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DER VERLORENE ZAUBER

Kai Krzyzelewski

 

Text:

Copyright © 2015 Kai Krzyzelewski

Umschlaggestaltung und -illustration:

Copyright © 2015 Kai Krzyzelewski

 

Alle Rechte vorbehalten.

Kapitel 1

Das Ungeheuer

 

Der Nebel waberte zwischen den Fichten des Schlafenden Waldes hervor. Für einen kühlen, feuchten Herbstmorgen war dies keineswegs ungewöhnlich. Doch obwohl Tjördis den Wald seit vielen Jahren kannte, wirkte er heute anders auf sie.

Oft kam sie her, um nachzudenken. In den letzten Tagen, seit ihrem dreizehnten Geburtstag, war das Verlangen danach sogar noch stärker geworden. Etwas, das sie nicht verstand, drängte sie dazu, sich für eine Weile von den Menschen fernzuhalten und gänzlich mit sich und der uralten Natur allein zu sein. Sie konnte sich so leise bewegen, dass sie nicht selten ein Reh oder gar ein Wildschwein beobachten konnte. Sie genoss es dann stets, auf dem weichen Waldboden zu sitzen, auf den Samen der Fichtenzapfen zu kauen und den Tieren beim Fressen zuzusehen. In diesen Stunden fühlte sie sich ihrem Heimatdorf, einem kleinen Ort nördlich des Waldes mit dem Namen Ruhja, so fern, als gehörte sie mehr dem Wald an als den Wohnhütten, den Ställen – und den Menschen.

Doch heute konnte sie die Stille des Waldes nicht spüren. Im Gegenteil erfasste sie eine Unruhe, und ein merkwürdiger Frost kroch von ihren Zehenspitzen hinauf bis in ihre Fingerkuppen. Ihr Fellumhang, vorn mit einer Eisenfibel geschlossen, bot ihr heute keine Wärme. Als ihre Finger immer kälter wurden, vergrub sie die Hände unter ihren Armen. Doch auch dort, unter der kurzen Wollkleidung unter dem Umhang, erwärmten sie sich nicht.

Kaum einige Schritt entfernt, hatte sich das Wasser des letzten Regens in einer Pfütze gesammelt. Sie kniete sich daneben und betrachtete ihr Spiegelbild. Die heraufziehende Kälte hatte ihrem Gesicht jede Farbe gestohlen. Sie war zwar von Natur aus sehr blass, doch heute schien ihre Haut weiß wie Schnee. Einzig die unzähligen Sommersprossen, von denen ihr Gesicht übersät war, sowie die zu einem langen, über ihre Schulter fallenden Zopf zusammengebundenen, rotblonden Haare fügten etwas Farbe hinzu. Sie bemerkte, dass ihre Mütze mit dem breiten Fellrand etwas verrutscht war, und zog sie wieder ganz über ihre Ohren.

Die anderen Kinder des Dorfes hänselten sie für ihr Aussehen und die abgetragene Mütze, die sie nur ganz selten und oft nicht einmal zum Schlafen abnahm. Und wenn die Kinder sie in Frieden ließen, dann ließen ihr ihr Ziehvater, der alte Ziegenhirte Ulfur, und vor allem sein Sohn Brukk kaum Zeit zum Aufatmen. Ziegen auf die Wiese führen und zurücktreiben, sie melken und die Milch in einem Kochtopf zu Käse werden lassen, dazwischen Holz hacken, Dächer ausbessern und Kissen stopfen – es gab immer etwas zu erledigen. Aber wenn sie dann doch einmal Ruhe hatte, flüchtete sie sich in den Schlafenden Wald.

Ihren wirklichen Vater kannte Tjördis nicht. Er musste gänzlich anders ausgesehen haben als der einst dunkelhaarige Ulfur und sein ebenso dunkelhaariger Sohn.

Vielleicht hätte sie sich hübscher gefunden, wäre sie wirklich seine Tochter gewesen und würde sie ihm ähnlich sehen. Sie selbst empfand sich nämlich keineswegs als hübsch, wie sie nun, da sie ihr Spiegelbild betrachtete, erneut feststellte.

Tjördis klatschte mit der Hand ins Wasser und wandte sich von ihrem Spiegelbild ab.

Eine Träne kullerte über ihre Wange. Wo war sie hin, die Ruhe, die sie stets in ihrem Wald erfahren hatte?

Doch sie schien nicht die Einzige zu sein, die diese Ruhe heute nicht finden konnte. Seit sie den Wald betreten hatte, war ihr nicht ein einziges Tier begegnet. Kein Reh, kein Wildschwein, nicht einmal eine winzige Maus.

Tjördis blickte sich um. Der Nebel hatte sie inzwischen vollständig umgeben. Längst war der Waldrand, hinter dem Ruhja lag, von dem grauen Schleier verdeckt worden. Sie machte sich jedoch keine Sorgen, den Weg nicht mehr zurückzufinden. Sie kannte den Schlafenden Wald genau. Ja, sie konnte sogar an der Zahl und dem Wuchs der Äste genau erkennen, um welchen einzelnen Baum es sich handelte.

So sehr kannte sie diesen Wald.

Doch jene Kälte, die an ihr hinaufkroch, hatte sie noch niemals gespürt. Sie ging einige Schritte hierhin und dorthin, spürte den weichen Waldboden unter ihren Schuhen aus Ziegenleder.

Sie sog die Luft tief in ihre Lungen – und musste plötzlich kräftig husten.

Irgendetwas hatte sich in die frische Waldluft gemischt. Ein widerwärtiger, fauliger Geruch. Fast hätte sich Tjördis übergeben, doch im letzten Moment fing sie sich.

Sie atmete jetzt flacher und versuchte, so wenig wie möglich von der Luft einzuatmen.

Sie wollte nach Hause und den Schlafenden Wald ein anderes Mal besuchen, wenn er wieder so war, wie er immer gewesen war.

Tjördis wandte sich um, um zurückzugehen – und erschrak.

Der Nebel war hinter ihr so dicht herangerückt, dass er die Baumstämme geradezu verschluckte. Sie konnte kaum von einem Baum zum nächsten blicken. Und als sie an der Fichte hinaufblickte, die ihr am nächsten war, war dessen Spitze ebenfalls von dem grauen Schleier verhüllt.

Sie streckte den Arm ganz nach vorn aus. Bereits die Hand am Ende ihres Arms verschwand leicht im Nebel. Rasch zog sie den Arm zurück. Nur, wenn sie die Hand ganz dicht vor Augen hielt, konnte sie sie noch klar erkennen.

Der Nebel ist sonderbar! Das kann nicht mit rechten Dingen zugehen!, glaubte Tjördis. Es war nun nicht mehr nur die Kälte, die sie frösteln ließ – ihre eigene Angst ließ sie am ganzen Leib zittern.

»Ist jemand da?«, fragte sie zögerlich in das Grau hinein. Dann noch einmal etwas lauter: »Ist vielleicht irgendjemand da?«

Niemand antwortete ihr. Doch nicht nur das. Tjördis hörte gar nichts mehr. Kein umherziehendes Tier, nicht den leisesten Windzug.

Sie war ganz allein!

Tjördis drückte sich mit dem Rücken an die Fichte, die ihr am nächsten war, und weinte.

Ich bin ganz allein!, dachte sie immer wieder. Ich bin ganz allein!

Und dann knackten einige Äste jenseits des Baumes in ihrem Rücken. Mit einem Mal schluckte sie alle Tränen hinunter und hielt die Luft an. Schnell fuhr sie mit der Hand hinab zu dem Messer, das an dem zu einem engen U gebogenen Griff im Gürtel neben ihrer ledernen Gürteltasche steckte.

Es knackte erneut. Was auch immer es war, es war schwer. Sehr schwer! Denn es brachen herabgefallene Äste unter dem Gewicht und der Waldboden zitterte ein wenig.

Das ist kein Mensch!, ahnte Tjördis. Und was würde ihr kleines Messer gegen etwas ausrichten können, das den Waldboden erzittern ließ?!

Plötzlich wurde der üble Geruch, den sie schon zuvor wahrgenommen hatte, stärker. Sie löste die Hand vom Griff ihres Messers und presste sich beide Hände vor Mund und Nase. Auf keinen Fall wollte sie auf sich aufmerksam machen; wollte auf keinen Fall wieder husten müssen – oder schreien!

Denn am liebsten wäre sie schreiend davongerannt. Zurück ins Dorf. Auf die Ruhe des Schlafenden Waldes gab sie jetzt nur noch sehr wenig. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihrem Ziehvater mit den Tieren zu helfen. Ja, er war ein bitterer Mann, weil, wie er immer wieder betonte, seine Frau sehr früh von ihm ging. Er lachte nur sehr selten, war streng, lobte sie nie und machte ihr nie auch nur ein kleines Geschenk oder ein Kompliment. Aber sie wäre unter dem Schutz ihres Heimatdorfes!

Doch wo war Ruhja? In welcher Richtung lag das Dorf? Für gewöhnlich konnte sie an einem einzelnen Ast die richtige Richtung ausmachen – doch wenn sie vor lauter Nebel gar keine Äste sehen konnte? Und selbst, wenn sie es könnte – würde sie das Dorf erreichen, bevor die fremde Kreatur hinter ihr sie erwischen würde?

Erneut knackten einige Äste – ganz dicht hinter ihr! Nein, sie würde niemals rechtzeitig entkommen können, das wusste sie jetzt. Sie konnte nur hoffen, dass die Kreatur in dem Nebel ebenso wenig erkennen konnte wie sie. Und dass der Gestank, welcher in der Luft lag, ihren eigenen Geruch überdeckte, so dass die Kreatur sie nicht riechen konnte.

Sie konnte die schweren Schritte nun ganz deutlich hören. Ganz offensichtlich bewegte sich die Kreatur um die Fichte herum, hinter der Tjördis stand. Langsam und vorsichtig drehte sie den Kopf zur Seite.

Und halb aus dem Nebel herausragend sah sie die Kreatur – das Ungeheuer!

Tjördis biss sich in die Hand, um nicht vor Entsetzen zu schreien. Noch hatte das Ungeheuer sie nicht gesehen; ging ruhig, aber bedrohlich um die Fichte herum; war nun direkt neben ihr, so dass sie es nun gänzlich sehen konnte. Hätte sie den Arm ausgestreckt, sie hätte es berühren können. Doch nichts lag ihr ferner, als das zu tun.

Das Ungeheuer war nicht von dieser Welt. Es hatte den Gang und die Statur eines Braunbären. Doch es war lediglich dessen Skelett! Und dieses Skelett, die fleischlosen Knochen von Beinen, Hals und Brust bewegten sich so, als würden sie noch von den Muskeln zusammengehalten. Tjördis konnte durch die mit spitzen Dornen bewachsenen Rippen hindurchblicken und sah weder Herz noch Lunge noch Magen. Wo ein drolliges Gesicht mit einer verspielten Schnauze selbst den gefährlichsten lebenden Bären auszeichnete, da mahlten bei diesem Scheusal die blanken Knochen aufeinander; die großen Zähne ragten bedrohlich aus den Kiefern.

Konnte dieses Ungeheuer sie überhaupt sehen? Denn dort, wo die Augen hätten sitzen müssen, befand sich bloß eine schwarze Leere.

Es sieht mich nicht, brannte der Wunsch in Tjördis Kopf. Es sieht mich nicht!

Ihr Wunsch schien sich zu erfüllen. Das Skelett wanderte an ihr vorbei und zurück in den Nebel. Schon verflüchtigte sich der Gestank, den diese Kreatur absonderte. Tjördis würde gleich davonrennen können.

Die Hände dicht vors Gesicht gepresst, lächelte sie und musste sich zwingen, nicht laut loszulachen, jetzt, wo die Gefahr vorüber war. Das Ungeheuer war nun bereits wieder in dem Nebel verschwunden.

Da löste sich ein Fichtenzapfen über ihr, traf dicht neben ihr dumpf auf dem Waldboden auf und einige seiner Schuppen sprangen vom Zapfen und wurden umhergeworfen.

Tjördis nahm es wahr, als würde die Zeit für einen Augenblick verlangsamt werden. Der Aufprall des Zapfens auf dem Boden war für sie so laut, als wäre die ganze Fichte umgestürzt.

Langsam blickte Tjördis von dem auf dem Waldboden rollenden Zapfen in den Nebel vor ihr.

In vollkommener Stille reckte sich der blanke Schädel des Ungeheuers heraus; Tjördis wurde aus zwei tiefschwarzen Augenhöhlen angestarrt.

Und dann schließlich schrie Tjördis.

Der Bär tat es ihr gleich. Auch, wenn er keine Kehle mehr besaß, welche Laute hätte produzieren können, entrann dem Maul des Schädels ein markerschütterndes Brüllen. Im selben Augenblick schnellte das Skelett vor und auf Tjördis zu.

Sie kniete sich rasch nieder und entkam knapp dem Biss der Kreatur. Stattdessen krachten dessen riesige Zähne in den Stamm der Fichte, dass das Holz krachte.

Tjördis bebte vor Angst am ganzen Leib, als sie blind in den Wald flüchtete; in irgendeine Richtung, nur weg von dem Ungeheuer!

Auf einmal war es um sie ganz laut. Der Boden knarrte unter ihren Füßen, Äste brachen – und ihr Herz schlug so schnell und laut, dass ihre Ohren wehtaten.

Hinter ihr dröhnte das Ungeheuer und löste seine Zähne deutlich hörbar aus dem Fichtenholz. Jetzt knarrte der gesamte Baum, raschelte – und stürzte mächtig auf den Waldboden. Das Ungeheuer hatte die Fichte mit nur einem Biss gefällt!

Doch das Fallen des Stamms nahm Tjördis nur noch dumpf war, denn sie war bereits ein gutes Stück geflüchtet – glaubte sie.

Dann aber hörte sie, wie das Ungeheuer die Verfolgung aufnahm und hinter ihr durch das Unterholz brach. Wo sie aber über jede Wurzel stolperte und vor lauter Nebel in den einen oder anderen Baum hineinlief, da schien das Ungeheuer gar nichts aufhalten zu können.

Schon roch Tjördis wieder den beißenden Gestank, den es mit sich brachte. Ihr wurde übel. Die Anstrengung brachte zudem bitteren Speichel in ihren Mund.

Sie wagte einen Blick über die Schulter – gerade in dem Moment, als das riesige Skelett aus dem Nebel sprang.

Sie duckte sich weg, sah es über ihren Kopf hinwegspringen und krachend auf dem Waldboden aufkommen. Das Ungeheuer glitt kurz auf dem Waldboden aus und wurde gegen einen weiteren Stamm geschleudert. Der Stamm brach krachend auseinander und eine weitere Fichte ging zu Boden.

Währenddessen änderte Tjördis die Fluchtrichtung. Längst wusste sie nicht mehr, in welche Richtung sie rannte und wie sie je wieder zurückfinden sollte.

Doch ihrer Meinung nach würde sie ohnehin nie mehr zurückkehren. Denn lange würde sie diese mörderische Verfolgungsjagd nicht mehr aushalten!

Kein Mensch konnte jemals hoffen, einem Bären zu entkommen. Sie waren zu schnell trotz ihrer Größe. Doch man hätte bei einem echten Bären hoffen können, durchs Ruhigbleiben oder Totstellen vor dem Gefressenwerden bewahrt zu werden.

Bei diesem Ungeheuer allerdings war jede Hoffnung verloren.

Ein letztes Mal nahm Tjördis all ihre Kräfte zusammen und rannte verzweifelt drauflos. Noch einmal drehte sie sich um. Auch, wenn sie das Skelett noch nicht sah, so wusste sie, dass es dicht hinter ihr war.

Sie blickte wieder nach vorn.

Ein Stamm tauchte unmittelbar vor ihr auf. Erschrocken versuchte sie, zur Seite auszuweichen. Sie stolperte über eine massige Wurzel und fiel direkt in ein dichtes Geflecht weiterer Wurzeln. Sie prallte mit der Nase auf eine von ihnen und sah kurz darauf ihr eigenes Blut daran.

Sie hielt sich die schmerzende Nase – und sah plötzlich, dass sich inmitten des Geflechts nicht der Waldboden, sondern ein Loch befand, welches nach unten in eine unbekannte Schwärze führte und breit genug für sie, nicht aber für das Ungeheuer schien.

Das Gebrüll der Kreatur war dicht hinter ihr, da machte sie sich klein und zwängte ihren Körper zwischen den Wurzeln hindurch in das Loch.

Einen Halt fand sie nirgends. Sie fiel nur in die Dunkelheit hinein, spürte nackten, glatten Stein, der ihr keinerlei Halt bot.

Dumpf hörte sie das Gebrüll des Ungeheuers.

Von der anderen Seite des Lochs!

Für den Augenblick war sie außer Gefahr.

 

Kapitel 2

Die verborgene Höhle


Tjördis stürzte, aber nicht tief. Nicht mehr als drei oder vier Meter glitt sie an der steinernen Wand entlang. Sie landete zwischen einem von Moos bedeckten Geflecht aus Wurzeln, welche bis hierher hinunterreichten und sich an den steinernen Wänden festklammerten.

Wollte sie wieder hinaufklettern, würde sie einfach nach einer der starken Wurzeln greifen können.

Doch für den Augenblick dachte sie nicht daran, sich wieder hinaufzubegeben, denn deutlich hörte sie, wie die schaurige Kreatur dort oben über dem Loch lauerte. Bei jedem Schritt knarzten und scharrten die Knochen aneinander und dem Maul des knöchernen Ungeheuers entrann ein gieriges Raunen.

Zwar war sie außer Gefahr. Doch was geschieht, wenn das Knochenungeheuer nicht verschwindet?, bangte Tjördis.

Die Anstrengungen und die Hitze der Flucht klangen langsam ab und die Kälte kehrte in Tjördis Körper zurück. Sie entströmte dieser widernatürlichen Kreatur wie ein Gift.

Tjördis blickte sich um. Das weiche Sonnenlicht des Herbstmorgens drang nur in einem schwachen Lichtkegel hinunter zu ihr. Sie erkannte aber, dass sie sich in einer kleinen Höhle befand, die verborgen unter den Fichten lag. Der Nebel reichte hier unten nicht hinein und der Blick war klar. Das Tau tropfte von den Wurzeln der Bäume hinab, die sich auch über die Wände und Decken dieser steinernen Kammer verteilten. Tropfen für Tropfen plätscherte hinab und kleine Pfützen bildeten sich, welche zu winzigen Bächen zwischen den rissigen Felsen wurden. Die Steinkammer hatte einen fast runden Grundriss und war nicht sehr groß; Tjördis konnte in dem mickrigen Licht sämtliche Wände ringsum erkennen – und einen Menschen, der reglos vor der gegenüberliegenden Wand lag.

»Hallo?!«, rief Tjördis ängstlich hinüber und wiederholte ihren Gruß, als keine Antwort von der anderen Seite der Höhle ertönte.

Zunächst wagte sie nicht, näher heranzugehen. Etwas an diesem Menschen war nicht richtig. Er rührte sich nicht. Und je mehr sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnten, bemerkte sie, dass das Gesicht des Menschen aschfahl und er selbst so dürr war, dass er in den Resten seiner zerlumpten Kleidung unterging.

Sie zog das Messer aus ihrem Gürtel und streckte die eiserne Klinge vor sich aus. Ob sie den Fremden damit zur Vorsicht gemahnte, wusste sie nicht. Das Messer genügte, um einem Nagetier das Fell abzuziehen. Doch würde es ihr auch gegen einen ausgewachsenen Menschen helfen, wenn die Not dazu bestünde?

Tjördis wusste nicht, ob sie sich freuen sollte, dass jemand anderes bei ihr in jener Höhle war. Vielleicht war es eine verlorene Seele wie sie, die auf der Flucht vor dem Knochenungeheuer in dieser Höhle Schutz fand. Aber etwas an diesem Menschen war ihr unheimlich. So reglos. So blass und dürr.

Schließlich war es die Hoffnung darauf, jemandem begegnet zu sein, der wie sie der Gefahr um ein Haar entronnen war, die Tjördis näherkommen ließ.

»Hallo?!«, sagte sie noch einmal. Und noch einmal: »Hallo?!«

Je näher sie dem Fremden kam, je mehr sie den schwachen Lichtkegel von oberhalb des Loches verließ und die Dunkelheit betrat, umso mehr verengte sie die Augen angestrengt zu Schlitzen, um besser sehen zu können.

Dann sah sie den Menschen – oder das, was von ihm übrig war! – deutlich genug vor sich. Sie ließ das Messer fallen, welches mit einem Klirren auf die Felsen fiel, und wich hastig zurück.

Das Ungeheuer jenseits des Loches brüllte kurz auf, als er das klirrende Metall hörte. Tjördis jedoch nahm das Brüllen nur am Rande wahr, denn ihr Herz pochte laut.

Sie wusste nun, dass sie für dieses Leben genügend Knochen gesehen hatte. Denn auch von diesem Menschen, der reglos am Boden lag, war nichts übrig als dessen Skelett!

Erneut rannen kalte Tränen über ihre Wangen; ihre Arme verschränkte sie gegen die Kälte.

Erst nach einer Weile wagte sie, den Toten etwas genauer zu betrachten.

Erst, als sie sicher war, dass er sich nicht bewegte und sie wie das knochige Ungeheuer jagen würde.

Das Skelett des Menschen war vermutlich das eines Mannes, wie Tjördis aus den Überresten von Hemd, Hose und Stiefeln schloss. Irgendetwas war jedoch nicht ganz menschlich an ihm. Die Knochen unter der zur Hälfte zerfallenen Kleidung waren ungewöhnlich dünn und schienen insgesamt länger als bei einem gewöhnlichen Menschen. Außerdem war der Schädel, den Tjördis unter der Kapuze eines halb zerfallenen Umhangs erkennen konnte, ebenfalls sehr langgestreckt und besaß einen am Kinn stark nach vorn abstehenden Unterkiefer und übernatürlich große Augenhöhlen. Der Kiefer des Schädels war heruntergeklappt, fast, als hätte der Mann geschrien, als das Leben aus ihm wich – oder als hätte er um Hilfe gerufen. Doch so lange, wie jener Fremde hier bereits liegen musste, konnte er auch einfach hinabgefallen sein.

Erst jetzt fiel ihr ein Schmuckstück um den Unterarm des Mannes auf. Es war ein Armreif, so sehr von Staub bedeckt, dass er fast schwarz war. Dennoch fühlte sich Tjördis zu ihm hingezogen. Schon bemerkte sie, wie ihre Hand fast wie von selbst nach dem Reif langte. Sie gab nach und näherte sich dem Skelett erneut. Während die Finger ihrer einen Hand zuckten und nach dem Schmuck des Mannes lechzten, griff ihre andere Hand nach dem Messer, das sie verloren hatte. Sie war dem Toten jetzt ganz nahe; blickte in die leeren Augenhöhlen – und dann zurück auf das Schmuckstück an seiner Hand. Sie packte es. Der Staub, der sich darauf gesammelt hatte, fühlte sich an wie ein schmieriger Pelz. Doch schon fühlte sie, wie der Staub sich löste und die glatte, aber reliefartig verzierte Metalloberfläche darunter preisgab.

Als sie an dem Schmuckstück zog, um es vom Arm des Skeletts zu lösen, knackte es und der gesamte Arm löste sich.

Tjördis zuckte zurück; dachte für einen Augenblick, das Skelett würde sich erheben und seinen Schatz verteidigen.

Doch das tat es nicht. Es lag einfach nur weiter da. Mit einem Arm. Und sah sie fragend aus den leeren Augenhöhlen an.

Plötzlich weinte Tjördis um den Mann, der hier unten sein Leben gelassen hatte und den sie nicht einmal kannte.

Sie wollte nicht hier unten sterben wie er!

Beiläufig zog Tjördis den Armreif vom Arm des Toten und kehrte zur Unterseite des Loches zurück, durch das sie gekommen war.

Seit einer Weile hörte sie nichts mehr von dem Ungeheuer. Keine Schritte auf dem Waldboden, kein Knurren und Raunen. Zögerlich blickte sie durch das Loch nach oben und sog die Luft ein. Auch der faulige Geruch war verschwunden.

Es ist weg!, urteilte Tjördis und wiederholte laut: »Es ist weg!«

Sie steckte das Messer zurück in den Gürtel und steckte den Armreif in ihre Gürteltasche. Sie packte eine der kräftigeren Wurzeln und zog sich ein Stück nach oben. Als ihre Füße den Boden nicht mehr berührten, drehte sie noch einmal den Kopf.

Bildete sie es sich ein, oder wirkte der Mann am anderen Ende der Höhle traurig?

Sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, und kletterte nach oben. Ihre Hoffnung, dass die Sonne endlich aufgegangen und das Tageslicht den Nebel vertrieb, verging jedoch in einem Wimpernschlag. Der Wald war wie zuvor: undurchsichtig, grau – und kalt.

Ein kühler Windzug säuselte von der Seite an ihr Ohr und brachte Übelkeit hervor.

Denn dieser Windzug stank!

Tjördis blickte rasch zur Seite – und in die schwarzen Augenhöhlen des knöchernen Ungeheuers, welches ihr heimlich aufgelauert hatte.

Er brüllte, schnappte mit den Kiefern nach ihr. Sie ließ die Wurzel los; fiel rasch und ohne Halt erneut in die Tiefe.

Das Ungeheuer über ihr tobte vor Wut; schlug mit den Pranken aus blanken Knochen auf die Wurzeln ein und zerfetzte einige davon.

Tjördis indessen huschte über den steinernen Boden der Höhle zurück zu dem Skelett des Mannes. An der Wand dicht neben dem Skelett zog sie die Knie zum Gesicht und schlang die Arme darum.

Das Ungeheuer knurrte. Es hatte zweifellos alle Wurzeln zerschlagen, doch durch das Loch konnte es immer noch nicht hindurch.

Und Tjördis konnte nicht hinaus!


Kapitel 3

Der Armreif


Wie viel Zeit vergangen war, als Tjördis es wieder wagte, sich zu bewegen, wusste sie nicht. Sie spürte einen unangenehmen Hunger. Doch noch schlimmer war die Kälte, die sie zittern ließ.

Ich werde hier unten sterben!, verzweifelte sie.

Erst jetzt erinnerte sie sich an den Armreif in ihrer Tasche. Sie holte ihn heraus, blickte jedoch, als wäre sie eines Diebstahls schuldig, einen Moment lang zu dem Skelett an ihrer Seite.

Das Skelett beachtete sie gar nicht, sondern blickte einfach nur zur Höhlendecke. Vielleicht waren seine Augen aber auch geschlossen und er schlief. Wer wusste das schon?

Tjördis schluckte und betrachtete dann den Armreif genauer. Mit der Hand wischte sie die dicke Staubschicht weg.

Sie staunte. Wenn ich je hier herauskomme, dachte sie, so wäre ich unermesslich reich!

Der Armreif war aus Silber und reflektierte jetzt, nachdem sie ihn vom Staub befreit hatte, selbst hier in der Dunkelheit das Licht. Ringsum war die Oberfläche mit silbernen Wellenlinien verziert; in den vertieften Zwischenräumen dagegen funkelte es rot wie ein Rubin. An einer Stelle, die wie ein Verschluss aussah, befand sich eine eigenartige Verdickung. Mit dem Fingernagel kratzte Tjördis die Ritzen und Linien der Verdickung entlang, um die Form besser erkennen zu können. Nach einer Weile erkannte sie, dass es sich dabei um die abstrakte Form eines Kopfes handelte. Tjördis schreckte zunächst vor diesem Kopf zurück, der einem menschlichen Schädel noch ferner war, als es der ehemalige Besitzer des Armreifs war: Zwei große Augen funkelten aus der silbernen Oberfläche wie zwei winzige Rubine, zwei gebogene Hörner stachen kurz aus der hohen Stirn, und unter einer langgestreckten, hakenförmigen Nase befand sich ein ausgeprägtes Kinn. Über all jenen Merkmalen schien sich eine Kapuze zu befinden, die zu den Seiten in das wellenförmige Muster des Armreifs auslief.

Ein wenig machte diese Gestalt Tjördis Angst. Sie wusste aus Erzählungen, dass, während die Menschen von Ruhja lediglich dem Gott der Bauern und Viehzüchter ein kleines Opfer brachten, andere Menschen andere Götter anbeteten und von ausgeprägten Dämonenstammbäumen zu berichten wussten. War diese Gestalt auf dem Armreif vielleicht ein solcher Dämon oder gar ein Gott?

Trotz aller Bedenken beschloss Tjördis, dieses besondere Schmuckstück anzuprobieren. Sie war fasziniert von dem glänzenden Metall. Ein Mädchen, das bei einem Ziegenhirten aufgewachsen war, konnte sich niemals einen solchen Schatz erhoffen. Sie aber würde ihn besitzen – wenigstens für eine ganz kleine Weile. Denn sie spürte, wie Hunger und Kälte immer stärker, immer lähmender wurden.

Sie streifte den Armreif um ihr Handgelenk.

Und da geschah etwas Sonderbares! Das Metall des Armreifs fühlte sich warm an – und Tjördis spürte, wie die Wärme in ihren ganzen Arm floss.

Dann verschwand die Wärme so plötzlich, wie sie gekommen war.

Tjördis stand auf und ging eine Weile umher, währenddessen sie den Armreif betrachtete. Wie eine edle Dame aus fürstlichem Hause kam sie sich plötzlich vor, hier unten in ihrem steinernen Königreich. Sie tat einige leichte Schritte, die die Kälte ein wenig zurückdrängten. Dann tanzte sie. Sie lachte sogar und freute sich über den Schatz, den sie gefunden hatte.

Dann streckte sie elegant die Hand zu dem Skelett des Mannes aus und fragte: »Darf ich Euch zum Tanz bitten, mein Herr?«

Das Skelett antwortete nicht – doch das Ungeheuer jenseits des Loches an der Höhlendecke brüllte laut auf und trampelte auf dem Waldboden herum, dass Erdkrümelchen aus winzigen Spalten in der Felsdecke herunterrieselten.

Mit einem Mal war der Zauber, der Tjördis umgeben hatte, davon. Sie flüchtete sich erneut neben den toten Mann an die Höhlenwand.

Das Ungeheuer beruhigte sich und begab sich zurück auf die Lauer. Es wird niemals aufgeben!, dachte Tjördis. Es ist tot. Es benötigt niemals Schlaf. Es muss niemals fressen. Außer mich!

»Ich möchte Euch einen Vers aufsagen«, flüsterte Tjördis dem Skelett zu. »Ich erinnere mich an ihn, wie ihn mir meine Mutter vorsang, wieder und immer wieder, um mir jede Furcht zu nehmen. Es ist eigenartig. Ich erinnere mich zwar an meine Mutter, nicht aber an meinen Vater ...«

Sie überlegte einen Augenblick, dann begann sie zu singen:

 

»Des Wächters Macht,

sie nun er-wacht!

Die Kraft ist sein,

und schließ-lich mein!«

 

Als die letzte Silbe in der kleinen Höhle verklang, war da nur Stille, so, als presste jemand beide Hände kräftig auf Tjördis' Ohren. Das Rieseln der Erde von der Decke hinab, Wasser, welches auf die Felsen tropfte, ja selbst ihr eigener Atem war in ihren Ohren verstummt.

Und die Kälte, die ihren Körper befallen hatte, lockerte ihren Griff, als würde man die kalten Krallen gewaltsam von ihrem Körper reißen. An die Stelle der Kälte trat eine wohlige Wärme. Doch bei ihr blieb es nicht! Aus dem angenehm Warmen wurde die Wärme eines Frühlingstages und die Hitze der Sonne in der Mittagsstunde des Sommers. Schließlich wurde sie derart versengend, als würde Tjördis die Hand in ein loderndes Feuer halten.

Die Hitze ging aus von dem Armreif, den Tjördis trug. Sie griff danach; wollte ihn abreißen. Doch sie zog die Finger hastig zurück, als sie sie sich an der glühenden Oberfläche des Metalls verbrannte.

Tjördis schrie auf vor brennendem Schmerz. Der Schrei aber wandelte sich, wurde von dem eines dreizehnjährigen Mädchens zu dem Gebrüll eines Tieres. Eines mächtigen Tieres. Eines Königs der Wälder, den andere Tiere voller Furcht mieden oder unterwürfig ehrten.

Tjördis brüllte den Ruf eines Bären! Deutlich fühlte sie die Kraft dieses Tieres in ihrem eigenen Körper. Die Hitze in ihrem Leib war wie eine Feuersbrunst, und ihr war, als würden die Flammen jeden Moment aus ihrer Haut schlagen. Feuer und Kraft vermischten sich. Tjördis spürte Furcht. Furcht davor zu verbrennen; zu zerbersten!

Gerade, als sie es nicht mehr auszuhalten fürchtete, löste sich aus ihrem offenen Mund eine Flammenzunge. Mit einem Mal waren Hitze und unbändige Stärke aus ihrem Körper gewichen; flogen mit der Flammenzunge davon, welche wie ein kleiner Komet ziellos durch die steinerne Kammer fegte.

Ihre Augen waren geweitet, als sie beobachtete, wie die Flammenzunge schließlich zu Boden krachte und aus dem entstehenden Feuer die Gestalt eines riesigen Braunbären heranwuchs. Als der Bär ausgewachsen war und die Höhle viel zu klein schien für diese große Gestalt, erlosch das Feuer und der Bär stand in seiner natürlichen Pracht, mit seinem braunen, weichen Fell, vor ihr.

Der Bär schien sie kaum zu bemerken; wandte sich unmittelbar dem Loch in der Höhlendecke zu, aus dem das tosende Gebrüll des knochigen Ungeheuers ertönte.

Der aus den Flammen entstandene Bär stimmte in das Gebrüll mit ein und hob seinen Kopf.

Während die grässliche Kreatur aus Knochen tobend die Erde erzittern ließ, nahm der kräftige Bär Anlauf. Starke Muskeln wölbten sich unter dem dichten Fell, als er zum Sprung ansetzte und mit einem gewaltigen Satz die Höhle verließ. Das Loch – zu klein für seine Gestalt – weitete sich unter brechendem Fels und krachenden Wurzeln. Ein Beben ging durch die Höhle, welches Tjördis erzittern ließ.

Der Bär war an die Oberfläche gelangt und Tjördis hörte das Kampfgebrüll der beiden Wesen, ein Stapfen starker Muskeln und ein Schaben grausiger Knochen.

In dem Gedanken, dass sie im Kampf der beiden Giganten die Flucht ergreifen und zurück nach Hause, zu den Menschen von Ruhja rennen konnte, sprang Tjördis auf und eilte hinüber zu dem Loch. Einige der kräftigen Wurzeln waren beim Sprung des Bären durch das Loch abgerissen worden, doch sie fand eine übriggebliebene und fand an dem geborstenen Fels schnell geeignete Vorsprünge, um wie auf Stufen hinauf zur Waldoberfläche zu klettern.

Dort zeigte sich ihr eine Spur der Verwüstung. In dem Nebel konnte sie nur wenig erkennen, doch die Fichte oberhalb der Höhle war entwurzelt und der Boden zerwühlt.

Die beiden Kreaturen fochten ihren Kampf hinter einem grauen Schleier. Prankenhiebe ließen Holz splittern; Sprünge die Erde und entsetzliches Gebrüll Tjördis' Herz erbeben. Da krachten die knöchernen Kiefer des Ungeheuers gegeneinander – ein Biss, der dem Bären gewiss hätte den Kopf abtrennen können. Doch schon hörte sie dessen Brüllen, dann das Krachen einer Pranke auf Knochen. Gebein splitterte; ein Regen aus Tod klapperte zur Erde.

Einen Augenblick lauschte Tjördis bangend den Kampflauten, dann rannte sie. In irgendeine Richtung, nur weg von diesem Schrecken!

Der Kampfeslärm drang dumpfer und dumpfer an ihre Ohren. Noch hörte sie splitternde Knochen und Gebrüll. Erklang da vielleicht das Siegesgebrüll des Braunbären?

Tjördis konnte keinen Gedanken daran verlieren. Sie musste entkommen!

Da plötzlich lichtete sich der Nebel. Mit einem Mal zerriss der graue Vorhang und gab den Nadelwald frei. Der saftige, moosbewachsene und mit Nadeln und Zapfen bedeckte Boden sowie das immerwährende Grün der Fichten zeigten sich vor einem aufklarenden blauen Himmel.

Schon konnte Tjördis das Ende des Schlafenden Waldes entdecken. Die mit Grassoden bedeckten Blockhäuser des Dorfes – ihres Dorfes! –, welches dahinter lag.

Sie verlangsamte ihren Lauf. Hörte irgendwo ein Reh über den Waldboden eilen. Gewohnte Laute drangen an ihre Ohren und sie meinte sogar, die Stimmen der Menschen aus dem Dorf zu hören. Der Geruch der Fäulnis wandelte sich in den angenehm frischen, hölzernen Geruch des Waldes. Die milde Herbstsonne schenkte Wärme und Geborgenheit.

Es war wie das Erwachen aus einem Traum. Und wie nach einem langsam verblassenden Traum, an den man sich versucht zurückzuerinnern, blickte Tjördis zurück in den Schlafenden Wald.

Direkt hinter ihr stand der mächtige Braunbär! Kaum eine Armlänge weit vor ihrem Gesicht!

Er starrte sie an.

Ihr Herz raste kurz vor Schrecken, dann verdrehten sich ihre Augen und sie fiel bewusstlos zu Boden.


Kapitel 4

Ruhja


Tjördis erwachte, in ihren Ohren das leise Knistern einer Feuerstelle.

Die Umgebung war ihr vertraut. Sie war auf ihre gewohnte, mit Federn gefüllte Schlafstätte im Langhaus ihres Ziehvaters gebettet. Es war helllichter Tag. Tageslicht drang durch die Fenster, deren Läden weit geöffnet waren, brachte aber nur eine milde Wärme hinein. Die Feuerstelle knisterte in der Mitte des Hauses und Feuerholz brach knackend auseinander, während der Rauch durch eine Öffnung in der Decke abzog.

War alles nur ein Traum?, fragte sie sich und zog die Fellmütze zurecht, die an ihrem Platz auf Tjördis' Kopf saß.

Doch eine Berührung ihres Armes bewies das Gegenteil. Dort nämlich befand sich der Armreif, den sie in der verborgenen Höhle unter dem Schlafenden Wald gefunden hatte.

Doch alles, was darüber hinausging – die Kreatur, die sie verfolgte, und die schreckliche Zauberei, die ihrem eigenen Leib entfuhr – war das Wirklichkeit gewesen?

Sie schüttelte den Kopf, um die Schläfrigkeit zu vertreiben, und stützte sich in ihrem Bett auf. Als ein Klappern ertönte, bemerkte sie eine Ziege, die mit ihr im Haus statt auf den Wiesen war und die soeben zwischen den Töpfen nach einer besonderen Leckerei suchte.

»Verschwinde! Ab mit dir!«, rief Tjördis hinüber. Das Tier gehorchte, als fühlte es sich tatsächlich bei etwas Verbotenem ertappt, und eilte nach draußen.

Außer der Ziege verschwand soeben auch eine andere Gestalt durch die geöffnete Tür: ein großer Mann in der typischen Wollkluft der Bauern des Dorfes, mit ergrautem Haar, welches schulterlang hinabfiel, und einer ein wenig krummen Haltung, als trüge er eine schwere Last mit sich herum.

»Warte!«, bat Tjördis. Der Mann folgte ihren Worten und drehte sich langsam um.

Die traurigen Augen ihres Ziehvaters Ulfur blickten sie an. Tjördis lächelte ihm zu, doch wenn Ulfur nur eine Winzigkeit lächelte, so sah sie es nicht.

Er blieb in der Tür stehen, legte jedoch nicht einmal die lange, schwere Axt beiseite, die er über seine Schulter gelegt hatte. »Du bist wach«, sprach er, und seine Stimme klang weder glücklich, noch zornig. Die Stimme schien ohne Anteilnahme, als wäre ihm alles gleichgültig.

Tjördis nickte und ließ ihr Lächeln fallen.

»Wie bin ich hergekommen?«, fragte Tjördis. »Ich war im Wald und ...«

»Du lagst am Waldrand, verschwitzt, blass und zitternd. Ich habe dich ins Haus getragen, als ich dich dort fand«, berichtete Ulfur.

Sanft lächelnd erkundigte sich Tjördis: »Du hast nach mir gesucht, nicht wahr?«

Ihr Ziehvater schwieg eine Weile, dann schüttelte er langsam den Kopf. »Nein, ich war auf dem Weg zur Arbeit, als ich dich dort liegen sah.«

Wieder ließ Tjördis ihr Lächeln fallen. Sie betrachtete die große zweihändige Axt in der rauen Hand ihres Ziehvaters. »Welche Arbeit meinst du? Was haben wir Ziegenhirten mit einer solchen Axt zu schaffen?«

»Aber natürlich«, erinnerte sich Ulfur, »du hast ja mehrere Tage geschlafen.«

»Mehrere … Tage?«, keuchte Tjördis.

Ihr Vater nickte langsam. »Ja. Wir brauchen dieser Tage jede starke Hand, denn wir haben mit dem Bau einer großen Palisade begonnen. Einem Schutzwall rund um das Dorf.«

»Einen … Schutzwall?«, bangte Tjördis. »Einen Schutzwall wovor

Ulfur holte tief Luft und seufzte. »Uns wurde von merkwürdigen Vorkommnissen überall im Land berichtet. Von Handelszügen, die verschwinden, und Menschen, die nie mehr zurückkehren. Es heißt, ein Nebel breitet sich über das gesamte Land aus. Und dass diejenigen, die diesen Nebel betreten, nicht mehr aus ihm zurückkehren.«

»Ein Nebel?«, fragte Tjördis und erinnerte sich wieder an die Geschehnisse im Wald. Sie überlegte bereits, ob sie nicht einfach davon erzählen sollte. Doch die Ereignisse schienen ihr so grauenvoll, dass sie beschloss, mit aller Kraft daran zu glauben, dass sie nie passiert waren.

Ulfur nickte indes. »Nun, ich glaube nicht, dass das Verschwinden der Menschen mit dem Nebel zusammenhängt. Ich denke eher, dass sich etwas in diesem Nebel verbirgt und den reichen Handelszügen, die von der Küste ins Landesinnere unterwegs sind, auflauert.«

Tjördis konnte es nun nicht mehr zurückhalten und rief aufgeregt: »Etwas auflauert? Etwas wie ein Ungeheuer, meinst du?«

Ihr Ziehvater blickte sie zweifelnd, ja, fast missbilligend an. »Rede keinen Unsinn, Tjördis!«, meinte er grimmig. »Du bist alt genug, nicht an diesen Unsinn zu glauben! Nein, ich meine vielmehr wirkliche Plünderer. Menschen. Und gegen die kann uns ein Wall schützen.«

Tjördis sagte daraufhin nichts mehr. Sie zweifelte jedoch nicht daran, dass es in Wirklichkeit keineswegs nur ein paar Plünderer waren. Etwas Großes wog heran. Etwas, das gefährlicher war als alles zuvor dagewesene.

Ulfur deutete in Tjördis Richtung. »Du«, begann er zögerlich und es war ihr, als wäre da eine winzige Bewegung in seinen Augenwinkeln, »wurdest du da im Wald auch von etwas angegriffen? Es war sehr nebelig an diesem Tag.«

Eine Träne kullerte über Tjördis Wange. Sie stürzte aus dem Bett auf ihren Ziehvater zu, welcher das Werkzeug an den Türrahmen lehnte – und sie in die Arme schloss. Seine starken Arme legten sich um sie, wie sie es nie zuvor getan hatten. Er hob Tjördis wie eine Feder vom Boden und drückte sie an sich.

Tjördis grub ihr Gesicht in seine verschmutzte Arbeiterkleidung. Sie wollte ihm all die furchtbaren Dinge erzählen, von denen sie doch hoffte, sie sein nie passiert. Doch die Worte ihres Ziehvaters hallten noch in ihren Ohren und ermahnten sie, bloß nicht daran zu glauben. Gerne hätte sie seinen Worten gehorcht!

Nach einer Weile – viel zu schnell war sie vorübergegangen, empfand Tjördis – stellte Ulfur sie auf den Boden zurück und nahm die Axt auf. »Geh nicht mehr allein in den Wald. Verlasse das Dorf überhaupt nicht mehr. Wir errichten diesen Schutzwall. Dann sind wir sicher«, sagte er und ging, fügte jedoch noch hinzu: »Der Schmied könnte deine Hilfe gebrauchen, Tjördis. Die Werkzeuge werden stumpf und der alte Mann kommt mit dem Schärfen nicht hinterher. Hilf ihm, bitte.«

Tjördis nickte und ihr Herz krampfte sich zusammen, als sie die große Veränderung spürte, die ihr Leben ergriffen hatte. So sehr sie gehorchen wollte und daran glauben wollte, dass der Schutzwall alle Probleme löste – sie glaubte nicht wirklich daran.

 

Der Rest des Tages trieb Tjördis den Schweiß auf die Stirn. Bei dem alten Dorfschmied hatten sich unzählige Äxte und Sägen angesammelt, die der Alte mit seinen faltigen, steifen Händen nur noch langsam bearbeiten konnte. Seinen Sohn hatte der Schmied vor einigen Wintern eingebüßt. Er war allein mit seinem Handwerk, genoss jedoch spürbar die Gegenwart der jungen Tjördis, die es gewohnt war, fleißig zuzupacken, und auch etwas vom Handwerk verstand. In ihrer Gegenwart leuchteten die alten Augen des Schmieds wieder ein wenig. Nicht selten kam er zu ihr herüber, blickte ihr über die Schulter und lobte sie für eine besonders gelungene Arbeit.

Tjördis gestand sich ein, dass ihr das Handwerk gefiel. Dort bei dem rotierenden Schleifstein und dem Kratzen desselben auf Metall vergaß sie für einige Stunden ihre Sorgen. Ja, jenes furchteinflößende Geschöpf aus Knochen erschien ihr immer unwirklicher, als wäre es wahrhaftig nur einem grässlichen Traum entsprungen. Plünderer mochten etwas Furchtbares sein, doch nicht so furchtbar wie etwas, das nicht einmal ein Mensch war und zudem aus einer anderen, grausamen Welt zu kommen schien.

Einzig den Armreif, den sie immer mehr als ihren Schatz betrachtete und den sie nicht mehr abzulegen wünschte, hatte sie in die Wirklichkeit mitgenommen. Ein edles Schmuckstück, das auch der alte Schmied mit leuchtenden Augen bewunderte.

Erst, als selbst im Schein der Laternen die Arbeit nur noch müßig voranging, verabschiedete sich Tjördis und ging nach Hause. Sie verlangsamte ihren Schritt, als sie neben ihrem Ziehvater einen weiteren Mann durch die Tür gehen sah. Einen großen, dunkelhaarigen Kerl mit ausgeprägt männlicher Statur: Brukk, der Sohn von Ulfur und dadurch irgendetwas wie ihr Bruder.

Tjördis trödelte etwas herum, genoss die Stille und den kühlen Wind des Herbstabends. Doch Brukk drehte sich in der Tür noch einmal um und sah Tjördis herankommen.

Er lachte, als würden ihn die Sorgen des Landes nichts angehen. Vermutlich verstand er nicht einmal, dass etwas vor sich ging. Derlei Feinfühligkeit ging ihm völlig ab, der sich einzig durch großspurige Erzählungen von vermeintlichen Heldentaten hervortat. In Wirklichkeit waren sie nichts als üble Streiche an Schwächeren, für die er im ganzen Dorf berüchtigt war.

»Schwesterchen, mach uns 'n Eintopf!«, rief er befehlend zu ihr herüber, als wäre sie sein Dienstmädchen. »Beeil dich! Hab Hunger! Faules Stück!«

Ulfur warf Brukk nur einen kurzen Blick zu, sagte jedoch nichts. Dabei wusste er nur zu gut, dass sie den ganzen Tag in der Schmiede ausgeholfen hatte. Und das gut!

Verärgert ging sie ins Haus und griff nach einem Topf, holte Wasser, trug Gemüse und Fleisch zusammen und war für eine ganze Weile damit beschäftigt, das Essen zuzubereiten, während Brukk noch einmal fortging, um irgendwelche Streiche auszuhecken. Ihr Ziehvater dagegen sank erschöpft von der Arbeit auf seiner Schlafstätte nieder und schlief stöhnend ein.

Später saßen sie beieinander am Tisch und schlürften den Eintopf. Ulfur wirkte noch immer erschöpft; seine Hände zitterten, wenn er den Löffel hob und er klapperte damit in der Schüssel. Brukk dagegen wirkte ausgeruht und frisch, behauptete jedoch felsenfest, dass er heute die meiste Arbeit an der Palisade verrichtet hatte, und dass ohne ihn der Bau noch Jahre dauern würde.

Wenn Ulfurs Blick nur eine Winzigkeit deutlicher gewesen wäre, so hätte dieser Tjördis sicherlich die Wahrheit über diese Behauptungen verraten.

Irgendwann blieb Brukks Blick an Tjördis' Arm hängen. Brühe tropfte ihm aus dem Mund und platschte auf die Tischplatte. »Waf ift daf für 'n Armreif?«, fragte er schmatzend und sabbernd.

Tjördis antwortete nicht. Es fühlte sich unangenehm an, dass er sich für ihren Schatz interessierte.

»Sie hat ihn, seit ich sie vor ein paar Tagen fand«, murmelte ihr Ziehvater angestrengt.

Brukk fuhr sie an: »Wo hast du 'n den her?«

»Gefunden«, flüsterte Tjördis, legte den Löffel ab und berührte den Armreif. Er war warm.

»Ist das … Silber?«, keuchte Brukk mit zusammengekniffenen Augen.

Tjördis zuckte mit den Schultern. Natürlich wusste sie, dass er aus Silber war – und wertvoll.

»Gib her!«, verlangte er und streckte gebieterisch die Hand aus.

Tjördis sagte nichts.

»Ich sag: Gib her!«, schrie er noch einmal.

Tjördis zitterte. Als sie fürchtete, er würde aufspringen und ihr den Armreif wegnehmen, blickte Ulfur sie an. Einen Augenblick sahen sich die beiden in die Augen. Dann sagte ihr Ziehvater: »Er gehört ihr.«

Brukk ließ sofort die Hand sinken und widmete sich wieder dem Eintopf, der ihm sichtlich weniger schmeckte.

»Hat sich der Schmied den Armreif angesehen?«, erkundigte Ulfur sich.

Sie nickte. »Er ist wirklich sehr wertvoll.«

Brukk blickte kurz von seiner Schale auf, sah dann jedoch wieder weg.

Ulfur kratzte den Rest seines Mahls aus seiner Schüssel und hob zitternd den letzten Löffel zum Mund. »Morgen kommt ein fahrender Händler in unser Dorf«, erzählte er dann. »Er hat viele Dinge auf seinem Karren, die Ruhja dringend benötigt.«

Dann sagte er nichts mehr. Vielleicht erwartete er, dass Tjördis selbst darauf kam, was ihr Ziehvater erwartete.

Als sie nichts erwiderte, fragte er: »Würdest du bitte deinen Armreif gegen diese Dinge eintauschen? Zum Wohl unseres Dorfes?«

Natürlich war es ehrenwert. Natürlich war es richtig. Aber es bedeutete auch, sich endgültig von ihrem Schatz zu trennen. Sie würde diese Bitte ihrem Ziehvater nicht abschlagen. Doch sie würde es nicht gern tun – und ihre Wut auf ihn, so glaubte sie in diesem Augenblick, würde sie niemals wieder verlieren!

 

ENDE DER LESEPROBE

Impressum

Texte: Kai Krzyzelewski
Bildmaterialien: Kai Krzyzelewski
Cover: Kai Krzyzelewski
Tag der Veröffentlichung: 20.10.2015

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