmel kommen, um wenigstens im nächsten Leben deinem Ex nicht zu begegnen. So wird das aber nichts, Frau Bauer.
Schon gut, liebes Gewissen. Ich mache ja schon, antwortete sie sich selbst im Stillen. Vorsichtig hob sie das linke Bein des Verletzten an, oder zumindest das Stück verdreckten Stoffes, indem sie es vermutete. Der Inhalt des Hosenbeins schien immerhin nicht gebrochen zu sein. Aber ihre Geruchsnerven drohten gleich zusammenzubrechen.
„Meinen Sie..., meinen Sie, Sie Können ein Bad nehmen? Ich helfe Ihnen gerne in die Wanne.“ Unglaublich! Das blutig aufgedunsene Gesicht fing doch tatsächlich an zu strahlen. Na dann...
„Ich will es versuchen. Ich schaff' es, bestimmt.“
„Halt, halt, ich helfe Ihnen. Bleiben Sie noch einen Moment sitzen, ich lass erst mal Badewasser ein.“
Na, das hätten wir geschafft. Das Monster saß in der Wanne. Ehrlich gesagt, Rike war ganz schön mulmig, aber sie musste gestehen, der P..., ah, der Obdachlose, hatte sich bisher ganz ordentlich benommen. Kunststück, in seinem Zustand blieb ihm ja auch nichts anderes übrig. Aber trotzdem, irgendwie machte der einen ganz anständigen Eindruck. Offenbar litt Rike in diesem Moment unter einer ganz speziellen Form von weiblicher Schizophrenie. Und sie hätte jeden, der behauptet hätte, so was gäbe es nicht, einen Lügeiner gescholten. Glücklicherweise waren die beiden Hunde Männer und Rike war völlig drauf angewiesen, dass die beiden einen klaren Kopf behielten. Sie selbst wurde von der Situation völlig kirre. Da stand sie in ihrer Küche und kochte Suppe für einen Penner, der in ihrer Wanne saß und da hoffentlich auch wieder heil raus kam. Mehr noch - Rike glaubte, Halluzinationen zu haben. Bildete sie sich doch tatsächlich ein, dass da oben aus dem Bad neben dem beruhigenden Plätschern des Wassers wohlige Stöhngeräusche kämen? Was der wohl machte? Seltsam, warum bildete man sich eigentlich immer ein, dass Obdachlose ein Bad scheuten wie der Teufel das Weihwasser?
Tja, liebe Friederike, das mit deinem seltsamen Fund wird wohl eine längere Geschichte werden, meldete sich ihre innere Stimme erneut. Tolle Aussicht! Wie ein Gentleman jedenfalls sah der nicht aus. Andererseits, nicht jeder Gentleman war ein anständiger Kerl. Das sagten mehr als fünfzig Jahre Frauenleben. Jedenfalls würde sie wohl ihren illustren Gast an diesem Abend nicht mehr loswerden. Also beschloss Friederike, ihm schon mal ein Bett zu richten. Aber wo? Oben in einem der Gästezimmer? Eine, das war irgendwie unheimlich. Was, wenn er in der Nacht durchs Haus schlich?
So ein Quatsch, wie sollte er denn? Der konnte doch gar nicht alleine gehen.
Na ja, heute nicht, aber vielleicht schon morgen. Egal. Friederike bereitete ihrem Gast das Bett auf der Couch im Wohnzimmer. So hatte sie wenigstens nicht das Gefühl, mit diesem Mann im selben Stockwerk zu wohnen.
Ach, die Herren Hunde gaben sich auch endlich die Ehre. Was wollten sie ihrem Frauchen sagen? Dass sie sich keine Sorgen machen sollte? Dass sie auf sie aufpassen würden? Wenn Rike nicht ganz genau gewusst hätte, dass Schwanzeinziehen ein sicheres Zeichen für schlechtes Gewissen war, sie hätte ihnen ihr Beschützergehabe glatt geglaubt. Egal, in diesem Moment war Friederike jedenfalls ganz froh, dass sie da waren. Obwohl sie ihr diese ganze Geschichte ja quasi irgendwie eingebrockt hatten. Die Hunde verstanden diese Art stummes Zwiegespräch. Es genügte, wenn Frauchen in ihre braunen Hundeaugen schaute.
Wo der Badegast wohl blieb? Der war doch wohl nicht eingeschlafen? Die Zeit für eine ausführliche Waschung, selbst eines so stinkenden Körpers, war längst verstrichen und es war so unheimlich still im Bad.
„Hallo, wie geht es Ihnen? Soll ich Ihnen helfen?“
„Nein, Nein, ich bin gleich fertig.“ Jetzt hatte er den Stöpsel gezogen.
„Ich hab Ihnen was zum Anziehen hingelegt. Ist von mir. Ich hoffe, es passt.“
„Geht schon, vielen Dank.“
Na, also, schien ja alles in Ordnung zu sein. Die potentielle Krankenschwester richtete sich derweil schon mal ein paar Dinge für die Versorgung der Wunden her. Inständig hoffte sie, dass sie das alles alleine hinkriegte. Was, wenn der Verletzte doch noch einen Arzt brauchte? Ob der wohl versichert war? Sicher nicht. Das würde also wieder mal eine Situation werden, mit der sie ganz alleine fertig werden musste. Also Augen zu und durch.
Endlich, er kam. Hatte ganz schön lange gedauert. Die Gastgeberin hätte zu gerne gewusst, was der so lange in ihrem Bad gemacht hatte. In der Zeit hätte man ja locker fünf Frauen runderneuern Können.
Oh, Mann, was für ein jämmerliches Bild. Rike war ja mit ihren 55 Kilos wirklich ein zartes Persönchen. Aber der sah in ihren Kleidern aus wie in einem Clownskostüm. Ein Clown an einem Ast als Krücke und einem Gesicht wie ein Zwetschgenkuchen. Ohne Streusel. Sah aber keineswegs zum Lachen aus, sondern verdammt nach Schwerstarbeit. Friederike wollte sich sofort daran machen.
„Kommen Sie, legen Sie sich hier auf die Couch. Ich helfe Ihnen mit dem Bein.“ Schon diese Lagerung war eine schwierige Aufgabe. Und Rike fiel kam noch ein ganz anderer Gedanke. Sie konnte die kommende Behandlung noch etwas erleichtern.
„Sie werden Hunger haben. Warten Sie, ich habe Ihnen was zum Essen gerichtet.“
Man, konnte der Kerl strahlen. Trotz seiner Entstellung. Lachte er nun Rike oder den Suppenteller an? Keine Ahnung!
„Guten Appetit, und wenn Sie was brauchen, dann rufen Sie mich.“ Er blickte so selig auf das Essen. Wenn Friederike daran dachte, dass sie ihm gleich wahrscheinlich ganz schön wehtun musste... Ihr graute davor. Aber sie musste was tun. Von alleine wurde der nicht mehr.
Wie wohl das Badezimmer aussah? Bestimmt ein fetter Dreckrand in der Wanne. Den wollte Friederike lieber gleich wegputzen, solange ihr Patient mit Essen beschäftigt war. Sonst war die Bude bestimmt nicht mehr sauber zu kriegen.
Wie - das gab es doch nicht! Das war doch unglaublich. Das war ja... Hatte der Kerl doch tatsächlich seine Wanne saubergemacht. Blitzsauber. Ein Penner putzte die Badewanne. Respekt! Ach da, die Klamotten. Gleich ab in die Waschmaschine damit. Sonst stanken die hier weiter vor sich hin. Auweia, die waren ja unmöglich jemals wieder sauber zu kriegen. Es hatte gar keinen Sinn, die einfach in die Maschine zu werfen. Was sollte Rike machen? Ach was, morgen brauchte der noch keine Klamotten. Sie würde die gesamte Kleidung erst mal über Nacht in der Badewanne einweichen. In eine Gallseifenlauge. Wenn irgendwas auch nur annähernd mit diesem Dreck fertig werden konnte, dann Gallseife.
So, mein Freund, und jetzt wieder zu dir, jetzt werde ich mal nach deinem Hinkebein und dem lila Klumpen in deinem Gesicht schauen, nahm sich die ehemalige Hornissenwirtin vor.

„Das gibt es doch nicht, das... He, Sie ´können doch nicht einfach schlafen! Ich muss doch noch…“ Keine Chance mehr, den noch wach zu kriegen. Der hatte nicht einmal mehr das Tablett mit dem Teller zur Seite gestellt. Musste ja wahnsinnig erschöpft gewesen sein.

Verdammt, war das schwer, so einen Schlafenden zu bewegen. Auch, wenn es nur so ein Fliegengewicht wie dieses Kerlchen hier war. Über eine Stunde hatte Friederike für die Verbände gebraucht. Sie war völlig k.0. Eigentlich war sie jetzt hundemüde, aber an Einschlafen war nicht zu denken. Sie war viel zu aufgewühlt. Das war ein Tag gewesen! Das heißt, eigentlich nur ein Abend. Aber der hatte es in sich gehabt. Und jetzt wollte er kein Ende finden. Jetzt war Rike nach einem Glas Rotwein. Oder auch zwei.
Der erste Schluck tat gut nach dieser Anspannung. Was war das bloß für ein komischer Kauz? Was tat ein Penner wie der im Wald? Die saßen doch normalerweise in der Stadt vor den Kaufhäusern. War wohl auf der Durchreise. Aber dann beweg dich doch auf Straßen, von denen du weißt, wo sie hinführen, nicht hier, im tiefsten Schwarzwald. Das hattest du jetzt davon! Jetzt lagst du da, zugerichtet von diesen Unmenschen. Hoffentlich war das alles nur halb so schlimm, wie es aussah. Rike hatte nämlich wirklich keine Lust, den Patienten hier wochenlang zu beherbergen. Andrerseits - ein bisschen Gesellschaft, aber viel reden würde er doch nicht. Sie wusste nicht einmal seinen Namen. Na ja, er wusste ihren ja auch nicht. Die beiden hatten ja wirklich auch besseres zu tun gehabt als Konversation zu pflegen. War auch völlig egal, Rike wollte jetzt jedenfalls schlafen gehen.

Nanu, was hatten sich die beiden Hunde denn da ausgedacht? Sie wollten nicht beide mit ins Schlafzimmer? Nicht beide vor Frauchens Bett liegen wie sonst? Nur Arko war abkommandiert, um hier bei dem Fremden zu wachen? Und Hasso durfte sein Frauchen wie immer begleiten? Rike staunte über die seltsame Wandlung. Und sie wusste noch nicht, ob sie sich über die Tiere freuen oder sich vor ihnen fürchten sollte.

Der Morgen bringt es an den Tag

Dass er einst in die Hölle kommen würde; damit hatte Hannes Heimann ja bereits gerechnet. Aber dass die Hölle gradewegs zu ihm kommen und in seinem Schädel ihr Fegefeuer anzünden würde, das erkannte der Geschundene, als er wieder zu sich kam. Sein rechtes Auge war zu, das linke konnte das Sonnenlicht, das in den Raum fiel, nicht ertragen. Also schloss er es wieder. Ihn schauderte. Wie sah er wohl aus? Sein Auge, sein rechtes Auge! Was war damit? Es ließ sich nicht öffnen. Irgendetwas war davor. Vorsichtig fasste er mit der Hand dorthin. Ein Verband. Aber was war das für ein Klumpen darunter? Sein Auge, ob er es verloren hatte? Und sein Bein, sein Bein war auch verbunden. Es fiel ihm angesichts seines wahnsinnigen Kopfschmerzes schwer zu überlegen. Was war das, wo war er, was war passiert? Vage erinnerte er sich.
Da waren plötzlich diese Kerle, die ihn völlig ohne Grund verdroschen hatten. Was musste er auch zu diesem Grillplatz gehen? Man hörte doch schon von weitem, dass diese Leute besoffen waren. Aber es roch so verdammt gut nach Grillwurst.
Und dann waren da diese Hunde. Wo die jetzt wohl waren? Die Hunde und diese sonderbare Frau. Wer war sie? Eine Hexe oder eine Heilige? Was tat sie hier draußen mutterseelenallein in diesem einsamen Haus? Was hatte sie mit ihm gemacht? Er erinnerte sich an dieses seltsame Badezimmer. So etwas hatte er noch nie gesehen. Nicht, dass er noch nie ein Badezimmer gesehen hatte. Damals, zuhause, da hatten im Bad auch jede Menge Tuben und Salben und Schminkzeug und alles Mögliche gestanden. Viel zu viel für seine Begriffe. Aber das gestern, das war fast wie in einer alten Apotheke. Lauter Tiegel und Fläschchen und Döschen mit selbst geschriebenen Etiketten. Er hatte versucht, einige zu lesen, aber er konnte sich nicht mehr erinnern. Bestimmt war die Frau eine Hexe. Wer weiß, vielleicht wollte sie ihn mästen und später braten wie in diesem Kindermärchen. Sollte sie ruhig, da hatte sie eine ganze Menge zu tun, und wenn das Essen hier immer so schmeckte wie diese herrliche Suppe gestern Abend, dann sollte es ihm recht sein. Er schloss seine Augen wieder und fiel noch einmal in einen tiefen Schlaf.

„Hallo, aufwachen! Es gibt Frühstück.“ Ein verführerischer Kaffeeduft erreichte seine Nase. War das nun dieses Märchen oder Wirklichkeit? Schien Tatsache zu sein, denn seine Gastgeberin stand vor ihm mit einem Tablett. Vorsichtig versuchte Hannes, sich aufzurichten.
„Au, mein Schädel.“
„Tut es sehr weh?“
„Saumäßig. Sagen Sie, was ist mit meinem Auge los? Es ist, als ob da ein Stein drin wär. Ist es futsch?“
„Tja, so genau weiß ich es noch nicht. Das wird sich nachher zeigen. Aber mit dem Stein, da haben Sie nicht unrecht. Ich hab einen Amethysten draufgelegt.“
„Einen Ame... Ist das nicht so ein Schmuckstein?“
„Ein Edelstein, richtig.“
„Soll ich in Zukunft mit so einem Stein gucken? Vergessen Sie es. Kann ich mir nicht leisten. Sie sind mir vielleicht eine Krankenschwester. Behängt mich mit Steinen, ich glaub s nicht. Wollten Se ein Schmuckstück aus mir machen, oder was?“
„Doneinerwetter, Sie Können ja richtige Reden halten. Haben Sie vielleicht auch einen Namen?“
„Namen? Klar. Ich heiß Hannes. Hannes Heimann.“
„Na dann, Herr Heimann, vergessen Sie mal die Edelsteine und frühstücken Sie ordentlich. Viel ist ja nicht dran an Ihnen.“
Nach zwei Tassen Kaffee und vier Marmeladebroten war Hannes dann wieder fähig, einen Gedanken zu fassen.
„Was ist denn nun mit meinem Auge, Frau…?“
„Bauer, Friederike Bauer. Tut mir Leid, aber das kann ich Ihnen wirklich noch nicht sagen. Gestern war es so geschwollen, man konnte nichts mehr sehen. Und Sie haben ja selig geschlafen. Sagen Sie, als ich Sie gefunden habe und danach, hatten Sie da irgendwelche Sehstörungen?“
„Sehstörungen? Ich weiß nicht? Eigentlich nicht. Eine, wenn ich so überlege, eine, ich hab alles normal gesehen. Erst nach dem Bad...“
„Ja, klar, das warme Wasser hat natürlich Ihrem Körper noch beim Anschwellen geholfen, aber dann habe ich Hoffnung. Was ist, sollen wir mal schauen? Oder haben Sie noch Hunger?“
„Eine, obwohl, ich hab schon lange nicht mehr so gut gefrühstückt.“
„Danke.“
„Ich hab wohl zu danken. Also, dann nehmen Sie mal dasZeug weg.“ Vorsichtig aufwickeln, Friederike, der Mann hatte sicherlich noch enorme Schmerzen. Jetzt hoffte sie nur, dass das Auge wirklich nur zugeschwollen war und der Augapfel nichts abbekommen hatte. Sonst war Rike nämlich mit ihrer Heilkunst am Ende.
„Puh, sieht schon wesentlich besser aus als gestern.“
„Aber auf kriege ich das Auge immer noch nicht richtig.“
„Na ja, ein bisschen Geduld müssen Sie schon haben. Ist natürlich noch geschwollen. Schließlich hat Ihnen einer ins Gesicht getreten.“
Er erinnerte sich.
„Woher wissen Sie...?“
„Sieht man. Sie haben einen originalen Stiefelabdruck im Gesicht. Warten Sie, wir machen Heilsalbe drauf.“ Und sie holte einen dieser seltsamen Tiegel, die Hannes schon in diesem illusteren Badezimmer aufgefallen waren.
„Sagen Sie, Sie haben ausgefallene Methoden. Steine, komische Tinkturen. Sind Sie eine Hexe?“
Rike musste lachen. „Kann schon sein.“ Ohne weitere Erklärung begann sie, das Auge und das Gesicht des Verletzten einzusalben. Er spürte eine wohlige Kühle.
„Ah, das tut gut. Woher haben Sie all das Zeug?“
„Aus dem Supermarkt.“
„Quatsch. So was hab ich noch nie im Supermarkt gesehen.“
„Dann waren Sie noch nie im richtigen. Schauen Sie sich um. Die Natur ist der größte Supermarkt, den es gibt. Sie hat alles, was wir zum Leben brauchen.“
"Das heißt, Sie machen all diese Sachen selber?“
„Richtig. Das ist zum Beispiel Ringelblumensalbe. Die wachsen draußen in meinem Garten.“
„Aber woher wissen Sie, was wogegen hilft?“
„Ach, das kann man lernen. Das ist uraltes Wissen. Man muss sich nur damit beschäftigen.“
„Also doch Hexe?“
„Also doch. Kann die Hexe jetzt einmal nach Ihrem Bein schauen? Da haben Sie Glück gehabt, dass das nicht gebrochen ist, aber eine ordentliche Verstauchung ist es schon geworden. Und die ist manchmal schmerzhafter als ein Bruch.“
„Ich spüre es.“
„Na ja, ein paar Tage wird es schon noch dauern, bis Sie wieder auftreten Können.“
„Das geht nicht, ich kann nicht so lange hierbleiben.“
„Wieso nicht? Was haben Sie denn für dringende Termine?“
„Ich muss..., ich muss den Rudi suchen.“
„Aha. Und wer bitte ist der Rudi?“
„Na, mit dem war ich verabredet. Am Turm.“
„Am Turm? Oh je, da haben Sie sich schön verlaufen. Bis zum Turm sind es etwa fünf Kilometer. Was macht denn Ihr Freund da?“
„Wir wollten dort ein paar Tage bleiben.“
„Na, daraus wird jetzt wohl nichts werden. Jetzt müssen Sie ihren Urlaub wohl hier verbringen. Zumindest die nächsten paar Tage.“
„Danke. Und was mache ich so lange?“
„Na, gesund werden... Nein, im Ernst, es ist so schönes Wetter draußen. Wenn Sie möchten, kann ich Sie rausbringen. Dann setzen Sie sich in einen Liegestuhl. Einer der Hunde kann bei Ihnen bleiben.“
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht.“
„Nein.“
„Also, dann werd ich mich mal anziehen. Wo sind denn meine Sachen?“
„In der Waschmaschine.“
„Sie haben sie gewaschen?“
„Ich bin gerade dabei. Entschuldigen Sie, dass ich so einfach..., aber die haben so erbärmlich gestunken.“
„Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Was Sie alles für mich tun? Jeder andere hätte mich längst wieder auf die Straße gesetzt. Oder erst gar nicht aufgenommen.“
„Ich bitte Sie, das ist doch das Mindeste. Aber was machen wir jetzt mit Ihren Kleidern? Wenn ich Ihnen noch mal etwas von mir gebe?“
„Oh ja, ein Rüschenkleid wäre nicht schlecht.“
„Ich werde mein Möglichstes tun.“ Lachend verließ Friederike den Raum, um etwas zum Anziehen zu holen. Sonderbar, dieser Hannes erschien Rike gar nicht wie ein richtiger Penner. Der war richtig nett und witzig.
Wenig später saß der Verletzte im Garten des einsamen Hauses in einem Liegestuhl und einem Sportanzug, bestehend aus kurzen Hosen und T-Shirt, dem man auf den ersten Blick wirklich nicht ansah, dass er eigentlich für Damen war.
„Na, gut so?“
„Sehr gut.“
„Kann ich noch etwas für Sie tun?“ Hannes druckste herum.
„Meinen Sie... würde es...?“
„Würde es was? Na los, reden Sie schon. Ich muss in den Garten. Von alleine wächst das Zeug nicht.“
„Kann ich... Dürfte ich...? Ich habe gesehen, Sie haben so viele Bücher. Darf ich eines lesen?“
"Sie wollen ein Buch lesen? Jetzt bin ich aber platt. Ja, gerne, was wollen Sie denn lesen?“
„Siddharta. Ich wollte schon immer mal Siddharta lesen.“
„Hermann Hesse. Donnerwetter. Sie werden mir immer unheimlicher. Moment. Ich hole Ihnen das Buch.“ Rike schüttelte den Kopf. Ein Penner liest Siddharta. Sicherlich wollte er nur angeben. Sie würde einen Besen fressen, wenn der auch nur einen Satz davon verstünde.
Hannes bekam sein Buch und fing an zu lesen. Ab und zu beobachtete er Friederike bei der Arbeit. Wie sie sich bewegte! Behände erledigte sie die schwere Gartenarbeit. Ihr Körper war muskulös, obwohl sie eigentlich von Statur her ein zartes Persönchen war. Vielleicht einen Meter sechzig oder noch weniger. Hannes stellte sich diese Fragen zwar, hatte aber kein ernsthaftes Interesse daran, gültige Antworten zu finden. Er konnte es noch immer nicht glauben, dass er in einem herrlichen Garten auf einem Liegestuhl saß und ein Buch las. Wie früher - nur noch viel schöner. Dieser Garten war nicht, wie damals zuhause, Rasen mit ein paar Büschen und Blumenkübeln. Dieser Garten war inmitten von dunklen Tannen eine Explosion an Farben, ein Blütenmeer, wie er es noch nie gesehen hatte. Und mittendrin war Friederike. Wie ein Wunder holte sie aus diesem Garten auch noch Körbe voll Essbarem. Ob das nicht schon der Himmel war? Diese Frage stellte sich Hannes ernsthaft. Seine Verletzungen hatte er völlig vergessen. Zu sehr war er vertieft in seine Gedanken. Und in die Geschichte Hermann Hesses.


Oh Nein, so ein Mist, die Socken hatten die Wäsche nicht überlebt. Was sollte Rike denn jetzt machen? Der Rest der Kleidung war ja ganz ordentlich geworden. Sah gar nicht übel aus auf der Leine. Man sah nicht mehr auf den ersten Blick, wem sie gehörten.

„Tut mir Leid, Ihre Socken haben die Wäsche nicht überstanden. Jetzt müssen Sie noch ein paar Tage bleiben, bis ich Ihnen neue gestrickt habe.“

„Kommt nicht in Frage, dass Sie mir auch noch Socken stricken. Sobald ich wieder gehen kann, sind Sie mich los.“

„Bis Sie wieder gehen Können, sind Ihre Socken auch fertig. So ein paar Socken sind wirklich kein Problem. Geben Sie mir drei, vier Abende. So lange braucht Ihr Bein auch noch, um Sie wieder einigermaßen schmerzfrei durch die Gegend zu tragen.“

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Tag der Veröffentlichung: 12.02.2011

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