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Montag, 14.12.2015 – 01:40 Uhr

Klirrende Dezemberkälte. Eine winterliche Nacht in Hamburg. Eine schmale, dunkle Gestalt mit einem Rucksack bewegte sich mit katzenhafter Geschmeidigkeit den Bürgersteig in dem Villenviertel östlich der Alster entlang. In einzelnen Fenstern blinkte weiße Weihnachtsdekoration, aber die meisten Fenster waren dunkel. Die Bewegungen der Gestalt waren fließend, gingen nahtlos ineinander über. der Blick war wachsam. Schwarze Augen, die aus einem schmalen Schlitz zwischen einer schwarzen Mütze und einem ebenso schwarzen Schal hervorlugten. Ein winziger Streifen Haut, der nur unwesentlich heller schien als Schal und Mütze. Dazu ein gefütterter schwarzer Blouson und eine schwarze Jeans. Wenig überraschend waren auch die Nike Sneakers schwarz. Sogar die breiten Schnürbänder. Die Hände steckten in dünnen Handschuhen der gleichen Farbe. Die richtige Kleidung, um sich in der Dunkelheit nahezu unsichtbar zu machen. Die schwarzen Augen waren wachsam. Sehr wachsam. Schienen die Umgebung rastlos und matrixgleich auf drohende Gefahren hin abzurastern. Ständig waren die Pupillen in Bewegung und verharrten kaum einmal länger als einen Sekundenbruchteil auf einem Fixpunkt. Trotz der Unruhe wirkte es routiniert, was sie taten. Routiniert und abgeklärt. Die Frage war, welche Gefahr in dieser Nebenstraße in direkter Nähe zur Außenalster für diese Gestalt lauern sollte und warum sie so wachsam war. Oder stellte die Gestalt selber womöglich die Gefahr dar? Jener schmale dunkle Schatten der sich so bemühte sich unsichtbar fortzubewegen. Der jeden Busch, jeden Laternenmast, jeden Hauseingang als Deckung auszunutzen versuchte, um nicht gesehen zu werden?

Der Schatten verharrte einen Moment. Nicht, weil er eine drohende Gefahr erkannte, sondern, weil er offenbar an seinem Ziel angekommen war. Weiß ragte die Fassade der Stadtvilla hinter der Hecke und dem Vorgarten hervor. Im Dunkeln sah das Gebäude gepflegt aus. Wie ein kleines Schloss. Ein urbanes Kleinod. Ein angemessenes Domizil in einer Gegend für distinguierte Menschen. Wenig angemessen für Menschen wie den dunklen Schatten, der mit dem Begriff 'distinguiert' nichts anzufangen wusste und der sich unter einem 'Kleinod' oder einem 'Domizil' nur wenig mehr vorstellen konnte. In seiner arabischen Muttersprache hätte es andere blumige Beschreibungen gegeben. In der Sprache des Landes, in das er nach einer langen Odyssee durch halb Europa endlich gelangt war, fehlte ihm noch das Ausdrucksvermögen. Da war es einfach so etwas wie ein 'schönes Haus'.

Khalid verbarg sich im Heckenbogen vor der schmiedeeisernen Eingangspforte. Durch die Gitterstäbe schaute er noch einmal ungläubig auf die Stadtvilla. Für seine Augen wirkte der prunkvolle Jugendstilbau wie das Märchenschloss eines reichen Scheichs aus einem sagenhaften Land. Ihm fiel nicht auf, dass das Gebäude alles andere als gepflegt war, dass an der Fassade bereits an verschiedenen Stellen die Farbe abblätterte und dass der Stuck unter den Fenstern im ersten Stock bröckelte. Er registrierte auch nicht, dass der Rasen nicht gemäht war und es bereits längere Zeit her sein musste, dass man die Sträucher nachgeschnitten hatte.

„Shit, wer immer hier lebt, hat Geld ohne Ende“, dachte er.  Das hatte ihm auch der Mann glaubhaft versichert, der ihn angeheuert hatte, für ihn in dieses Haus einzubrechen und einen Gegenstand zu stehlen. Er hatte ihm dabei auch versichert, dass es keine funktionierende Alarmanlage gab. Khalid fragte sich, wie man so leichtsinnig sein konnte ohne Alarmanlage zu leben. Bei ihm zu Hause hätte man sich zumindest eine Handvoll gut bewaffneter Männer geleistet, die rund um die Uhr auf das Hab und Gut achtgaben. Nicht so hier in diesem dekadenten Land, in das ihn seine Odyssee verschlagen hatte. Es bewies die Eindrücke, die sich auf seiner Reise durch Europa immer mehr verstärkt hatten. Je weiter er nach Norden kam, desto schwächer waren die Menschen, die dort lebten. Sie konnten froh sein, dass sie nicht das erleben mussten, was er erlebt hatte, denn dann wären sie längst daran krepiert.

Khalid war vor einem Monat erst 16 Jahre alt geworden, aber er hatte in seinem Leben viel gesehen. Mit 14 hatte er seine Familie in Algerien verlassen, wo sie in einem Lager in der Nähe von Tindouf gelebt hatten. Ein verlorener Flecken Erde namens Rabouni. Sein ganzes Leben hatte er in diesem Lager verbracht, zusammengepfercht mit tausenden anderen Flüchtlingen aus der Westsahara, die vor über drei Jahrzehnten von den Marokkanern aus ihrer rechtmäßigen Heimat vertrieben worden waren. Aber er wollte nicht so weiterleben wie seine Eltern. Nicht mehr auf die Rückkehr in ein Land hoffen, das nicht weniger ärmlich war als die Umstände, in denen sie im Lager lebten. Ein Land, das er noch nie gesehen hatte und zu dem er kein Heimatgefühl hatte entwickeln können. Er hatte mehr verdient und so hatte er sich wie so viele andere aus den Lagern auf den Weg in das goldene Europa aufgemacht, um dort Glück und Reichtum zu finden. Erst über die Grenze von Algerien ins verhasste Marokko, dann über die Grenze im Norden in die spanische Exklave Ceuta. Mehrfach war er der Guardia Civil auf ihren Patrouillen erst im letzten Moment entwischt. Wie durch ein Wunder gelang es ihm nicht nur Ceuta zu erreichen, sondern später auch noch das spanische Festland. Später erfuhr er von anderen Flüchtlingen, wie wenige dies tatsächlich schafften. Die Starken kamen durch und die Schwachen blieben auf der Strecke. Das war das einzige Gesetz, das Bestand hatte. Er hatte immer schon gewusst, dass er etwas besonderes war. Einer von den Starken. Dann musste er sich durch Spanien kämpfen. Wie bereits während der Zeit in Marokko hatte er sich mit Gelegenheitsdiebstählen über Wasser gehalten. Khalid war geschickt und schnell. Er hatte die Gabe sich nahezu unsichtbar machen zu können, seinen Körper in der Dunkelheit mit der Umgebung verschmelzen zu lassen und er war ein geschickter Kletterer. Drahtig, nur knapp 1,70 Meter groß. Sehnen und Muskeln und unbeugsamer Wille. 1,70 Meter waren es gewesen, als er das letzte Mal gemessen worden war. Das war im Erstaufnahmelager in Hamburg gewesen. Ein halbes Jahr vorher war er auch bereits 1,70 Meter groß gewesen. Da hatte man ihn in Brüssel gemessen, nachdem ihn die Polizei bei einem Ladendiebstahl einkassiert hatte.

In Brüssel hatte er gelernt, dass es weniger gefährlich und darüber hinaus noch unkomplizierter und lukrativer war seinen Körper zu verkaufen, statt riskante Diebeszüge zu unternehmen oder Passanten die Geldbörsen zu entwenden. In Spanien und auch selbst im Süden Frankreichs noch war er äußerlich mit seiner dunklen Haut und den schwarzen Haaren kaum aufgefallen und hatte wenig Argwohn erregt. Da hatte es gut funktioniert mit den Diebstählen. Da konnte er sogar tagsüber in einer Fußgängerzone unbemerkt die eine oder andere Geldbörse an sich bringen. Oder in der Zeit in Spanien, abends in Touristenorten, wenn die betrunkenen Engländer unterwegs waren und halb bewusstlos und mit vollgekotzten Klamotten neben den Bürgersteigen lagen. Die legten es doch darauf an, dass man sie bestahl. In Supermärkten fiel er da auch nicht auf, wenn er teure Gegenstände in seinen Taschen verschwinden ließ, während er die günstigen im Wagen zur Kasse fuhr und dort ordentlich bezahlte. Aber je weiter er  in den Norden kam, desto mehr musste er sich in Acht nehmen. Nicht, dass es dort nicht auch dunkelhäutige Menschen gab, aber man brachte ihnen mehr Argwohn entgegen. Eine Weile hielt er es dort trotzdem gut aus, aber Belgien war nicht sein eigentliches Ziel. Manchmal fühlte es sich im Stadtteil Molenbeek sogar an wie im Lager mit all den anderen Arabern da. Da hätte er auch in Rabouni bleiben können. Nein, sein Ziel war Deutschland oder besser noch Schweden gewesen. Da, wo die Leute derart viel Geld im Überfluss hatten, dass sie beim Wechselgeld nur die Scheine nahmen und das Kleingeld auf die Straße warfen, weil sie sich damit nicht belasten wollten. Da, wo der Staat so unvorstellbar reich war, dass er jedem, der dort lebte, ein komfortables Leben ohne Arbeit finanzierte. So hatten es die Leute jedenfalls erzählt. Die Wirklichkeit sah wie üblich etwas anders aus, aber er hätte es schlechter treffen können.

Khalid schrak aus seinen Gedanken heraus, als er schwere Schritte hörte. Gerade noch schaffte er es sich ganz tief in den Winkel zwischen Hecke und Pforte zu drücken, als ein Mann mit Hut und großem, schweren Wollmantel an ihm vorbei ging. Er war leicht gebückt und zählte bestimmt über 60 Jahre. Khalid fröstelte und schaute ihm etwas sehnsüchtig nach. Dieser Wollmantel hielt einen bestimmt warm. Ganz im Gegensatz zu seinem trotz der Fütterung für diese Temperaturen zu dünnen Blouson. Aber solche Kleidung machte einen gleichzeitig langsam und schwerfällig. Nichts für ihn. Er warf einen Blick auf die schmiedeeiserne Tür vor ihm. Gewundene, schwarze Eisenstangen, oben mit Spitzen bewehrt. Fast wie ein Zaun. Aber ein Druck auf die Klinke und sie schwang auf. Die Pforte war nicht einmal abgeschlossen. Nicht, dass ihn dies gestört hätte. Wenn sie abgeschlossen gewesen wäre, hätte er sie innerhalb weniger Sekunden öffnen können. Khalid hatte für solche Zwecke einen gebogenen festen Draht mitgenommen, obwohl Claas ihm versichert hatte, dass es keine Schwierigkeit darstellen würde auf das Grundstück zu kommen. Claas hatte ihm vieles versichert, aber Khalid glaubte solche Dinge erst, wenn er sie sah. Das hatte er in seinem Leben gelernt. Glaube nur, was du siehst. Genauso war es mit Eigentum. Nur das gehörte dir, was du auch gerade in der Hand hältst. Alles andere war flüchtig und unsicher. Nun, die Tür hatte tatsächlich offen gestanden.

Hoffentlich stimmte auch die Information, dass die Alarmanlage defekt war. Der Mann, der ihn beauftragt hatte und der den seltsamen Namen Claas hatte, war vor zwei Tagen selber in diesem Haus gewesen und der Eigentümer hatte ihm erzählt, dass die Alarmanlage derzeit defekt war. Was für ein Leichtsinn so etwas auch noch in die Welt hinauszuschreien. Da geschah es ihm recht, wenn jemand die Gelegenheit nutzte, bei ihm einzubrechen.

Ein Blick auf die Glasfenster der Eingangstür  zeigte, dass im Erdgeschoss noch Licht brannte. Auch darauf war er vorbereitet worden. Das Brennen des Lichtes hatte nichts zu sagen. Khalid holte sein Smartphone aus der Tasche und schaltete das Display an. Es war kurz vor zwei Uhr nachts. Nach Claas' Ansicht wäre der einzige Bewohner um diese Zeit mittlerweile derart betrunken, dass er vermutlich auf einer der Sitzgelegenheiten im Wohnzimmer eingeschlafen wäre. Oder auf dem weichen Teppichboden. Khalid schlich trotzdem mit der ihm geboten erschienenen Vorsicht über den Rasen zum Haus.

Als Erstes untersuchte er die Eingangstür. Er erwartete nicht hier hereinzukommen, aber vielleicht geschah ein Wunder und sie war leicht zu öffnen. Die Tür war jedoch erwartungsgemäß verschlossen und vermutlich von innen verriegelt. Es handelte sich zwar um kein sehr hochwertiges Schloss, aber es war ein Sicherheitsschloss. Zu kompliziert für seinen einfachen Draht-Dietrich. Dafür stellten die zweiflügeligen Fenster kaum ein Hindernis für ihn dar. Von nahem fiel auch Khalid auf, dass sie renovierungsbedürftig aussahen. Die weiße Farbe war an einigen Stellen abgeplatzt und zum Teil schaute der Altanstrich hervor. An einigen Stellen sah man sogar rissiges Holz darunter.

Er nahm seinen Rucksack von der Schulter, zog seine Handschuhe aus und öffnete den Reißverschluss so leise wie möglich. Darin fanden sich eine kleine Vakuumglocke und ein Glasschneider. Beides hatte er in einem Baumarkt in Barcelona geklaut. Er warf einen wachsamen Blick über die Schulter und versicherte sich, dass man ihn von der Straße aus nicht sehen konnte. Ein Baum gab ihm darüberhinaus ausreichend Deckung vor der Häuserfront auf der anderen Straßenseite. Er trug zwar keine Blätter, aber er hatte einen dicken Stamm und sein Astgewirr reichte aus, um ihn mit seiner dunklen Kleidung dahinter fast verschwinden zu lassen. Von rechts und links war er ohnehin nicht zu sehen.

Kahlid rieb seine vor Kälte fast starren Finger kurz, ehe er die Vakuumglocke in etwa auf der Höhe ans Fenster setzte, auf der sich im Inneren der Riegel befand. Es war hoch für ihn und er musste sich strecken, um anzukommen.

Als er den Mechanismus betätigte, der die Glocke am Fenster festsaugte, stellte er fest, dass es nicht funktionierte. Sie löste sich sofort wieder und wäre fast polternd zu Boden gefallen, wenn er sie nicht aufgefangen hätte. Khalid fluchte still in sich hinein. Die Scheibe war nicht sauber genug. Es war ein Hindernis, aber kein ernsthaftes Problem. In Südfrankreich, wo er sich nach der Zeit in Barcelona eine Weile aufhielt, war dies die Regel gewesen. Da musste er auch immer erst die Scheibe reinigen, bevor er die Glocke ansetzen konnte. Er zog die Handschuhe aus, nahm ein Taschentuch aus der Jackentasche und  spuckte drauf. Damit reinigte er das Fenster auf einer Fläche, die etwas größer war als die Glocke. Danach nahm er den  Glasschneider und ließ ihn in etwa zwei Zentimetern Abstand um die Glocke über das Glas gleiten. Es gab ein deutlich hörbares Kratzen, als die scharfe Spitze des Schneiders in das Glas des Fensters schnitt. Dann versetzte Khalid die Glocke leicht. Er nahm einen kleinen Gummihammer aus dem Rucksack, dessen Kopf er mit Stoff umwickelt hatte.  Mit der linken Hand hielt er die Saugglocke fest und mit der Rechten hob er den Hammer, um damit nachdrücklich aber dosiert neben der Glocke auf die Scheibe zu schlagen. Es klirrte, aber die Scheibe war noch nicht draußen. Stattdessen hatte das Glas um sie herum einen Riss bekommen. Khalid schlug erneut zu und mit einem weiteren Klirren löste sich ein Teil des angeschnittenen runden Stücks Glas vom Rest des Fensters. Khalid konnte gerade noch beiseite Springen, als es zu Boden fiel und zerbrach. Glücklicherweise war der Boden nicht gefroren, sonst hätte es noch mehr Lärm gemacht, aber auch so war es lauter gewesen, als er es beabsichtigt hatte. Er verhielt sich einen Moment absolut still, um zu hören, ob jemand von dem Klirren aufgeschreckt worden war. Einige Minuten vergingen, in denen außer seinem Atmen und den Fahrgeräuschen einer stärker befahrenen Straße in der Nähe, nichts zu hören war und Khalid atmete erleichtert durch. Das erste Loch war fast geschafft. Ein weiterer Schlag mit dem Hammer und der Rest des ausgeschnittenen Glases hatte sich gelöst. Er zog die Handschuhe wieder an, ergriff das Glas vorsichtig, um sich nicht zu schneiden und legte es auf den Boden.  Jetzt fehlte noch die innere Scheibe.  Handschuhe wieder aus. Wieder setzte er die Glocke an und schnitt mit dem Glasschneider erneut drum herum. Er entfernte sie auf die gleiche Art und Weise und diesmal hatte er Glück und der kreisrunde Ausschnitt splitterte kaum, so dass er ihn kontrolliert auf den Boden legen konnte. Dann wischte er einzelne Glassplitter vom Vorsprung unter dem Fenster und zog die Handschuhe wieder an, um gleich keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Vorsichtig, bemüht an der scharfen Kante nicht seinen Blouson aufzureißen, führte er danach seine rechte Hand durch die entstandene Öffnung und entriegelte das Fenster von innen. Nachdem er die Flügel nach Innen hatte aufschwingen lassen, lauschte er noch einmal kurz, ob aus dem Haus Geräusche zu hören waren. Dann zog er sich an der Brüstung empor und schwang sich hinein. Fast lautlos landete er auf dem Fußboden. Es knirschte unter seinen Füßen, wo weitere Glassplitter gelandet waren.

Es dauerte ein paar Momente sich an die Dunkelheit zu gewöhnen und jetzt konnte er auch Geräusche hören. Leise Klaviermusik. Kurz wurde ihm etwas mulmig, als er befürchtete, der Bewohner wäre womöglich doch noch auf den Beinen, aber das konnte er nicht herausfinden, so lange er in diesem Raum blieb. Möglicherweise hatte er auch nur die Musik nicht ausgemacht. Wenn er tatsächlich so betrunken war, wie Claas vermutete, dann konnte das passieren. Wenn sein Onkel Ahmed zu Hause besoffen gewesen war, kam es auch vor, dass er abends irgendwann einfach in sich zusammensackte und das Radio nicht ausstellte. Das waren noch die besseren Abende gewesen. Besser, als wenn ihn der Alkohol aggressiv machte. Am Abend vor der Nacht, in der Khalid sich abgesetzt hatte, da hatte er eine der Flaschen des billigen Arraks, den sein Onkel immer trank, mit Reinigungsalkohol gefüllt. Ein letzter Gruß an seinen Onkel, von dem er hoffte, er hätte diesen nicht überlebt.

Nachdem Khalid das Lager verlassen hatte, hatte er als Erstes eine neue Karte für sein Smartphone gekauft und den Kontakt zu seiner Familie abgebrochen. Mit denjenigen, denen er die Schuld an seinem Aufwachsen im trostlosen Lager zuschrieb, wollte er nichts mehr zu tun haben. Sie waren nicht mehr seine Familie.

Khalid verdrängte die Gedanken an seine Vergangenheit und  blickte sich um. Das Zimmer, in dem er gelandet war, war mittelgroß und sah unbewohnt aus. Es standen zwar einige Möbel darin, aber sie waren mit hellen Tüchern verhängt worden, wohl, damit sie nicht einstaubten. Er hatte kein Interesse daran herauszufinden, was unter den Decken war. Möbel konnte er ohnehin nicht mitnehmen und in einem unbenutzten Raum waren nicht unbedingt Wertgegenstände zu erwarten. Zwei Türen führten aus dem Zimmer. Eine befand sich auf der dem Fenster gegenüberliegenden Wand und die Andere auf der rechten Raumseite. Die Musik schien aus der Richtung der Tür zu kommen, die sich auf der ihm gegenüberliegenden Seite befand. Khalid schlich hin und betätigte ganz vorsichtig die Klinke. Sie kratzte metallisch beim Hinunterdrücken, aber es war leise genug, um nicht gehört werden zu können. Außer von ihm. Nachdem er die Klinke vollends hinuntergedrückt hatte, zog er leicht an der Tür. Geräuschlos schwang sie auf und indirektes Licht schien aus dem Flur herein. Einen Moment lang setzte die Musik aus und Khalid rutschte fast das Herz in die Hose, weil er fürchtete, der Hausbewohner wäre aufgewacht und hätte die Musik ausgestellt, aber dann begann das Klavier wieder seltsame, sehnsüchtige Melodien zu spielen. Sie hörten sich in Khalids Ohren fremd an. Anders als die Musik, die aus dem Radio in Onkel Achmeds Wellblechhütte im Lager gekommen war und auch anders als die Musik, die er jetzt selber hörte. Pitbull, Tyga, Chris Brown. Die hattens drauf. Fette Bässe, Lines, die alles zerfetzten, scharfe Bitches um sich herum in den Videos, die ihnen ihre Ärsche und Titten ins Gesicht hämmerten. Fuck, er musste an Atiya denken, die kleine Schwester von seinem Kumpel Nizar. Auch, wenn die noch nicht solche Kurven hatte und nicht halbnackt herumtanzte. Im Gegenteil. Sie hatte immer was trauriges im Blick, das passte schon eher zu diesem schrägen Klaviergeklimper, das durchs Haus schallte. Die Musik hatte auch was trauriges, aber gleichzeitig trotzdem was treibendes. Vielleicht sollte er mal mit Atiya kiffen, damit sie auf andere Gedanken kam und auftaute. Das durfte nur ihr Bruder Nizar nicht erfahren. Aber wenn ihre Traurigkeit etwas vernebelt war, dann wurde sie bestimmt zugänglicher und ließ ihn vielleicht sogar mal etwas an sich herumspielen. Khalid spürte, wie ihn der Gedanke anmachte, aber er verdrängte ihn. Erst die Arbeit. Die Situation war schon ohne Ablenkung gefährlich genug. Er dachte an den Typen, der hier lebte. Was mochte das für ein jemand sein, der so ein krasses Haus hatte, solche Musik hörte und sich abends alleine betrank, bis er umfiel? Was für eine Verschwendung. Wenn er hier wohnen würde, dann würde er das genießen und jeden Tag Gäste haben. Aber so waren sie, die Deutschen. Sie wussten nicht zu würdigen, in welchem Luxus sie lebten. Waren nicht mehr hungrig.

Khalid wartete einige Minuten ab, um sicherzugehen, dass tatsächlich niemand wach war, aber außer der Musik war nichts zu hören. Niemand kam in den Flur. Er trat hinaus ins Helle. Das Zimmer ging von einem Gang ab, der in einen größeren Raum mündete. Von dort kam das Licht. Von der Aufteilung her musste das der Hauptflur sein. Auch die Musik schien dort lauter zu werden. Khalid schlich den Gang entlang. Der Hauptflur war groß. Größer als Khalids Zimmer in der Wohngruppe, in der er untergekommen war. Größer auch als der Aufenthaltsraum, der ihnen zu sechst zur Verfügung stand, in dem sie aßen und zusammensaßen. Der Flur war wahrscheinlich sogar größer als die Baracke, in der er mit seiner Familie in Rabouni gelebt hatte. Auf beiden Seiten des Flures führte jeweils eine Treppe nach oben auf eine Balustrade. Die Wände waren gelb gemalt und an den Decken waren reiche weiß abgesetzte Stuckverzierungen. In der Mitte der Freifläche vor der Balustrade hing ein großer schwerer Leuchter mit mehr Birnen als man zählen konnte. Es schien, dass fast die Hälfte der Lampen defekt waren, aber trotzdem tauchte er den ganzen Raum in gleißendes Licht, so dass Khalid die Augen zusammenkneifen musste. Er staunte und schüttelte innerlich wiederholt den Kopf. Was für ein Reichtum.

Die Musik kam aus der angelehnten Tür, die dem Eingang gegenüber lag. Khalid öffnete sie vorsichtig vollständig. Die ansteigende Lautstärke zeigte an, dass er dort war, wo er hinwollte. Claas hatte ihm gesagt, dass der Mann den Gegenstand, den Khalid stehlen sollte, auf dem Kaminsims abgestellt hatte und hoffte, dass er noch immer dort war.

Der Raum war noch einmal deutlich größer als der Flur. An den Wänden standen Regale, die mit mehr Büchern vollgestellt waren, als man in einem Leben lesen konnte. Es gab riesige bunte Vasen, einen schwarz lackierten Flügel auf der einen Raumseite und ein riesiges Sofa auf der Anderen, das auf einen großen Kamin ausgerichtet war. Im Kamin glimmten noch die Reste einiger Holzscheite. Zu beiden Seiten des Sofas standen futuristisch aussehende schwarze Türme. Khalid schloss, dass es Lautsprecherboxen sein mussten, obwohl er solche Modelle noch nie in seinem Leben gesehen hatte.

Auf dem Sofa lag ein Mann ausgestreckt auf dem Rücken. Die linke Hand hing reglos zu Boden und leises Schnarchen war zu hören. Er trug eine schwarze Anzughose und ein weißes Hemd. Ein schwarzes Jackett hatte er achtlos auf den Boden neben dem Sofa geworfen. Khalid erschreckte kurz, als sich der Mann kurz bewegte, aber seine aufkommende Sorge war unbegründet. Er schlief tief und fest. Auf dem Tisch vor dem Sofa stand eine leere Flasche Cognac und neben der Flasche ein Cognacschwenker, in dem noch ein winziger Rest war. Khalid hatte Glück. Auf dem Kaminsims stand tatsächlich, wie angekündigt, die Steinfigur. Es war ein steinerner Löwe, etwa 30 Zentimeter hoch. Khalid trat ohne Zeit zu verlieren zum Kamin und nahm den Löwen herunter ohne ihn näher zu betrachten. Er schlug ihn in ein Tuch ein, das er aus seinem Rucksack holte. Er war schwer und drückte in seinen Rücken, als er den Rucksack wieder aufsetzte. Kurz keimte Besorgnis in ihm auf. Mit dieser Figur konnte er nicht rennen, wenn er erwischt wurde. In dem Fall blieb ihm nichts anderes übrig, als sich von seinem Rucksack samt der enthaltenen Beute zu trennen. Er verwarf den Gedanken wieder. Was sollte schon passieren. Er würde genauso unauffällig wieder verschwinden, wie er gekommen war.

Ehe er den Raum wieder verließ, schaute er sich noch einmal weiter nach interessanten Gegenständen um. Sicher zahlte ihm Claas viel Geld für die Figur, aber die Verlockung war groß nachzusehen, ob hier noch etwas anderes wertvolles für ihn wartete. Jemand, der so in Saus und Braus lebte, musste Wertgegenstände oder Geld haben. Und Claas hatte auch gesagt, dass der Mann keine Anzeige wegen des Einbruchs erstatten konnte, weil er den Löwen gar nicht haben durfte. Khalid hatte das nicht verstanden, aber wenn dem tatsächlich so war, dann würde Claas auch nicht herausfinden können, dass er noch ein wenig mehr hatte mitgehen lassen als nur den Löwen. Khalid rasterte die herumliegenden und stehenden Gegenstände kurz ab und verzog enttäuscht das Gesicht. Auf den ersten Blick konnte er nichts von Wert erkennen, das einfach in seine Jackentasche passte. Dann fiel sein Blick auf das Handgelenk des Schlafenden. Der rechte Ärmel seines Hemdes war etwas hochgerutscht und gab den Blick auf eine große, goldene Uhr frei. Wenn sein Blick ihn nicht trog, dann war das eine Rolex. Und keine von den billigen Imitaten, die er zeitweise am Strand von Torremolinos verkauft hatte. Diese hier war echt, das erkannte er sofort. Auf leisen Sohlen trat er zu dem schlafenden Mann und beugte sich hinunter. Der Verschluss der Uhr war zugänglich. Khalid öffnete ihn langsam und vorsichtig. Dann ergriff er den Unterarm des Schlafenden etwas oberhalb des Handgelenkes und hob ihn vorsichtig hoch, um die Uhr abstreifen zu können. Fast hätte er sich vor Schreck ruckartig umgedreht, als der Schlafende ein Räuspern von sich gab, aber es war nur im Schlaf. Er konnte ihm die Uhr abstreifen, ohne dass dieser aufwachte. Er steckte sie in die Innentasche seines Blousons. Ein goldenes Feuerzeug, dass er noch auf dem Teppich zwischen Couchtisch und Sofa erspäht hatte, folgte der Uhr in seine Innentasche. Weitere Wertgegenstände sah er nicht. Die Gesäßtasche der Hose des Schlafenden war allerdings ausgebeult. Vermutlich hatte er dort sein Portemonnaie, aber das Risiko, ihm dieses aus der Hose zu stehlen, schien ihm in diesem Moment unverhältnismäßig hoch. So gab sich Khalid mit dem zufrieden, was er erbeutet hatte und schlich auf leisen Sohlen wieder aus dem Raum. Im Kopf rechnete er, wieviel Uhr und Feuerzeug wert sein mochte. Zu den 750 Euro, die er für die schwere Steinfigur erhalten würde, käme bestimmt noch einmal das Doppelte für die Uhr dazu. Das Feuerzeug war von Dupont. Dafür konnte er nochmal 100 Euro bekommen. Soviel Geld hatte er noch nie in seinem Leben besessen. Ein Euphorieschub durchströmte seinen Körper.  Jetzt nur noch wieder aus dem Haus herauskommen. Leichtfüßig machte er sich auf den Rückweg zum Fenster.

Montag, 14.12.2015 – 05:45 Uhr

 

Der neue Tag begrüßte Karol Mintal mit einem bohrenden Schmerz in seiner Schläfe. Er schlug die Augen auf und registrierte, dass es dunkel im Zimmer war. Das war gut. Licht hätte ihn jetzt getötet. Jetzt blieb nur noch die Frage, wo er war. Er streckte die Hand nach rechts aus. Dort war das Bett zu Ende. Von seiner linken Seite her hörte er tiefes Atmen. Verdammt, was war letzten Abend passiert? Karol versuchte sich zu erinnern. Es dauerte ein paar Momente, aber dann kam es langsam zurück. Scheiße. Svetlana. Eine Katastrophe mit Ansage. Gestern Abend war er bei seiner Ex-Frau aufgekreuzt, um mit ihr über Malik zu reden. Malik war ihr gemeinsamer Sohn, der sich gerade anschickte seine Versetzung in Klasse zehn mit allerlei Unfug und akuter Faulheit zu gefährden. Sie hatten zusammen zu Abend gegessen und dann hatte er mit Malik zusammen für diese Mathe-Arbeit gelernt. Scheiß Geometrie. Was die heutzutage in der Schule für einen Mist lernten. Das Volumen von völlig verwirrenden Körpern ausrechnen und die Oberfläche und was sonst noch alles. Effektiv hatte er ihm nicht viel helfen können. Warum machte Svetlana das auch nicht. Sie war studierte Ingenieurin. Aber nein, er war dran damit. Und nachdem Malik entnervt schlafen gegangen war, hatte er mit Svetlana darüber gesprochen, wie es mit Malik weiterginge. Und sie hatten Wein getrunken. Zwei Flaschen. Absturz mit Ansage an einem dunklen Abend im Winter, an dem nachts die Nebelschwaden durch die einsamen Straßenschluchten der Großstadt zogen. Wein führte zu nichts Gutem, das wussten sie beide. Erst hatten sie sich beide gegenseitig vorgeworfen Schuld an Maliks Schwierigkeiten zu sein. Unsachlich wie meistens. Und danach waren sie zusammen im Bett gelandet. Er mit seiner Ex-Frau.

Neben sich hörte er es knarzen. Eine warme Hand schob sich zu ihm herüber, rutschte über seinen Bauch und ihr ebenfalls bettwarmer Körper schmiegte sich an ihn. Das war ein eindeutiges Zeichen dafür, dass sie noch nicht wirklich wach war und nicht realisiert hatte, wer da neben ihr lag. Er mochte gar nicht wissen, an wen sie gerade dachte. Wie zur Bestätigung zuckte die Hand Sekunden später bereits wieder zurück. Ein Stöhnen, dann ein Klicken und Licht flammte von der anderen Seite des Bettes her auf. Karol kniff die Augen zusammen. Erneutes Stöhnen. Das Geräusch eines weiblichen kasachischen Bären, der am Abend vorher zu tief ins Wodkaglas geschaut hatte. Heiseres Räuspern. Tiefes Durchatmen.

„Mein Kopf explodiert gleich“, hörte Karol Svetlanas dunkle, raue Stimme von der Seite.

„Da haben wir etwas gemeinsam,“ antwortete er und hörte sich dabei nicht weniger rau an.

Karol drehte sich zu ihr um und blickte in zwei verschlafene Augen. Sie waren halb von ihren blonden Haaren verborgen, die ihr strähnig und noch vom wilden Liebesakt der letzten Nacht zerzaust ins Gesicht hingen. Es war schwer ihren Gesichtsausdruck zu deuten, aber es war alles andere als eine freudige Überraschung darin zu erkennen.

„Guten Morgen!“, sagte Karol und bemühte sich dabei freundlich zu klingen.

Sie verzog die Mundwinkel geringschätzig, schaute dann zur anderen Seite, wo ihr Wecker stand.

„Fuck!“, rief sie aus. „Ist es bereits kurz vor sechs!“

Karol fand kurz vor sechs keine Zeit, bei der man sich Sorgen machen musste, wenn man noch nicht aufgestanden war, aber das war nur einer von vielen Unterschieden zwischen ihm und seiner Ex-Frau. Wie häufig, wenn sie müde war, fiel sie in einen Satzbau zurück, der ihre Herkunft verriet und der russische Akzent, der im normalen Sprechen fast verschwunden war, kam wieder stärker durch. Karol fand es noch genauso erotisch wie damals, als er sie kennengelernt hatte und fühlte, wie sein Schwanz unter der Bettdecke anschwoll. Er realisierte, dass dies in diesem Moment ganz und gar nicht angebracht war.

Svetlana hatte sich bereits aus dem Bett hochgewuchtet und suchte den Boden fluchend nach den Kleidungsstücken ab, die er ihr am letzten Abend vom Körper gerissen hatte. Karol sah ihr dabei zu und staunte über ihren kleinen, festen Körper, der auch nach der Geburt ihres Kindes und mittlerweile fast vierzig Lebensjahren kein bisschen gelitten hatte. Sie drehte sich um und funkelte ihn ärgerlich an. Fast schien es so, als ob auch ihre winzigen, rosafarbenen Brustwarzen ihn fokussierten und vor Ärger vibrierten.

„Was du liegst noch rum. Sieh zu, dass du dich anziehst und Land gewinnst. Ich will nicht, dass Malik dich hier sieht. Ich muss ihn in fünf Minuten wecken, wenn er es rechtzeitig in die Schule schaffen soll.“

Karol seufzte. Die Erektion klang langsam wieder ab, also konnte er jetzt auch aufstehen, ohne weitere Peinlichkeiten zu provozieren. Er schwang sich seinerseits aus dem Bett. Ihm war klar, dass Svetlana recht hatte. Malik hatte ihre Trennung vor drei Jahren nicht besonders gut verkraftet. Nüchtern betrachtet war die Trennung der Auslöser für einen großen Teil der Schwierigkeiten, die ihr gemeinsamer Sohn momentan in der Schule hatte. Es wäre keine gute Idee ihn durcheinanderzubringen, indem er Hoffnung erhielt, dass seine Eltern sich wieder vertrugen.

Auch, wenn es nicht das erste Mal seit ihrer Scheidung war, dass er mit Svetlana im Bett gelandet war, so wusste er, dass es nichts für ihr Verhältnis zu bedeuten hatte. Es mochte ihnen passieren, wenn sie sich beide einsam fühlten und die Umstände ungünstig waren, aber es änderte nichts an den vielfältigen Gründen, weswegen ihre Beziehung gescheitert war. Daran würde sich niemals mehr etwas ändern. Karol erspähte seinen Slip und begann sich anzuziehen.

Svetlana hatte ihm noch nicht einmal einen Kaffee angeboten, sondern ihn bereits vor die Tür gesetzt, bevor er sich überhaupt komplett angezogen hatte.

„Denk daran mir den Unterhalt noch zu überweisen. Das Geld vom November ist schon 14 Tage überfällig“, verabschiedete sie sich von ihm.

Dann schloss sich die Tür und er stand halb angezogen mit offenen Schuhen im Hausflur. Draußen vor der Tür zu dem, was einmal sein Leben gewesen war. Attraktive Frau, Hoffnungen, Perspektiven. Kasachische Frauen waren stark und hielten zu ihrem Mann, weil sie ihre Männer für die Größten hielten. Deswegen war es für Sveta auch die schlimmstmögliche Niederlage gewesen ihn zu verlassen und sich scheiden zu lassen. Einzugestehen, dass ihr Mann nicht der Größte war. Kein Held, sondern ein erbärmlicher Loser. Als sie sich damals kennengelernt hatten, da war Karol dabei gewesen sich auf seine Diplomarbeit vorzubereiten. Er hatte gerade sein Psychologiestudium hinter sich gebracht. Sie hatten sich auf der Party eines Freundes kennengelernt. Sveta war damals erst ein Jahr in Deutschland gewesen. Sie jobbte bei der Post, weil ihr Deutsch noch nicht gut genug war, um hier in ihrem studierten Beruf Anstellung zu finden. Weibliche Ingenieure aus der ehemaligen Sowjetunion waren zu der Zeit auch noch etwas exotisches auf dem Arbeitsmarkt. Dann kam das Kind und fast zeitgleich passierte das Unglück mit seinem Doktorvater, das ihn aus der Bahn warf.

Vorbei die Forschungsarbeit, vorbei der Traum sich im Bereich Psychotherapie mit einer eigenen Praxis selbständig zu machen und parallel weiter in Kooperation mit der Uni zu forschen. Die Klinische Psychologie war seine Leidenschaft gewesen. Stattdessen versackte er im Treibsand seiner Lebensumstände. Statt üppiger Stundensätze und eloquenter Plauderei mit Patienten, die ihm auf dem teuren Leder einer Designer-Ottomane von ihren Nöten berichteten, kam der blanke Kampf ums Überleben. Bald war es Svetlana, die den überwiegenden Teil zu ihrem Lebensunterhalt beisteuerte. Das war nicht der Plan gewesen. Statt zu Hause zu sein und sich um das Wohl ihres kleinen Sohnes zu kümmern, schuftete sie für viel zu wenig Geld bei einer kleinen Firma, die als Dienstleister technische Projekte umsetzte. Karol versuchte sich  freizukämpfen, seinen Teil beizutragen und machte sich als Privatermittler selbständig. Das war der Beruf, der noch immer auf seiner Visitenkarte stand. Karol Mintal,  Privatermittler, Personenschutz, Objektschutz, Sicherheitsberater. Seit zehn Jahren. Und seit zehn Jahren kämpfte er permanent finanziell ums Überleben. Anfangs hatte er gedacht, es wäre sein Alleinstellungsmerkmal, dass er ein Privatdetektiv war, der nicht wie die meisten anderen ein Ex-Bulle war, sondern jemand, der Psychologie studiert hatte. Blöderweise wollten die Leute lieber Ex-Bullen. Sein Alleinstellungsmerkmal war wenig gefragt. Erst hatte er noch mit Sveta zusammen gekämpft, dann zumindest nebeneinander und jetzt war er alleine. Seine Konten waren die letzten fünf Jahre nicht mehr aus den roten Zahlen herausgekommen. Er hatte keine Freunde und keinen  Halt. Nach der Scheidung vor drei Jahren, als er ohnehin schon am Boden gelegen hatte, war dann auch noch der Zwischenfall mit dem Koffer passiert. Ein einfacher Auftrag. Überbringen einer Sendung unbekannten Inhaltes aus Hamburg nach Genf gegen eine hübsche Summe. Aber nicht nur der Empfänger war auf den Inhalt scharf, es gab noch andere und die waren ihm auf den Fersen. Er hatte es damals fast zu spät gemerkt. Manchmal dachte er auch, dass es besser so gewesen wäre, wenn er den Auftrag einfach nicht überlebt hätte. So kam es zu einer bewaffneten Auseinandersetzung. Ein Schusswechsel. Das erste Mal, dass er seine Waffe gebrauchen musste und ausgerechnet bei diesem Schusswechsel starb ein Unbeteiligter durch einen Querschläger aus seiner Waffe. Sicher wurde er im folgenden Verfahren freigesprochen. Sicher konnte er objektiv betrachtet nichts dafür, aber es machte ihn fertig. Seit diesem Ereignis, das jetzt über drei Jahre her war, hatte er keine Waffe mehr angefasst. Seine Sig Sauer P225 lag seitdem in einem Tresor in seinem Büro. Das machte es nicht einfacher Arbeit zu finden. Er nahm keine Aufträge mehr an, bei denen das Tragen einer Schusswaffe nötig war und sein potentieller Kundenkreis wurde kleiner und kleiner. Auch durch die zwischenzeitliche Sauferei. Das Resultat war die derzeitige Lage. Streng genommen hatte Karol keine Ahnung, wie er die kommenden drei Monate überstehen sollte. Eine Steuernachzahlung aus dem letzten Jahr über 3.000 Euro an das Finanzamt stand genauso an wie die Unterhaltszahlungen an seine Frau. Und für das kommende Weihnachtsfest hatte er noch nicht einmal ein Geschenk für seinen Sohn Malik, der unbedingt diese teuren Nike Sneaker haben wollte.

Montag, 14.12.2015 – 06:30 Uhr

 

Nizar war schon seit einer ganzen Weile wach. Das erste Mal hatte er vor etwa fünf Minuten Schritte gehört. Ludger hatte jeden Morgen seinen gleichen festen Ablauf und deshalb wusste Nizar auch, dass er jetzt noch nicht dran war. Erstmal würde Ludger die drei Mädchen im Obergeschoss der Wohnung wecken, in der ihre Jugend-Wohngruppe untergebracht war. Zu sechst hausten sie hier. Drei Jungen und drei Mädchen, die allesamt als unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Hamburg gestrandet waren. Die Wohngruppe hatten sie sich alle erkämpfen müssen. Nizar und seine kleinere Schwester genauso, wie die vier Anderen. Nur, wer sich gut benahm wurde so untergebracht und kam aus den Lagern raus.

Jetzt näherten sich die Schritte auf dem Flur wieder und er wusste, dass er jetzt mit Wecken dran war. Trotzdem wälzte er sich noch einmal in seinem Bett mit der einfachen weichen Matratze und der mit alten Bettbezügen bezogenen Wolldecke aus Armeebeständen herum und hielt die Augen geschlossen. Vielleicht funktionierte es ja, so zu tun, als wäre er einfach nicht da und Ludger würde einfach weitergehen und ihn noch etwas schlafen lassen, so müde wie er war. Schon klopfte es an die Tür. Nizar zog die Decke fester über den Kopf und versuchte es zu verdrängen. Er hörte, wie die Tür nach einer Weile einen Spalt geöffnet wurde. Hörte, wie jemand eintrat. Es klickte und Nizar konnte durch die schmalen Ritzen, an denen die Bettdecke nur leicht auf der Matratze auflag, sehen, dass das Licht in seinem Zimmer angegangen war.

Kurz musste er an seine Heimat zurückdenken. Als er sich auch unter seiner Decke versteckt hatte, als die Milizen vom Islamischen Staat in ihr Haus gekommen waren. Als die Schüsse ertönt waren, während er mit seiner Schwester Atiya unter der Bettdecke gekauert hatte. Es war kein guter Gedanke und in dem Moment, wo er ihn dachte, wusste er, dass die Folgen fatal sein würden. Die verdrängten Bilder kamen von einem Moment auf den anderen und ohne Vorwarnung wieder und drangen urplötzlich auf ihn ein. Eben noch friedlich in Sicherheit in einem großzügigen Land und jetzt zurück in der Hölle. Das Klicken des Lichtschalters war das Knacken, als jemand den Hahn seines Revolvers spannte. Gleich würde der Schuss ertönen, mit dem man seinen Vater hinrichtete. Die stillen Tränen schossen ihm im Bewusstsein in die Augen, dass sein Vater damit unwiederbringlich fort war. Wie so viele andere Väter und Mütter. Das hysterische Schreien der Mutter, Gepolter, dann ein weiterer Schuss und Stille. Und er lag da und rührte sich nicht und tat nichts dagegen. Kauerte sich an seine Schwester Atiya, die neben ihm unter der Decke lag mit schreckgeweiteten Augen, die schreien wollte und der er den Mund brutal zuhielt, damit sie sie nicht verriet. Die er daran hinderte ihrer großen Schwester zur Hilfe zu kommen, die unten bei ihren Eltern sein musste. Oder bei dem, was von ihnen übrig geblieben war. Große Schwester. Sie war auch erst siebzehn. Er tat nichts dagegen, als sie Hani verschleppten. Wusste noch immer nicht, was mit ihr geschehen war, ob sie noch lebte, auch wenn er es sich in den furchtbarsten Bildern ausmalte, was ihr widerfahren sein könnte. Auf ihrem Facebook-Profil hatte sie sich seitdem nicht mehr eingeloggt. Er hoffte, dass die Terroristen sie am Leben gelassen hatten, dass sie sie nicht zu Tode vergewaltigt hatten. Sie war Muslima. Sunnitin wie sie. Auch, wenn das diesen Mördern egal war, die nicht besser waren als alle anderen Mörder auf dieser Welt.  Panik schwappte wie damals durch seinen Körper und ein Zittern nahm Besitz von ihm, das alles erfasste, ein Zittern, das ihn trotzdem lähmte, das seine Hand sich in die Wangen im Gesicht seiner kleinen Schwester krallen ließ, das sie fast erstickte, ehe er spürte, wie ihr Körper krampfte und er sie japsend wieder Luft holen ließ.

„Nein“, schrie er heiser als die Bettdecke hochgezogen wurde und Licht herein fiel. Die Tränen, die ihm in die Augen geschossen waren, verzerrten das Bild, das seine Augen wahrnahmen bis ins Unkenntliche, aber die Stimme, die er hörte, war bekannt und beruhigend.

„Hey“, sagte sie sanft. Nichts sonst. Es war die Stimme von Ludger und sie gehörte zu einer anderen Realität als der, aus der er mit seiner Schwester vor etwas über einem Jahr geflüchtet war. Nizar atmete durch und sein Pulsschlag beruhigte sich langsam. Die Tränen versiegten und er kam wieder zu Atem. Er blickte in Ludgers wohlwollende Augen und verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Vor jedem anderen wäre ihm die Situation tödlich peinlich gewesen und er wäre jetzt am liebsten im Boden versunken. Speziell, weil Nizar feststellte, dass er sich in seiner Angst in die Hose gepisst hatte. Aber Ludger hatte etwas an sich, was dafür sorgte, dass einem ihm gegenüber nichts peinlich war. Auf einer erstaunlichen Ebene verstand Ludger, obwohl er keine Vorstellung davon haben konnte, wie es ihm ergangen war. Das machte es leichter.

„Hey“, sagte Ludger erneut. „Zeit zum Aufstehen.“

Nizar kuckte ihn betreten an und Ludger begriff.

„Okay, ich lass dir noch ein paar Minuten. Wir sind schon in der Küche“, sagte er und ging wieder aus dem Zimmer.

Als die Tür zu war, katapultierte sich  Nizar eilig aus dem Bett.

„Shit, shit, shit!“, fluchte er tonlos vor sich hin und schlug die Bettdecke zurück. In der Mitte der Matratze war der hellblaue Bezug dunkel verfärbt. Er nahm die Decke und hängte sie über den zerschossenen Schreibtischstuhl, der neben dem Bett stand. Dann zog er seine klammen Boxershorts aus, in denen er geschlafen hatte und griff sich neue aus dem Kleiderschrank. Dazu ein frisches weißes T-Shirt. Ehe er es anzog ein prüfendes Schnuppern an seinen Achseln. Uh. Das war ein klarer Fall für den Deoroller.

Als er dann in die Küche kam, saß nur seine Schwester Atiya bereits am Tisch. Normalerweise deckte sie montags zusammen mit Fatima und Mona auf und die Jungs, also Nizar, Khalid und Amir, deckten nach dem Essen zusammen ab und wuschen ab. Das wechselte wöchentlich. Nur am Sonntag übernahm Ludger beides.

„Hi“, begrüßte er Atiya. Sie schaute ihn aus müden Augen an. Augen, die für ein gerade mal 14 Jahre alt gewordenes Mädchen auch schon viel zu viel gesehen hatten. Sie sprach nicht viel.

„Wo sind Andere?“, fragte er dann.

Atiya zuckte nur mit den Schultern. Dann hörten sie Schritte auf dem Flur und Sekunden später kamen die anderen durch die Tür. Alle mit betretenen Gesichtern. Bis auf einen. Amir fehlte. Und Ludger schaute ernster als erwartet.

„Amir ist abgehauen“, füllte er das sich andeutende Schweigen.

 Atiya stieß die Luft hörbar durch die Nase aus, ohne, dass Nizar wusste, warum. Es war keine große Überraschung. Amir erzählte schon seit Wochen davon, wie scheiße er das alles hier fand und dass er keine Lust auf die Schule und diese Kack-WG mit Ludger und seinen scheiß Regeln hatte, in der man ihn kontrollierte und einsperrte. Nicht, dass sie hier wirklich eingesperrt waren, aber Amir war einer, an dem immer alles nagte. Ruhelos. Aggressiv. Viele Flüchtlinge waren so. Besonders diejenigen, die nicht nur ihre Habe, sondern auch ihren Glauben und ihre Hoffnung verloren hatten. Eigentlich war es ein Segen, wenn er wirklich weg war. Das Einzige, was Nizar leidtat war, dass Ludger es sich so zu Herzen nehmen würde. Der empfand so etwas als persönliche Niederlage. Genauso, wie, wenn einer von ihnen was klaute oder eine andere Dummheit anstellte. Dabei machte es doch niemand, um ihn zu ärgern. Außer Amir mochten sie Ludger alle. Er war echt okay. Und selbst bei Amir hatte Nizar das Gefühl gehabt, dass er Ludger insgeheim respektierte.

„Amir ist bestimmt schnell wieder hier zurück. Der stellt sich  draußen das einfacher vor, als ist“, sagte Nizar dann.

Die anderen nickten und dann setzten sich alle an den Tisch.  Fatima nahm Amirs Stuhl und schob ihn an die Seite und dann nahm sie seinen Frühstücksteller, das Besteck und den Becher, den er immer benutzte und stellte alles wieder zurück in den Schrank. Jetzt sah es so aus, als würde niemand mehr fehlen.

In so etwas waren sie geübt. Es gab keinen unter ihnen, der in seinem Leben vor der Flucht oder auf der Flucht selber nicht mitbekommen hatte, dass Menschen aus ihrem Umfeld verschwunden waren und nicht mehr wiederkamen. Und so ging man damit um. Man tat so, als wären sie nie dagewesen. Nizar hatte vor kurzem einen Film im Fernsehen geschaut, wo eine Familie das Zimmer ihrer vor Jahren entführten Tochter in genau dem Zustand ließen, in dem es war, als sie noch bei ihnen lebte. Er konnte nicht verstehen, wie man es sich so schwer machen konnte. Wenn jemand weg war, war es am besten den Schmerz zu zu verdrängen. Das machte es am einfachsten. Die wenigen schwachen Momente, wo es einen dann doch erwischte, konnte man aushalten.

Montag, 14.12.2015 – 07:15 Uhr

 

Die Tür zur Jever-Quelle stand  offen und Andreas, der Wirt stand draußen davor und schüttelte die Reste des vergangenen Tages aus dem Schmutzfänger vom Eingang in den ungepflegten Vorgarten aus. Karol war auf dem Weg zum Eingang des Mietshauses, in dem er seit der Trennung von Svetlana ein billiges Ein-Zimmer-Apartment bewohnte.

„Moin Andy!“, begrüßte er den Wirt. Dieser nickte erst nur, deutete aber dann mit dem Kopf in Richtung Kneipe, so als würde er Karol bitten reinzukommen. Karol schaute ihn fragend an, weil er nicht wusste, ob er ihn missverstanden hatte, aber Andy deutete nur erneut auf den Eingang, ohne etwas zu sagen. Diesmal mit der Hand. Karol seufzte und schlängelte sich an Andy vorbei ins Innere der Kneipe. Es war dunkel und roch noch nach dem vergangenen Abend. Säuerliches Bier, der Schweiß von alkoholisierten Männern mit Bierbäuchen und der Gestank, der aus den sanitären Anlagen im Untergeschoss in den Schankraum waberte. Und es war kalt. Das gab dem ganzen Ambiente etwas totes. Am dunkelbraunen Holztresen saß Bendix mit einem Bier auf einem Barhocker. Als er vorhin darüber sinniert hatte, dass er keine Freunde besaß, hatte er Bendix aus diesen Gedanken ausgespart. Aber als Freund konnte er Bendix auch nicht bezeichnen. Eher ein Saufkumpan aus der Zeit nach der Trennung, als Karol eine verdammt schwere Phase hatte. Da hatte er so einige Saufkumpane gehabt und er konnte froh sein, dass er damals nicht auf der Strecke geblieben war. Nur war diese Zeit lange vorbei. Im Gegensatz zu Bendix hatte er seinen Alkoholkonsum wieder auf ein Maß herunterregulieren können, das nicht mehr akut lebensgefährdend war. Er trank bestimmt noch immer zu viel, als dass es gesund sein konnte, aber längst nicht mehr jeden Tag und viel kleinere Mengen als früher. Bei Bendix summierte es sich auf mindestens zwei Flaschen harten Alkohol und unzählige Biere täglich. Und das, obwohl es ihm an nichts fehlte. Außer vielleicht an Sorgen. Einziger Erbe einer wohlhabenden Familie, eine feudale Stadtvilla in  unmittelbarer Nähe der Alster und Geld ohne Ende. Und nichts zu tun. Das war das Übel. Bendix hatte derart viel Geld, dass er nicht arbeiten musste und konnte nichts Anderes mit sich anfangen, als seine Tage in der Jever-Quelle zu verbringen. Dass er hier bereits um kurz nach sieben am Tresen saß, war allerdings sehr ungewöhnlich. Andreas öffnete die Kneipe sonst erst am frühen Nachmittag.

„Moin Bendix, früh auf den Beinen heute?“, begrüßte er ihn.

Bendix hielt sich an einem frisch gezapften Jever fest und schaute ihn aus flackernden Augen an. Karol fiel auf, dass seine Kleidung stark

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Tag der Veröffentlichung: 10.12.2019
ISBN: 978-3-7487-2333-2

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