Eine Böe weht mir ins Gesicht und streicht durch meine Haare. Da sitze ich hier, auf dieser Bank, auf der ich so oft gesessen habe. Blinzelnd schaue ich in den blauen Himmel. Meine Augen tränen leicht von dem Wind, der mir entgegenbläst. Ich liebe diese Ruhe. Zu diesem Ort komme ich, wenn ich Frieden brauche. Einsam, weit draußen vor der Stadt, inmitten von Feldern und Wäldern, steht diese Bank. Der Lack ist schon lange nicht mehr zu sehen und das Holz beginnt zu splittern. Ich muss schmunzeln. Die Bank hat genau die gleichen Risse in der Haut wie ich. Sie hat ihre Blütezeit weit hinter sich gelassen. Und in all dieser Zeit hat sie sicher einige Geschichten im Leben der Menschen erlebt. Vor allem meine eigene. Ich ziehe meinen Mantel enger um meinen Leib. Früher konnte ich diese Brise besser vertragen als heute.
Damals habe ich nicht unweit von diesem Ort gelebt. Meine Eltern hatten einen kleinen Hof. Es war ein schmales Fachwerkhaus mit roten Schindeln und daneben stand eine kleine Scheune, in der wir einige Kühe hatten. Morgens mussten wir immer früh raus, um diese zu füttern. Oft musste ich beim Ausmisten helfen und wenn wir sie auf die Weide getrieben haben. Das war immer ein Durcheinander, aber es war eine schöne, unbeschwerte Zeit. Frei von den Sorgen, die mit dem Alter kommen.
Ein Falke schreit hoch über mir und ich beobachte, wie er seine Kreise zieht. Majestätisch treibt er auf den Winden, die mir hier unten durchs Gesicht streifen. Es ist so ein schönes Gefühl, wenn der Wind durchs Haar fährt, das habe ich immer gemocht. Ich seufze. Wäre es doch geblieben wie damals. Doch die Zeiten änderten sich. Immer öfter benötigte ich Zeit für mich und entdeckte schließlich eines Sommers diesen Fleck. Bis heute beruhigt mich dieser wunderschöne Zufluchtsort.
Es begann im Alter von siebzehn Jahren. In jenem Sommer lernte ich sie kennen. Es war auf der Geburtstagsfeier meines besten Freundes. Als ich sie das erste Mal sah, blieb für mich die Zeit stehen. Strahlend blaue Augen und ihr breites Lächeln umrahmt von ihren wunderschönen dunkelblonden Haaren. Der Wind fuhr ihr ins Gesicht und sie strich sich lachend eine Strähne aus dem Blickfeld. Mein Bauch kribbelte, überall hatte ich Gänsehaut und ein wohliger Schauer lief mir den Rücken runter. Erst später merkte ich, dass ich seitdem nicht aufhören konnte zu grinsen. Sie hatte ein blaues Kleid an, welches ihre schlanke Figur präsentierte.
Überrollt von den Gefühlen, die ich hatte, ohne je mit ihr geredet zu haben, war ich zu schüchtern, um sie anzusprechen und so widmete ich mich meinen Freunden und genoss ihre Gesellschaft. Wir hatten einen lustigen Abend und viel Spaß. Um zwölf Uhr gab es ein Feuerwerk und alle stürzten sich auf meinen besten Kumpel, um ihm zu gratulieren. Anschließend ging die Party erst richtig los und fast alle tanzten. Der DJ tat gute Arbeit und so feierten wir ausgelassen. Doch plötzlich stieß jemand in meinen Rücken und als ich mich umdrehte, konnte ich es kaum glauben. Es war das süße Mädchen!
„Tschuldige, ich bin manchmal ein wenig stürmisch. Ich bin Leslie!“, schrie sie mir entgegen. Ich stellte mich vor und sie schenkte mir ein breites Lächeln. Sie kannte mich durch Erzählungen. Langsam überwand ich meinen Schock und tanzte mit ihr und wir kamen uns immer näher. Dabei beugte sie sich immer wieder über meine Schulter, fragte mich aus und erzählte von ihr. Es war wirklich schön. Nach einer Weile griff sie plötzlich meine Hand und zog mich weg. Wir gingen auf die Straße und dort blieb sie stehen, strahlte mich an und fing an zu lachen. Ich fühlte mich ein wenig ausgelacht. Das schien sie zu merken und umarmte mich. Meine Arme legten sich auf ihre Taille und ich roch ihr Parfüm.
Bei der Erinnerung an ihren Duft kann ich ihn fast wieder vernehmen. Diesen Moment werde ich nie vergessen. Er war magisch. Ich war verliebt. Hatte mich Hals über Kopf in sie verguckt. Leslie.
Nach der Umarmung küsste sie mir auf die Wange und schenkte mir einen verführerischen Blick, dann verschwand sie, und war an dem Abend nicht mehr zu finden. Die nächsten zwei Nächte waren für mich der Graus, ich konnte an nichts anderes denken, als an ihren letzten Blick und den Duft ihres Parfüms. Zwei Tage nach der Party klingelte das Telefon. Ich nahm den Hörer ab und mein Herz setzte fast aus, als Leslie sich meldete, weil sie sich mit mir treffen wollte.
Wir trafen uns in der Stadt und sie rannte schon von weitem auf mich zu, sprang in meine Arme und drückte mir einen Kuss auf den Mund. Völlig überrumpelt blickte ich sie an und als sie sich aus meinen Armen lösen wollte, hielt ich sie fest und küsste sie leidenschaftlich. Es war der schönste Tag meines Lebens. Wir trafen uns oft, aber wie ich fand nicht oft genug. Ich hätte jeden Tag mit ihr verbringen können.
Ich hätte jeden Tag mit ihr verbringen müssen. Ich kann es nicht fassen, was damals passiert ist. Alles war perfekt und dann ging alles so schnell.
Eines Nachts wachte ich von einem lauten Scheppern auf und schlich die Treppe runter. Ich hörte nur wie meine Eltern sich laut stritten. Ich kann mich noch genau an ihre Worte erinnern und sie schmerzen noch immer. Nie hatte ich bemerkt, dass die Liebe meiner Eltern längst eingefroren war. In dieser Nacht erfuhr ich die bittere Wahrheit. Mein Vater hatte schon längst eine neue Freundin. Es war das letzte Mal, dass ich ihn für die nächsten fünf Jahre sah. Er stürmte aus der Tür und fuhr davon. Meine Mutter saß schluchzend an den Geschirrschrank im Esszimmer gelehnt. Ich rannte zu ihr und setzte mich neben sie. Die Gewissheit, dass ich den Streit miterlebte, ließ sie noch lauter weinen.
Lange saßen wir in dieser Nacht nur so da. Sie weinte und ich, kaum eines Gefühls mächtig, stumm neben ihr.
In den folgenden Tagen kümmerte ich mich allein um die Tiere und wusste nicht, wie lange meine Mutter noch in ihrem Bett liegen würde. Sie aß kaum und starrte nur an die Decke, während Tränen aus ihren Augen kullerten. Eine Woche später saß sie mit strähnigen Haaren, den Kopf auf die Hände gestützt, am Küchentisch, als ich am Morgen die Treppe herunterkam. Sie reagierte nicht auf mich und ich ließ sie, kümmerte mich wieder um die Tiere und ging zur Schule. Am Nachmittag saß sie noch immer am Tisch in derselben Haltung. Ich wollte gerade die Treppe hinauf, als sie murmelte: „Wir müssen den Hof verkaufen.“
Geschockt ging ich zu ihr. Das konnte nicht sein. Ich hatte Leslie jetzt schon seit zwei Wochen nicht mehr gesehen und meine Mutter wollte ausziehen? Wohin denn? Sie erklärte mir, dass mein Vater nebenbei noch in der Stadt gearbeitet hatte und wir ohne ihn den Hof nicht bezahlen konnten. Außerdem wollte sie nicht mehr an dem Ort bleiben, an dem sie ihr Leben verschwendet hatte. Es tat weh, sie so etwas sagen zu hören, schließlich hatten wir auch schöne Zeiten, aber mir war damals nicht klar, wie sehr sie leiden musste.
Meine Mutter hatte ihren Entschluss gefasst und dies gab ihr Kraft. Sie war wieder ganz die Alte, zielstrebig und voller Energie und so geschah es, dass ich mich schon zwei weitere Wochen später hundert Kilometer entfernt in einer kleinen Dreizimmerwohnung wiederfand. Ich hatte mich nicht einmal von Leslie verabschiedet. Als ich versuchte sie anzurufen, erreichte ich sie nicht.
Von da an ging es meiner Mutter gut. Schon bald war ihr nichts mehr anzumerken. Leider ging es mir zunehmend schlechter. Ich vermisste Leslie. Aus unerklärlichen Gründen erreichte ich sie nicht mehr. Und ich konnte nicht mal eben zu ihr fahren. Mein Herz blutete. Es gab keine Minute, an der ich mich nicht an sie erinnerte. Immerzu dachte ich an sie und hoffte, sie bald wiederzusehen. Doch die neue Schule erforderte immer mehr meiner Konzentration. Schon bald gab ich den Gedanken auf, sie zu besuchen. Meine neuen Freunde und die Schule lenkten mich zunehmend ab und doch blieb sie immer im Hintergrund meiner Gedanken.
Und das bis heute. Ich seufze erneut und wische mir eine Träne aus dem Gesicht. Jetzt wo die Erinnerung so stark ist, wirkt die Bank noch leerer. Damals hatte ich Leslie zu diesem Ort gebracht. Eine Woche bevor wir fortgezogen sind. Sie war genauso begeistert von diesem Platz gewesen wie ich. Wir hatten uns aneinander gekuschelt und in die Ferne geblickt. Es war perfekt. Doch jetzt ist es Vergangenheit. Es war dumm, dass ich sie nicht besucht hatte. Ich hätte es tun sollen. Sofort.
Die Leere in mir grub sich immer tiefer in mich. Schon bald wusste ich nicht mehr, woran es lag, dass ich nicht wirklich glücklich war. Immer weniger dachte ich an Leslie, aber wenn ich es tat, versank ich in tiefster Trauer. Ich fühlte mich einsam und mir fehlte etwas. Diese Leere wuchs soweit an, dass ich mich nicht mehr für die Schule interessierte und auch keine Freunde mehr traf. Ich lag nur noch im Bett und starrte an die Decke.
Ich brauchte fünf Monate um zu begreifen, dass ich zu ihr musste. Heute kann ich nicht nachvollziehen warum ich es nicht sofort getan habe. Ich zertrümmerte mein Sparschwein und nahm den Zug zurück in meine alte Heimat. Zu Leslie. Als ich in ihre Straße einbog, sah ich sie auf der kleinen Rasenfläche vor ihrem Haus liegen und mein Puls beschleunigte sich. Ich musste grinsen, mein Bauch kribbelte und ich bekam wieder diese Gänsehaut. Ich ging schneller, fing langsam an zu rennen.
Und dann sah ich ihn. Einen großen muskulösen Typen mit schwarzen Haaren. Ich blieb keuchend stehen. Starrte ungläubig zu ihnen hinüber und beobachtete, wie er sich zu ihr legte und sie liebkoste, während sie sich lachend aus seinem Griff befreien wollte. Langsam fiel ich auf die Knie. Mein Gesicht fühlte sich taub an. Meine Augen brannten. Ich fiel auf alle viere und presste meine Finger auf den rissigen Teerboden. „Nein“, keuchte ich und fing an zu weinen.
Ich weiß nicht, ob sie mich damals bemerkt hat, doch ich glaube nicht. Es ist nicht wichtig. Dies war das letzte Mal, dass ich sie gesehen habe. Von ihrer Hochzeit mit Bratt erfuhr ich später von einer Freundin. Heute weiß ich, dass sie zwei Kinder mit ihrem Mann hat. Seit jenem Tag komme ich, wann immer ich Zeit habe, hier aufs Land und setzte mich auf diese Bank.
Es ist ein Ort mit tausenden Erinnerungen, vor allem an sie. Doch es ist der einzige Ort, an dem ich mit Frieden an sie denken kann. Ich liebe sie. Und das bis heute. Ich habe nie aufgehört sie zu lieben, aber ich habe aufgehört, um sie zu kämpfen, ernsthaft zu glauben, je eine Chance bei ihr zu haben. Sie weiß es nicht und wird es nie erfahren. Aber es ist okay. Die Erinnerung an sie erfüllt mich nicht nur in Trauer und Sehnsucht. Nein, sie erfüllt mich auch mit Zufriedenheit und Glück. Es war die schönste Zeit und keiner wird sie mir je nehmen können.
Langsam atme ich aus und sehe mich um. Wenige Meter von mir entfernt schreitet ein hochgewachsener Mann in einem Anzug auf mich zu. Er grinst mich an und setzt sich mit einem leisen Seufzer zu mir und sieht in die Ferne. Einige Minuten verstreichen, bis er, ohne mich anzusehen, fragt: „Denkst du schon wieder über sie nach?“ Er blickt mich an und zwinkert mir zu. „Na klar tust du das.“ Er nimmt meine Hand und drückt sie leicht. Noch einmal sieht er in die Ferne und genießt mit mir die Ruhe. Ich bin froh, dass er mir diesen Ort gönnt und er mich versteht. Mit einem Seufzen steht er auf und hält mir die Hand hin: „Komm Papa, oder willst du die Hochzeit deiner einzigen Enkeltochter verpassen?“ Ich schaue mich noch ein letztes Mal um, dann ergreife ich seine Hand und meinen Gehstock. Ich werde nichts mehr verpassen, denke ich mir, als ich die Bank hinter mir lasse.
Texte: Sebastian F. Klos
Tag der Veröffentlichung: 15.06.2014
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