Cover

Titel

 

Wassertreten

Roman

 

 

 

 

von

Till Jan Hentschel

 

 

 

 

 

 

 

 

Text Copyright (C) 2015 Till Jan Hentschel

Cover: Volker Emm

Lektorat: Sigrid Limbach

Alle Rechte vorbehalten

Prolog

 

Der Tropfen verharrte eine Zeit auf der Stelle, während er langsam aber stetig an Volumen zunahm. Ebenso wie das Volumen, so vergrößerte sich auch der Drang in ihm seinen momentanen Aufenthaltsort zu verlassen. Die Neugier trieb ihn um, dass es irgendwo da draußen mehr geben musste. Etwas, das sich zu entdecken lohnte. So setzte er sich schließlich langsam und mit einer fast würdevollen Trägheit in Bewegung. Erst durchquerte er ein wahres Dickicht von Haaren mit fast dschungelähnlichen Ausmaßen. Dann kämpfte er sich durch eine kleine Senke dicht am rechten Auge vorbei, ehe er mit der Wange eine größere Freifläche vor sich hatte, auf der nur kurze Haarstoppeln seinen Weg kaum merkbar bremsten. Am Kinn hielt er kurz inne und überlegte, ob er den direkten ungeschützten Weg des Fluges hinab wählen oder weiter im Schutze des Körpers langsam hinabgleiten sollte. Er entschied sich nach kurzer Abwägung der Risiken für Zweiteres. Ein Moment des Bangens, dann war die schwierige Etappe vom Kinn bis zum Hals gemeistert und es ging wieder zügiger abwärts. Unter sich spürte er jetzt das sanfte Pulsieren der Halsschlagader, das ihn weiter trieb, bis die Wölbung der Schulter die Geschwindigkeit erneut verminderte. Einen Moment verharrte der Tropfen dort, betrachtete das Panorama der Umgebung, die er, als sie sich in ihm spiegelte, komplett in sich aufnahm. Doch nicht nur er war in Bewegung, sondern auch der Körper, der ihn trug und so führte diese Dynamik dazu, dass er sich langsam wieder in Bewegung setzte. Anfangs führte der Weg ihn seitwärts, ehe er kurz hinter der Achsel wieder die Richtung nach unten einschlug, und schließlich in der leichten Vertiefung, die sich am Oberarm zwischen Tri- und Bizeps fand, weiterreiste. Die Energie des vor- und zurückschwingenden Armes lenkte ihn dann langsam in Richtung Armbeuge. Nach einer unerwartet ruckartigen Armbewegung landete er nun unverhofft auf der Oberseite des Unterarms, wo wieder eine ganze Reihe von feinen Haaren sein Fortkommen verlangsamte. Der Zeitraum, bis er sich schließlich im Adergewirr auf dem Handrücken wiederfand schien dem Tropfen fast unendlich. Dafür traf er dort auf eine Reihe von gleichgesinnten Freunden, die es ebenfalls an diesen Ort verschlagen hatte und die sich nun sammelten, um ein rauschendes Wiedersehensfest zu feiern. Eine plötzliche Aufwärtsbewegung hätte fast den endgültigen Absturz ins Ungewisse zur Folge gehabt, aber geistesgegenwärtig klammerte sich der Tropfen an ein einzelnes, sehr dünnes Haar und ließ sich emportragen, bis der Handrücken kurz die Stirn berührte und den Tropfen wieder an den Ausgangspunkt seiner Reise zurückbrachte. Gestrandet wieder da, wo sein Abenteuer begonnen hatte, aber dafür doch um eine ganze Reihe von Eindrücken reicher.

1. Aus Vic wird Marc

Ich wischte mir mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn. Wahrscheinlich war Wegwischen in diesem Fall ein sachlich falscher Begriff und ich verteilte sie damit nur ein wenig gleichmäßiger, aber das war momentan eine minderwichtige Sorge. Ich war draußen und ging die Straße entlang auf dem Weg zum Einkaufen. Das dünnste T-Shirt, das sich in meinem Kleiderschrank hatte finden lassen, klebte mir am Oberkörper. Meine Shorts klebten mir an den Beinen. Bei jedem Schritt produzierten meine nackten Füße in den Leinenschuhen ein schmatzendes Geräusch. Das Licht der Sonne hatte eine schmerzhafte Helligkeit und es schien mir, als würden die grellen Sonnenstrahlen satanische Verse in mein Hirn sengen und dort, wo sie auftrafen eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. Verbrannte Erde statt blühender Landschaften. Endzeitmetaphorik.

An der Straße, die ich zu überqueren hatte, war vor kurzem ein kleines Stück ausgebessert worden. Der Geruch nach Teer und Schwefel schien noch immer in der Luft zu hängen. Ich setzte meinen linken Fuß vorsichtig auf den Asphalt. Er fühlte sich weich und nachgiebig an, so als müsste man in ihm wie in Treibsand versinken, wenn man sein volles Gewicht darauf verlagerte.

 

Es war noch nicht einmal Mitte Juni und wir hatten bereits eine vierwöchige Hitzeperiode hinter uns, innerhalb derer die Temperaturen selbst nachts kaum mal unter die 30 Grad fielen. Die Hitze ließ mich das Zeitgefühl verlieren und lähmte mich. Mein Tag bestand darin irgendwie die Zeit zwischen Aufstehen und Schlafen gehen zu Überbrücken.

Und aus Warten. Warten auf etwas, von dem ich noch nicht einmal wusste, was es war. Im schlimmsten Fall wartete ich vergeblich. Unschön.

Auf der kleinen Rasenfläche hinter dem Mietshaus, in dem ich wohnte, wanden sich verbrannte Halme qualvoll in der Sonne. Risse durchzogen die trockene Erde. Im Haus nebenan war vor drei Tagen eine allein lebende alte Frau aufgefunden worden, die dort wohl schon zwei Wochen tot in ihrer Wohnung zugebracht hatte. Die Nachbarn hatten sich bereits über den unangenehmen fauligen Geruch im Treppenhaus aufgeregt. Ich war froh, dass ich kein Hausmeister war. Beschissener Job.

Wenn man den Zeitungen Glauben schenken konnte, so gab es momentan eine starke Zunahme von Schlägereien und Vergewaltigungen. Ich fragte mich, woher man bei dieser Hitze die Energie für eine Vergewaltigung nahm. Und warum waren trotz der Hitze, die man schon im Schatten kaum ertragen konnte, die Strände voll. Warum reihten sich an der Nord- und Ostsee die verbrennenden Körper wie die Sardinen in der Dose einer an den Nächsten? Den Zeitungen nach hatten wir einen Jahrhundertfrühling hinter uns mit dem Potential in einen Jahrtausendsommer überzugehen. Für die 'Bild' waren es 'geile heiße Tage' und die 'taz' spekulierte über einen Zusammenhang der Hitzewelle mit dem Treibhauseffekt. Ich fand es in erster Linie ungerecht, dass ich mit meinen Beiträgen für die Krankenversicherung irgendwann die ganzen Hautkrebsspätfolgen bezahlen musste. Und scheiße. Aus Prinzip.

 

Mein Name ist Marc-Victor. Eigentlich nur Marc. Früher hieß ich mal Vic, aber ist war unendlich lange her. Marc war ich seit 1987. Da war ich noch in der Schule und es war auch Sommer gewesen. Ein Sommer, wie man ihn als dreizehnjähriger Junge erlebt. Meist war ich früher im Sommer mit meinen Eltern in den Süden geflogen. Nicht die ganzen sechs Wochen, aber zumindest für die Hälfte der Zeit. In diesem Jahr war es anders gewesen. Im Frühjahr war mein Vater arbeitslos geworden. Nach zwanzig Jahren in der gleichen Firma. 1987 war so etwas noch eine Tragödie. Es gab damals noch die Deutschland AG und seinen Job hatte man, um daraus irgendwann in Rente zu gehen und nicht, um alle drei Jahre den Arbeitgeber zu wechseln, weil es im Lebenslauf besser aussah. Damals war alles noch besser gewesen.

Er kam eines abends nach Hause, stellte seine Aktentasche wie üblich neben die Garderobe und sagte: „die Schweine haben mich gefeuert.“

Er sagte es nicht etwa zornig, nicht verzweifelt oder mit vor Enttäuschung bebender Stimme. Er sagte es fast völlig ohne Emotion mit nur einem sehr untergründigen Unterton von Unverständnis. Es war stimmig so. Mein Vater war kein Mensch, der sein Herz auf der Zunge trug. Er war auch nicht in strengem Sinne verschlossen, denn wenn man ihn nach persönlichen Dingen fragte, so erzählte er bereitwillig und legte auch gerne die Beweggründe offen, die für dieses oder jenes Handeln bei ihm verantwortlich waren, aber er wollte gefragt werden. Oder er fand einfach, dass es doch alles ohnehin für sich sprach und ein jeder erkennen konnte, weshalb er etwas tat. Vielleicht sollte ich ihn irgendwann einmal danach fragen, was er damals bei seinem Jobverlust wirklich empfunden hatte. So lange ich noch die Möglichkeit dazu hatte. Man nahm Eltern immer als etwas selbstverständliches wahr. Sie gaben einem Sicherheit, waren da, wenn man Probleme hatte und bildeten den sicheren Hafen im stürmischen Leben. Bis man irgendwann feststellte, dass sie alt wurden und man langsam aber sicher die Rollen tauschte. 1987 war mein Vater noch alles andere als alt. Eher in der Blüte seiner Jahre.

Nach diesem kurzen Ausbruch ging er zum Kühlschrank, nahm sich ein Bier, setzte sich ins Wohnzimmer an den Couchtisch, öffnete die Flasche und leerte sie in einem Zug. Ich schaute herein, blieb im Türrahmen stehen und wusste nicht so recht, wie ich mit der Situation umgehen sollte. Er saß einfach nur da, schüttelte den Kopf und starrte in die Gegend. Dann erhob er sich, ging mich ignorierend wieder in die Küche und holte sich ein weiteres Bier. Der Vorgang wiederholte sich noch so einige Male an diesem Abend. Meine Mutter war währenddessen in der Küche zu Gange und kochte Essen.

Am nächsten Tag hatte er sich wieder gefangen. Die folgenden drei Monate, die er zu Hause verbrachte, bis er wieder einen Job hatte, waren nicht schlecht. Es war das erste Mal, dass ich meinen Vater wirklich im Alltag erlebte und ich weiß bis heute nicht, ob ihn die Situation wirklich nicht mitnahm oder ob er ein begnadeter Schauspieler war und es sich nicht anmerken ließ. Für mich war es klasse. Zum ersten Mal konnte ich dem Einkaufen gehen etwas abgewinnen, weil wir bei Allkauf lange Zwischenstopps in der Elektronikabteilung einlegten. Meine Englischnoten verbesserten sich nachhaltig, weil wir uns eine Zeitlang nur auf Englisch unterhielten. Nachmittags, als es wärmer wurde, fuhren wir häufig an den Elbstrand, schauten uns leicht bekleidete Frauen an und unterhielten uns über Männersachen. Das Einzige, was für mich als unerfreuliche Konsequenz merkbar war, war eben die Reise in den Sommerferien, die in diesem Jahr ausfiel.

Es war also 1987 und Sommer und statt im Süden frühpubertierend jungen Mädchen nachzustellen, saß ich zu Hause. Glücklicherweise war auch Jo da. Das war sogar fast besser als Malle. Und Jo war nicht nur auch da, er hatte sogar gerade als Erster von meinen Freunden einen eigenen Videorekorder bekommen und wir erlebten verwundert die neue Freiheit unabhängig vom Fernsehprogramm zu kucken was und wann man wollte. Jo hatte 'La Boum' aufgenommen als er zum ersten Mal im Fernsehen lief. Ich war 13 und ich verliebte mich auf der Stelle in Sophie Marceau. Mein Engel. Ich träumte von ihr. Ich schrieb ihr sogar mal mit meinem Schulfranzösisch einen Liebesbrief, aber er wurde nie beantwortet. Vielleicht fehlte es mir nach einem Jahr Sprachunterricht noch an der nötigen rhetorischen Brillianz. Es wäre ansonsten womöglich alles ganz anders gekommen.

Ihr Gesicht hatte ich vor Augen, als ich meinen ersten feuchten Traum hatte. Meine ersten Wichserfahrungen sammelte ich mit einem Bravo-Poster von ihr. Sophie war das letzte Mädchen, bei dem es reichte ihren Kopf zu sehen um zu kommen. Nicht einmal Spritzspuren konnten ihrem perfekten milchweißen Teint etwas anhaben. Damals als dem Akt der Masturbation noch etwas ganz besonderes anhaftete. Ein achtes Weltwunder, das ich selbst entdeckt hatte und nur für mich alleine besaß. Noch nicht in dem Bewusstsein dieses Gefühl beliebig reproduzieren zu können.

Den bewussten Brief, den ich ihr geschickt hatte, hätte ich unmöglich mit ‚Vic’ unterschreiben können, schließlich hieß sie ja im Film genauso und so wurde ich Marc. Es war einfacher als ich dachte. Später fand ich raus, dass sie in einem späteren Film mit ihrem Filmvater aus 'La Boum' verheiratet war. Das war fast inzestuös, ein Skandal sozusagen. Es traf mich in dem Moment bis ins Mark und warf einen nachhaltigen Schatten auf unsere Beziehung. Ich verzichtete aber darauf mich wieder umzubenennen, da ich mich mittlerweile an den neuen Namen gewöhnt hatte.

 

In der Schule war ich ein guter aber unauffälliger Schüler. Unauffällig war ich in meinem ganzen Leben gewesen. Ein bisschen kritisch, ein bisschen rebellisch, ein bisschen anders aber nie in einem Maße, dass ich wirklich herausstach. Ich kokettierte manchmal ein wenig mit meiner Unauffälligkeit, aber selbst darin blieb ich blass und einfallslos. Ich war nicht der Erste, der ein Mädchen küsste, aber auch nicht der Letzte. Meine erste Freundin hieß Simone, ging in die Klasse unter uns und wir knutschten ab und zu etwas miteinander rum. Meinen ersten Vollrausch hatte ich mit 16 auf einer Skireise. Da hatte ich dann auch das erste Mal Sex, konnte mich aber wegen des Vollrausches weder daran erinnern mit wem genau noch wie es war. Angesichts der Begleitumstände war es wohl trotzdem vergleichsweise unspektakulär gewesen. Jo behauptete, ich wäre mit der dicken Lisa, die schon Anfang Zwanzig war in der Kiste gewesen, aber er verarschte mich damit bestimmt. Blöd, dass ich diesen Filmriss hatte und am nächsten Morgen nur das benutzte Kondom und der unverkennbare Geruch meiner Hand als Indizien geblieben waren.

Nach der Schule hatte ich erst meinen Zivildienst absolviert und dann unauffälligerweise – so wie alle - angefangen Betriebswirtschaftslehre zu studieren. Die Planung bestand darin, zügig als Diplom Kaufmann abzuschließen, einen soliden Job zu finden, ein bisschen Karriere zu machen und dann vielleicht ein bisschen eine Familie zu gründen und so weiter. Es war alles super. Meine Eltern hatten mir nach dem Abi ein Auto geschenkt, besorgten mir nach dem Zivildienst eine kleine Wohnung in Barmbek und ich genoss die ersten Tage in meiner neuen Freiheit. Und trotz der ganzen Unauffälligkeitskacke war ich natürlich irgendwie der Ansicht, die Welt würde nur auf mich warten und ich wäre der absolute Held. Das Undercovergenie, das im rechten Moment aus dem Schatten tritt mit der Lösung aller Probleme unserer Zivilisation. Das Geheimrezept gegen Krebs, Aids und für den Weltfrieden und die Lösung der Hungersnöte in Afrika im Handgepäck. Derjenige, der die Blinden sehen, die Tauben hören und die Lahmen wieder Höchstleistungen beim Marathon erbringen lässt. Und das Ganze ohne Anflug eigenen Antriebs. Einfach so. Lässig aus der Hüfte. Geil. Postpubertäre Allmachtsfantasien. Gedanken, die ich vorzugsweise nachts vor dem Einschlafen hatte und die mir ein überlegenes Lächeln auf die Lippen zauberten.

Und dann der Realitätsaufprall. Vorher war ich unauffällig im Mikrokosmos meiner Altersstufe an der Schule mitgeschwommen. Es war eine bunte Ansammlung von Individualisten gewesen. Jetzt fand ich mich in einem Meer der Konformisten wieder und drohte zu ertrinken. Wo waren plötzlich die Ausreißer, die Nonkonformisten, die das Leben interessant machten? Die Ruhestörer und Randalierer, die gegen den Strom schwammen? Stattdessen traf ich auf gesichts- und geschmacklosen Akademikernachwuchs von der Stange. Versammelte junge Männer und Frauen ohne Eigenschaften. Stupide Buchseiten-auswendig-lern-Roboter, die mich in meiner Paradedisziplin, dem unauffälligen in der Masse Untergehen völlig deklassierten und mir im Wettbewerb um den Titel des Oberkonformisten keine Chance ließen. Ich blieb nicht nur blass, ich blieb auch lässig weiter im Schatten. Es ödete mich tödlich an. Wo waren die kritischen Köpfe? Die Guten? Wie sollte die Zukunft unserer Welt angesichts dieses Trauerspiels aussehen? Es wurde von Tag zu Tag, von Woche zu Woche schlimmer und die Betriebswirtschaftslehre bildete erst den Anfang meiner akademischen Odyssee. Ich zog die Notbremse und wechselte den Studiengang. Politik und Germanistik auf Lehramt. Politik hatte ich eigentlich von Beginn an lieber studieren wollen, hatte mich aber aus Vernunftgründen dagegen entschieden, weil ich zu unkreativ war, um mir auszumalen, wie man damit seinen Lebensunterhalt bestreiten sollte. Und zu feige, um es zu studieren, ohne dass ich exakt wusste, was ich damit danach im Detail anstellen konnte. Lehrer werden war der faule Kompromiss. Fächer studieren, die man mochte, aber kein echtes Risiko eingehen, weil man dann doch den sicheren Staatsdienst mit einem festen Berufsbild ansteuerte. Trotzdem hoffte ich irgendwo tief in mir, dass ich dort endlich das finden würde, was ich an der Universität suchte. Leider wurde es nicht viel besser. Meine neuen Kommilitonen trugen statt Sakko und Krawatten Tigerentenschlüsselanhänger und rauchten selbstgedrehte Zigaretten, waren in ihrer bunteren Vielfalt aber nicht weniger konformistisch und ähnlich beschränkt wie die Betriebswirte. Ich fragte mich, ob das eigentlich auch auf der Schule schon so gewesen und mir einfach nur nie so aufgefallen war. Nach einigen frustrierenden Semestern, in denen ich mich weigerte mir einzugestehen, dass ich mir bei der Wahl des Studienganges schon wieder einen veritablen Fehlgriff geleistet hatte, zog ich zum zweiten Mal die Notbremse. In einem Anfall exorzistischen Übermuts verbrannte ich Rousseau's 'Emile' und das 'Pädagogische Grundwissen' von Herbert Gudjons rituell, nachdem ich es mit einer Unzahl von Pentagrammen verziert hatte und fühlte mich kurzzeitig wirklich besser. Eines hatten meine bisherigen studentischen Misserfolge zumindest vollbracht. Ein unklares Berufsbild konnte mich mittlerweile nicht mehr schrecken. So fing ich an schließlich doch Politik im Hauptfach zu studieren und hörte größtenteils auf mir über meine Mitstudenten Gedanken zu machen. Kurze Zeit beging ich noch den Fehler mich politisch engagieren zu wollen, aber das verging auch. Ein kleines Rädchen im Moloch Universität. Ich vollzog den Schritt weg vom Konformisten und hin zum rebellierenden Nicht-Rebellen unter Rebellen, die einem in Missachtung ihres eigenen Konformismus mangelnden Willen zur gesellschaftlichen Veränderung unterstellten und nicht sahen, dass sie selber ein Bestandteil zur Stabilisierung der gesellschaftlichen Zustände darstellten. Und die äußerst ärgerlich und uneinsichtig wurden, wenn man sich anschickte ihnen ihre Rolle im System zu verdeutlichen. Irgendwann fingen sie dann an einen mit Schimpfwörtern zu titulieren und fortan zu ignorieren. Ich fands lustig. Und vielleicht würde ich irgendwann sogar einmal fertig studiert haben.

Zum Glück hatte ich auch ein Leben abseits der Universität, dass mich davor bewahrte komplett durchzudrehen. Ich hatte ein paar Freunde aus Schulzeiten nach, mit denen ich mich sporadisch mal traf und es gab auch immer mal wieder Kommilitonen, mit denen man sich auf einen Abend am Elbstrand zum Grillen und Saufen treffen konnte. In jedem Seminar an der Universität gab es noch den einen oder anderen Outcast wie mich. Jemanden, der ähnlich desillusioniert vom Studium war. Nach spätestens zwei bis drei Sitzungen hatte man sich immer gefunden, nachdem man etwa die Hälfte der restlichen Anwesenden erfolgreich gegen sich aufgebracht oder es gelassen hatte. Und von Zeit zu Zeit ergab sich auf schlechten Uni-Parties auch mal die Möglichkeit eine betrunkene Germanistin abzugreifen und flachzulegen.

 

Irgendwie half mir das eine ganze Weile über die Runden. Zeitweise dachte ich sogar, mein Leben wäre echt Okay. Auch in diesem Jahr ging es wieder eine Weile lang gut. Zumindest solange ich keine Zeit hatte mir mal wirklich über meine Situation Gedanken zu machen und in Bewegung blieb. Bewegung. Das Stichwort. Am Anfang des Sommers konnte ich mich noch in Bewegung halten und die ersten warmen Tage nach dem kalten, regnerischen und ungemütlichen Winterhalbjahr genießen. Strandperle. Grillen am Alten Schweden. Milena oder Malena auf der Party zum Semesterende. Ich konnte mich zwar nicht an ihren genauen Namen erinnern, aber sie roch gut. Und war keine Germanistin, sondern Juristin. Alles lief nach Plan. Als es warm blieb und die Temperaturen weiter zunahmen, war auch noch alles toll. Ich fing sogar eine Strichliste an, wie viele Tage es tagsüber nicht mehr unter dreißig Grad fiel und fand das die erste Woche total geil. Doch dann kippte meine Stimmung und die Euphorie verflog. Es wurde nämlich auch nachts einfach nicht mehr kühler. Die Wärme wurde für mich erst gewöhnlich, dann lästig und schließlich fast unerträglich.

Es waren Semesterferien, ich saß tagsüber in meiner 32°C warmen Wohnung, schwitzte mich halb tot, obwohl ich meine Kleidung auf ein Paar weite Boxershorts beschränkte und war außer Stande einen einzelnen klaren Gedanken zu fassen. Und ich war schon gar nicht in der Lage in Bewegung zu bleiben. Der einzig klare Gedanke, zu dem ich fähig war, lautete, dass dieses Jahr definitiv nicht gerade mein Jahr werden würde. Diese Erkenntnis war nicht neu und ich hatte sie in diesem Jahr nicht zum ersten Mal, aber bisher hatte ich sie immer wieder recht schnell verdrängen können. Und manchmal funktionierten sogar die Allmachtsfantasien mit der Weltenrettung kurz vor dem Einschlafen nochmal und es ging mir sogar richtig gut. So schlimm war es schließlich auch nicht. Es war eben nur ein weiteres Jahr in einer Reihe von Jahren, die alle nicht meine gewesen waren. Punkt.

Strenggenommen konnte ich in meiner Erinnerung kramen soviel ich wollte – 'Mein Jahr' hatte es bisher nicht gegeben. Einerseits schürte dies die Hoffnung darauf, dass ich nicht wie so viele andere das Beste schon hinter mir hatte. Andererseits ... Was war, wenn doch? Ein Gedanke, der mir die Panik in den Kopf und Tränen in die Augen steigen ließ. Über eines gab es allerdings wirklich Gewissheit. In der Top 10 der am wenigsten nicht mein Jahr gewesenen Jahre war dieses Jahr bisher nicht vertreten und angesichts des bisherigen Laufes würde es sich noch mächtig anstrengen müssen, um daran etwas zu ändern. Die Bilanz der letzten Monate war nichts anderes als äußerst ernüchternd.

Es mochte auch sein, dass es mir nur deshalb so besonders auffiel, weil sich dieses Jahr mit der zwei vorneweg und den drei Nullen dahinter schon rein optisch von den vergangenen Jahren unterschied. Scheißegal, ob die mathematische Jahrtausendwende erst anstand oder nicht, diese Zahl sah zumindest verdammt einschneidend aus. Zeit für eine Zwischenbilanz, die wenig ermutigend ausfiel.

In diesem Jahr war ich im April sechsundzwanzig Jahre alt geworden. Ich studierte seit fast sechs Jahren. Ich trat auf der Stelle. Ich verfluchte den Moment an dem ich mich entschlossen hatte zu studieren. Es lag noch nicht einmal am Geld. Geld hatte ich ausreichend. Meine Eltern überwiesen regelmäßig. Für einen Studenten war ich geradezu reich. Ich konnte mir leisten mittags im Arkadasch oder im Abaton Bistro zu essen, statt mit dem normalen Studentenpöbel zusammen eingepfercht in der Mensa. Das hatte dazu auch noch den Vorteil, dass die Studentendichte da etwas geringer war. Und ich brauchte abends beim Weggehen weder auf den Eintritt noch auf Getränkepreise besonders achten. Dazu hatte ich von Zeit zu Zeit auch noch akzeptable Nebenjobs.

Aber mir fehlte die Perspektive. Mein derzeitiger Lebensstandard mochte für sechsundzwanzig noch überdurchschnittlich gut sein. Für sechsunddreißig würde er jedoch unerquicklich und äußerst unbefriedigend sein. Mit sechsundvierzig wäre es ein Grund für sofortigen Suizid. Ansprüche stagnierten selten. Dies unterschied sie vom Fortgang meines Studiums und von meinem Leben im allgemeinen. Und dazu jetzt auch noch diese Hitze.

Es hätte mir Trost spenden können, dass ich mit meinem Leid nicht allein war, denn was die Perspektive anging, so war ich beileibe kein Einzelfall. Meinen Freunden ging es ähnlich. Gleiche Alterskohorte, gleicher Stadtteil, gleiche Schule, gleiche Stufe. Alle 26 Jahre alt. Lemony, Stevie, Nico, Jo und Lena. Nur Phil war ein Jahr älter, aber Phil war ohnehin anders.

Wir waren alle unter weitestgehend gleichen Sozialisationsbedingungen aufgewachsen – wie sollte es da auch anders sein. Vielleicht war da irgendetwas fundamental schiefgelaufen. Giftstoffe im Boden? Erdstrahlen bei uns im Viertel? Es hätte auch ein Generationenproblem sein können, aber es gab doch Beispiele von Menschen meines Alters, die es zu schaffen schienen. Nicht jeder trat auf der Stelle. Oder zumindest trat nicht jeder auf der Stelle, auf der wir gelandet waren. Das Rennen unseres Lebens. Wir standen noch immer am Anfang der Rennstrecke im großen Oval des Stadions, aber die Arena war längst leer, weil das Rennen bereits vor zwei Stunden beendet worden war. Nur wir standen noch da, verharrten in den Startblöcken. Vielleicht hatten wir bei aller Aufregung nur den Startschuss überhört? Oder eine böse Hexe hatte uns einfach in steinerne Skulpturen verwandelt.

2. Ein Selbstfindungsvertrag für Marc

Am siebten Juli war es drei Tage her, dass ich das letzte Mal geschlafen hatte. In den vergangenen Nächten hatte ich nur dagelegen, die Decke angestarrt und die erstaunlichsten Sendungen im Nachtprogramm gesehen. Es hatte mich abgesehen von der Langeweile nicht mehr mitgenommen als die Tage davor auch, aber jede einzelne dieser für sich noch erträglichen Nächte minderte meine Verfassung um ein weiteres kleines bisschen. Mit jeder Nacht erodierte der Wille ein wenig, noch weiter gegen den Wahnsinn anzukämpfen und in der vergangenen Nacht wurde eine Schwelle überschritten. Die ganze letzte Nacht hatte ich nämlich herauszufinden versucht, was mit mir nicht stimmte und wie es weitergehen sollte. Ich war angefangener Pädagoge und Sozialwissenschaftler, also verfügte ich über das nötige Instrumentarium alles, aber auch wirklich alles über mich herauszufinden. Angefangen mit einem Brainstorming, hatte es in einer Mindmap kulminiert, in deren Mitte ‚Satan’ stand und deren Sonnenstrahlen von allerlei abstrusen Sexpraktiken, Foltermethoden, Namen von Drogen und psychischen Krankheiten geziert wurden. Am Ende zerriss ich die Mindmap und versuchte auszurechnen wie oft ich sie durchreißen musste, wenn ich die Hälften nach dem Reißen jeweils wieder übereinander legte, bis die Anzahl der Papierfetzen sechs-stellig wurde. Sechs Mal die Sechs. Satanisches Konfetti. Inferno Alaaf.

Retrospektiv betrachtet hätte ich mir für meine Überlegungen einen passenderen Zeitpunkt auswählen sollen. Vielleicht einen Zeitpunkt, an dem ich ausgeschlafen, ausgeglichen und im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte gewesen wäre. Ich war jedenfalls zu keinem vernünftigen Ergebnis gekommen und verzweifelte. Ich musste mich doch irgendwie dazu zwingen können zu mir selbst zu finden. Nicht länger vor der Realität davonlaufen. Das war mit die einzige gesicherte Erkenntnis. Ich lief davon. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, aber das Thema Davonlaufen war nicht wegzudiskutieren. Der Gedanke kam mir, dass ich mich von all dem losmachen sollte, was mich an klaren Gedanken hinderte und was mich davon ablenkte endlich zu mir selber zu finden. Um der Mensch zu werden, der seinem Potential endlich gerecht wurde, musste ich herausfinden, was mein Potential wirklich war. In mir begann sich ein Konzept zu formieren. Erst waren es nur schemenhafte Umrisse, aber die Konturen verfestigten sich und wurden klarer. Ein Weg erschien vor meinen Augen. Der Weg zum Ziel. Kein Sex, keine Musik, kein Malen, kein Schreiben, nur das nötigste essen, keine Drogen, kein Studium. Am besten wäre es wahrscheinlich gewesen irgendwo hinzufahren, mich in einen dunklen, kühlen Raum, absolut schalldicht einzusperren und nicht eher wieder ins Licht nach Draußen zu kommen, als bis ich wusste, was ich wirklich im Leben wollte. Wahrscheinlich hätte ich dabei nur eher den Verstand verloren als mich selber gefunden. Ein paar wohldosierte Abstriche konnten so gesehen nicht schaden.

Ich redete mir die Abstriche schön, indem ich mir sagte, der Wille wäre entscheidend für den Erfolg. Entscheidender noch als die Konsequenz. Weniger Dogma, mehr Pragmatismus. Ich fühlte mich ohnehin immer als den Inbegriff des Pragmatismus. Pragmatismus gut. Dogmatismus böse. Plus, Minus, super. Zumal heute ohnehin schon die erste Ablenkung anstand. Ich hatte ein Date mit Lemony und dieses konnte ich unmöglich absagen.

Aufschieben wollte ich meinen Plan dafür allerdings auch nicht. Ich beschloss mich also auf ein paar Essentials zu konzentrieren und schrieb sie auf die Rückseite eines Flipchartblatts, das noch von der Vorbereitung eines Referates bei mir rumlag.

Marcs Selbstfindungsvertrag:

Ich werde nicht vögeln

Ich werde nicht masturbieren

Ich werde keine gute Musik hören

Ich werde keine interessanten Filme sehen

Ich werde keine Drogen nehmen

Ich werde keine leckeren Dinge essen

Ich werde nichts interessantes, ablenkendes lesen


Und dann mal sehen. Es durchflute mich fast so etwas wie angespannte Erregung. Ich hatte ein Ziel vor Augen.

3. Ein Mädchen namens Lemony

 Ihr voller Name war Lemony Parker Drye Himmler. In den späten 60ern hatte es Lemonys Eltern in die Staaten verschlagen, in eine Hippiekommune irgendwo im Süden. Wie genau sie auf diese Kombination von Namen gekommen waren, darüber ließen sie sich auch auf gutes zureden hin nicht aus. Wahrscheinlich war es in Wirklichkeit völlig unspektakulär und langweilig. Oder sie wussten es einfach nicht mehr und es war ihnen peinlich zuzugeben, dass die Idee einer Laune entsprungen war, während sie gerade high waren. Über ihren Nachnamen redeten sie dafür umso mehr. Sie haben ihn immer irgendwie als Verpflichtung verstanden - und gleichzeitig als Fluch. Als verfluchte Verpflichtung eben.

Lemony wuchs die ersten vier Jahre ihres Lebens in besagter Kommune auf, ehe ihre Eltern mehr oder weniger gegen ihren Willen zurück nach Deutschland kamen. Viele Erinnerungen hatte sie daran nicht. Sie hatte mal etwas von Bildern einer Scheune, eines Wasserturms, von komischen Menschen mit langen Haaren und dem Geruch von Gras erzählt und von der Hitze, aber das hätte sie auch aus irgendeiner Reportage über das Hippietum in den späten 60ern und frühen 70ern aufschnappen können. An weiteres konnte sie sich zumindest auf Nachfrage hin nicht erinnern. Vielleicht wusste sie auch noch mehr und wollte darüber einfach nichts erzählen. Freie Liebe, Drogen und so weiter. Wenig wahrscheinlich. Alles in allem reichte es nicht ganz dazu aus, dass ich sie beneidet hätte.

 

Wir hatten uns im Kindergarten kennen gelernt, wo sie ein kleines dickes Mädchen in einem selbst für die damalige Zeit unmöglichen Badeanzug war, die sehr komisch deutsch sprach und über das wir uns ständig lustig machten. Eine der beliebten Spekulationen war immer, ob noch Wasser in unserem Planschbecken verbleiben würde, wenn sie hineinsprang. Sie hatte dann meist irgendwann zu Heulen begonnen und sich in die Arme der Kindergärtnerin geflüchtet.

Richtig wahrgenommen als Lemony hatte ich sie erst in der sechsten Klasse. Neues Setting, aber ansonsten tat sich recht wenig. Irgendein Mitschüler hatte wohl ein Gespräch seiner Eltern gehört, in dem sie sich über den Nachnamen ‚Himmler’ mokiert hatten. Sie hatten gesagt, da könne man auch gleich ‚Hitler' heißen. Das war bei uns etwas verkürzt angekommen als ‚eigentlich heißt sie Hitler’, und so hatten wir sie dann auch genannt. Eine vage Vorstellung davon, was sich hinter diesem Namen verbarg, hatten wir damals bereits.

„Hitler du fettes Tier, wie viele Juden hast du gestern wieder vergast?“, gehörte zu den Sprüchen, die

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Lektorat: Sigrid Limbach
Tag der Veröffentlichung: 16.11.2015
ISBN: 978-3-7396-2363-4

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