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Iti Hoa

Im fünften Sommer


Gebannt spähte sie über den Rand eines Baumstumpfes. Ihre großen blauen Augen auf Höhe des abgetrennten Baumes. Von Weitem sah man nur ihren blonden Haarschopf. Es mochte aussehen als verstecke sie sich, doch dies stimmte nicht. Sie beobachtete eine kleine Schnecke wie sie sich langsam über den welligen Baumstumpf bewegte und immer wieder ihr mit Ringen verziertes Haus mit sich zog. Die Fühler stets darauf gefasst, auf Widerstand zu treffen. Es war faszinierend wie ausdauernd sich die Schnecke bewegte und sich nicht daran stören ließ, dass sie so unendlich langsam war. Das gekringelte Schneckenhaus erschien ihr wie ein Strudel. Ein orangener Strudel mit schwarzen Rändern. Solche Farben trugen auch die Schmetterlinge, die sie des Öfteren beobachtete, wie sie durch die heiße Sommerluft flatterten und sich auf bunten Gräsern und wilden Blumen ausruhten.

Yuzieh streckte eine Hand vor und berührte sacht das Haus der Schnecke. Sofort hielt diese inne und zog sich in ihr Haus zurück. Es beschützte die kleine Schnecke. Wie es wohl war, immer sein Haus dabei zu haben? Sie stand auf und blickte in den blauen Himmel. Keine einzige Wolke war zu sehen, es war schon sehr warm, obwohl es noch früh am Morgen war. Sie ließ sich ins weiche Gras sinken und verfolgte, wie ein Adler am Himmel seine Kreise zog. Im Himmel zu kreisen und auf die Welt hinunterzublicken, musste ein schönes Gefühl sein. Sicher sah sie für den Adler so klein aus, wie sie die Schnecke für klein hielt.

Vogelzwitschern zog ihr Interesse auf sich und Yuzieh eilte zu den Bäumen am Rand der grünen Wiese. Im Geäst saß ein kleiner Vogel mit gelbem Schnabel und sang mit hellen frohen Tönen sein Lied. Er war schwarz und hatte ganz viele gelbe Punkte auf seinem Fiederkleid und seine Flügel glitzerten grün. Sie fand ihn wunderschön, vielleicht sollte sie ihre Mutter fragen, ob sie ein gelbgepunktetes Kleid bekäme, um auszusehen wie dieser hübsche Vogel. Das sähe sicher schön aus.

Plötzlich sprang ein Hase aus seinem Versteck und rannte zwischen den Bäumen hindurch. Lachend lief Yuzieh ihm hinterher. Sein braunes Fell hob sich kaum von dem Braun der Baumrinden ab. Die schwarzen Flecken auf seinem Rücken ähnelten der schwarzen Erde, die es auf der Wiese gab. Hakenschlagend flüchtete der Hase vor ihr und war auch wesentlich schneller als Yuzieh. Sie störte das nicht, sie rannte lachend hinterher und genoss den leichten Gegenwind, der ihr Gesicht kühlte.

Langsam wurden es weniger Bäume und das Gras verlor an Grün. Der Hase merkte dies, machte kehrt, und verschwand wieder zwischen den Bäumen. Yuzieh liebte es, den Tag im Wald zu verbringen und die vielen Tiere zu beobachten. Außerdem mochte sie es, im Gras zu liegen. Vor ihr wurde der Boden trocken und sandig. Hier begann die Steppe ihrer Heimat. In einiger Ferne sah sie ihr kleines Heimatdorf. Es lag abgeschieden von allem. In der Umgebung gab es keine anderen Dörfer wie ihres, sie hatte zumindest noch nie solche gesehen.

Auf einmal hörte sie ein Heulen. Es kam ganz aus der Nähe. Ohne zu zögern rannte sie in die Richtung aus der der Laut gekommen war. Ein unaufhörliches Jaulen wies ihr den Weg. Schließlich rannte sie auf einen Beerenstrauch zu. Unter diesem lag ein kleiner Hund mit struppigem braunem Fell und wimmerte. Seine Pfote steckte in einer Bärenfalle und neben seiner Pfote noch ein Ast. Der arme kleine Hund blutete, schien sich aber nichts gebrochen zu haben.

Yuzieh kannte diese Fallen. Sie waren äußerst gefährlich. Ihr Vater hatte sie immer wieder darauf hingewiesen, dass sie aufpassen müsse, weil diese Fallen ihr die dünnen Beine brechen könnten. Der Hund wimmerte erneut. Ängstlich sah er sie mit großen blauen Augen an. Yuzieh bückte sich, um einen Ast aufzuheben. In gebeugter Haltung ging sie mit dem Ast in den Händen auf den Hund zu. Dieser wurde immer unruhiger und panischer.

„Armer kleiner, die Pfote eingeklemmt, mhm? Hast aber Glück gehabt, dass dieses böse Ding dir nicht die Pfote gebrochen hat. Lass mich dir helfen“, sie war an ihn herangetreten und streichelte ihm über den Rücken. Sein Fell war ganz verfilzt. Vorsichtig schob sie den Ast, den sie aufgehoben hatte neben sein Beinchen in die Falle hinein. Dann hockte sie sich mit den Füßen auf ihren Ast und drückte den Ast der bereits in der Falle steckte leicht nach oben. „Los zieh sie raus!“, ermutigte sie den Hund.

Mit einem schnaufenden Geräusch zog er die Pfote aus der Falle, machte kehrt und wollte davon stürmen, doch als er auf sein blutendes Bein trat, purzelte er mit einem hohen Jaulen ins Gras. Als Yuzieh den Ast endlich losließ, schnellte er zurück und die Falle durchtrennte beide Äste. Erschrocken sprang sie zurück. Der Kleine musste großes Glück gehabt haben. Sie sah sich nach ihm um bemerkte wie er sich aufrappelte und langsam versuchte zu fliehen. Dabei hielt er seine verletzte Pfote schützend an seinen Körper.

„Komm mal her. Ich tue dir ganz gewiss nichts, habe dich doch gerettet.“ Mit fragendem Blick schaute er sich um. Hatte er sie verstanden? Oder wusste er nur, dass sie ihm nichts tun wollte? Langsam ging sie auf ihn zu, setzte sich neben ihn auf den Boden und streichelte sein braunes Fell. Langsam wandte er seinen Kopf zu ihr und betrachtete sie lange. Dann schnupperte er an der Hand auf ihrem Schoß und leckte anschließend darüber. Lachend zog sie die Hand weg: „Das kitzelt.“ Mit einem Kichern schlang sie ihre Arme um ihn und drückte ihn an sich.

„Weißt du. Wir könnten Freunde sein, wenn du willst.“

Sie ließ ihn wieder los und stand auf. Drei Schritte ging sie rückwärts. Er legte seinen Kopf schief und blickte sie verständnislos an, dann humpelte er ihr entgegen. Ein Grinsen breitete sich auf ihrem Gesicht aus. „Gut. Dann brauchen wir nur noch einen Namen für dich“, murmelte sie. Zweimal bellte er ihr zu und schaute sie unverwandt an. „Ich glaub ich habs“, sagte sie und ging vor ihm in die Hocke.

„Iti Hoa.“

Seinen Kopf schräg legend sah er sie wieder an. „Das bedeutet kleiner Freund“, erklärte sie ihm mit einem Kichern. Er bellte erneut und sie tätschelte seinen Kopf. Ohne ein weiteres Wort nahm sie ihn auf den Arm und drehte sich um. Ihre Eltern würden Augen machen! Sie hatte einen neuen Freund.



Schluchzend kramte Yuzieh im Küchenschrank. Angeschrien hatte ihr Vater sie. Wie könne sie glauben, dass sie noch einen gebrauchen könnten, den sie durchfüttern mussten. Ihre Mutter hatte sie nur mit traurigen Blicken angesehen. Die beiden verstanden es nicht! Erwachsene konnten es nicht verstehen. Iti hatte nur sie. Er war ganz allein, allein unter vielen anderen. Genau wie sie. Yuzieh hatte keine Freunde. Die Kinder im Dorf waren alle älter als sie oder noch kleine Babys. John der größte Junge im Dorf und seine Freunde schikanierten sie, nur weil sie zwei Jahre jünger war und viel kleiner. Es war so unfair.

Endlich fand sie die Salbe, mit der ihre Mutter ihr immer die Schmerzen linderte, wenn sie wieder einmal ihre Knie aufgeschürft hatte. Schnell ließ sie die Paste, zusammen mit einem Stück Fleisch und Reis, in ihr Kleidchen verschwinden. Sie würde sich weiter um Iti kümmern. Der kleine brauchte sie, vor allem wegen seiner Wunde. Noch immer blutete sie. Yuzieh hatte bereits Farn darum gewickelt. Doch sie hatte ihn schon dreimal wechseln müssen, weil er sich immer wieder mit Blut vollsog.

Sie stahl sich aus dem Haus und lief durch das Dörfchen, vorbei an der kleinen Kapelle und dem kleinen Markt, bis zum Rand der Gemeinde. Dort stand eine gemeinschaftliche Scheune, die alle Bauern des Dorfes nutzen durften. Hier hatte sie Iti versteckt, nachdem ihr Vater sie angeschrien hatte und wollte, dass sie Iti verscheuchte. Als sie sich durch die Tür schob, stand er auf und humpelte mit wedelndem Schwanz auf sie zu. Sie stellte ihre Sachen auf eine Kiste, die nahe des Eingangs stand und setzte sich zu dem kleinen braunen Hund. Er beschnüffelte neugierig ihre Hand und schleckte diese gierig ab. Er musste das Fleisch gerochen haben.

Vorsichtig zog sie Iti zu sich und nahm sein verletztes Bein, um es mit der Paste zu salben. Noch immer tropften Tränen ihre Nase herunter, aber sie hatte aufgehört zu weinen. Anschließend wickelte sie einen neuen Farn darum und ließ ihn wieder frei. „Fein hast du das gemacht. Ich hab dir auch noch was zu fressen mitgebracht“, flüsterte sie und gab ihm den Reis und das kleine Stück Fleisch. Gierig verputzte Iti alles was sie ihm hingelegt hatte und schmiegte sich dann mit einem zufriedenen Laut an ihre Beine.

Drei Tage pflegte sie Iti nun schon. Er war schon wieder gut auf den Beinen, die Wunde hatte sich geschlossen. Heute hatte sie Fisch für ihn aus der Küche gestohlen. Mutter hatte es bemerkt, aber nichts gesagt. Yuzieh war schon an der Kapelle und bog eben um die Ecke, da sah sie John und die restliche Bande. Schnell sprang sie zurück in den Schutz der Kapelle. Schwer atmend presste sie sich an die feuchte Ziegelwand der Kapelle. Hatten die Unholde sie gesehen? Ihr Herz raste. „HEH! Da war sie! Los, ihr nach!“, hörte sie John schreien.

Mit weiten Augen rannte sie los. Immer wieder bog sie ab, rannte von einer Hütte zur nächsten. Sie hörte die Buben hinter sich schreien, deren Schritte auf dem sandigen Boden des Dorfes hämmern. Wieder bog sie um eine Hausecke und blieb stehen. Gehetzt sah sie sich um, sie musste sich verstecken. Auf der anderen Seite des engen Weges stand ein alter Karren mit Heu, der mit einem alten dreckigen Laken abgedeckt war. Dort musste sie sich verstecken.

Gerade als sie die Plane wieder über ihre blonden Haare schob, hörte sie wie einer der Jungen um die Ecke bog und kurz stehen blieb. Bitte such nicht hier, dachte sie bei sich. Die Schritte wurden lauter, er kam auf sie zu. Nur noch vier Schritte, drei, zwei. Er blieb stehen, wich sogar einen Schritt zurück. Ein Räuspern. Von dem Jungen? Dann rannte er davon. Glück gehabt.

Vorsichtig lugte sie über die Karrenwand und sah im Hauseingang vor ihr einen alten knochigen Mann stehen. Schlohweiße Haare auf seinem Haupt und tiefe wettergegerbte Falten gruben sich in seine Haut. Seine mürrische Miene erschrak sie und so duckte sie sich erneut hinter die Karrenwand. Das musste der Dorfälteste Atharr sein. Es gab viele Gerüchte über ihn. Er hatte keine Familie, hielt sich meistens in seiner Hütte auf. Nur zu besonderen Anlässen zeigte er sich. Oftmals fragten ihn die Dörfler um Rat, denn er war sehr weise. Aber gruselig, dachte sie bei sich.

Es dauerte einen Moment bis sie den Mut zusammennahm, noch einmal zu dem Hauseingang zu sehen. Atharr war wieder verschwunden. Erleichtert atmete sie aus und kletterte aus ihrem Versteck. Nun konnte sie endlich zu Iti gehen und ihm den Fisch zeigen, den sie stibitzt hatte.

Iti freute sich riesig und machte sich genüsslich über den Fisch her. Anschließend dankte er ihr damit, dass er sich auf sie warf und ihr Gesicht abschleckte. Lachend schob sie ihn von sich. Er war ihr schon richtig ans Herz gewachsen. Sie ihm bestimmt auch. Zumindest hoffte sie dies. Sie blieb noch einige Zeit bei ihm, kämmte sein Haar und schmuste mit ihm. Doch nach geraumer Zeit wusste sie, dass sie wieder zurück musste, ihre Eltern erwarteten sie bestimmt schon.

Sie zwängte sich durch das Tor und drehte sich um. „Nein“, flüsterte sie kreidebleich. Zitternd presste sie sich gegen das Tor. „Na du kleine Göre, was machst du denn hier? Hast du einen kleinen Freund? Oder bist du im Bund mit dem Teufel?“, höhnte John. Die übrigen Junge lachten nur dreckig. „Haut ab!“, kreischte sie mit zitternder Stimme. „Wieso denn? Dürfen wir deine Geheimnisse nicht teilen? Wir sind doch Freunde oder etwa nicht?“ Mit einem bösen Lachen ging er auf sie zu. Dann nickte er den anderen zu und sie kreisten Yuzieh ein.

Immer näher kamen sie ihr. Dann stand John vor ihr und hielt sie an den Armen fest. „Kommt Jungs, ein paar Schläge auf die Knie und in den Bauch wird keiner bemerken, da gibt es kaum Flecken“ Hilflos wand sie sich. „Hört auf!“ Ein Bellen erklang. Die Jungen drehten sich erschrocken um. Iti stand im Tor. Er sah John an und dann Yuzieh. Aus seiner Kehle kam ein tiefes grollendes Knurren. Einige Jungen wichen zurück. Johns Griff wurde fester. Yuzieh schrie auf und Iti kam langsam näher. Immer lauter knurrend. „Nicht!“, schrie Yuzieh, „bleib zurück Iti.“ Er verstand nicht. Kam immer näher.

John wich einen Schritt zurück. Er war nun der einzige, der noch bei Yuzieh stand, die übrigen waren zurückgewichen und standen in sicherer Entfernung. Iti würde gleich angreifen, das musste sie irgendwie verhindern. Die Dörfler würden ihr den Hund gewiss wegnehmen, wenn er John angriff.

„Lass sie los“, befahl eine dunkle kräftige Stimme in Yuziehs Rücken. Blankes Entsetzen machte sich auf Johns Antlitz breit. Er ließ sie los, wich zurück und rannte schließlich davon. Yuzieh fiel auf die Knie. Sie schwitzte. Iti rannte zu ihr und schmiegte sich an sie. Er hatte ihr helfen wollen. Sie bedeutete ihm also auch etwas. Yuzieh sah sich um. Dort stand Atharr. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen. Er ging, erstaunlich schnell und dann war Yuzieh mit Iti allein.

Sie lachte auf vor Freude: „Freunde für immer oder was sagst du Iti?“

Impressum

Texte: Sebastian F. Klos
Tag der Veröffentlichung: 21.04.2014

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