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Yuzieh im neunten Winter

Yuzieh fröstelte, es war ein sehr rauer Winter, seit Tagen hatte es geschneit und auch heute fielen wenige kleine Flocken vom grauen Himmel. Sie blickte in den Himmel und verlor sich in dem Meer von fallenden Sternen. Es war wunderschön anzusehen dachte sie. Sie machte den Mund auf und ließ die Eiskristalle auf ihrer warmen Zunge schmelzen, bis sie die Kälte nicht mehr aushielt. Sie hatte sich über ihr Wams mehrere Leinentücher gewickelt und dennoch war ihr eiskalt.

Zitternd trottete sie weiter ihrem Vater hinterher, der tiefe Spuren im Schnee hinterließ. Fast tänzelnd hüpfte sie in seine großen Fußspuren, erst links, dann rechts und wieder links. Es war schon ihr fünfter Marsch an diesem Abend. Sie benötigten Holz für den Ofen in ihrer kleinen Hütte. Die Kälte kroch schneller in ihr zu Hause, als es ihnen lieb war. Doch sollte dies die letzte Ladung sein, die sie aus dem Wald holten, in dem sie so oft mit Iti gespielt hatte.

Der süße Iti passte auf ihre Mutter auf, die ein Kind erwartete. Die Wehen hatten bereits eingesetzt und der Dorfälteste Atharr und eine Hebamme waren ebenfalls bei ihr. Yuzieh wünschte sich einen kleinen Bruder. Als ihre Eltern ihr beichteten, dass sie ein Geschwisterchen bekäme, war sie zuerst geschockt davongelaufen. Nun jedoch freute Yuzieh sich, bald eine kleine Schwester oder einen Bruder zu bekommen. Sie und Iti würden sich um ihr Geschwisterchen kümmern und mit ihm spielen.

Zunehmend wurde es windiger und immer mehr Schneeflocken fanden den Weg zur Erde. Im Wald angekommen sammelten sie und ihr Vater die letzten Holzscheite ein, die sie vor ein paar Stunden bereitgelegt haben, nachdem sie einen Baum gefällt hatten. Yuzieh konnte sie kaum tragen, weil sie so unglaublich schwer waren. Und einer stach ihr unschön in die Brust. Dieses Holz war einfach viel zu unhandlich, sperrig und schwer – und das alles bei dieser entsetzlichen Kälte.

Der Wind wurde allmählich schärfer, der Schneefall verstärkte sich und die eisernen Kristalle wurden immer größer. Die kleine Yuzieh hatte immer mehr damit zu kämpfen, ihre Füße aus dem tiefen Schnee zu ziehen und wieder einen kleinen Schritt weiterzugehen. Sie versuchte immer die Fußspuren ihres Vaters zu nutzen die groß genug waren um beide Füße hineinzustellen. Leider konnte sie nicht so große Schritte machen wie ihr Vater. Gequält musste sie zwischen den Spuren ihres Vaters einen Zwischenschritt in den tiefen Schnee machen.

Eiskalt und mit eiserner Kraft zerrte der Wind nun an Yuzieh, sie kniff verzweifelt die Augen zusammen, um keine Schneeflocken ins Auge zu bekommen. Vor ihr konnte sie nur noch schemenhaft ihren Vater erkennen, als sie plötzlich mit ihrem rechten Fuß im Schnee hängenblieb und vornüberkippte. Das Holz plumpste in den Schnee und sie fiel hart darauf. Mit dem Kopf schlug sie gegen einen Holzscheit und ihr wurde schlagartig schwarz vor Augen.

 

Langsam kam Yuzieh wieder zu sich und ihr stach gleißend weißes Licht ins Auge. Sie lag im Schnee, aber ihr war nicht mehr kalt. Sie sah sich um, doch alles was sie sah, war weiß. Sie rappelte sich auf und schrie nach ihrem Vater, doch er antwortete nicht. Jetzt wurde ihr bewusst, dass auch der Sturm aufgehört hatte und die vielen großen Schneeflocken nun sachte zu Boden schwebten. Unsicher sah sie sich um, konnte aber vorerst nichts erkennen. Dann sah sie weiter vor ihr ein gelbes Licht vom Himmel hinabgleiten.

Mit den Eiskristallen tanzend kam es auf sie zu, bis es vor ihrem Gesicht Halt machte. Obwohl es direkt vor Ihrem Gesicht schwebte, konnte sie nicht ganz erkennen, was es war und was für eine Form es hatte. Es sah fast aus wie eine goldene Schneeflocke oder wie ein Stern. Das Licht bewegte sich kurz bedacht auf und ab, dann schwebte es um ihren Kopf und ihren Körper. Sie versuchte sich mit ihm zu drehen, um es nicht aus den Augen zu verlieren, aber es wurde immer schneller.

Plötzlich wurde es extrem hell und Yuzieh riss ihre Arme schützend vor ihre Augen. Es dauerte nicht lange an, bis das helle Licht verschwand und mit ihm der Stern. Yuzieh wirbelte umher und plötzlich stand ein wohl zwölf Jahre alter Knabe vor ihr. Er hatte blondes, leicht lockiges Haar und sah sie mit seinen strahlend weißen Zähnen lächelnd an. Mit Begeisterung stellte sie fest, dass er sogar Sommersprossen hatte; nicht viele, aber ein paar. Sie fing schon an zu zählen, worauf er laut zu lachen begann.

Irritiert blickte sie ihn an. Der Knabe war ganz in weiß gekleidet und seine strahlend blauen Augen waren auf sie gerichtet, seine schmalen Lippen zu einem Lächeln geformt.

„Das fasziniert mich so an dir, Yuzieh. Mitten in einem Schneesturm begegnest du mir, einem völlig Fremden und du beginnst, meine Sommersprossen zu zählen“, sagte der Junge in einer tieferen Stimme als sie es erwartet hatte.

Mit großen Augen sah sie ihn an, er hatte ihre Gedanken gelesen! Aber wie? Es war ziemlich schwierig, sich von der Verlockung loszureißen, jetzt erst recht seine Sommersprossen zu zählen.

„Woher kennst du meinen Namen?“, wollte sie zögernd wissen. Er sah sie einen Moment lang schweigend an, bevor er um sie herumschritt.

„Es ist so, dass ich dich schon dein ganzes Leben lang kenne. Ich habe dich beobachtet, mit dir gefühlt und vor allem über dich gewacht. Du musst wissen: Ich bin ein Engel“, erklärte er mit ruhiger melodischer Stimme.

Yuzieh machte große Augen. „Ein Engel?“, wollte sie mit zittriger Stimme wissen. Der Engel nickte nur und sah sie durchdringend an. Ein echter Engel, was sollte sie ihn nur fragen? Hatte er auch Flügel? Mit wachsender Neugier versuchte sie, auf seinen Rücken zu schauen, konnte aber nichts erkennen.

„In meiner Menschengestalt trage ich keine Flügel. Es ist so, Yuzieh, du hast dich stark verletzt. Gerade jetzt liegst du im Schnee und erfrierst allmählich, während dein Vater nach dir suchend um dein Leben bangt. Ich werde einen Teil meiner Kraft aufbringen, um dir zu helfen. Für mich wird es bedeuten, dass ich sehr lange Zeit nicht mehr zurückkommen kann. Ich muss dir vorher noch etwas sagen. Du musst es dir unbedingt merken, hörst du?“

Yuzieh konnte es nicht fassen, sie erfriert? Aber sie steht doch hier mit diesem Engel. Und ihr Vater, was ist mit ihm? Der Engel sah sie durchringend an und sie bejahte seine Frage, erst dann fuhr er fort.

„Noch in dieser Nacht wirst du einen kleinen Bruder bekommen. Du musst mir versprechen, auf ihn aufzupassen, denn sein Leben ist sehr kostbar. Eines Tages wird es einen großen Krieg geben, den du anführen wirst. Für dich, deinen Bruder und die ganze Welt wird es wichtig sein, dass du vorbereitet bist. Geh zu Atharr, dem Dorfältesten, er wird erkennen, was in dir schlummert. Du hast enorme Kräfte, genau wie dein Bruder. Atharr wird dir zeigen, was du wissen musst.“

Wieso zu diesem alten Mann, sie gruselte sich vor ihm. Außerdem verstand Sie nicht, was der Engel ihr mitteilen wollte, was für einen Krieg? Sie bekam einen Bruder? Das alles war sehr verwirrend für sie. Um sie herum wirbelte der Schnee, aber sie und den Engel umgab eine Luftblase, die den Schnee abhielt. Dieser Raum wurde allmählich immer kleiner und der Schneesturm verstärkte sich zunehmend.

„Geh zu Atharr, Yuzieh. Das musst du mir versprechen. Nun wird es Zeit, ich kann nicht länger hierbleiben. Denk an meine Worte. Lebe wohl Yuzieh!“

 

Mit einem Mal brach Dunkelheit über sie herein und sie spürte entsetzliche Kälte. Ihr Kopf pochte und ihr Gesicht brannte vom eisigen Wind. Ihre Versuche, sich zu bewegen, blieben ohne Erfolg. Was hatte der Engel gemeint? Was war passiert? Yuzieh spürte wie die Müdigkeit sie übermannte. Es war so kalt und dunkel und am liebsten würde sie einfach weiter von dem Engel träumen. Er hatte gesagt, sie würde einen kleinen Bruder bekommen. Genauso wie sie sich es gewünscht hatte! Wie würde Mutter ihn wohl nennen? Hero vielleicht, oder Rerik. Ihr würde Celedor besonders gefallen.

Sie musste ihn sehen, ihren kleinen Bruder. Mit aller Kraft stellte sie sich gegen die Müdigkeit und schlug die Augen auf. Sofort stachen ihr Schneeflocken in die Augen. Noch einmal versuchte sie, sich zu bewegen und spürte, wie sie das Gewicht von Schnee auf ihrem Körper zum Beben brachte. Auch vernahm sie wieder Geräusche. Erst nur ein starkes Rauschen, dann konnte sie den Wind hören und auch aufgeregte Schreie.

„Yuzieh! Yuzieh!“, es war ihr Vater, der mit verzweifelter fast versagender Stimme nach ihr rief. Mit größter Anstrengung schaffte sie es, ihren Oberkörper halb zu heben. Auf ihr lag schon eine beachtliche Schneeschicht, die nun von ihrem Kopf purzelte. Ihr Vater entdeckte sie sogleich und rannte aufgeregt zu ihr. Mit blankem Entsetzen schaute er sie an und befreite sie aus dem Schnee.

Jeder Versuch, ihm etwas zu sagen scheiterte. Auch er blieb still. Sie konnte genau erkennen, welch Panik in ihm wohnte. Zu oft starben Kinder in ihrem Dorf an dem unerbittlichen Frost des Winters. So schnell er konnte befreite er sie und nahm sie auf die Arme. Gerade so erkannte sie das gesammelte Holz im tiefen Schnee. Sie wollte protestieren. Das Holz benötigten sie unbedingt gegen die Kälte, und ihr war so schrecklich kalt. Doch sie konnte nichts sagen, sich kaum regen. Die Müdigkeit kam zurück. Das leichte taktvolle Wippen auf den Armen ihres Vaters beförderte sie zurück in die Dunkelheit zu einem tiefen Schlaf.

 

Yuzieh kam in ihrem warmen Bett zu Bewusstsein, ihr gegenüber knisterte das Feuer im Kamin. Blinzelnd sah sie sich um. Ihr Kopf schmerzte und ihre Beine fühlten sich steif an. Das Feuer warf tanzende Schatten an die Wände sowie an die Decke des kleinen Zimmers. Im Nachbarzimmer hörte sie Stimmen. Mit einem schmerzerfüllten Stöhnen versuchte sie, sich aufzurichten, ließ sich aber sofort wieder fallen.

Von ihren Schmerzenslauten aufmerksam geworden, kam ihr Vater zu ihr und bemerkte besorgt: „Gott sei Dank, du bist wach. Ich bin vor Sorge verrückt geworden, als du plötzlich nicht mehr hinter mir warst.“

„Was ist passiert?“, fragte Yuzieh mit etwas heiserer Stimme. Sie konnte sich tatsächlich kaum noch an etwas erinnern, nur noch an einen fernen Traum mit einem Engel.

„Du bist gestolpert und mit dem Kopf auf die Holzscheite geschlagen, die du trugst. Als ich dich fand, warst du entsetzlich blass und kalt. Das war vor zwei Tagen. Aber du hast es geschafft. Du lebst!“, rief er freudig.

Angestrengt versuchte sie, sich zu erinnern, doch konnte sie sich nur an die unglaubliche Kälte erinnern, überall war Schnee und sie war so müde gewesen. Einzig daran, dass sie Holz holen wollten, konnte sie sich erinnern.

Ihre Mutter erschien lächelnd in der Tür und sie hielt ein Stoffbündel in der Hand. Doch als sie näherkam, erkannte Yuzieh, dass ein Säugling im Stoff eingewickelt war. Yuzieh machte große Augen, ihre Mutter hatte ein Kind geboren, und wie sie erfuhr, war es ein Junge. „Er soll Celedor heißen!“, forderte Yuzieh lauthals vor Freude. Auch ihre Eltern fanden den Namen passend für ihren Bruder und mit Begeisterung gaben sie ihm diesen Namen. Endlich hatte sie einen kleinen Bruder, mit dem sie spielen konnte und um den sie sich in Zukunft kümmern würde, wenn ihre Mutter wieder auf dem Markt war oder am Fluss die Wäsche wusch.

In diesem Moment betrat auch eine große Gestalt den Raum. Es war Atharr. Yuziehs Blick traf auf den des alten Mannes und augenblicklich verspürte sie ein starkes Kribbeln. Es währte einige Sekunden an und verteilte sich auf ihrem ganzen Körper. Atharr sah sie erschrocken an und ihr wurde extrem heiß. Sie bemerkte wie Atharr zu zittern begann, kurz bevor er sich an seine Brust fasste und zu Boden sackte. Sofort kamen ihre Eltern dem alten Mann zu Hilfe, doch er war bewusstlos. Ohne zu zögern, hievte ihr Vater den alten Mann auf die Schultern und verschwand durch die Tür, er brachte Atharr bestimmt zum hiesigen Heiler.

Yuzieh machte sich Sorgen, zwar hatte sie Angst vor diesem alten Mann, doch war er der Dorfälteste, der mit seinem Wissen geholfen hatte, ihren Bruder zur Welt zu bringen. Außerdem hatte er sie angesehen, als sie dieses Kribbeln verspürte und als er zusammenbrach, hatte dieses Gefühl augenblicklich aufgehört. Wusste er, was geschehen war? Könnte er ihr erklären, was dort eben geschehen war? Es war seltsam, sie musste ihn fragen. Hoffentlich würde er wieder aufwachen.

Hilfesuchend sah sie ihre Mutter an, die sich neben sie setzte und sie beruhigte. Die Frage, ob Yuzieh den Säugling im Arm halten durfte, bejahte ihre Mutter. Ihr Bruder war so winzig, seine Hände, sein Köpfchen, war sie auch mal so klein gewesen? Es war niedlich, wie er mit seinem Mund schmatzte und seine Finger unkontrolliert bewegte. Der Junge sah sie mit seinen leuchtend blauen Augen an, er sah ihr direkt in die Augen und in diesem Moment erinnerte sie sich daran, was der Engel ihr sagte. Ganz bestimmt aber mit einem Lächeln auf ihren Lippen flüsterte sie ihm zu: „Ich werde dich beschützen, Celedor, das verspreche ich dir.“

Impressum

Texte: Sebastian F. Klos
Bildmaterialien: Sebastian F. Klos
Tag der Veröffentlichung: 24.12.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Frohe Weihnachten Yuzieh!

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