Cover

Klimakleber XXL



Der Muttertag fällt bekanntlich immer auf den zweiten Sonntag im Mai und der fiel in diesem Jahr besonders warm aus. Dennoch beschloss ich trotz dieser brütenden Hitze meiner Mutter in einer Pflegeeinrichtung in Berlin Tempelhof einen Besuch abzustatten. Kurz, sie aus gegebenen Anlass zu besuchen, um ihr ein paar Blümchen zu kredenzen und einen schönen Nachmittag mit ihr zu verbringen. Kein wirklich leichtes Unterfangen, wenn man dieses Roadmovie-Abenteuer in einer Großstadt wie Berlin, dann auch noch in einem Rollstuhl sitzend, absolvieren muss.

In den Nachrichten zur vollen Stunde erfuhr ich, dass die Klimakleber wieder in der Berliner Innenstadt zugeschlagen hatten und etliche Hauptstraßen und diverse Stadtautobahnen mit ihren Klebeaktionen blockierten. Und die Polizei, der Buhmann der Nation, hatte auch diesmal im wahrsten Sinne des Wortes wieder alle Hände voll zu tun, diese selbstklebenden Zukunftsapostel von den Fahrbahnen abzulösen und um sie erneut ein weiteres Mal vom ihrem widerrechtlichen Eingriffen in den öffentlichen Straßenverkehr abzuhalten. Eine absolute Sisyphusarbeit, wie man bekanntlich weiß.

Keine Chance also mit dem Auto von Reinickendorf hoch im Berliner Norden, in die Stadtmitte zu gelangen, ohne dabei auf diese selbsternannte „Letzte Generation“ zu stoßen und womöglich in einem fatalen Blockadestau zu enden. Aus diesem Grunde entschied ich mich, die Öffis zu benutzen, selbst wenn ich dazu gleich zweimal umsteigen musste und außerdem auf funktionierende Aufzüge angewiesen war.

Ganz offensichtlich mussten aber unglaublich viele Bürger der Stadt an diesem besonderen Tag die gleichen Intentionen gehabt haben und so drängten sich riesige Menschentrauben um die Zugänge zu den S-Bahn-Zügen, um irgendwie noch mitfahren zu können. Selbst auf die steigende Gefahr hin, das körperliche Engegefühl der Sardinen in einer Konservendose hautnah nachvollziehen zu können. Entsprechend völlig überfüllt waren auch die Züge, vollgestopft mit Fahrgästen, Fahrrädern, Koffern und Gepäckstücken und natürlich mit diversen Kinderwagen, in denen sich ungnädig quengelnde Menschenkinder und laut greinende Babys bemerkbar machten. Diese klaustrophobischen Bilder wirkten auf mich, wie jene TV-Berichte, wie man sie sonst nur aus diesen total überfüllten Zügen von Indien und Bangladesch kennt.

Am S-Bahnhof Landsberger Allee gelang es mir durch lautstarkes Rufen in die einflutende Menschenmenge, einem schmächtigen jungen Mann mit Brille, der ebenfalls in einem Rollstuhl saß, einen Platz neben mir freizuschaufeln, da er ansonsten wohl nicht die Spur einer Chance gehabt hätte, überhaupt mitgenommen zu werden. Hocherfreut bedankte er sich überschwänglich bei mir für die laut geäußerte Fürsprache, während wir beide nun für die nächsten sieben Stationen ein kleines Miniatur-Bollwerk aus Rollstühlen gegen die auf jedem weiteren Bahnhof in den S-Bahn-Wagon hineindrückenden Massen bildeten. Während sich zugleich die permanent immer stickiger werdende Luft im Innern des Wagons mehr und mehr nach 'Würfelschneiden' anfühlte.

Auf dem Umsteigebahnhof verbrachte ich dann fast zwanzig Minuten in der Warteschlange, um mit einem Aufzug in die Unterführung und mit einem anderen hinauf, auf den gegenüberliegenden Bahnsteig zu gelangen. Die Weiterfahrt nach Tempelhof verzögerte sich dann allerdings abermals, nach einer entsprechenden Lautsprecherdurchsage der Bahn wegen eines Polizeieinsatzes die planmäßige Fortsetzung des Zugverkehrs auf unbestimmte Zeit ausgesetzt wurde. Eine Berliner Odyssee schien mir nun im öffentlichen Nahverkehr zu drohen und das ausgerechnet an einem Tag, an dem ich als Rollstuhlfahrer wahrlich auf die Öffis angewiesen war.

Nach einer gefühlten Ewigkeit setzte sich dann der Zug langsam in Bewegung und es ging im Schneckentempo weiter, meinem Zielbahnhof entgegen. Doch dann schien es, als hätten sich alle Verzögerungen, wie durch einen Schlag auf den gordischen Knoten von selbst aufgelöst und ich war nun kurz vor der Station angekommen, auf der ich diesen stinkenden Pferch endlich verlassen konnte. Plötzlich legte der Zugführer eine Vollbremsung vom Feinsten hin, auf dass sämtliche Fahrgäste in dem Wagon gehörig durcheinander wirbelten. Kurz darauf öffnete er kreidebleich die Tür zu seinem Fahrerstand und entschuldigte sich achselzuckend bei den Fahrgästen, indem er die Situation zu erklären versuchte. Es hätten sich mehrere Personen im Gleisbett des Bahngeländes befunden und er hätte nur durch eine Notbremsung des Zuges Schlimmeres verhindern können. Entnervt zog er sich wieder in seinen Fahrerstand zurück und verkündete anschließend über Lautsprecher, dass es erst eine Weiterfahrt geben würde, wenn er eine Freigabe von der Leitstelle erhalte und bat seine Fahrgäste um Verständnis, vor allem aber um reichlich Geduld. Nach einer Wartezeit von weiteren fünfundzwanzig Minuten teilte uns der Zugführer dann mit, dass die Sperrung der Strecke nun endlich aufgehoben sei und wir aber nur im Zeitlupentempo weiterfahren dürften und so in Bälde den Bahnhof Tempelhof erreichen würden. Aufatmend verließ ich als einer der letzten Fahrgäste den Wagon und machte mich auf den Weg zu dem Aufzug, der mich von dem hochgelegenen Bahnsteig runter auf die Straßenebene des Tempelhofer Damms bringen würde. So hatte denn die Fahrt mit den öffentlichen Verkehrsmitteln sage und schreibe volle zwei Stunden und fünfzehn Minuten gedauert, um mich mit meinem Rollstuhl vom Norden Berlins bis in die Mitte der Stadt, zu meinem Zielbahnhof nach Tempelhof zu bringen.

Man mag sich jetzt vielleicht mein Erschrecken vorstellen können, als ich mit meinem schweren E-Rollstuhl vor dem Aufzug stand und auf einem Hinweisschild lesen musste,

"Aufzug z.Z. außer Betrieb. Die Instandsetzungsarbeiten dauern voraussichtlich bis..."

In diesem Moment vergaß ich meine gute Erziehung und ein derber Fluch, bestehend aus nur einem einzigen Wort, welches mit einem 'S' beginnt, das ich aber hier an dieser Stelle nicht wiederholen möchte, stieg hinauf in den azurblauen Tempelhofer Himmel. Sofort erkundigte sich eine nette junge Frau bei mir, ob es mir denn gut gehen würde und ob sie etwas für mich tun könne. Ich bedeutete ihr, dass ich eigentlich nur mit dem Aufzug nach unten wollte, worauf sie mir bedauernd erklärte, dass dieser Fahrstuhl wegen Vandalismus defekt sei.

Nun war ich mit meinem Latein endgültig am Ende, da ich unter diesen Umständen keine Chance mehr sah, die Pflegeeinrichtung meiner Mutter noch an diesem Tag erreichen zu können. So griff ich zum Telefon, rief sie an und versuchte ihr die prekäre Lage meiner Situation zu erklären. Ich weiß nicht, ob sie das alles verstanden hatte, aber am Ende sagte sie nach einer langen Pause mit unendlich traurig klingender Stimme: »Vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal und komm' gut nachhause, mein Junge«. Und ich hörte noch, wie sie zu weinen begann, als sie das Gespräch beendete.

 

 

*

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 27.09.2023

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /