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SCHIFFBRUCH AN DER TODESKÜSTE

Kai Krzyzelewski

 

Text:

Copyright © 2017 Kai Krzyzelewski

Buchcovergestaltung und -illustration:

Copyright © 2017 Kai Krzyzelewski


Alle Rechte vorbehalten.

Kapitel 1

1

 

Ein Klopfen an der Haustür riss Martin Sharpe aus seinen Gedanken.

Erst jetzt bemerkte er, wie spät es wieder geworden war. Der Landstrich jenseits des Fensters war in Dunkelheit getaucht. Die Kerze, die Martin Sharpe sich an jenem Abend entzündet hatte, als er sich wie so oft in sein Arbeitszimmer zurückzog, war zu einem kümmerlichen Stumpf zusammengeschmolzen.

Und als Martin Sharpe die Formen betrachtete, die das Wachs auf der Tischplatte seines Schreibtischs gebildet hatte, widerten sie ihn an. Sie erinnerten ihn an nicht weniger als an die schleimigen Tentakel eines Seeungeheuers.

Entsetzt wandte er sich ab und vergrub das hagere Gesicht in seinen Händen. Sie waren ein fürchterlicher Anblick. Knochig waren sie, und an einer Hand wölbte sich eine böse Narbe.

Mehrmals fuhr er sich über die eingefallene Haut seines Gesichts in der Hoffnung, seine ihn plagenden Gedanken fortwischen zu können.

Als das nichts half, entdeckte er durch einen Spalt zwischen Zeige- und Mittelfinger das verschmierte Weinglas, welches er an diesem Abend nicht nur ein Mal zur Hand genommen hatte. Er nahm die Hände von den Augen, suchte nach der Flasche, schnappte danach und goss hastig ein.

Ein halbvolles Glas bekam er heraus, dann rollte die unachtsam hingestellte und sodann umgefallene Flasche über den Tisch. Ein, zwei Tropfen leckten noch heraus. Dann klirrte es, als sie auf dem Boden aufprallte.

An Martin Sharpes Ohren mochte das Klirren noch dringen, doch nicht in seinen Geist. Denn er kippte soeben den Inhalt des Glases gierig in sich hinein.

Dann, einen Augenblick lang, fasste er sich. Er bemerkte sogar die Tropfen, die aus der Flasche getropft waren und das Papier befleckt hatten, welches säuberlich aufgestapelt auf seinem Schreibtisch lag.

Martin Sharpe hatte das Papier nicht angerührt. An keinem Abend, den er hier in seinem Arbeitszimmer verbracht hatte. Dafür den Wein. Den hatte er angerührt. Ein kleines Vermögen hatte er ausgegeben, um seinen Vorrat aufzutürmen. Doch selbst der ging nun zuneige.

Denn Martin Sharpe fand keine Ruhe.

Er erinnerte sich an das Klopfen. Sein Blick fiel erneut hinaus in die Dunkelheit, als seinen Geist die Frage quälte, wer ihn wohl aufsuchen wollte. Zu so später Stunde! Eingeladen hatte er niemanden. Das tat er niemals. Und die wenigsten wussten, wer er war oder wo er sich aufhielt.

Er lauschte in der Hoffnung, dass er irgendeinen Hinweis heraushören konnte, wer vor seiner Tür stand.

Er wünschte kurz darauf, er hätte es nicht getan.

Denn war da nicht das Rauschen der See zu hören?

Unmöglich!, verdrängte Martin Sharpe den Gedanken, denn wie hätte er hier, weit draußen auf dem Land, fern der Küste, das schauerliche Rauschen der See hören können, in dem so viele Erinnerungen lagen?! Der Wind, ermahnte er sich. Es ist doch nur der Wind!

Er sprang auf. Und dann das: Die Holzdielen unter seinen Füßen schwankten und ließen ihn das Gleichgewicht verlieren.

Das Schiff rollt!, schoss es durch Martin Sharpes Gedanken. Wir haben starken Seegang!

Zu seinem Glück fiel sein Blick auf das Weinglas, das auf dem Schreibtisch stand. Dieses riss ihn zurück in die Realität.

Ich bin betrunken, erkannte er mit dem Rest seines Verstandes und kicherte, während ihm eine Träne aus dem Auge rann. Von dem klaren Verstand, der ihn einst ausgezeichnet hatte, war nur noch ein Schatten übrig.

Martin Sharpe knöpfte sein Leinenhemd zu und machte sich auf, demjenigen zu begegnen, der ihn aufgesucht hatte.

Er hatte Mühe, geradeaus zu gehen. Dass ihn dies an seine Jahre auf See erinnerte, sperrte er in ein geistiges Verlies und warf den Schlüssel weg.

Die See war weit weg.

Dennoch nahm Martin Sharpe die Steinschlosspistole von der Kommode und steckte sie in den Gürtel. Dann entzündete er den dreiarmigen Kerzenhalter und verließ sein Arbeitszimmer.

Es war dunkel in dem kleinen Landsitz. Das rötliche Licht der Kerze flackerte und warf tiefe Schatten in das von Schrecken gezeichnete Gesicht Martin Sharpes. Die Spiegel im Haus hatte er längst abgehängt, als er einst hineingesehen und den Mann auf der anderen Seite nicht wiedererkannt hatte. Aus dem einst gepflegten und wie das Haupthaar blonden Schnurrbart war ein unansehnlicher Vollbart geworden, dem Weinflecken eine neue Farbe verliehen hatten. Das gepflegte Haar war länger geworden und hing zottelig hinab. Und auch wenn er stets schlank und das Gesicht hager gewesen war, so war er nun nicht mehr als Haut und Knochen.

Martin Sharpe ließ die Türschwelle seines Arbeitszimmers hinter sich und trat hinaus in die Halle, von der er in einiger Entfernung die Doppeltür erblicken konnte, die nach draußen führte.

Zwar war es auch in der Halle dunkel, doch er entdeckte ein zweites Kerzenlicht, welches durch die Halle huschte und sich auf die Eingangstüren zubewegte. Es war Carolina, die Dienerin.

Es klopfte ein zweites Mal.

Und dann überlegte es sich Martin Sharpe anders. Er wollte mit einem Mal nicht mehr wissen, wer sich dort draußen befand. Er wollte allein sein. Nur allein.

Er hob die Hand und öffnete die Lippen zu einem ermahnenden Ruf.

Doch es war zu spät. Carolina hatte die Eingangstüren bereits erreicht und öffnete die eine einen Spalt weit.

Martin Sharpes Lippen schlossen sich. Im selben Moment langte die Hand, die er erhoben hatte, hinab zum Griff seiner Steinschlosspistole.

Er lehnte sich etwas nach links, dann nach rechts. Carolina aber verdeckte den Blick auf den Eingang.

»Einen guten Abend, Herr«, wünschte die Dienerin.

Ein Mann ist es also, vermerkte Martin Sharpe.

Und dann bewegte sich Carolina sehr günstig. Oder auch nicht. Denn im nächsten Augenblick wünschte sich Martin Sharpe, nichts gesehen zu haben.

Doch es war nicht mehr zu ändern, dass er im Schein von Carolinas Kerzenleuchter ein stämmiges Beinpaar erkannt hatte, dessen Füße in Seemannsstiefeln steckten.

Ein Seemann!

Die Stiefel waren verschmutzt und abgetragen. Als wären sie draußen auf See der Hölle ausgesetzt gewesen.

Oder als wären sie direkt aus der Hölle gekommen!

Martin Sharpe wirbelte herum; drängte zurück in sein Arbeitszimmer. Doch als er die Schwelle erneut passieren wollte, packte er nach dem Türrahmen und hielt sich selbst zurück.

»Nein«, raunte er, stieß sich ab und zog die Steinschlosspistole aus dem Gürtel. »Es ist vorbei! Vorbei!«, stieß er nun etwas lauter hervor.

Er stürmte durch die Halle, zog den Hahn der Waffe zurück, überhörte Carolinas Schreckensschrei, als sie zur Seite sprang, und richtete dann die Waffe auf wen auch immer diese Nacht hergebracht haben sollte.

Dann das Weinen eines Säuglings.

Das Aufstöhnen Martin Sharpes, als seine Hand zitterte und sich sein Zeigefinger verkrampfte.

»Gnädiger Herr, bitte senken Sie die Waffe«, flehte die Dienerin und hob beschwichtigend die Hände.

Der Säugling, der draußen in der Kälte war, weinte.

Martin Sharpe ächzte und spürte, wie sich ein Wimmern in seiner Kehle empordrängte.

Nur der alte Mann, der den Säugling vor der Tür in seinem Arm hielt, der alte Mann in seinen Seemannsstiefeln, tat nichts weiter, als dem Hausherrn in die Augen zu blicken.

»Sie?!«, hauchte Martin Sharpe. Die Hand an der Schusswaffe zitterte, sodass er wohl nie getroffen hätte, selbst, wenn er es gewollt hätte. »Ich nahm an, Sie wären tot, Cliff. Wie auch die anderen. Ein Irrtum. Was wollen Sie von mir? Wollen Sie sich ... rächen

»Martin Sharpe«, gab der alte Mann mit finsterer Stimme zurück. Wenn er die Worte sprach, bewegten sich die Lippen in dem zotteligen, ergrauten Vollbart kaum, dafür bildeten sich stetig neue Falten in seinem Gesicht, die sich mit anderen verbanden und wieder voneinander lösten. Hier, in der Dunkelheit und nur von den Kerzenlichtern beschienen, wirkten die Gesichtsbewegungen des Alten auf Martin Sharpe wie die See.

Martin Sharpe drohte, die Fassung erneut zu verlieren.

Noch einmal festigte sich der Griff um seine Schusswaffe.

»Die Herren kennen sich?«, mischte sich Carolina, die Dienerin, ein. »So verhalten Sie sich doch bitte wie zwei Christenmenschen.«

»Schweigen Sie, Carolina!«, zischte Martin Sharpe. »Dieser Mann ist kein Christenmensch.«

Das Kind im Arm des Alten schrie sich die junge Seele aus dem Leib.

Und es war wohl dieses Geschrei, welches die Dienerin nicht zur Ruhe kommen ließ. »Dann seien Sie doch bitte das Vorbild an Nächstenliebe, gnädiger Herr«, bat sie.

»Sie zittern, Martin Sharpe«, bemerkte der Alte, Cliff mit Namen. »Was mich angeht, haben Sie keinen Grund dazu. Ich will Ihnen nicht schaden.« Er betrachtete den Hausherrn eindringlich. »Sie selbst aber scheinen sich genügend angetan zu haben. Beinahe hätte ich Sie nicht erkannt. Sie haben sich verändert. Zehrt es noch an Ihnen, was geschehen ist? Sind es die Schrecken, die Sie erfahren haben? Oder sind zumindest einige der Gedanken, die Sie plagen, diejenigen der Schuld? Wäre dem so, wären meine Hoffnungen nicht völlig unsinnig gewesen. Dann war es richtig, Sie zu suchen und mich heute an Ihre Türschwelle zu begeben.«

Martin Sharpes Finger zitterten noch stärker. Infolgedessen verlor er gänzlich den Halt um seine Waffe. Sie fiel zu Boden, das Pulverpfännchen sprang auf und das Schießpulver rieselte zwischen die Holzdielen.

Der Träger wich zurück und krümmte sich dabei, als hätte man die Kugel in seine Gedärme gejagt. »Schrecken – und Schuld«, wimmerte Martin Sharpe. »Was vor Monaten geschah, hat meine Seele verzehrt. In flüchtigen Momenten fand ich ein Stück meiner Seele wieder. Doch nun ... nun sind alle Hoffnungen auf ein gewöhnliches Leben verloren. Mit Ihrem Erscheinen haben Sie mich für alle Ewigkeiten verdammt! Das weiß Gott!«

Der Alte spie auf den Boden, was Carolina entsetzt aufstöhnen ließ. Dann meinte er: »Glauben Sie mir, Martin Sharpe, den Zorn Ihres Gottes fürchte ich nicht, selbst jetzt, wo der meine mich verlassen hat. Dass mein Leben vorüber ist, ist mir bewusst. Das ihre aber nicht.« Er reichte mit den Armen nach vorn und zeigte so das schreiende Kind. »Würde sie bei mir bleiben, würde sie sterben. Aber ein Mann wie Sie, Martin Sharpe, der gänzlich dieser Welt angehört, könnte sie retten. Wissen Sie, wer sie ist?«

Martin Sharpe betrachtete das Kind. Ein Mädchen. Wer sie war, hatte für ihn zunächst keinerlei Rolle gespielt.

Doch nun, da der Alte ihn darauf ansprach und er in ihre dunklen, unendlich tief scheinenden Augen sah, da erkannte er sie. Es hätte nicht einmal des dunklen Mals an der Stirn des kleinen Mädchens bedurft, um alle Zweifel auszuräumen. Wie eine Mutter, die ihr nie gesehenes Kind unter Tausenden erkennt, erkannte Martin Sharpe dieses Mädchen.

Und ebendieses Erkennen schlug Martin Sharpe entgegen wie ein Hammerschlag auf einen Amboss. Es ließ ihn zurücktaumeln. Fallen. Und am Boden hockend, war sein Geist von den Augen jenes neugeborenen Mädchens erfüllt.

Es war ihm, als blicke er noch einmal in die Augen ihrer Mutter!

»Es ist Adriennes Kind, nicht wahr, Cliff?«, krächzte Martin Sharpe, was keiner Antwort mehr bedurfte. »Adriennes und ...«

»... und Ihres«, bestätigte Cliff.

»Oh!«, hörte man dann in jener Halle die Dienerin verzückt rufen. »Gnädiger Herr, ist es wahr? Ist jenes wunderschöne Mädchen das Ihre?«

Martin Sharpe schluckte, als die Dienerin dem alten Mann das Kind aus den Armen nahm und auf ihren eigenen hin und her wog. Geschaukelt zu werden, als wäre es auf See, schien der Neugeborenen zu gefallen, denn ihr Schreien verstummte.

»Geben Sie es zurück, Carolina«, verlangte der Hausherr. Langsam erhob er sich.

»Das können Sie nicht ernst meinen«, erwiderte die Dienerin trotzig. Immer wieder blickte sie in die dunklen, tiefen Augen des Mädchens. »Aufziehen werde ich sie. Sehen Sie doch, wie wunderschön sie ist.«

Martin Sharpe lachte verächtlich. An den Alten gewandt, fragte er bissig: »Wird sie so wunderschön werden, wie ihre Mutter, Cliff? So schön, wie ich sie aus ihren letzten Atemzügen in Erinnerung behalten habe?«

Der alte Mann schwieg eine Weile. Doch sein Gesicht sprach viel. Es wirkte nun wie die See bei Sturm.

»Gnädiger Herr«, wandte sich da die Dienerin an den Hausherrn, »ich arbeitete für Sie, weil ich in Ihnen einen guten Menschen sah. Einen gebrochenen Menschen fürwahr, aber doch einen guten. Enttäuschen Sie mich bitte nicht. Senden Sie dieses Kind unseres Herrn nicht hinaus in den Tod.«

Wieder lachte Martin Sharpe, doch es war ein verzweifeltes Lachen. »Wenn Sie doch wüssten, was Sie da reden, Weib! Dieses Kind ist kein Kind unseres Herrn! Sagen Sie es ihr, Cliff!«

»Es ist ebenso Ihr Kind, Martin Sharpe. Aber erkennen Sie es nicht? Ich gebe Ihnen damit eine Gelegenheit, Ihre Schuld zu begleichen. Was vor Monaten geschah, ist untrennbar mit Ihnen verwoben. Ihre Entscheidung am heutigen Tag wird bestimmen, wie die Geschichte ausgeht. Geben Sie das Kind nun fort, werden Sie uns alle ausgelöscht haben. Ihre Seele, die dies niemals verkraften könnte, wäre verloren. Nehmen Sie das Kind jedoch in Ihre Obhut, können Sie Ihre Seele retten. Und nicht nur die! Adrienne wird Ihnen aus ihrem nassen Grab zulächeln. Sie wird Ihnen verzeihen.«

»Sie sprechen von ihr wie von ...«, begann Martin Sharpe und hob langsam die Steinschlosspistole auf.

Cliff ließ ihn nicht ausreden: »... wie von einer Frau, die Sie liebte, Martin Sharpe. Ich denke, das ist Ihnen bewusst. Deshalb auch plagen Sie die Schuldgefühle. Weil Sie wissen, dass Adriennes Gefühle echt waren. Deshalb auch ist mein Angebot an Sie derart großzügig, wie Sie es sich wohl kaum hätten erhoffen dürfen.«

Martin Sharpe hatte die Waffe am Lauf gepackt und sie wie einen Hammer geschwungen.

Doch sein Blick fiel wieder in die dunklen Augen des kleinen Mädchens, und so ließ er die zum Schlag erhobene Waffe sinken.

»Ich bringe die Kleine erst einmal ins Warme und sorge für sie«, meinte Carolina, gänzlich eingenommen von den Augen des Mädchens. Ihre Worte klangen, als wäre längst beigelegt und entschieden, was den heftigen Streit zwischen den beiden Männern ausgelöst hatte.

»In den Keller, Carolina. Bringen Sie sie hinunter«, verlangte Martin Sharpe.

»Aber gnädiger Herr, dort ist es kalt und ungemütlich.«

»Dann richten Sie es her. Und jetzt keine Widerrede mehr. Und noch eines: Legen Sie das Schloss vor, wenn Sie sie hineingebracht haben und hinausgehen.«

»Wie können Sie ...?«, brauste sie auf.

»Tun Sie ein einziges Mal, worum ich Sie bitte, Carolina. Ich ... werde sie später holen.«

Carolina verzog angewidert das Gesicht, doch lehnte sie sich nicht mehr auf. Im Fortgehen richtete sie sich noch einmal an Cliff: »Bitte, bleiben Sie noch und wärmen Sie sich auf. Ich will Ihnen auch eine kleine Mahlzeit zubereiten.«

Noch bevor Martin Sharpe widersprechen konnte, erwiderte der Alte: »Nein, liebe Frau, meine Aufgabe hier ist erfüllt.« Damit wandte er sich ab und stapfte hinaus in die Dunkelheit, die ihn sofort auffraß.

Carolina entfernte sich und Martin Sharpe schloss hastig die Eingangstür. Er lehnte noch einen Augenblick daran und schnappte nach Luft, bevor er sich abstieß und der Dienerin hinab in den Keller folgte. Er erhaschte noch einen Blick darauf, wie Carolina die Tür lediglich anlehnte und sich entfernen wollte. Da hechtete er hinüber und wies sie zurecht: »Sie sollten doch das Schloss nicht vergessen!« Er nahm das schwere Schloss, legte es vor die Kellertür und nahm den Schlüssel an sich.

»Ich erkenne Sie nicht wieder«, meinte Carolina verächtlich und wandte sich ab.

Wenn sie doch nur wüsste, dachte Martin Sharpe verzweifelt. Doch dann fasste er einen Entschluss. Er packte die Dienerin beim Arm und sprach eindringlich: »Sie müssen noch etwas für mich tun, Carolina.«

Fragend, ein wenig ängstlich vielleicht, blickte die Dienerin ihn an. »Was ist es?«, fragte sie, und in ihrer Stimme schien sich Besorgnis widerzuspiegeln.

Und der Wunsch, einer gemarterten Seele wie der Martin Sharpes zu helfen.

»Zuhören«, sagte Martin Sharpe. »Und morgen werden Sie sich an die Admiralität wenden. Sie werden einem guten Freund meine besten Wünsche übermitteln. Und Sie werden ihm die ganze Geschichte von Beginn an erzählen.«

»Welche Geschichte?«, fragte die Dienerin.

»Meine Geschichte. Ich werde sie Ihnen heute anvertrauen, Carolina. Und Sie werden mich für noch verrückter halten, als Sie es bereits tun. Oh, leugnen Sie es nicht, ich sehe es Ihnen ja an. Und Sie haben alles Recht dazu! Doch er wird diese Geschichte glauben. Denn er hat einen Teil davon selbst miterlebt.«

Martin Sharpe prüfte noch einmal den Sitz des Schlosses, bevor er Carolina in sein Arbeitszimmer führte und eine neue Kerze entzündete. Dann nahm er zum ersten Mal, seit er an seinem Schreibtisch saß, Papier und Schreibfeder zur Hand, und schrieb einen kurzen Brief, der klarmachen würde, dass Carolina in Martin Sharpes Auftrag kam.

Er reichte seiner Dienerin den Brief, bevor er Carolina einen Stuhl anbot, sich ihr gegenübersetzte und sich eine ganze Weile sammelte.

Währenddessen las Carolina den Brief, der ihr gereicht worden war. Den Brief an den guten Freund, von dem Martin Sharpe gesprochen hatte.

Den Brief an Admiral Owen.

Kapitel 2

2

 

Werter Freund,

 

ich hoffe, Sie erfreuen sich bester Gesundheit und die Verletzungen, die Sie davongetragen hatten, sind bestens verheilt.

Die äußeren wie auch die inneren.

Doch ich denke, dass ein Mann wie Sie die Schrecken besser verkraften konnte als ich selbst.

Ja, wie Sie sich sicher denken können, haben unsere gemeinsamen Erlebnisse und diejenigen, die diesen vorausgingen, ihre Spuren an mir hinterlassen.

Fürwahr, körperlich bin ich genesen, wenngleich Sie mich in meiner jetzigen Erscheinung wohl kaum als denjenigen wiedererkennen würden, mit dem Sie gemeinsam die Schrecken dieser Welt hinter sich gelassen haben. Doch meine gewandelte Erscheinung rührt ausschließlich von den Wunden auf meiner Seele her. Ich spreche nicht von Narben. Denn eine Narbe ist wohl eine Erinnerung an eine einstige Wunde. Doch das Vergangene ist mir nicht Erinnerung, sondern gegenwärtig.

Hätten Sie vor nicht allzu langer Zeit zu glauben gewagt, dass wir Menschen, die wir bereits im 18. Jahrhundert unseres Herrn leben, mit solcherlei Schrecken konfrontiert werden können? Solchen, die uns dermaßen erschüttern können, dass wir uns verlieren? Uns Menschen, die wir unsere Welt zu kennen glaubten?

Vielleicht haben Sie dies bereits überwunden, werter Freund. Vielleicht sind Sie bereits in Ihr normales Leben zurückgekehrt.

Ich wünsche es Ihnen!

Meine aufrichtige Entschuldigung dafür, dass ich Sie noch einmal von den Verzückungen des Gewöhnlichen losreißen muss.

Denn der Schrecken ist zurückgekehrt.

Er stand vor meiner Tür.

Während ich dieses Schreiben an Sie richte, so müssen Sie wissen, liegt ein Kind eingeschlossen in meinen Kellerräumen. Mein Kind. Und das von ihr!

Doch welche Bedeutung dieses Kind hat, werden Sie auch nach unseren gemeinsamen Erlebnissen kaum begreifen können. Wie könnten Sie, da Sie doch nur einen kleineren Teil einer längeren Geschichte selbst erlebt haben. Nur, wenn Sie die ganze Geschichte kennen, werden Sie die wahre Bedeutung dieses Kindes in all seinem erschreckenden Umfang begreifen können.

Dann werden Sie auch verstehen, warum nicht ich es bin, der heute vor Ihnen steht.

Hören Sie den Worten meiner Dienerin aufmerksam zu. Sie wird Ihnen die Geschichte von dem Zeitpunkt an erzählen, den ich für den Anfang halte.

Meine Rückkehr aus dem Ostindischen Ozean.

 

Leben Sie wohl!

Ihr Freund Martin Sharpe

 

»Sind Sie bereit, Carolina? Oh, es ist eine furchtbare Frage. Wer könnte schon bereit dafür sein?«, meinte Martin Sharpe, ließ den Kopf hängen und schüttelte ihn.

Die Dienerin aber berührte Martin Sharpes Gesicht und hob seinen schlaffen Kopf wieder an. »Erzählen Sie Ihre Geschichte, Mister Sharpe. Wenn ich Ihnen dadurch helfen kann ...«

Martin Sharpe hätte ihr gerne ein Lächeln geschenkt. Doch ob sie das winzige Zucken sah, dass über seine Lippen kam, wusste er nicht.

Er fasste ihre Hand und sagte: »Hören Sie gut zu, Carolina. Sie sind der erste Mensch, dem ich diese Geschichte anvertraue.«

Kapitel 3

3

 

Wir kehrten mit unserem Handelsschiff soeben aus China zurück, die Laderäume voll mit exotischen Gütern, darunter Tee, Gewürze und Porzellan.

Als ich damals meiner englischen Heimat entkam, besaß ich nichts. Ich war meinen Eltern lediglich stets eine große Last, da sie mein Maul mit zu stopfen hatten. Mit den Ostindienfahrern wollte ich meiner jämmerlichen Existenz entfliehen. Tatsächlich verdiente ich mir als Seemann eine gewisse Heuer, wenngleich nur der Kapitän und die Repräsentanten der Ostindischen Kompanie wirklichen Reichtum erwarben. Da ich aber einen klaren Verstand besaß, erwarb ich mir an Bord die Fertigkeiten des Lesens und Schreibens, die mich vielfältigere Aufgaben übernehmen ließen. Gemeinsam mit meinen wachsenden Fähigkeiten als Seemann konnte ich so zu einem wertvollen Mitglied der Besatzung heranwachsen.

Nach mehreren Fahrten um das Kap der Guten Hoffnung erlebte ich schließlich etwas, das ich bei meinem Aufbruch in der Heimat kaum für möglich gehalten hätte: Heimweh.

Ich raffte also meine Ersparnisse zusammen und freute mich schon auf die Heimat und ein Wiedersehen mit Vater und Mutter. Was ich zu jenem Zeitpunkt nicht wissen konnte, war, dass meine Eltern unlängst verstorben waren und einen unrühmlichen Platz auf dem örtlichen Friedhof gefunden hatten.

Davon nichts wissend, machte ich meine letzte Reise aus fremdartigen Gefilden in Richtung Heimat. Der Kapitän, ein fähiger Mann, der selbst dann noch Wind in den Segeln zu haben schien, wenn andere schon über Flaute klagten, zeigte sich angesichts meiner Abmusterung bestürzt. Doch das nur wegen des Verlustes für seine Besatzung. Er versicherte mir in all seiner Menschlichkeit, dass er mir Verständnis entgegenbrachte.

Ich mochte den in Ehren ergrauten Mann.

Zu den unzähligen Opfern ist auch dieser Kapitän als ein Verlust für die Menschheit anzusehen.

Denn was uns schließlich widerfuhr, dagegen war auch der Kapitän machtlos.

Zumindest schien es so zu sein. Denn ich lag gänzlich unrühmlich in meiner Hängematte unter Deck, als es geschah.

Als ich dort unter lautem Krachen und dem furchterregenden Geräusch schwappenden und spritzenden Wassers erwachte, war es um das Schiff unlängst geschehen. Mit ungeheurer Gewalt wurden die Planken nach innen gequetscht, und das Wasser drang so schnell ein, dass es mich schon bis zur Hüfte einschloss, als ich mich aus meiner Hängematte befreit hatte.

Der Kapitän brüllte oben »Alle Mann an Deck!«, und ich erinnere mich, dass ich mehr schwimmend als gehend die Luke erreichte.

Oben erwartete mich gleißendes Licht.

Ich erinnere mich an Schemen von Menschen, die völlig ziellos umherliefen und voller Angst schrien. Und an das leidvolle Lärmen des Schiffs, welches wortwörtlich auseinandergerissen wurde.

Ich selbst schloss mich dem sinnlosen Umherlaufen in der Hoffnung an zu verstehen, was um mich herum geschah.

Waren wir auf Klippen aufgelaufen? Waren wir mit einem anderen Schiff zusammengestoßen?

Ich war in jenem Moment nicht einmal in der Lage, mir einen Reim daraus zu machen, warum mich das gleißende Licht nur von einer Seite einhüllte. Denn als ich mich von jenem Licht abwandte, bemerkte ich, dass es in Wahrheit tiefschwarze Nacht war.

Ich erinnere mich, dass die Frage mein Bewusstsein erreichte, was wohl in der Lage wäre, ein solch helles Licht auszusenden?

Da es stetig leuchtete, schloss ich einen Blitz aus. Für ein Feuer aber war es zu gleißend weiß.

Was ich dann sah, schrieb ich danach zunächst entsetzlicher Angst zu, die mich Dinge sehen ließ, die unmöglich wahr sein konnten.

In einem winzigen Augenblick, ich hatte mich erneut dem Licht zugewandt, um es zu erforschen, glaubte ich, hinter jenem Licht etwas erkannt zu haben.

Etwas Entsetzliches!

Ich hatte den Höhepunkt meiner Angst längst überschritten, sodass es ihr leicht fiel, mir mein Bewusstsein zu rauben.

Aus dem gleißenden Licht wurde mit einem Mal eine erstickende Schwärze, die mich umfing.

Kapitel 4

4

 

Als mein Bewusstsein langsam wieder in meinen Körper kroch, erkannte ich, dass das entsetzliche Stöhnen des Schiffs verstummt und das Tosen der See zu einem leisen Glucksen verkommen war. Ich spürte meine Glieder und das unangenehme Gefühl meines nassen Leinenhemdes, das unter der Weste an meinem Körper klebte. Dann begriff ich, dass ich auf dem Bauch lag, und dass seichte Wellen über meine Seemannsstiefel und hinauf zu meinen Lippen schwappten.

Ich riss meine Augen auf, die mir zunächst nur ein verschwommenes Bild bescherten, mit dem ich wenig anzufangen wusste. Tatsächlich kehrte mein Tastsinn zuerst zurück, und so begriff ich durch hastiges Herumgegreife mit den Händen, dass ich an eine felsige Küste gespült worden war.

 

ENDE DER LESEPROBE

Impressum

Texte: Kai Krzyzelewski
Bildmaterialien: Kai Krzyzelewski
Cover: Kai Krzyzelewski
Tag der Veröffentlichung: 19.10.2017

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