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Titel

 

 

 

Jan Sidanou:

Der Hurenkiller von St. Pauli

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

von

Van Maddox

Text Copyright (C) 2014, 2015 Van Maddox

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Sigrid Limbach

Cover: Volker Emm

 

 

Glossar

Comp-Card/Sed-Card: Eine Art Exposé im A5-Format, mit dem sich Models für Jobs bewerben. Enthält Rahmendaten und Beispielfotos.

Graham Bell – Erfinder, der das Telefon zur Marktreife für den Masseneinsatz weiterentwickelte und die Firma gründete, aus der später AT&T wurde.

Hamburger Berg – Seitenstraße der Reeperbahn mit Bars, die sich mehrheitlich durch günstige Getränkepreise auszeichnen.

NWO – Abkürzung für 'New World Order'. Viele Verschwörungstheorien basieren darauf, dass angebliche Geheimgesellschaften als Ziel haben, die Geschicke der Welt zu kontrollieren.

Police Squad – Sitcom mit Leslie Nielsen in der Hauptrolle, die später in den 'Nackte Kanone'-Filmen mehrere Fortsetzungen auf Kinolänge erhielt.

Trevilor – Antidepressivum aus der Gruppe der SNRI (Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer). Wird bei verschiedenen psychischen Erkrankungen im Zusammenhang mit der Therapie von Depressionen eingesetzt.

 

 

Personen

Dave Elborg: Ehemaliger Vormund von Jan Sidanou und Geschäftsführer von Sidanou-Shipping, einer Reederei, die einst Jans Vater aufgebaut hatte. Gleichzeitig ist er Leiter des Damnets, eines weltweiten Netzwerkes, dass sich den Schutz der Menschheit vor Dämonen zur Aufgabe gemacht hat und bereits seit dem frühen Mittelalter existiert. Darüberhinaus hat Dave selber übernatürliche Fähigkeiten.

Debbie van Leeuwen: Rechte Hand von Dave im Damnet. Seitdem Jan und Elodie aus Haiti nach Hamburg zurückgekehrt sind, hat sie ein Auge auf die Beiden und kümmert sich darum, dass Jan die ersten Gehversuche mit seinen neu erworbenen Fähigkeiten überlebt.

Elodie: Haitianische Mambo der Dengueh-Sekte, eines Kultes, der schwarze Voodoo-Magie verherrlicht und Oncle Sambona, einen abtrünnigen Loa auf die Erde zurückholen wollte, der in einer Zwischendimension gefangen war. Die Beschwörung wurde von Jan im ersten Band verhindert. Seitdem ist sein Schicksal an das von Elodie gekoppelt, ohne, dass beide genau wissen, was dies für Folgen hat. Elodie musste mit Jan aus Haiti fliehen, da sie durch die Misslungene Beschwörung bei ihrer Sekte in Ungnade gefallen war. 

Genevieve: Stewardess der Air France, die Jan auf dem Flug nach Haiti kennengelernt hat und mit der er eine Affäre anfing. Es ist noch nicht klar, was daraus wird.

Jürgen Stiegner: Hauptkommissar bei der Hamburger Kriminalpolizei im Bereich deliktorientierte Ermittlung. Primär ist er im Bereich Kapitalverbrechen eingesetzt, ermittelte im Rahmen einer Urlaubsvertretung allerdings in einem Vergewaltigungsfall. In diesem Zusammenhang wurde Jan temporär von ihm festgenommen.

Eins

Die Ampel sprang auf grün und ein beachtlicher Tross Menschen setzte sich in Bewegung. Es war ein warmer Dienstagabend im Spätsommer und trotz der späten Stunde konnte man es noch locker im T-Shirt draußen aushalten ohne eine Erkältung zu riskieren.

Daniela brachte durch einen Ruck im Oberkörper ihre üppigen Brüste in Position und schaute prüfend an sich herab. Zu ihren weißen, hochgeschnürten Lack-High Heels trug sie ein hellgrünes Stretchkleid, dessen Oberkante so tief abschloss, dass man die weißen Spitzen ihres Büstenhalters sehen konnte. Sie machte sich keine Illusionen. Es war billig – aber es verfehlte seine Wirkung nicht.

Sie schaute hinüber zur anderen Straßenseite, wo die ungeduldigsten Fußgänger bereits die ersten Schritte auf den Asphalt gemacht hatten. Im Hintergrund leuchteten die Lichter der Bars und Kneipen, die den Spielbudenplatz säumten und wie Perlen an einer Kette aufgereiht standen die Polizeiwagen vor der Davidwache.

Danielas Blicke rasterten die Menschen, die ihr entgegen kamen, kurz ab. Zwei junge Männer Anfang dreißig in bunten Windbreakern, denen die Bezeichnung Tourist förmlich in die Visagen geschrieben stand. Sie gafften die Damen, die sich vor der Filiale des Fast-Food-Giganten aufgereiht hatten, derart unverhohlen an, dass man vermuten konnte, das Konzept käuflicher Liebe wäre etwas völlig neues für sie. Danielas Erfahrung nach waren dies definitiv keine potentiellen Freier.

Dann kam noch eine weitere kleinere Gruppe von Männern, alle Anfang 20, die auf dem Weg zur ersten Station des Abends waren, um irgendwo auf dem Hamburger Berg mit viel Bier und dem einen oder anderen Mexikaner vorzuglühen.

Auch hier war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nichts zu holen. Keiner von denen wäre ohne ausreichenden Alkoholpegel bereit, jetzt schon mit einer Hure mitzugehen. Erst recht nicht, wenn noch offen war, ob man am Abend noch eine andere Frau abschleppen konnte und so kostengünstiger zum Schuss kam.

Im besten Fall verirrte sich einer von ihnen später nochmal hierher, wenn er auch beim sogenannten Resteficken auf dem Berg nicht fündig geworden war. Die sturzbetrunkenen erfolglosen Abschlepper waren nicht die angenehmste Sorte Freier, aber mitunter ließen sie sich zu einer käuflichen Nummer bequatschen. Geld war Geld. Aber für solche Gedankenspiele war es jetzt definitiv noch zu früh.

Kurz hinter den feierwütigen Männern gingen zwei Pärchen, die offensichtlich zusammengehörten. Die Herren warfen den Huren verstohlene Blicke zu und die Damen schienen darüber peinlich berührt zu sein. Ebenfalls keine potentielle Kundschaft.

Es kam zwar durchaus mal vor, dass sie ein Pärchen abbekam, aber das war eine ganz andere Klientel. Der Kleidung nach kamen diese Vier gerade aus dem Operettenhaus und waren nach dem Phantom der Oper auf dem Weg zu ihrem Auto. Mit Sicherheit verfluchten die Damen ihre Begleitung dafür, dass sie nicht das Parkhaus unter dem Spielbudenplatz genutzt hatten, sondern, um Kosten zu sparen, in irgendeiner Seitenstraße vom Kiez standen. Vielleicht hatten sie Glück und kein Junkie hatte ihnen auf der Suche nach Wertsachen die Seitenscheiben eingeschlagen.

Neben ihnen ging ein sehr zielstrebiger Mann in einem engen weißen T-Shirt, das seine üppigen Muskeln mehr zur Schau stellte als verbarg. Für sie gab es keinen Zweifel. Gang, Gestik und Bewegungsablauf verrieten eindeutig, dass er schwul war.

Schließlich gab es noch einen einzelnen weiteren Mann, dessen Gehgeschwindigkeit etwas geringer war als die der Menge, und der die Damen auf ihrer Straßenseite aufmerksam betrachtete. Treffer. Das war ihrer. Unscheinbares Gesicht. Er trug trotz der Wärme einen schwarzen Lederblouson mit hochgeschlagenem Kragen und darunter ein helles Shirt. Saubere Bluejeans mit eher klassischem Schnitt und ohne die heftigeren Stonewash-Effekte, die man momentan häufiger trug. Vom Alter her mochte er Anfang bis Mitte dreißig sein. Jemand, dem man unterstellen konnte, dass er in der Lage war eine kurzfristige Kaufentscheidung zu treffen.

Als letzte der vier Kolleginnen stieß sich Daniela mit dem rechten Fuß von der Wand ab, gegen die sie sich bisher gelehnt hatte und ging auf Abfangkurs zu ihrem potentiellen Freier. Sie marschierte nicht direkt auf ihn zu. Einerseits, um nicht die Aufmerksamkeit ihrer Kolleginnen auf ihn zu richten, die bereits unterwegs zu potentiellen anderen Kunden waren, und andererseits, um ihn nicht zu verschrecken.

Ein kurzer Blick zur Seite. Helia und Ewa waren dabei die beiden Touristen in ihren bunten Windbreakern anzusteuern. Die beiden lernten nie aus. Janice hatte sich gerade bei dem Schwulen eingehakt, dessen Widerwillen man ihm schon Meilen vorher ansehen konnte. Damit war jegliche Konkurrenz um die einzig sinnvolle Beute ausgeschlossen.

„Na du, heute schon was vor?“, sprach sie ihren potentiellen Freier an, ehe sie sich bei ihm einhakte.

Sie achtete bewusst darauf sich nicht an seinen Arm zu klammern, sondern dem Ganzen etwas unverbindliches, nettes zu geben. Nicht die übliche Abzocknummer andeuten, sondern ihm etwas anderes präsentieren als das Erwartete. Die nette Hure von nebenan.

Er schaute sie an. Der Blick wirkte interessiert. Ihr fiel auf, dass nicht wie üblich der erste Blick auf ihre Titten ging, sondern in die Augen. Das war sympathisch.

„Bisher noch nichts. Ich wollte mir heute eigentlich einen netten Abend machen.“

Er hatte eine angenehm dunkle Stimme und hörte sich vom Duktus her so an, als könnte er sich durchaus auch gewählt ausdrücken.

„Für einen netten Abend bist du bei mir genau an die Richtige geraten“, antwortete Daniela mit einem strahlenden Lächeln.

Das war der Moment, sich etwas verbindlicher einzuhaken. Sie schmiegte sich an seine Seite. Jetzt durfte sie ihn nur nicht mehr von der Angel lassen. Die erste Klippe war gemeistert, aber der kritische Punkt würde später noch kommen.

 

Zwei

Mein neues Leben hatte begonnen sich ein wenig einzuspielen. Ich hatte mich damit arrangiert nicht mehr alleine zu wohnen. Ich hatte mich auch damit arrangiert, dass Elodie ab und zu mit in meinem Bett schlief und ich trotzdem nicht mit ihr vögeln durfte. Vor meinem Ego versuchte ich es so zu rechtfertigen, dass sie durch die Zeremonie, die wir erlebt hatten, so etwas wie eine Schwester für mich geworden war und ich daher meine Finger von ihr lassen musste. Es half, auch wenn das Thema Inzest dadurch einen ungeahnten Reiz auf mich auszuüben begann und ich herausfand, dass mein Ego bei der Auswahl potentieller Beischlafpartnerinnen definitiv auf jegliche Blutsverwandtschaft schiss. Ich konnte nur vermuten, dass es in dieser Hinsicht ein durchaus glücklicher Umstand war, dass ich keine leibliche Schwester hatte. Zumindest keine mit einem so ansehnlichen schwarzen Arsch und einem Duft, der mich dauergeil machte.

Einige Tage nach dem erfolgreichen Kampf gegen den Zombie kam Debbie noch einmal unverhofft bei uns hereingeschneit und informierte uns, welche für Informationen sie vom Aufräumkommando erhalten hatte, das den Tatort unseres Kampfes bereinigt hatte. Bei den Opfern, die wir in der Höhle des Zombies gefunden hatten, handelte es sich überwiegend ebenfalls um Obdachlose. Ich war darüber durchaus erleichtert, fühlte mich aber gleichzeitig Schuldig für diese Erleichterung, da sie mir vor Augen führte, dass ich scheinbar das Leben von Obdachlosen weniger achtete als das Leben von Menschen, die in normalen Lebensumständen lebten. War ich tatsächlich derart kaltherzig? Dass ich mir darüber überhaupt Gedanken machte, legte ich als Gegenbeweis dafür aus. Entscheidend war, dass das Leid, welches durch ihre Tode hervorgerufen wurde, überschaubar war. Sieben der Opfer lebten bereits seit einer Vielzahl von Jahren auf der Straße und hatten keinerlei Verwandte mehr, die nach ihnen suchen konnten. Sie waren von ihren Familien und der Gesellschaft bereits seit langem abgeschrieben gewesen und die einzigen, denen ihr Tod Leid verursachte, waren sie selber. Ihre Gebeine wurden rückstandslos verbrannt, um sicherzustellen, dass sie niemals gefunden werden würden.

Die weiteren beiden Opfer waren noch nicht so lange verschollen gewesen. Das eine, ein gut vierzig Jahre alter Mann hatte noch eine Schwester, die ihn vor einem Dreivierteljahr als vermisst gemeldet hatte. Er würde in etwa 2 Wochen nahe der Stadtgrenze beim Durchpflügen eines Feldes gefunden werden. Ein 17-jähriges Mädchen war erst vor knapp zwei Monaten von zuhause weggelaufen. Ihre sterblichen Überreste waren zwei Tage nach dem Tod des Zombies aus der Elbe geholt worden. In der Zeitung hatte es für einen Zweizeiler im Lokalteil gereicht, in dem der Zustand ihrer Überreste darauf zurückgeführt wurde, dass sie sich in einer Schiffsschraube verfangen hatte. Zwei Zeilen für ein junges Menschenleben. Mehr nicht. Immerhin wussten ihre Eltern jetzt, dass sie nicht länger warten mussten und konnten ihre Tochter begraben.

Eines der Opfer passte nicht ins Bild und Debbie hatte die Vermutung geäußert, dass es sich hier um den Erschaffer des Zombies handeln könnte. Es war ein alleinstehender Mann Mitte 30 gewesen, der in einer Wohnung in Hamburg-Barmbek lebte. Ein Damnet-Team hatte die Wohnung durchsucht. Es war eine Eigentumswohnung und anscheinend war es niemandem aufgefallen, dass seit mehreren Monaten keiner mehr dort gewesen war. Die Post war durch einen Schlitz in der Tür eingeworfen worden und stapelte sich dahinter.

Auf dem Rechner des Mannes fanden sich Indizien für einen absoluten sozialen Außenseiter mit einem Appetit aufs Extreme. Kinderpornographie, Sex mit Tieren, Clips von tödlichen Unfällen und aller mögliche andere abartige Kram. Dazu eine ganze Menge okkultes Zeug. Es wirkte mehr oder weniger ziellos zusammengetragen. Ein einsamer Mensch, der offensichtlich keine Sozialkontakte und keinen Job hatte, von ererbtem Geld lebte und nichts anderes tat als sein trostloses Leben mit immer extremer werdenden Bildern aus der virtuellen Welt anzureichern.

Irgendwie musste er dabei auf die Möglichkeit gestoßen sein, einen Spielkameraden für sich zu erschaffen. In der Wohnung und auf dem PC fand sich hierzu nichts konkretes, aber Debbie versicherte uns, dass das Profil des Mannes perfekt passte.

Ansonsten war Debbie mir gegenüber normal. Es schien so, als hätte es den Sex zwischen uns nicht gegeben. Sie legte die gleiche distanzierte Arroganz an den Tag wie bei unserem letzten Treffen. Ich fragte mich kurz, warum sie sich die Mühe machte uns mit Details zu der Zombie-Geschichte zu versorgen und vermutete Dave als Initiator.

Nach einem zweiten Kaffee ging sie wieder ihrer Wege.

 

Drei

Sie stiegen die Treppe zu dem Apartment hoch, das Daniela auf dem Kiez nutzte, um ihre Freier dorthin mitzunehmen. Es war ein Altbau mit etwas verkommener Jugendstilfassade und einem schäbigen, leicht muffig riechenden Hausflur. Neben ihr waren hier noch etwa dreißig andere Huren untergebracht, die verschiedenste sexuelle Dienstleistungen anzubieten hatten. In der ersten Etage hatten sogar zwei Dominas ihr Studio. Ab und an musste mal ein nackter Sklave zur Strafe für unartiges Verhalten vor der Tür stehen.

Der braune Linoleumboden im Treppenhaus hatte schon bessere Tage gesehen und gierte ebenso eindringlich nach einer Renovierung wie das Treppengeländer, bei dem sich Stellen mit Farbe in etwa mit Stellen die Waage hielten, an denen die Farbe abgeplatzt war und das darunter befindliche Holz durchschimmerte. Licht gab es durch äußerst hässliche, an der Decke montierte, runde Milchglaslampen, in denen Unmengen toter Insekten lagen. Für sie waren die Lampen zu tödlichen Fallen geworden.

Im Erdgeschoss logierte Roger, ihre Versicherung gegen die vielerlei Arten von Ärger, die einer Hure drohen konnten. Roger war Hausmeister, Aufpasser und Alarmanlage in Personalunion. Früher hatte er in der Ritze geboxt. Angeblich war er sogar mal auf dem Sprung gewesen Profikarriere zu machen und Fritz Sdunek hatte ihn trainieren wollen, aber irgendetwas war schiefgegangen und so war er hier gestrandet. Er soff, aber eindrucksvolle Muskeln hatte er immer noch und meist reichte das aus, um selbst die störrischsten Freier zur Räson zu rufen.

In seiner Wohnung liefen im wahrsten Sinne des Wortes alle Fäden im Hause zusammen. Jede Hure hatte eine mehr oder weniger versteckte Klingel, mit der sie signalisieren konnte, dass sie Hilfe benötigte. Roger wäre in etwa einer halben Minute zur Stelle.

Danielas Appartement befand sich im zweiten Stock und lag gleich links vom Treppenaufgang. Bisher hatte Daniela von dieser Alarmanlage noch nie Gebrauch machen müssen und sie hoffte, dass dies auch so bleiben würde. Nicht, dass sie Angst vor Roger hätte. Er war schlicht, aber freundlich. Aber Daniela umging gerne jeglichen engeren Kontakt mit anderen Menschen. Sie hatte keine Probleme damit sich benutzen zu lassen, damit Männer ihren Triebstau loswurden, aber ansonsten blieb sie gerne für sich alleine. Sicher gab es mal den einen oder anderen Freier, der sich querstellte, wenn es ans Bezahlen ging. Speziell, wenn Alkohol und Aufregung ihn daran gehindert hatten ihre angebotene Dienstleistung in vollem Umfang in Anspruch zu nehmen. Mit jenen war sie bisher allerdings immer sehr gut allein zurecht gekommen. Richtige Psychos schloss sie von vorneherein aus, denn den meisten konnte man es irgendwie ansehen, wenn man über ein Mindestmaß an Menschenkenntnis und offene Augen verfügte. Danielas Beobachtungsgabe war der Garant für sie, keine bösen Überraschungen zu erleben.

Ihr Kunde hatte sich als Mark vorgestellt und auf dem Weg zu ihrem Appartement überwiegend geschwiegen. Es hatte sie nicht sehr verwundert. Viele Freier hatten Hemmungen zu einer Hure zu gehen und die wenigsten gingen souverän mit der Situation um. Dies steigerte sich noch, wenn sie es nicht regelmäßig taten. Diejenigen, die einfach die Klappe hielten, waren Daniela dabei noch am liebsten. Am schlimmsten waren diejenigen, die gar nicht mehr aufhören wollten zu reden und permanent Zustimmung, Beifall und Anerkennung hören wollten. Am besten noch dafür, zu einer Hure zu gehen.

Sie verachtete ihre Kunden nicht. Auch die nicht, die Frau und Kinder zuhause hatten. Der verräterische Moment war, wenn sie ihre Brieftasche öffneten, um zu bezahlen und das erste was man sah, ein Familienfoto war. Frau und Kinder beim Grillen im Garten des Reihenhauses in der Vorstadt. Wenn sie trotz Beziehung zu ihr kamen, hatte es Gründe, aber es gab keine Veranlassung für Daniela, ihnen dafür auch noch die Absolution zu erteilen.

Es war etwas knifflig, die Tür zu ihrem Apartment mit dem Schlüssel zu öffnen. Man musste ihn erst nach links drehen, bis er blockierte, dann ein ganz kurzes Stück wieder nach rechts und wieder ruckartig nach links. Als Daniela angefangen hatte hier anzuschaffen, hatte sie einige Male mehrere Minuten gebraucht, um die Tür zu öffnen und dadurch sogar mal einen Freier verschreckt, der dachte, dass hier irgendetwas nicht mit rechten Dingen zuging. Mittlerweile wusste sie, wie sie die Tür zu handhaben hatte.

„Wir sind da.“

Sie ließ die Tür aufschwingen und Mark vor sich in die Wohnung gehen. Das war eine der Grundregeln zum Überleben als Hure. Wende niemals einem Freier den Rücken zu, egal wie vertrauenerweckend er wirkt.

Schweigsam betrat ihr Kunde die Wohnung. Vom kleinen, fast quadratischen Flur aus ging eine Tür nach rechts, eine nach links und eine geradeaus in die Küche. Die Tür war halb geöffnet und erlaubte den Blick auf die eine einfache Küchenzeile. Der Flur war weiß getüncht. Der Dielenboden konnte mal wieder einen Abschliff vertragen, aber es war auch ein Teil Konzept. Niemand ging zu einer Hure auf den Kiez, um dann in einem gelackten Designer-Apartment zu landen.

„Die Tür links“, dirigierte sie ihn, und er öffnete schweigend die Tür und betrat den Raum.

Daniela folgte ihm. Auf dem Weg wirkte er deutlich desinteressierter und teilnahmsloser als bei ihrer Begegnung und sie hoffte, dass er nicht noch kurz vor Schluss einen Rückzieher machte.

Wenn man durch die Tür ins Zimmer kam, fand sich auf der linken Seite ein weißer Schminktisch, der mit reichhaltigen Verzierungen versehen war und auf dem etliche Kästchen und zwei Frisierköpfe samt Kopfbedeckungen kaum mehr Platz für weitere Gegenstände übrig ließen. Es war das einzige Möbelstück von Wert in der Wohnung. Ein Erbstück von ihrer Großmutter.

Hinter dem Tisch befand sich ein großer Spiegel in einem reich mit Blattgold verzierten, prunkvollen Rahmen, der von einer pinkfarbenen Federboa geziert wurde.

Mark war kurz hinter der Tür stehengeblieben.

Neben dem Frisiertisch gab es im Raum noch ein großes französisches Bett, das etwa zwei Drittel der etwa 10 qm des Raumes einzunehmen schien. Es war in einem ähnlichen Rot bezogen wie die Farbe der Tapete, mit der die Stirnwand tapeziert war. Neben dem Bett standen zwei kleine weiße Nachttische, die stilistisch zu dem Schminktisch passten und hinter einem der beiden Nachttische, der ein winziges bisschen vorgezogen war, fand sich die bewusste Klingel, mit dem direkten Draht zu Roger. In den Schubladen hatte sie die wichtigsten Utensilien untergebracht. Kondome, Dildos, Gleitcreme, einen Strap-On, Handschellen. Alles, was man so brauchen konnte.

In der gegenüberliegenden Zimmerecke stand noch ein armlehnenloser, aber trotzdem bequemer Sessel mit dunkelrotem Teddybezug und dunkel gebeizten Holzbeinen, vor dem ein sehr flauschig aussehender, ebenfalls dunkelroter Läufer platziert war. Daniela nannte ihn ihren Blasesessel, weil er vorrangig für diesen Zweck vorgesehen war. Der weiche Läufer bildete dabei die passende Unterlage für ihre Knie. Auch in ihrem Beruf waren ergonomisch gestaltete Arbeitswerkzeuge der Schlüssel dazu, fit zu bleiben..

„Was hast du dir denn so vorgestellt? Ich hätte Lust dich ganz ausgiebig französisch zu verwöhnen. Glaub mir, das wird ein unvergessliches Erlebnis“, begann Daniela das finale Verkaufsgespräch.

„Klingt gut. Was muss ich dafür anlegen?“

„Französisch und anschließend Vögeln sind 100. Wenn du mich dabei ganz nackt haben möchtest, sind es 20 extra und für nochmal 20 extra darfst du mir am Ende tief in den Mund spritzen und ich saug dich bis auf den letzten Tropfen aus. Versprochen!“

Sie betrachtete ihn aufmerksam als sie die Preise nannte und hoffte, dass er nicht wusste, dass er den gleichen Service im Eden um die Ecke für die Hälfte bekam. Oder je nach Verhandlungsgeschick auch für weniger. Er verzog allerdings keine Miene, sondern schien die Konditionen für angemessen zu halten.

Er setze an etwas zu sagen, schaute dann aber urplötzlich nach links in Richtung Zimmerecke und machte ein erschrecktes Gesicht. Daniela wandte sich um und suchte nach etwas, das seine Reaktion hervorgerufen haben mochte. Sie sah nur den Sessel und sonst nichts. Ihr fiel auf, dass sie ihrem Freier gerade den Rücken zuwandte. Ungeschickt. Noch bevor sie den Gedanken zu Ende führen konnte, spürte sie, wie sich seine Hand mit einem Stück Stoff von hinten auf Mund und Nase legte und der andere Arm von hinten um ihre Taille. Ein chemischer Geruch stieg ihr in die Nase. Panische Angst erfasste sie. Scheiße. Sie hatte einen Fehler gemacht. Einmal in ihrem Leben hatte sie diesen Fehler gemacht und gleich rächte er sich. Daniela versuchte sich loszureißen und sich zu wehren, aber sie spürte bereits, wie Müdigkeit von ihr Besitz ergriff und ihre Panik parallel zu ihrem Bewusstsein schwand. Sie war eh deutlich zu weit vom Alarm-Knopf entfernt, um Hilfe zu rufen. Es wurde Nacht um sie.

Vier

Mein ganzes Leben hatte ich ein gespanntes Verhältnis zum Telefon gehabt. Einerseits waren Telefone eine prima Sache. Man konnte in ihnen Nummern von Models einspeichern, die man vorhatte zu vögeln, man bekam mit ihnen Einladungen für Partys, auf denen man Models treffen konnte, die man vögeln würde und seit Smartphones mit üppigen Displaygrößen populärer geworden waren, konnte man auf ihrem Bildschirm auch ganz fantastisch zwei Lines Koks hinzaubern, um Models in die richtige Stimmung zu versetzen, dass sie sich von einem vögeln ließen. Sie hatten aber auch ihre Nachteile. Ihr Hauptnachteil bestand darin, dass sie im Regelfall genau dann klingelten, wenn man am wenigsten wollte, dass sie klingelten und man dann auch noch vergessen hatte sie auf lautlos zu stellen.

Ich nahm das Klingeln erst nur sehr aus der Ferne kommend wahr. Es mochte daran liegen, dass ich noch tief und fest schlief. Ich ignorierte es also vorerst, im sicheren Wissen, dass es früher oder später aufhören würde.

Etwas trat mich von der Seite und torpedierte meinen Plan. Es war Elodie. Sie hatte noch nicht so viele Erfahrungen mit Telefonen gesammelt wie ich, um ihr ganzes zerstörerisches Potential zu erfassen. Sie wusste noch nicht darum, dass man ein Telefon auch einfach klingeln lassen konnte. Für sie war ein klingelndes Telefon ein Signal, das einem die eindeutige Anweisung gab, den eingehenden Anruf anzunehmen. Sie trat mich ein weiteres Mal, während das Telefon zum geschätzt zwölften Mal klingelte. Ihr Tritt schmerzte an meinem Oberschenkel. Ich legte keinen Wert auf einen weiteren Tritt. Zudem war ich jetzt wach. Nicht so, dass ich bereit war mich den Anforderungen des kommenden Tages zu stellen. Eher wach in dem Sinne, dass ich endgültig aus meiner Schlafphase gerissen worden war und ohnehin erstmal wieder Zeit brauchen würde, um einzuschlafen. So gesehen konnte ich auch rangehen. Das Telefon hatte sein teuflisches Werk vollbracht. Meinen herzlichen Dank an Graham Bell.

„Jan?“, meldete ich mich.

Am anderen Ende der Leitung hörte ich ein Seufzen. Es war eine Mischung aus Erleichterung, dass endlich doch noch jemand abgehoben hatte und Trotz, der ausdrückte: Ich wusste doch von vorneherein, dass jemand da ist. Wer immer es war: Ich hasste ihn.

„Spreche ich mit Herrn Jan Sidanou?“

Für mein Gegenüber hoffte ich, dass es sich nicht wieder um irgendein Call-Center handelte, das mir eine Versicherung für meine Centurion-Kreditkarte andrehen wollte oder einen tollen neuen Handytarif. Ich hatte eigentlich gedacht, dass die Gebühren, die man für so

Impressum

Verlag: BookRix GmbH & Co. KG

Texte: Van Maddox
Bildmaterialien: Volker Emm
Lektorat: Sigrid Limbach
Tag der Veröffentlichung: 17.07.2015
ISBN: 978-3-7396-0578-4

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