Die große Reithalle war menschenleer. Die Mehrheit der Reiter, die sonst die Halle in Beschlag nahmen, war vor zwei Stunden zu einer Reiterjagd im Nachbarort aufgebrochen. Nicht einmal auf der hölzernen Tribüne saß eine Person, die zuschaute. „Was für ein Glück endlich die ganze Halle mal für sich alleine zu haben“, dachte Lotta zufrieden, die mit ihrem rotbraunen Fuchswallach Sunshine den Parcour zum dritten Mal durchritt. Da der Parcour von der letzten Springstunde am Donnerstag nicht abgebaut wurde, brauchte Lotta keine Hindernisse und Stangen mehr zu schleppen.
„Komm schon, mein Junge! Du bist doch sonst immer so motiviert“, klopfte Lotta Sunshine auf die Kruppe, als er den Kopf senkte und signalisierte, dass er keine große Motivation mehr hatte. Zugegebenerweise hatte Lotta ebenfalls keine große Lust mehr über die Hindernisse zu springen, zumal draußen die goldene Oktobersonne schien, die die Reithalle in ein angenehmes warmes Licht tauchte und die Dekoration vom Erntedankfest gut zur Geltung kommen ließ, die immer noch überall an den hölzernen Wänden und an der Decke hing.
„Wollen wir draußen spazieren gehen?“, fragte Lotta Sunshine halblaut. Ihr Pferd bewegte die Ohren, als sie dies sagte und wurde einen Tacken schneller. Offenbar gefiel ihm der Vorschlag. „Aber einmal reiten wir den Parcour noch“, beharrte Lotta, die ihr Pferd zunächst in den Trab trieb und hinter dem großen Spiegel angaloppierte. Diesmal schien die Schrittfolge optimal zu passen, sodass Sunshine ohne Probleme über das Hindernis flog. „Geht doch!“, lobte Lotta ihn und fokussierte den kommenden Steilsprung an. Letztendlich klapperte nur die oberste Stange. Lotta befürchtete zuerst, dass sie zu Boden fiel, aber sie blieb trotzdem auf der Stangenhalterung liegen. „Sah doch schon sehr gut aus!“, vernahm sie auf einmal Manfreds Stimme. Der Ehemann von Rachel stand hinter der Bande und schaute ihr zu. Lotta schreckte im ersten Moment zusammen, da sie nicht mit rechnete, dass ihr Jemand zuguckte.
„Was machst du hier?“, fragte sie, als sie Sunshine zum Schritt durchparierte. „Ich wollte nur einmal nach dem Rechten gucken, ob sich jemand hier herumtreibt“, erwiderte Manfred. „Ach so“, nickte Lotta. „Übrigens sind unsere Reiter immer noch nicht von der Hubertusjagd zurück. Meine Frau meinte, dass es bis in den Abend hineindauern könnte. Wie du sicher schon weißt, reiten dieses Jahr auch Emily und Annika mit“, fuhr er fort. – „Ja, das weiß ich. Emily hat uns in den letzten Wochen stolz erzählt, dass sie das erste Mal mitreitet“ – „Emily macht momentan richtige Fortschritte im Springen, aber auch in der Dressur. Bei dir sieht es auch schon sehr gut aus, dabei meinte Rachel, dass du an manchen Stellen noch Schwierigkeiten hättest“ – „Oh ja, die letzte Springstunde war wirklich nicht gut“ – „Ist das der Grund, dass du an einem Samstagnachmittag alleine in der Halle reitest?“ – „Ja, ich wollte einige der Defizite aufarbeiten“ Noch nicht all zu lang gehörte Lotta zu der Talentfördergruppe der 16- bis 20-jährigen Nachwuchstalente.
Neben Emily und Annika ritten noch drei weitere talentierte Reiterinnen in der Gruppe, darunter auch Franziska, eine gute Freundin von Annika. Die anderen beiden Reiterinnen hießen Celine und Juliana, die beide achtzehn Jahre alt waren. Lotta fand, dass sie eingebildet waren und manchmal ein bisschen zickig rüber kamen. Sie waren zuvor aus einem Reitstall aus dem Nachbarort Neuendorf zu ihnen gewechselt, da sie dort nicht sonderlich zufrieden waren. Celine und Juliana waren dennoch ausgezeichnete Reiterinnen, die sowohl im Springen als auch in der Dressur vom Können her die Gruppe anführten. Obwohl Annika, Rachels Tochter und Emilys Cousine, sich mit ihnen durchaus im Springen messen konnte, konnte sie ihnen in der Dressur nicht das Wasser reichen. Lotta war nicht nur die Jüngste in der Gruppe, sondern sie hatte zudem auch noch die meisten Startschwierigkeiten sich an das geforderte Niveau anzupassen. Zwar hatte sie in der Dressur viel Boden wieder wettgemacht, dennoch haperte es beim Springen immer noch. Deshalb trainierte sie so oft mit Sunshine wie sie nur konnte. In der vergangenen Woche war sie jeden Tag im Stall, da momentan noch Herbstferien waren. „Dann wünsch ich dir noch viel Spaß!“, verabschiedete Manfred, der sich wieder draußen an die Arbeit machen wollte.
Lotta verließ kurz darauf mit Sunshine die Halle. Sie tauschte im Stalltrakt die Zügel und die Trense gegen ein einfaches Halfter ein und sattelte ihn ab. Als sie die schmale Straße, die zum Hauptgebäude und zur Reitschule führte, überqueren wollte, blieb sie abrupt stehen. Ein schwarzes Auto brauste mit ca. 70 Km/h die Straße entlang, sodass Sunshine vor Schreck seinen Kopf hochriss und zurückwich. „Dass diese Affen immer so rasen müssen und dabei mein Pferd beinahe wild machen!“, fluchte Lotta leise und wünschte sich insgeheim, dass solche Verkehrsrowdys von der Polizei gestoppt werden und mehrere Punkte in Flensburg kassieren. Nach diesem Vorfall hatte Lotta keine Lust mehr weiterhin an der Straße entlang zu gehen. Hinter der Reithalle der Reitschule gab es einen schmalen Pattweg, der besonders im Herbst sehr schön und einladend war. Die windigen Tage der vergangenen Woche hatten das letzte goldorange Laub von den Ästen der Bäume gefegt und nun lag eine geschlossene Blätterdecke auf dem Weg. Die Erde war immer noch feucht und roch modrig, da es in der letzten Zeit öfter geregnet hatte. Ein Igel krabbelte vor Lottas Füßen entlang und trat rasch seinen Rückzug in die nächste Hecke an. Über Lotta und Sunshine turnte ein Eichhörnchen durch die kahlen Baumwipfel und ein Fasan mit bunten Federn stolzierte über die benachbarte Koppel. Nun zeigten sich sämtliche Tiere des Herbstes. Lotta zückte ihr Handy, um die goldenen Oktoberimpressionen mit ihrer Handykamera festzuhalten.
„Weißt du, Sunshine, wir haben heute einen großartigen Tag erwischt!“, sagte sie lächelnd zu ihrem Pferd, als sie eine Pause machten. Lotta hatte sich mitten im Wald auf eine Holzbank gesetzt. Mit einer Hand hielt sie Sunshines Strick fest, obwohl er sich auch nicht von ihrer Seite fortbewegt hätte, wenn sie ihn nicht festhielte. Mit der freien Hand zog Lotta zuerst eine Flasche Apfelschorle und eine dann Tüte mit einem Käse-Schinken-Croissant, welches sie vorhin beim Bäcker gekauft hatte, aus ihrem Rucksack. Beim ersten Bissen und ersten beim Schluck merkte sie erst, wie hungrig und durstig sie war. Bestimmt war dies einer der letzten schönen sonnigen Tage. Gerade als Lotta mit geschlossenen Augen dem Zwitschern der Vögel und den übrigen Waldgeräuschen lauschte, klingelte ihr Handy. Die Melodie von „Ain’t nobody“ übertönte die Umgebungsgeräusche.
„Hi, ich bin’s Matti“, vernahm sie die Stimme ihrer Freundin. „Hi, was gibt es Dringendes?“, fragte Lotta, „Du hast mich gerade ein bisschen erschreckt, da ich mit Sunshine im Wald spazieren gehe“ „Hab ich mir beinahe schon gedacht, dass du dich auf dem Reiterhof herumtreibst“, meinte Mathilda, „Micky, Kiki, Vivi und ich sind übrigens gerade im Wohnwagen und richten ihn für die Party her“ – „Ach ja, heute ist Halloween!“ – „Bist du schon so vergesslich, Lotta?“, lachte Mathilda kurz auf und fuhr im ernsteren Tonfall fort, „Kiki hat übrigens ein Problem. Sie hat ihr Piratenkostüm bei sich zuhause in Mainz vergessen und wir haben auch kein richtiges Kostüm für sie und jetzt noch ein Kostüm im Laden aufzureiben ist auch zu spät. Deshalb fragen wir dich, ob du noch irgendein halloweentaugliches Kostüm hast“ – „Ihr habt so ein Glück! Erst heute Morgen ist mein Vampirmädchenkostüm per Post angekommen und ich dachte schon, es kommt gar nicht mehr pünktlich an. Meine Sorge war, dass ich auch dieses Jahr als Hexe gehen müsste. Von mir aus kann Kiki das Hexenkostüm haben, das ich letztes Jahr getragen habe. Hoffentlich passt es ihr, denn ich bin einen halben Kopf größer als sie“ – „Ach, das passt schon!“
Lotta vereinbarte mit Mathilda, dass sie sich um halb sieben bei den Zwillingen zuhause treffen und sich dort gemeinsam für die Halloweenparty stylen würden. Die Tasche mit dem Kostüm hatte sie bereits in einem Spind im Reitstall geparkt und die Schüssel mit dem Gruselpudding hatte sie vorhin bei Emilys Großtante Elfriede im Kühlschrank abgestellt. „Nun kann ich mich wieder dir widmen“, tätschelte sie Sunshines Hals, als sie ihr Handy in der Westentasche verstaut hatte. Als Nachtisch holte sie eine Tupperdose mit klein geschnittenen Äpfeln heraus. Sofort spürte sie Sunshines warme Nüstern an ihrer Hand. „Ja, du kriegst auch was ab, mein Junge“, lachte sie und hielt ihm auf der flachen Hand zwei Apfelstücke hin, die im Nu in seinem Pferdemaul verschwunden waren. Wieder stupste er sie bettelnd am Unterarm an.
„Wir können folgenden Deal machen: Eine Häfte du und die andere Hälfte ich. Aber mehr kriegst du nicht, verstanden!“, sprach sie mit ihrem Pferd. Rasch holte sie wieder ihr IPhone aus und knipste ein Foto, wie Sunshine immer noch bettelte. Er sah jedes Mal so süß aus, wenn er nach etwas Essbarem verlangte. Ein Blick auf die Uhr verriet, dass es bald an der Zeit war den Heimweg anzutreten, zumal die Sonne sich immer mehr zum Horizont hin senkte und relativ schnell dunkel werden würde. „Was für ein toller Tag mit einem wunderschönen Herbstspaziergang und nachher wird es noch eine obercoole Halloweenparty geben“, platzte Lotta beinahe innerlich vor Freude, während sie mit Sunshine an einem Weg am Waldrand entlang spazierte.
Lotta striegelte Sunshine, kratzte zügig seine Hufe aus und brachte ihn in seine Box. Vor dem Stall sah sie im Halbdunkeln zwei Personen mit gesenkten Köpfen auf der Bank sitzen. Erst als Lotta sie zuging und der Scheinwerfer über dem Stalltor anging, erkannte sie Emily und Annika. Als sie sich ihnen noch ein Stück näherte, sah sie in zwei rot geweinte Gesichter. „Hey, was ist passiert?“, versuchte Lotta so einfühlungsvoll wie möglich zu klingen. „Mama ist schwer gestürzt und hat das Bewusstsein verloren“, schluchzte Annika kurz auf und fuhr gefasster fort, „Ihr blödes Pferd hat vor einem Hindernis gescheut und sie ist im Jagdgalopp kopfüber vom Pferd gefallen. Ich verstehe nicht, warum sie ausgerechnet Luke reiten musste, der erst vor kurzem eingeritten wurde und nur sehr wenig Erfahrung im Gelände hat“ „Oh Gott!“, sog Lotta erschrocken die Luft ein und setzte sich neben Emily.
„Rachel war danach nicht mehr ansprechbar“, bebte Emilys Stimme. „Wann ist das passiert?“, hakte Lotta nach. „Vor knapp einer Stunde“, antwortete Annika. „Was hat sie sich getan?“, fragte Lotta weiter nach. „Das wissen wir doch auch nicht oder sind wir etwa Hellseherinnen?“, versuchte Emily einen gereizten Unterton zu unterdrücken, was ihr im Moment nicht gelingen wollte. „Das Schlimmste ist, dass Sarah noch nichts davon weiß. Sie ist bei ihrer Freundin Jenny zu einer Halloweenparty eingeladen und ich muss sie abends von dort abholen. Ich konnte sie gerade nicht erreichen, da sie ihr Handy aushatte. Ich könnte bei Jenny auf dem Haustelefon anrufen, aber das lasse ich jetzt, da ich meiner Schwester nicht die Party versauen will“, meinte Annika. „Hoffentlich ist Rachel nicht in Lebensgefahr“, bangte Emily leise und faltete ihre Hände, als würde sie beten.
Einen Moment später saßen die Mädchen bei Elfriede in der Küche, die den Mädchen zur Beruhigung einen Tee servierte. „Das war anscheinend ein richtig übler Unfall“, machte Emilys Großtante ein betroffenes Gesicht, als sie sich gegenüber von den drei Mädchen hinsetzte. Lotta starrte unterbrochen in die Flamme der dicken violetten Stumpenkerze, als würde sie eine Antwort von ihr erwarten. Die Augen von Emily und Annika waren immer noch ziemlich gerötet. „Ich habe so eine Angst!“, hauchte Annika und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. Elfriede ging zu ihr und legte ihr von hinten den Arm um sie. „Jeder hier hat Angst oder ist geschockt. Ich glaube stark daran, dass es Rachel wieder besser gehen wird und bald wieder genesen ist“, sagte ihre Oma mit ruhiger Stimme. „Ich werde diese Bilder einfach nicht los. Ich sah, wie sie mit voller Wucht zu Boden geschleudert wurde und sich danach nicht mehr rührte“, erzählte Emily mit weinerlicher Stimme. Lotta reichte ihr ein Taschentuch und drückte ihre Hand. Kurz darauf kam Manfred in die Küche und setzte sich neben seine Mutter.
„Das Krankenhaus hat gerade angerufen. Meine Frau wurde geröntgt, wobei mehrere Knochenbrüche und eine Lungenquetschung festgestellt wurden. Momentan wird eine Kernspintomographie durchgeführt, um zu untersuchen ob das Rückenmark und das Gehirn Schaden davon genommen haben. Soweit der letzte Stand ist, ist sie immer noch tiefbewusstlos und muss mit Sauerstoff beatmet werden“, teilte er den Anwesenden mit. Bis auf Annikas Schluchzen war nur das Ticken der Wanduhr zu hören. Emily war zu einer Salzsäule erstarrt und in Lottas Gesicht war ihr Entsetzen abzulesen. „Ihr braucht euch keine Sorgen zu machen. Rachel ist nicht in Lebensgefahr und sie wird wahrscheinlich wieder gesund werden“, tröstete Manfred die aufgelösten Mädchen. Kurz darauf verschwand er auf die Diele. Die Angst und die traurige Stimmung in der Küche hing wie in dichter Nebel über den Köpfen der Mädchen und Elfriede. „Was machen wir jetzt?“, fragte Annika ratlos, als sie ihre Tränen versiegt waren. „Tja, das weiß ich auch nicht“, zuckte Emily mit den Achseln. „Wir sind nur eine kleine Reitschule mit elf Schulpferden und Mama ist hier die einzige richtige Reitlehrerin. Ich unterstütze sie oft bei den Reitstunden, aber ich traue mich nicht alleine Reitstunden zu geben, da ich noch nicht die nötige Ausbildung dafür habe. Ich sag euch, es ist so eine riesige Verantwortung Reitlehrerin zu sein“, fuhr Annika seufzend fort.
Eine Dreiviertelstunde später kam Manfred mit einer erneuten Hiobsbotschaft, dass sich Rachel schwer am Rücken verletzt hatte und noch heute Abend operiert werden würde. Ein erneuter Schock legte sich über Emily, Annika, Lotta und Elfriede. „Sie wird über ein Vierteljahr keinen Reitunterricht geben dürfen“, meinte Manfred. „Aber das ist unmöglich, Papa!“, rief Annika verzweifelt, „Wir können die Reitschule dicht machen, wenn der Reitunterricht drei oder vier Monate ausfällt. Wir haben insgesamt 42 Reitschüler und dann noch die Talentförderung. Wir dürfen sie nicht fallen lassen“ „Wer spricht denn davon, dass wir sie fallen lassen?“, sah ihr Vater sie ernst an, „Selbstverständlich setze ich alles daran, dass ich eine Reitlehrerin suchen werde, die in den nächsten Monaten die Reitstunden übernimmt und sowieso hatte ich in der letzten Zeit daran gedacht eine zweite Reitlehrerin einzustellen, um meine Frau zu entlasten. Sie gibt von montags bis freitags täglich Reitstunden und an manchen Tagen hat sie sogar zwei Reitgruppen“ „Wie willst du so schnell eine Reitlehrerin auftreiben?“, sah Annika ihn fragend an. „Wieso? Ich setze eine Anzeige in die Zeitung und frage bei anderen Reitschulen an“, erwiderte ihr Vater.
Lottas Handy klingelte. Rasch sprang sie von der Sitzbank auf und lief auf die Diele. „Meine Güte, wo bleibst du? Wir haben es schon viertel vor sieben. Hast du vergessen, dass wir uns bei mir treffen?“, vernahm sie Mathildas leicht vorwurfsvolle Stimme. „Nein, ich bin immer auf dem Reiterhof“, erwiderte Lotta. „Warum das denn?“, schnitt ihr Mathilda das Wort ab. Nun begann Lotta die ganze Geschichte von Rachels Reitunfall zu erzählen. „Ach herrje, das ist ja schrecklich!“, erwiderte ihre Freundin geschockt. – „Ja, Emily und Annika sind ziemlich fertig mit den Nerven“ – „Das kann ich mir vorstellen. Hoffentlich geht es Rachel schnell wieder besser. Richte Annika und co von uns gute Besserung aus“ – „Danke, das mache ich“ – „Aber ihr kommt doch zur Halloweenparty? Ich finde, ihr könnt Aufmunterung und Ablenkung gebrauchen“ – „Ja, wir kommen auch noch, aber Emily braucht noch etwas Zeit. Außerdem müssen wir noch zu mir fahren, da wir das Hexenkostüm holen müssen“ – „Dann beeilt euch bitte, wir langweilen uns gerade schon“ – „Jetzt chill mal, wir kommen noch. Keine Bange!“ – „Ok, dann bis gleich“
„Wer hat dich gerade angerufen?“, hob Emily den Kopf, als Lotta wieder in die Küche kam. „Das war Matti, die sich fragt, wo ich bleibe“, antwortete sie. „Wieso das? Fängt die Party nicht um halb acht an?“ – „Das schon, aber ich habe mich mit den Zwillingen bei ihnen zuhause verabredet, da ich noch das Kostüm für Kiki mitbringen soll. Sie hat ihr Kostüm bei sich zuhause vergessen“ – „Ach ja, sie ist dieses Wochenende bei den Zwillingen“ – „Ganz genau“ Emily nickte nur und sagte schließlich, „Nehmt ihr es mir übel, wenn ich heute nicht zur Party komme? Mir ist gerade nicht nach feiern, gruseln und Halloweenpranks. Außerdem bin ich noch ein bisschen kaputt von der Reiterjagd und will mich lieber hinlegen“ – „Aber du hast dir voll viel Mühe für dein Kostüm gegeben und du willst die Party ausfallen lassen?“ – „Ich kann es auch noch nächstes Jahr tragen“ – „Hm, jetzt haben wir schon so viel vorbereitet und jede von uns hat mindestens 20€ für Essen, Trinken und Dekoration ausgeben. Außerdem wird Matti toben, wenn du so plötzlich absagst. Schließlich hat sie einen Großteil der Partyplanung übernommen“ – „Matilda, Mathilda, Mathilda – Sie hat ungefähr so viel Einfühlungsvermögen wie ein Stück Holz und egozentrisch ist sie obendrein“ – „Na komm schon, wir können auch zusammen fahren. Aber wir müssen gleich los, denn wir sind sowieso schon spät dran“ – „Von mir aus, aber erwarte keine Bombenstimmung von mir“ Lotta musste ihre Freundin eine gefühlte Ewigkeit überreden, damit sie sich endlich aufrappeln konnte. Emily packte ihr Kostüm in eine Plastiktüte und lud die Tüte zusammen mit ihrer selbstgebackenen Gespenstertorte, Lottas grünen Wackelpudding und Lottas Handtasche auf den Fahrradanhänger.
„Du bist meine Rettung!“, fiel Kiki Lotta juchzend um den Hals und wirbelte mit ihr umher, als Annemieke ihnen die Tür geöffnet hatte. „Dann lasst uns sofort ins Badezimmer gehen“, rannte Mathilda ungehalten die Treppe hoch. „Meine Güte, dürfen wir uns nicht einmal die Schuhe ausziehen?“, rollte Emily mit den Augen. „Macht doch mal hin, anstatt stundenlang zu quasseln!“, rief Mathilda von oben. „Jetzt hetz uns nicht, Nervensäge“, erwiderte Kiki, die sich gerade von Emily berichten lies, wie sich der Unfall von Rachel ereignet hatte. „Wir sollten schon uns langsam fertig machen“, sagte Annemieke ruhig und schob ihre Freundinnen in Richtung Treppe. Zu fünft nahmen sie das Badezimmer in Beschlag. Als erstes wurden die Kostüme angezogen. Wie Lotta es bereits erahnt hatte, war das Kostüm ein wenig zu groß für Kiki, sodass mit ein paar Sicherheitsnadeln nachgeholfen werden musste. „Ich muss sofort ins Bad!“, klopfte jemand von draußen an die Tür. „Das geht nicht, Papa!“, rief Mathilda gereizt, „Wir brauchen noch mindestens eine Viertelstunde oder 20 Minuten“ – „Habe ich dir und deiner Schwester nicht gesagt, dass ich um acht Uhr auf der Geburtstagsfeier meines Chefs eingeladen bin?“ – „Was kann ich dafür, wenn meine Freundinnen zu spät kommen?“ – „Ok, in spätestens fünf Minuten seid ihr da raus. Verstanden?“
„Warum gibst du uns jetzt die Schuld, dass wir zu spät sind?“, raunzte Lotta Mathilda an, die ihre Bemerkung ignorierte und gerade dabei war sich einen auffälligen blauen Lidschatten zu schminken. Da es zwei Waschbecken gab, konnten sich immer zwei Mädchen gleichzeitig schminken. „Dass Rachel ausgerechnet heute vom Pferd gestürzt ist, ist richtig unpassend“, meinte Kiki, die sich ihre schwarzen Haare zu zwei Zöpfen flocht. Dank einer künstlichen Haarverlängerung waren ihre Haare wieder so lang wie früher, obwohl sie sich ihre Haare vor knapp einem Monat auf Kinnlänge abschneiden ließ. „Habe ich euch nicht gesagt, ihr solltet in fünf Minuten aus dem Bad raus sein?“, bollerte ihr Vater einen Moment später wutentbrannt gegen die Tür. „Ja Papa, wir sind gleich fertig“, erwiderte Annemieke etwas genervt. Sie hatte es mit ihrem Fledermauskostüm am leichtesten, da sie sich nicht großartig schminken und die Haare zurechtmachen musste. „Annemieke und Mathilda, ich kann euch auch fünf Euro eures Taschengeldes kürzen“, tobte ihr Vater. Annemieke drehte den Schlüssel um und schlüpfte als Erste aus dem Badezimmer. Ihre Freundinnen stolperten in ihren halbfertigen Halloweenoutfits wie wild gewordene Hennen hinter ihr her.
„Man kann erahnen von wem du das ungehobelte Temperament hast, Matti“, bemerkte Lotta, worauf ihre Freundin errötete. „Ertappt!“, rief Kiki kichernd. „Von irgendjemand muss ich diese Eigenschaft geerbt haben“, sagte Mathilda leise, die sich viereckige schwarze Ohrstecker durch ihre Ohrläppchen schob, die wunderbar zu ihrem Skelett-Jumpsuit passten. „Ich denke jeder hat ein schlechtes Vorbild in der Familie“, meinte Kiki, „Bei mir sind es meine Eltern, die sich vor Jahren scheiden ließen. Wären meine Eltern immer noch verheiratet, wären wir niemals nach Mainz gezogen. Manchmal bin ich auch sauer auf meinen Vater, da er sich so unregelmäßig meldet und man nie weiß, wo er sich herumtreibt“ „Bei mir ist meine Mutter manchmal das schlechte Vorbild: Sie braucht immer die neuste Kleidung, die schickste Frisur und sie will mit ihrer Familie immer gut dastehen. Deshalb müssen Leon und ich gute Noten nach Hause bringen und bei anderen Leuten so rüberkommen, als wären wir etwas Besonderes. Immerhin ist Mama stolz auf mich, dass ich in der Talentfördergruppe reite, deshalb ist sie mittlerweile einigermaßen erträglich zu mir“, meldete sich Lotta zu Wort.
„Immer diese Erwachsenen“, stöhnte Kiki, „Manchmal habe ich den Eindruck, dass sie von irgendeiner Pest befallen sind“ „Sag mal Kiki, hast du deinen Vater ursprünglich nicht sehr vermisst?“, mischte sich Emily ins Gespräch ein, die sich gerade von Annemieke zu einer gruseligen Horrorbraut schminken lies und nun blutunterlaufene Augen verpasst bekam. „Ja, natürlich vermisse ich ihn und ich träume sogar schon von ihm“, bekräftigte Kiki mit einem Nicken, „Aber ich fühle mich im Stich gelassen von ihm, da ich ihn das letzte Mal im September meldete und das letzte Mal sah ich ihn im Sommer. Mein großer Bruder könnte sich auch ruhig öfter melden, aber anscheinend sind meine Schwester und ich ihm egal“ „Diese Trennungen sind furchtbar“, sagte Emily betrübt, „Wenigstens sehe ich Papa und meinen Halbbruder wöchentlich, daher geht es“ Einen Moment später klingelte Mathildas Handy und ließ die Mädchen mit einem lauten Elektropopsong zusammenzucken. „Boah, dein Handy killt“, fasste sich Lotta an die Brust. Mathilda ging zum Telefonieren an das andere Ende des Zimmers und kam rasch zurück. „Mädels, macht mal dalli! Das war Fianna, sie ist angefressen, dass sie mit Vivi und Aylin so lange auf uns warten muss“
Im Bandenquartier sah es aus wie in einem Horrorschloss. An den Wänden hingen Pappen, die aussahen wie Burgmauern. An der Decke waren Spinnenweben befestigt, aus denen dutzende schwarze Spinnen heraushingen. Hinter dem Bücherregal lugte ein Gespenst hervor. Über dem Sofa hing eine selbst gebastelte Fledermaus. Neben der Tür zum Schlafzimmer stand ein massiver Grabstein. Kiki platzierte einen selbst geschnitzten Kürbis auf dem großen Tisch, während Aylin und Fianna unzählige Schüsseln und Tellern mit allerlei gruseligen Speisen auf den Couchtisch stellten. Dazu gab es noch eine rote Bowle, in der eine gefrorene Hand aus Eis lag. Der größte Clou waren zwei LED-Strahler, die den Wohnwagen in ein dunkelblaues und violettes Licht tauchten. Mathilda hatte die Beleuchtung durch ihrem Kumpel Elias auftreiben können. Somit war die Dekoration noch einen Tacken besser als im letzten Jahr und zudem trug jedes der acht Bandenmädchen ein originelles Kostüm.
Aylin hatte sich auf die Schnelle ein Gespensterkostüm geschneidert, Vivien trug Aylins Teufelkostüm vom letzten Jahr und Fianna ging als Bloody Mary. Vom Äußeren war alles perfekt, so wie es zu einer Halloweenparty gehörte, dennoch wollte keine richtige Partystimmung aufkommen, obwohl im Hintergrund die Musik einer Halloween-Playlist lief. Als Emily beim Essen von dem Reitunfall ihrer Tante erzählte, dämpfte es die Stimmung noch mal. „Was machen wir, wenn wir erstmal keine Reitlehrerin mehr haben?“, klang Emily ratlos. „Gute Frage, dann fällt Reiten auf unbestimmte Zeit aus“, zuckte Mathilda mit den Achseln und wandte sich wieder ihrem Handy zu. „Es schrecklich, dass es ausgerechnet so eine liebe Person wie Rachel treffen musste, klang Annemieke bedröppelt. „Arme Rachel, sie hat sowas nicht verdient“, bedauerte Kiki. „Eigentlich ist mir gerade gar nicht nach Party“, brummte Emily. „Mir auch nicht, nachdem ich das gehört habe“, meinte Vivien. „Ich bin gespannt, wie lange es braucht und wir eine neue Reitlehrerin haben“, warf Lotta in den Raum. „Da bin ich gespannt“, sagte Emily, „Die Reitschule kann es sich nicht leisten, wenn der Unterricht auf längere Zeit ausfällt. Der Betrieb hat es aufgrund seiner geringen Größe nicht einfach und mittlerweile muss sich der Hof mit Specialevents wie Weihnachtsreiten, Ponynachmittage und Feriencamps über Wasser halten“
Die Freundinnen diskutierten noch eine ganze Weile über den Reitunfall und wie es mit ihren Reitstunden weitergehen sollte. „Jetzt reicht es aber!“, unterbrach Mathilda ihre Freundinnen abrupt, „Wir wollen feiern und Spaß haben und uns den Abend nicht mit diesem Thema zerstören. Ich habe auch ein paar Spiele von zuhause mitgebracht“ Ihre Freundinnen waren nur halbwegs begeistert, aber ließen sich zu einer Partie Activity überreden, das sie in Zweierteams spielten. Normalerweise stieg der Lärmpegel in eine unvorstellbare Höhe, wenn die Bande dieses Spiel spielte. Am meisten wurde sich über Fiannas ulkiges Schauspieltalent gelacht und die Mädchen beömmelten sich über Emilys und Mathildas „Zeichenkünste“. Diesmal wurde kaum gelacht und das Spiel mit halb so wie Leidenschaft gespielt wie sonst. Kiki und Mathilda, die sich am meisten ins Zeug legten, gewannen deutlich vor den anderen drei Teams. „Was machen wir jetzt?“, sah Mathilda ihre Freundinnen an, als drohte Langweile aufzukommen. „Hm, vielleicht Musik hören“, schlug Fianna vor. Mathilda zog sie am Handgelenk vom Stuhl und drehte die Boxen auf maximale Lautstärke. Munter fingen die beiden Mädchen an zu tanzen und machten abenteuerliche Verrenkungen. „Bitte die Musik leiser!“, brüllte Emily gegen die Lautstärke an. „Aber wir wollen doch feiern!“, entgegnete ihr Fianna, die mit einem Murren die Musik wieder leiser stellte. „Ist euch nicht entgangen, dass es Micky nicht gut geht“, fuhr Emily die beiden Freundinnen in einem vorwurfsvollen Ton an. „Sie hat so starke Kopfschmerzen, dass sie sich im Nachbarzimmer auf die Schlafkoje gelegt hat“, ergänzte Lotta.
Mathilda und Fianna setzten sich wieder zu den anderen Mädchen an den Tisch und lauschten dem Gespräch. Selbstverständlich ging es wieder um Rachel und Emily schilderte ihre Bedenken, dass ihre Tante eventuell Schäden zurückbehalten könnte. Bumm! Mit einem Mal knallte eine Konfettikanone und unzählige kleine Papierfetzen in Silber, Gold, Schwarz und Orange rieselten auf die Mädchen herab. „Mathilda, checkst du nicht, dass ich gerade nicht feiern will?“, schlug Emily mit der Hand auf den Tisch. „He, warum schreist du mich so an?“, erwiderte ihre Freundin perplex. „Meine Tante liegt schwer verletzt im Krankenhaus und dir scheint das egal zu sein. Du willst nur einen draufmachen, egal wie beschissen es mir geht!“, rief Emily den Tränen nahe. „Das ist mir nicht egal!“, rief Mathilda empört, „Unterstellst du mir gerade, dass ich ein gefühlloses Aas bin? Und außerdem habe ich die ganze Dekoration auf die Beine gestellt und den Ablauf der Party geplant. Weißt du wie verdammt viel Arbeit das ist? Ich habe mir den Arsch aufgerissen und niemand weiß es zu würdigen!“
„Jetzt komm mal runter, Mathilda!“, legte ihr Vivien die Hand auf den Unterarm. „Aber rücksichtslos finde ich das Verhalten von Mathilda schon“, sagte Lotta offen, die sich zuvor eine Bemerkung verkniffen hatte. „Ich habe alles organisiert und wollte für euch die coolste Party des Jahres geben. Ja, ich habe das nur für euch getan. Ich wollte, dass ihr Spaß habt und diesen Abend nie wieder vergesst“, sprach Mathilda langsam und betonte jedes einzelne Wort und fuhr fort, „Was kann ich dafür, dass Rachel vom Pferd fliegt? Ich habe es doch auch nicht gewollt. Deswegen wollte ich auch nicht die Party abblasen“ „Bis zu einem gewissen Grad denkst du auch nur an dich“, warf Aylin ihr vor. „Du hättest wenigstens in der Zwischenzeit einmal gucken können, wie es deiner Schwester geht. Ihr war sogar schwindelig, aber du willst sowieso lieber feiern und deinen Spaß haben“, meinte Kiki mit zusammengekniffenen Augen. „Ja, ich geh jetzt auch zu Micky, denn ihr habt gerade meine Lust auf Halloween sowas von verdorben“, verschwand Mathilda ins Nachbarzimmer.
„Das Hauptärgernis des Abends ist weg“, bemerkte Aylin leise. „Wenigstens ist niemand da, der zwanghaft Party machen will“, nickte Emily. „Ihr seid doch diejenigen, die Matti vergrault habt“, fauchte Fianna. „Hey, jetzt redet endlich wieder normal miteinander, sonst fahre ich gleich nach Hause. „Oh nein, bitte nicht!“, fasste Kiki sie am Handgelenk und wandte sich dann an Vivien, „Deine Bowle schmeckt super, Vivi! Lass uns alle noch zusammen ein Glas davon trinken“ „Gerne!“, nickte Lotta, „Ich finde es richtig kreativ, dass du noch eine Eishand darin versenkt hast“ „Ich finde, ihr habt euch alle so viel Mühe gegeben“, lobte Lotta, „Das Essen war klasse, vor allem die Pizza mit dem grünen Teig, die Gespenstertorte und die Hand aus Hackfleisch“ „Jede von uns hat sich ins Zeug gelegt“, nickte Aylin, „Da braucht Mathilda nicht zu behaupten, dass sie die Party alleine vorbereitet hätte“ Wieder echauffierten sich die Mädchen über die schlechten Marotten ihrer Freundin, bis Fianna und Vivien jede weitere Lästerei untersagten.
„Ich finde es grässlich, dass es ausgerechnet heute wieder Streit gibt“, beklagte sich Vivien, die fast den Tränen nahe war. „Es ist doch nicht deine Schuld“, tröstete Kiki sie. Kurz darauf wechselte die Freundinnen das Gesprächsthema und erzählte, dass eine gute Freundin in Mainz ihr ein Pflegepferd vermittelte, dass Storm hieß und sie ihn am Montag zum ersten Mal reiten dürfte. „Oh cool, das muss total toll für dich sein“, huschte zum ersten Mal an diesem Abend ein Lächeln über Emilys Gesicht. „Ja, ich bin auch das glücklichste Mädchen der Welt“, juchzte Kiki leise, „Oh mein Gott, ich bin gerade so hibbelig, wenn ich daran denke, dass ich ihn einreiten soll. Zum Glück hilft Caro mir dabei“ „Das schaffst du schon, Kiki!“, klatschte Lotta ihre Freundin ab. Emily und Lotta erzählten abwechselnd, wie sie sich an ihre Pferde gewöhnt hatten und welche Tricks und Kniffs man anwenden konnte.
Unerwartet klopfte es von draußen an die Tür. „Scheiße, ist das der alte Griesgram?“, sog Fianna die Luft ein. „Eigentlich dürfte der sich nicht beschweren, schließlich machen wir nicht laut Party“, sagte Aylin. „Verdammt, wer hat Gartentor nicht abschlossen?“, zischte Fianna verärgert. „Ich kann nicht erinnern, dass wir überhaupt das Gartentor abgeschlossen haben, wenn jemand von uns hier ist“, zuckte Emily mit den Achseln. „Schon gut, ich mach schon auf“, schlappte Kiki zur Tür. „Hallo Mädels!“, begrüßte die Mutter der Zwillinge die Bandengirls. „Hi, was machst du denn hier?“, erwiderte Kiki überrascht, die als einer der wenigen Mädchen Frau ter Steegen duzte. „Mathilda hat vor einer Viertelstunde angerufen, dass Annemieke Migräne hat und sie selbst auch nach Hause wollte“, erwiderte sie.
„Hi Mama!“, nun standen auch die Zwillinge an der Tür. „He, mir fällt gerade etwas ein“, lief Kiki zu ihrer großen Tasche, „Zwillingsmäuse, habt ihr bitte noch einen Augenblick Zeit? Ich habe noch eine Überraschung vorbereitet“ „Meinetwegen“, nickte Mathilda. Kiki fuhr rasch ihren Laptop hoch und spielte das Video ab, das die schönsten Bilder ihres Almurlaubes vor einer Woche zeigte. Sie hatte das Video mit dem Lied „Mountains“ ihrer Lieblingssängerin Rosalynn Nightwish hinterlegt. „Richtig schön, es ist so toll, dass mir fast die Tränen kommen“, lobte Emily. „Ich will zurück auf die Alm und zwar sofort!“, sagte Lotta. „Und ich will zurück zu Raffi!“, klang Annemieke sehnsüchtig. „Willst du auch mitkommen?“, wandte sich Frau ter Steegen an Kiki. „Ne, ich bleibe noch anderthalb Stunden hier. Ich bin mit dem Fahrrad hier und daher brauchst du mich nicht abholen. Ich bin vor Mitternacht auf jeden Fall Zuhause“, schüttelte diese den Kopf. „Ich gebe dir einen Schlüssel, damit du nicht klingeln musst“, drückte ihr die Mutter der Zwillinge einen Türschlüssel in die Hand.
Kurz darauf waren die Schwestern verschwunden. „Ich kann verstehen, dass Micky nach Hause will“, sagte Aylin, „Aber das Matti sich ebenfalls abholen lies, hinterlässt einen merkwürdigen Nachgeschmack“ „Das kann ich verstehen, dass sie ihrer Schwester Beistand leisten will“, entgegnete ihr Fianna, „Ich weiß aus eigener Erfahrung wie nah sich Zwillinge sind“ „Ich will auf jeden Fall noch länger hier bleiben, schließlich werde ich den ganzen November nicht mehr nach Freudenburg kommen, da ich viel um die Ohren haben werde“, goss sich Kiki ein Glas Bowle ein und nahm sich noch einen Knochenkeks. „Wollen wir ein Kartenspiel spielen?“, schlug Vivien vor. „Von mir aus“, nickte Emily, „Ich bin sowieso nicht für Action und ich werde gleich ebenfalls nach Hause gehen. Ich bin gerade hundemüde“ „Kein Ding, du hattest auch einen turbulenten Tag hinter dir“, legte ihr Lotta den Arm um ihre Schulter.
Draußen regnete es in Strömen, als Emily von ihrem Englischbuch aufsah. Typisches Novemberwetter: kalt, grau, regnerisch und vor allem ungemütlich. „Emily, do you want to read the text on page 34“, vernahm sie Frau Mooshammers Stimme. „Ähm, was?“, setzte sich Emily aufrecht hin. „Answer in English, please and pay attention to my lesson. Don’t look outside of the window and dream“, wurde sie von der jungen Lehrerin zurrecht gewiesen. Hinter ihr begannen Victoria, Nadine, Raphaela, Stephanie und Hatice zu tuscheln und zu kichern. Emily mochte die Mädchenclique nicht sonderlich und war froh, dass sie einen Sitzplatz neben Nora ergattert hatte, mit der sie in den Pausen ein paar Worte wechseln konnte. Nachdem Frau Mooshammer die albernen Mädchen zurrecht gewiesen hatte, begann Emily leicht holprig vorzulesen, sodass sie an manchen Stellen korrigiert werden musste. Puh! Die Erleichterung war groß, als Paula endlich übernehmen konnte und Emily hoffte, dass sie nicht noch einmal zufällig an die Reihe genommen wurde.
Englisch war nach wie vor nicht eins ihrer Lieblingsfächer. Zwar stand sie nicht wie früher auf einer schwachen Vier, sondern hatte sich inzwischen auf eine solide Drei hochgearbeitet, aber eines ihrer Lieblingsfächer war es bei weitem nicht. Endlich gongte es. Frau Mooshammer schrieb noch hastig die Hausaufgaben an die Tafel, während die Schüler ihre Taschen packten. Die meisten Schüler huschten an Emily vorbei, ohne sie zu beachten. Nur Victoria und Stephanie plapperten angeregt über die angesagteste Herbstmode und warfen Emily scheele Blicke zu, als würden sie sich über ihren eher schlichten Kleidergeschmack lustig machen. Wie Emily die beiden Tussen nicht ausstehen konnte! Immerhin wartete Nora auf sie. Das pausbäckige, leicht übergewichtige Mädchen mit den kinnlangen dunklen Haaren und der Hornbrille war die Einzige in der Klasse, die Emily halbwegs als Schulfreundin bezeichnen konnte. Nora war eine leidenschaftliche Leseratte, die ein Buch nach dem anderen verschlang und liebte es Mangas zu zeichnen. Immerhin war sie an Pferden interessiert, da ihre Tante zwei Pferde besaß und sie jedes Mal reiten durfte, wenn Nora sie besuchte. Ansonsten war Nora auch eher eine Außenseiterin, die genauso wie Emily keinen großen Anschluss fand.
„He Emily, wir haben extra auf dich gewartet“, stand Robert mit Nora vor dem schwarzen Brett in der Pausenhalle. Nach vier Stunden hatte Emily endlich Schluss. „Genau, wann treffen wir uns eigentlich für das Referat?“, fuhr Nora fort. „Heute habe ich keine Zeit, da ich nachmittags Gitarrenunterricht habe und donnerstags habe ich Springstunde. Freitags bin verplant und Samstag wollte ich schwimmen gehen“, überlegte Emily. „Wann hast du überhaupt mal Zeit? Wir halten das Referat in knapp zwei Wochen und wir haben noch keinen Handschlag dafür getan“, gab Robert zu bedenken. „Nächsten Montag hätte ich wohl Zeit“, sagte Emily schließlich. „Eigentlich habe ich mich via Internet mit Kumpels zum Zocken verabredet, aber das kann ich verschieben“, meinte Robert. Der schlaksige Junge mit den struppeligen aschblonden Haaren und der unsicheren Körperhaltung war mit Nora befreundet und wurde vor allem von den obercoolen Jungs gehänselt und von fast allen anderen Mitschülern gemieden. Deshalb verbrachte er die Pausen ab und zu mit Nora und Emily. „He, guck mal, da haben sich drei Loser gefunden!“, machte Kevin eine abfällige Bemerkung, worauf seine Clique hämisch lachte.
Sofort begann sich Emily unbehaglich zu fühlen“ „Boah, sind das seltendämliche Honks. Haben die sonst keine anderen Hobbys, als anderen auf die Nerven zu gehen?“, rollte Nora mit den Augen, die inzwischen gelernt hatte, dass man sich die Sticheleien von den beliebten Schülern sich nicht zu Herzen nehmen durfte. Ihr waren die anderen Schüler größtenteils egal. „Was macht ihr jetzt noch so, wo die letzten beiden Stunden ausfallen?“, fragte Robert. „Ich fahre nach Zuhause und koche mir eine chinesische Nudelpfanne“, antwortete Nora. „Ich fahre zu meiner alten Schule und besuche meine Freundinnen“, erwiderte Emily, die sich hastig von ihren Mitschülern verabschiedete. In fünf Minuten würde ihr Bus kommen und bis zur nächsten Bushaltestelle war es noch ein Stück zu laufen. Emily hastete los und rutschte fast auf nassem Herbstlaub aus, das noch nicht weggefegt wurde. Es hatte einen Grund, dass sie ihren Freundinnen einen Besuch einen Besuch abstatten wollte. In der dritten Stunde hatte sie von ihrer Cousine Annika eine wichtige Nachricht via WhatsApp erhalten und schrieb mit ihr heimlich, indem sie das Handy auffällig unter dem Tisch hielt.
„Weg da, lahme Ente!“, drei Jungs, die etwa zehn oder elf sein mussten, stürmten an Emily vorbei und rempelten sie an. „Blöde Blagen!“, schimpfte sie leise. Irgendwie schienen die Fünftklässlerzwerge immer respektloser zu werden. Nun erkannte sie den Grund, wieso die Jungs losgerannt waren, da der Bus um die Ecke bog. Nun musste Emily ebenfalls einen Spurt hinlegen. Ihre große bunt bemusterte Handtasche war dabei hinderlich und klatschte im Laufrhythmus gegen ihr rechtes Bein. In letzter Sekunde erreichte sie mit brennenden Lungen den Bus. Der Busfahrer warf ihr einen leicht genervten Blick zu, als würde sie die Abfahrt um glatte fünf Minuten verzögern. Emily blieb im Mittelgang stehen und hielt sich an einer Haltestange fest. Sie musste nur zwei Haltstellen weit fahren, da ihre neue Schule und das Altstädtische Gymnasium relativ dicht beieinander lagen. Endlich ertönte die bekannte Haltestellendurchsage und Emily konnte es kaum erwarten auszusteigen und ihren Freundinnen die Neuigkeit mitzuteilen. Auch wenn sie schon daran dachte, kribbelte es in ihr. Als sie ausstieg und die Straßenseite wechselte, flammten die Aufregung und Vorfreude stärker auf als je und eh. Die zweite große Pause hatte bereits begonnen, aber wegen des ungemütlichen Wetters spielten hauptsächlich nur Kinder der fünften und sechsten Klasse auf dem Schulhof. Gerade als sie durch die breite Schultür schlüpfte, lief sie Freya und Sina in die Arme. Freya hatte sich die Haare pechschwarz gefärbt und sich eine Kurzhaarfrisur verpassen lassen. Emily erkannte sie nur, da sie in Begleitung von Sina unterwegs war. Sina hatte nach wie vor weißblonde lange Haare, aber inzwischen trug sie einen halblangen Pony, der ihr fast in die Augen hing.
„Hi Emily, was machst du hier?“, wurde sie freudig von ihrer alten Mitschülerin Freya begrüßt. „Ich wollte euch einen Überraschungsbesuch abstatten“, lächelte Emily und umarmte die beiden Mädchen kurz. „Schön, dich wieder zu sehen“, sagte Sina, „Wie geht es dir in deiner neuen Klasse?“ „Joa, es geht so einigermaßen“, erwiderte Emily, „Immerhin schreibe ich viele Zweien und Dreien“ „Das ist doch toll“, freute sich Freya. „Hallo Emily!“, tickte sie jemand von hinten an. Grinsend stand Jannis mit Ömer und Michael neben ihr, die sie alle abklatschten. Emily genoss die freundliche und offenherzige Begrüßung ihrer alten Mitschüler. Oft sehnte sie sich nach ihrer alten Schule zurück, da Emily das Gefühl hatte, dass sie in ihrer neuen Klasse vom Zwischenmenschlichen her immer noch nicht angekommen war. „Was führt dich spontan zu uns?“, wollte Michael wissen. „Ich habe Freistunden und wollte meine Freundinnen überraschen“, sagte Emily und behielt den wahren Grund, weshalb sie gekommen war für sich. Die drei Piranhas gingen weiter. „Wisst ihr wo Annemieke, Fianna, Lotta und co stecken?“, wandte sich Emily wieder an Freya und Sina. „Ich habe sie vorher in der Cafeteria gesehen“, antwortete Freya. „Ok, danke. Euch beiden noch einen schönen Tag!“, verabschiedete sich Emily und bahnte sich ihren Weg durch die Schülermassen. Bei dem Schmuddelwetter hielten sich die meisten Schüler in der Pausenhalle auf, die sich wie ein Ring um den Innenhof zog.
In der Cafeteria entdeckte sie schließlich ihre Freundinnen, die an ihrem Stammtisch neben der großen Drakenapalme am Fenster saßen. Sie schienen sie nicht zu bemerken und waren in ein angeregtes Gespräch vertieft. Erst als Emily direkt vor ihnen stand, sprang Annemieke wie von der Tarantel gestochen auf. „Oh mein Gott, Lily! Was machst du denn hier?“, sprang sie Emily fast schon in die Arme und wirbelte einmal im Kreis mit ihr umher. Die anderen Mädchen lachten kurz auf, da sie solche Übermutsanfälle eher von ihrer Schwester Mathilda, Kiki und Fianna gewohnt waren. „Ich habe eine wichtige Nachricht für euch!“, setzte sich Emily zu ihren Bandenfreundinnen an den Tisch, „Hört zu, wir haben endlich eine neue Reitlehrerin gefunden. Bianka Henke hießt sie und kommt von einem Reiterhof aus Neuendorf. Annika hatte mir diese Nachricht vor knapp zwei Stunden mitgeteilt. Ich bin wirklich so happy, dass ab morgen wieder Reitstunden stattfinden“
„Oh ja, das ist doch mal eine wunderbare Neuigkeit! Zumal der Reitunterricht jetzt schon länger als eine Woche ausgefallen ist“, sagte Lotta erleichtert. Rachels Unfall war inzwischen zehn Tage her. Ihr ging es deutlich besser, sodass sie in eine Rehaklinik verlegt werden konnte. „Ich freue mich schon eine neue Reitlehrerin kennen zu lernen“, strahlte Annemieke, „Bestimmt macht sie auch andere Übungen und kann uns eventuell auch noch Dinge beibringen“ „Ja, ein wenig Abwechselung würde echt gut tun“, nickte Vivien, „So sehr ich den Reitunterricht mag, aber es ist letztendlich immer das Gleiche. Wir reiten immer in einer Abteilung durch die Halle“ „Finde ich auch“, bekräftigte Fianna, „Rachel ist in der letzten Zeit ziemlich ideenlos geworden, was man noch alles machen kann und sie macht viel zu wenig Spielchen zwischendurch“ „Ich finde, Rachel bringt euch in der Reitstunde vom Können her nicht wirklich voran. Ihr stagniert ungefähr auf dem Niveau wie ungefähr anderthalb Jahren. Umso mehr werden wir in der Talentfördergruppe gefordert“, gab Lotta ihren Senf hinzu.
„He, jetzt redet bitteschön nicht Rachels Reitunterricht schlecht“, mischte sich Aylin ein, „Ich finde schon, dass sie eine gute Reitlehrerin ist und sich Mühe gibt uns das Reiten beizubringen“ „Das wollte ich gerade sagen!“, nahm Emily ebenfalls ihre Tante in Schutz, „Rachel ist wirklich eine der liebsten und geduldigsten Reitlehrerinnen auf Erden und schreit keinen ihrer Schüler an, auch wenn der sich so richtig ungeschickt anstellt“ „Oh ja und zudem mag ich ihre lustige Art. Rachel lacht sehr viel und scheint insgesamt ein sehr glücklicher Mensch zu sein. Sie will einfach, dass wir Spaß am Reiten haben. Ich selbst reite nicht, weil ich darin besonders gut werden will, sondern weil wir es zusammen als Freundinnengruppe machen und dabei für knapp zwei Stunden dem Alltag entfliehen können“, äußerte Annemieke ihre Meinung und schlug vor, „Was haltet ihr davon, wenn wir sie besuchen und ihr ein kleines Geschenk mitbringen? Wie wäre es mit Blumen und einer Schachtel Pralinen?“ „Die Idee ist spitze!“, klopfte ihr Lotta auf die Schulter. „Das können wir gerne in Angriff nehmen“, nickte Emily, „Aber das muss vorher geplant werden und ich weiß nicht, ob wir sie zu siebt oder zu acht besuchen dürfen“
Erst nach knapp fünf Minuten fiel Emily auf, dass Mathilda fehlte. „Die treibt sich irgendwo mit Sven herum“, antwortete Aylin auf ihre Nachfrage. „Hm, ich habe Matti seit Halloween nicht mehr gesehen. Freitag war sie auch nicht beim Bandentreffen“, sagte Emily. „Sie war letztes Wochenende mit Sven bei der Goldenen Hochzeit seiner Großeltern“, klärte Annemieke sie auf. „Übrigens läuft die Beziehung zwischen den Turteltäubchen so gut, dass Matti quasi an Sven festgeklebt ist“, verdrehte Aylin die Augen. „Was ist dagegen zu sagen? Matti ist momentan glücklicher als eh und je“, verteidigte Annemieke ihre Schwester, „Ich bin sehr froh, dass sie ihren festen Partner hat. Seitdem ist sie viel lockerer und umgänglicher“ „Das kann ich verstehen“, sagte Emily zu ihrer besten Freundin, „Wir kennen doch alle Mattis Launen, aber im Großen und Ganzen ist sie eine treue und zuverlässige Freundin“
Kurz darauf kamen Lotta, Fianna und Vivien mit Händen voller Kinderriegel, Hanuta, Kinderbueno, Milchschnitten und Duplo zurück. „Ich dachte, wir spendieren zur Feier das Tages etwas Süßes“, lächelte Lotta. „Dann möge das Süßigkeitenschlachten beginnen“, schnappte sich Fianna einen Kinderriegel. „Es gibt wirklich nichts Schöneres als im Kreise der Freundinnen zu naschen“, schwärmte Vivien und innerhalb der kürzesten Zeit waren alle Riegel vergriffen. Es klingelte zum Pausenende. Emily umarmte ihre Freundinnen zum Abschied und räumte das restliche Süßigkeitenpapier weg. Gerade als sie aus der Cafeteria trat, sah sie Mathilda und Sven Hand in Hand, die anscheinend nur Augen für sich hatten. Einen Moment später waren sie auch schon wieder in der Schülertraube verschwunden und Emily wollte ihnen auch nicht hinterherlaufen, um bloß „Hallo“ zu sagen. Trotzdem fühlte es sich ein bisschen komisch an von einer guten Freundin übersehen zu werden. „Naja, wahrscheinlich hat sie mich in der Eile wirklich nicht gesehen“, sagte sich Emily und tröstete sich selbst mit diesem Gedanken.
Gerade als Lotta sich an den Tisch setzte und ihre Mutter die Hähnchencurrypfanne zum Abendessen auftischte, klingelte ihr Handy. „Hi, hier ist Lotta“, meldete sie sich überrascht. „Hi, ich bin’s Emily“, war ihre Freundin Emily am anderen Ende der Leitung, „Ich habe gerade mit Sarah Sunshine von der Koppel geholt, irgendwas stimmt mit ihm vorne und hinten nicht“ „Lotta, wie oft habe ich dir gesagt, dass am Esstisch nicht telefoniert oder am Handy rumgespielt wird!“, fuhr ihre Mutter mit spitzer Stimme dazwischen. „Mama, das ist jetzt aber wichtig. Es geht um Sunshine!“, erwiderte Lotta leicht gereizt. „Dann geh für das Telefonat bitte auf den Flur und komme gleich wieder rein“, zeigte ihre Mutter mit dem Zeigefinger auf die gläserne Küchentür. „Jaa!“, stöhnte Lotta und ging zum Telefonieren ins Wohnzimmer.
„Sunshine scheint sich auf der Koppel vertreten zu haben“, fuhr Emily fort, „Auf jeden Fall lahmt er ziemlich stark“ – „Oh nein! Was jetzt? Ich kann ihn nicht reiten und morgen haben wir bei der neuen Reitlehrerin die neue Springstunde“ – „Mach dir nicht unnötig Sorgen! Wir werden eines der Schulpferde für dich auftreiben. Soweit ich weiß, können Lanzelot, Snowflake, Tybalt und Diego hervorragend für den Springunterricht eingesetzt werden“ – „Hat jemand wegen Sunshine den Tierarzt gerufen?“ – „Ja, das hat Manfred vorhin schon gemacht und der Tierarzt kommt schon morgen“ – „Gut, ich hoffe, der Kerl hat sich nicht all zu schwer verletzt“ – „Das glaube ich nicht, aber du wirst ihn wahrscheinlich einige Wochen nicht reiten können und bis er wieder 100% in Form ist, können durchaus zwei oder drei Monate vergehen“ – „Na super, das sind ja tolle Aussichten!“, maulte Lotta.
„Ja, aber du musst Sunshine trotzdem in Bewegung halten und mit ihm spazieren gehen und dann braucht er wahrscheinlich ein speziellen Futterzusatz“, erklärte ihr Emily. „Oh je, das wird alles irre teuer“, seufzte Lotta niedergeschlagen und mit einem Mal legte sich ihr Heißhunger, obwohl sie vorhin anderthalb Stunden beim Schwimmtraining war. „Mach dir da mal keine Sorgen. Ich denke, dein Vater hat doch ordentlich Geld“ „Ja, ich weiß“, sagte sie und fragte nach einer kleinen Gesprächspause, „Hast du schon die neue Reitlehrerin gesehen?“ – „Ja, aber nur kurz. Sie hat mir einmal die Hand geschüttelt und ein paar Worte mit ihr gewechselt. Sie wirkt schon auf dem Blick deutlich zupackender und strenger als meine Tante“ – „Hast du schon von irgendjemand mitbekommen, wie sie in den Reitstunden drauf ist?“ – „Sarah hat vorhin ein Mädchen getroffen und es erzählte ihr, dass Bianka mehr fordert und schnell ungeduldig wird. Sie soll die Mädels manchmal ein bisschen von der Seite angeherrscht haben“ „Oh man! Hoffentlich springt sie mit uns nicht so um“ – „Ach was, wir reiten alle in der Talentförderung und können alle ganz gut reiten. Ich kann mir vorstellen, dass die Neue schon ganz in Ordnung ist. Schließlich wird Manfred keine Schreckschraube ausgesucht haben. Nicht jede Reitlehrerin ist so eine sanfte Natur und lacht so viel wie Rachel. Ich bin gespannt, was Bianka uns noch beibringen kann“ – „Da bin ich auch gespannt. Eventuell kennt sie andere Trainingsmethoden“ – „Garantiert, schließlich soll die sehr kompetent, aber auch sehr anspruchsvoll sein“ „Hoffentlich verlangt sie nicht etwas von mir, wo ich nicht mithalten kann“ – „Das wirst du sehen und außerdem muss man bedenken, dass du morgen ein Pferd reiten wirst, dass du sonst kaum noch im Reitunterricht reitest“
„Wieso telefonierst du so lange? Dein Essen wird kalt“, platzte Lottas Mutter herein. „Ist das deine Mutter?“, fragte Emily. „Ja, wer sonst?“, sog Lotta tief die Luft und atmete hörbar wieder aus. „Mama, warum bist du so gereizt?“, fragte Lotta ihre Mutter auf den Weg in die Küche. „Denkst du, in meinem Leben läuft alles glatt? Weißt du, mein Chef kann so ein Idiot sein, der einen bei jeder Sache, die nicht richtig läuft, einem die Schuld gibt“, erwiderte diese. Lotta hatte schon ein paar Male mitbekommen, seitdem im Februar ihr Chef gewechselt hatte, dass ihre Mutter öfter seine schlechten Launen abbekam. Nicht selten beklagte sie sich in der Gegenwart ihres Mannes sich über die Arbeitsbedingen und dann stetigen Stress. „Irgendwie haben fast alle Erwachsenen ihr Päckchen zu tragen“, dachte Lotta bei sich, als sie aß.
„Du reitest übrigens Lanzelot!“, teilte Annika Lotta am späten Nachmittag mit, als sie die warme Stallgasse betrat. „Muss das sein?“, erwiderte sie unzufrieden. „Die anderen Pferde wurden bereits unter den anderen Reiterinnen aufgeteilt und außerdem bist du ein bisschen spät dran. Unsere Springstunde fängt in zehn Minuten an“, meinte Annika, „und einen Vorteil hat es, dass du Lanzelot reitest. Er wird gerade noch in der Reitstunde geritten und du brauchst ihn nicht mehr putzen“ „Hi, Lotta!“, winkte ihr Emily zu, die Jazz an den Zügeln über den Stallgang führte. Sie hatte ihn schon geputzt und gesattelt. Zu dritt gingen sie in die Halle, wo gerade die Reitstunde der jüngeren Mädchen zuende ging, die alle zwischen sieben und zehn Jahre alt waren. Annika und Emily hatten bereits ihre Pferde bei sich und sahen von der Bande aus zu. „Na, ihr drei!“, näherte sich Franziska, Annikas Freundin von hinten. „Hey Franzi!“, nickte Annika ihr zu und die beiden Freundinnen fingen an sich leise zu unterhalten.
Lottas Augen hefteten sich an eine korpulente Frau mit eine dunkelblauen Mütze, die deutlich und laut Anweisungen gab. „Lena, wie oft habe ich dir gesagt, dass du nicht direkt auf deinen Vordermann aufreiten darfst? Sowas ist gefährlich. Wenn du das noch mal machst, gibt es richtig Ärger!“, wies sie im nächsten Moment ein zierliches rothaariges Mädchen zurecht. „Oha!“, dachte Lotta bei sich, „Bei der Frau darf man sich keine Faxen erlauben“ „Franzi, Lotta und Lily, ich habe noch einen kleinen Tipp“, raunte Annika leise, „Bianka Henke will mit ihrem Nachnamen angesprochen und vor allem gesiezt werden“ „Wirklich?“, zog Lotta die Augenbrauen hoch, „Es reicht doch, wenn ich die Lehrer in der Schule sieze“ „Warum nicht?“, zuckte Emily mit den Achseln, „Immerhin kennen wir die Frau nicht und fremde Personen sieze ich allein schon aus Höflichkeit“ Nun ging die neue Reitlehrerin zur Bandentür und öffnete diese. „Wartet noch ein kleinen Moment“, sagte sie hastig, „Erstmal führen wir die Pferde, die nicht mehr an der Springstunde teilnehmen aus der Halle und dann könnt ihr gleich in die Halle und euch eine Viertelstunde warm reiten“
Bianka Henke war ziemlich groß. Lotta schätzte sie etwas größer als 1,80m. „Oha, hat die eine durchdringende Stimme“, bemerkte Franziska, als sie bei Tybalt die Steigbügellänge richtig einstellte. Beim Warmreiten lief Lanzelot problemlos, nur einmal ritt Lotta etwas zu nah an Celines Pferd Butterfly auf, sodass er zur Seite weg wich und Lotta rutschte seitlich an ihm herunter und konnte sich schnell fangen. „So, meine Damen, seid ihr schon eingeritten?“, begrüßte Bianka Henke die sechs Reiterinnen. Auf dem Boden lagen mehrere Stangen, über die die Reiterinnen im Trab ritten. Lotta merkte, dass Lanzelots Hufe immer wieder gegen die Stangen stießen. „Du musst mittig anreiten, im Rhythmus bleiben und dann mit Schwung rüber, Lotta!“, gab ihr Bianka die Anweisung. Sie wusste Lottas Namen, da ihr Namen hinter auf der Trainingsjacke stand. „Bleib im Takt, stör Lanzelot nicht im Maul und geh locker in der Bewegung mit“, gab die Reitlehrerin weitere Anweisungen. Lotta ritt erneut an und diesmal stolperte Lanzelot einmal fast. „Wann lernst du es endlich mal meine Anweisungen zu befolgen?“, wurde Bianka barsch. „Entschuldigung!“, stammelte Lotta etwas unbeholfen und wurde rot. „Wie willst du die schwierigeren Übungen meistern, wenn du bereits bei dieser leichten Aufgabe Probleme hast?“, sah Bianka sie leicht vorwurfsvoll an. Lotta schwieg und ritt weiter. „Tja, du musst dich bei ihr schon ein bisschen mehr anstrengen“, zischelte Juliana zu ihr rüber. „Die Dame hat Anforderungen“, fügte Celine hinzu, „Wir kennen sie noch vom Sehen aus dem alten Reitstall“
Der Rest der Reitstunde verlief nicht viel besser für Lotta, zumal der heutige Parcour um ein oder zwei Schwierigkeitsgerade erhöht wurde. Lanzelot schien heute noch eigener und sturer zu sein, als sonst. „Was ist eigentlich los mit dir?“, zog Bianka die Augenbrauen hoch, als Lanzelot direkt vor einem Hindernis auswich und Lotta fast von seinem Rücken rutschte. „Lanzelot setzt einfach meine Anweisungen nicht um“, klagte Lotta, „Ich kann einfach keine Verbindung zu ihm aufbauen. Ich bemühe die ganze Zeit Hilfen zu geben, aber sie kommen bei ihm nicht an“ „Gerade du als Reiterin der Talentfördergruppe solltest eigentlich auch mit Pferden umgehen können, die ein bisschen komplizierter sind. Ich habe auch mitbekommen, dass Lanzelot nicht ganz einfach ist, aber auf der anderen Seite musst auch an dir arbeiten, dass er deine Hilfen versteht“, versuchte die Reitlehrerin ihr zu erklären. Die übrigen Reiterinnen mussten nicht halb so oft korrigiert werden wie sie. Lediglich Franziska musste sich Kritik wegen ihrer Haltung und wegen der fehlerhaften Schrittfolge anhören. „Natürlich bin ich heute die Loserin!“, dachte Lotta bedröppelt, als sie vor dem großen Spiegel her ritt.
„Warum wurdest du ausgerechnet in die Talentförderung beordert?“, wurde sie gefragt, nachdem sie einen Fehler mehrfach wiederholt hatte. Lotta konnte es kaum erwarten, dass diese verkorkste Springstunde bald zuende ging. Rachel hatte sie nie so häufig korrigiert und sie aussehen lassen wie eine absolute Reitanfängerin. Ja, wie eine richtige Dilettantin, die nichts hinbekam! „Mach dir nicht so einen Kopf! Ich hätte mit Lanzelot auch meine Probleme gehabt“, tröstete Emily sie beim Trockenreiten. „Trotzdem bin ich sauer“, murrte Lotta, „Sie hat mich so behandelt, als wäre ich zu blöd, um überhaupt auf dem Pferd zu sitzen“ „Ich finde sie etwas zu ungeduldig“, wisperte Emily und verstummte, als Bianka in ihre Richtung schaute. „Könnt ihr mit euren Unterhaltungen warten, bis die Reitstunde vorbei ist?“, bat sie, „Ich weiß, die Stunde ist gleich rum, aber einen Moment könnt ihr euch wohl noch auf eure Pferde konzentrieren oder?“ Lotta war die neue Reitlehrerin bereits jetzt schon unsympathisch. Was sprach dagegen, wenn man sich ein bisschen mit den anderen Reiterinnen beim Trockenreiten unterhielt. Rachel hatte nie etwas gegen leise Tuscheleien und Späße einzuwenden gehabt, es sei denn es wurde zu albern.
Draußen regnete es, passend zu Lottas schlechter Laune. Nachdem sie Lanzelot abgesattelt hatte, führte sie ihn über die Straße über den Hof zu den Reitschulställen. „Verdammt, jetzt bin ich schon keine 100 Meter gelaufen und trotzdem klatschnass“, fluchte sie. Zum Glück hatte Lanzelot nicht mehr seinen Sattel auf dem Rücken. Da Sättel aus Leder waren, waren sie sehr empfindlich gegenüber Feuchtigkeit und mussten gepflegt werden. Als Lotta Lanzelot vor seiner Box anband, hörte sie das Klackern von Hufen hinter sich. Franziska kam mit Tybalt in die Stallgasse. „Sag mal, wie fandest du die heutige Stunde?“, fragte Franziska, als die beiden Mädchen ihre Pferde striegelten. „Wirklich nicht toll“, brummte Lotta. „Gerade dich hat sie verbal richtig zerpflückt“, fand Franziska. „Ich weiß, dass ich noch nicht so gut reite wie ihr“, klang Lotta frustriert. „Das ist doch nicht schlimm, du reitest noch nicht so lange in der Gruppe und du musst erstmal genügend Erfahrung sammeln“, tröstete Franziska sie. „Übrigens ist Bianka nicht ohne. Sie wird leicht wütend. Ich kenne sie länger, denn unterrichtet auf unserem alten Hof. Wir hatten bei ihr nur Reitunterricht, wenn unsere Reitlehrerin krank war. Sie ist ziemlich anspruchsvoll, aber wenn man bei ihr Reitunterricht hat, dann lernt man aber auch ordentlich was“, meinte Juliana, die mit Snowflake am anderen Ende des Stallganges stand. „Trotzdem finden wir das nicht so toll, wenn sie uns von der Seite anmacht“, erwiderte Franzi. „Ich glaube, das versteht ihr falsch“, widersprach ihr Juliana, „Sie kommt barsch rüber, aber sie meint es nicht so“
Wenig später stattete Lotta zusammen mit Emily einen Besuch im Nachbarstall ab, wo rund 15 Privatpferde standen. Emily hatte eine Kanne Tee und zwei Becher aus der Küche besorgt. „Immerhin soll es in 20 Minuten eine viertelstündige Regenpause geben, die ich dann nutzen werde, um trocken nach Hause zu kommen“, sah Lotta auf ihrer Wetter-App nach. „Also als ich gerade zum Stall gelaufen bin, schüttete es noch ziemlich“, schüttelte Emily die Wassertropfen aus ihrer Kleidung. „Bah, dieses nasskalte Novemberwetter!“, echauffierte sich Lotta, während sie über Sunshines warme Nüstern strich. „Hier, ist der Bericht des Tierarztes. Wenn du weitere Fragen hast, dann wende dich an uns. Annika kümmert sich sowieso um ihn“, drückte ihr Emily ein Briefchen in die Hand. „Er hat sich den linken Hinterlauf wirklich vertreten, genauso wie ich vermutet habe“, fügte sie nach einer Weile hinzu. Lotta nickte nur und ließ sich seufzend auf einer kleinen Holzbank nieder, die direkt neben der Futterkammer stand. Emily setzte sich neben sie und tätschelte ihr kurz den Unterarm. „Ich weiß, dass du nicht glücklich bist“, redete sie leise auf Lotta ein, „Aber es kann wirklich nur besser werden und so schlecht warst du nun wirklich nicht“ Um ihre Freundin abzulenken, kam sie auf ihren Geburtstag in wenigen Wochen zu sprechen. „Ich finde, wir sollten diesmal keine Wohnwagenfete feiern, das wird auf Dauer zu langweilig wir feiern über drei Jahren fast jeden Rote-Siebenerinnen-Geburtstag dort“, meinte Emily. „Das stimmt nicht, als ich meinen 16. Geburtstag gefeiert habe, waren wir mit der ganzen Bande und drei meiner alten Freundinnen aus Mannheim auf der Bowlingbahn“, widersprach ihr Lotta.
„Ich möchte gerne dieses Jahr etwas machen, das wir noch nicht gemacht haben, daher fallen Kino und Eishalle flach“, sagte ihre Freundin, „Aber in der Innenstadt gibt es einen Mexikaner, wo man sich einen eigenen Clubraum mieten kann. Man bekommt so viel Essen wie man will, kann Cocktails bestellen, eigene Musik hören und man hat einen fantastischen Panoramablick auf die Einkaufsstraße aus dem zweiten Stock“ – „Das hört sich doch super an! Beim Mexikaner kann man sich Tacos, Nachos und Wraps bestellen“ – „Oh ja, wir kriegen dort ein Buffet mit sogar mit Trinken und Nachspeise. Wir müssen den Raum mindestens drei Wochen vorher buchen und ich weiß jetzt schon, dass ich am zweiten Dezemberwochenende feiern werde, da Micky am ersten Dezemberwochenende zu ihrem Freund fährt“ – „Ja klar, das hat sie erzählt – Wie viele Leute kommen zu deiner Feier?“ – „Ich werde natürlich die Bande einladen, Annika und dann noch Manu, dem ich erlaube, dass Jonny mitbringt, damit er unter uns Mädels nicht alleine ist“ – „Dann sind wir also zu zehnt“ – „Ja, genau!“ Manu, der eigentlich Manuel hieß, war seit ungefähr drei Monaten mit Emily zusammen. Lotta konnte sich noch sehr genau erinnern, wie es bei einer Party im Jugendzentrum zwischen ihnen gefunkt hatte. Damals hatte sie mit Fianna und Aylin eine Wette abgeschlossen, wie lange die Beziehung halten würde.
Hastig lehnte Fianna ihr Mountainbike gegen die moosbedeckte steinerne Hofmauer neben der Hofeinfahrt und beeilte sich ihr Rad abzuschließen. Kurz checkte sie die Uhrzeit auf ihrem Handy: 16:12. Mist, sie war schon über eine halbe Stunde zu spät. Normalerweise trafen sich die Reitschülerinnen immer zwanzig Minuten vor Vier um die Pferde fertig zu machen oder die Reitstunde anderweitig vorzureiten, die immer kurz nach vier begann. Zum Glück hatte Fianna ihre Reithose schon zuhause angezogen, sodass sie sich nicht mehr umziehen musste. „Wahrscheinlich darf ich mir gleich eine Standpauke anhören“, dachte sie missmutig. Aus den dunkelgrauen Wolken begann es auf einmal zu regnen, sodass sie einen Sprint zur Reitschulhalle hinlegte.
Als sie den Stalltrakt erreichte, schüttelte sie sich die Regentropfen aus ihrer Kleidung, wie ein Hund es nach einem Bad in einem See tat. „Hi! Wo kommst du denn her?“, drehte sich Vivien zu ihr um. Sie führte gerade Snowflake von der Stallgasse in die Reithalle. „Hi, ich hatte gerade Stress mit Mama. Sie hat mich gedungen den Abwasch zu machen, obwohl sie genau weiß, dass ich um vier Reitstunde habe“, erzählte Fianna keuchend. „Oh je!“, verdrehte ihre Freundin kurz die Augen und fuhr fort, „Übrigens wurden Emily und Lotta gerade weggeschickt“ – „Hä, warum das?“ – „Du weißt doch, dass Lily und Lotta seitdem sie in der Talentförderung reiten, eigentlich nicht für die normale Reitstunde angemeldet sind. Nur bei Rachel durften sie trotzdem mitreiten“ – „Das ist doch echt bescheuert!“ – „Ja, das finden wir auch“
Eine große stämmige Frau mit halblangen dunklen Haaren lief auf Fianna zu. „Du musst Fianna O’Hara sein. Ich bin Bianka Henke, deine neue Reitlehrerin“, gab sie ihr die Hand und fügte hinzu, „Ich wäre dir verbunden, wenn du das nächste Mal pünktlich bist. Einmal kann es mal passieren, aber es soll wirklich nicht zur Gewohnheit werden. Übrigens reitest du heute Rocky, den Clarissa und ich netterweise für dich geputzt und gesattelt haben“ „Hier, Rocky ist startklar!“, kam ein fremdes Mädchen mit Rocky am Zügel auf Fianna zu. Die Fremde hatte einen hellblonden wilden Lockenkopf, blaue Augen und relativ breites Gesicht. Sie hatte durchaus markante Ähnlichkeiten mit den Zwillingen, aber sie war schlanker und ziemlich groß, bestimmt so 1,75m und hatte keine sichtbaren Sommersprossen. Zudem trug sie sehr teuer und edel aussehende Reitkleidung in Königsblau und Schwarz. „Vielen Dank, dass du ihn für mich gesattelt hast“, bedankte sich Fianna. „Ja, aber normalerweise mache ich nicht die Pferde für andere fertig. In dem Fall warst du zu spät und wenn ich ihn nicht fertig gemacht hätte, wäre unsere Reitstunde noch später angefangen“, meinte das Mädchen. Fianna glaubte einen schnippischen Unterton zu hören, aber ignorierte es in dem Moment. „Ach ja, ich bin Clarissa, die Nichte von Bianka und ich gebe dir vorab einen wichtigen Tipp: Meine Tante lässt sich grundsätzlich siezen“, fuhr Clarissa fort, „Wie ist eigentlich dein Name?“ „Ich bin Fianna. Mich erkennst du schnell in der Gruppe wieder, da ich als Einzige rote Haare habe“, antwortete Fianna und führte Rocky in die Halle. Clarissa folgte ihr mit einem Pferd, das Fianna nicht kannte. Wahrscheinlich war das ein Privatpferd, welches ihrer Tante oder sonst jemanden gehörte.
In der Hallenmitte schwang sich Fianna in den Sattel. „Hey, wir dachten schon, du kommst gar nicht mehr!“, begrüßte Mathilda sie, die neben ihr ritt. „Du glaubst gar nicht, was für einen Stress ich mit meiner Mutter hatte!“, begann sie sich zu echauffieren, „Wir haben einen Plan, welche Aufgaben wir im Haushalt machen müssen und weil ich gestern schon keine Zeit hatte, zwang mich Mama, dass ich unbedingt gerade eben abwaschen musste“ – „Oh je, da können Mütter echt unerbittlich sein. Unsere ist bis Mittwoch bei einer Fortbildung in Bonn und Papa ist eh auf der Arbeit, im Sportclub oder macht mit Kollegen einen drauf, deshalb haben Micky und ich fast schon sturmfreie Bude“ – „Oh cool, manchmal wünschte ich auch, dass meine Eltern für eine Woche ausfliegen“ – „Dafür musst du selbst die Wäsche waschen, bügeln, kochen und deine Klamotten wegräumen. Wirklich toll ist es nicht, wenn du das auch noch machen musst neben Schule und Hobbys. Wir haben immerhin eine Putzfrau, die wöchentlich kommt und das Haus putzt, sodass das auch nicht noch an uns hängen bleibt. Vor allem streite ich mich manchmal heftig mit Micky, weil ich ihr angeblich zu unordentlich bin“ – „Stimmt, das spart echt Zeit, wenn man das nicht alles selbst machen muss und die Eltern die meisten Aufgaben im Haushalt übernehmen“ „He, darf ich wissen, worüber ihr redet?“, rief Annemieke, die direkt hinter ihrer Schwester und Fianna ritt. „Ach, so wichtig ist das auch nicht“, drehte sich Fianna zu ihr um.
„Ich bitte euch, dass ihr eure Privatgespräche umgehend einstellt! Ihr seid in keiner Quasselveranstaltung, verstanden? Ihr reitet euch jetzt noch fünf Minuten ordentlich warm, bevor wir mit der richtigen Stunde beginnen“, ermahnte Bianka Henke die Mädchen, die aus dem Nichts in ihrer Nähe auftauchte. Fianna tauschte wortlose Blicke mit den Zwillingen aus, die anscheinend das Gleiche dachten, wie sie. Fianna fand es übertrieben, zurechtgestutzt zu werden, nur weil sie ein paar Worte mit ihren Freundinnen wechselte. Rachel hatte selten etwas einzuwenden gehabt, wenn die Bandenmädchen sich unterhielten und ihre Späßchen machten. Gerne lachte sie sogar mit, wenn die Freundinnen lachten und setzte gerne noch einen oben drauf. Bianka Henke schien das komplette Gegenteil von ihr zu sein, die anscheinend gerne ihre Reitschülerinnen herumkommandierte. „Bitte setz dich gerade hin, Hände nach unten und Kinn nach vorne“, korrigierte die neue Reitlehrerin Aylins leicht schiefen Sitz. Es klang nicht so sanft und geduldig wie sonst immer bei Rachel, sondern es wirkte wie ein Befehl. Fianna war Bianka Henke bereits jetzt nicht sonderlich sympathisch und insgeheim ärgerte sich leicht, dass ihr vorhin unterstellt wurde, dass sie immer zu spät kommen würde.
Die eigentliche Stunde begann damit, dass Hufschlagfiguren in der Abteilung geritten wurden. „Anscheinend traut sie uns nichts zu!“, raunte Annemieke leise, die sich direkt hinter Clarissa einreihte, die die Gruppe anführte. „Oh ja, wir reiten schon viele Jahren und können deutlich mehr“, meinte ihre Zwillingsschwester hinter ihr. Sofort verstummten die Schwestern wieder, als Bianka Henke sie mit einem strengen Blick zur Raison rief. „Einmal bitte auf dem Zirkel angaloppieren!“, rief die Reitlehrerin, die sich in die Mitte gestellt hatte. Clarissa verpasste ihrem Pferd zwei harte Hiebe mit der Gerte, als es nicht auf ihre Hilfen reagierte. Es trat nach aus und erwischte um ein Haar Diegos Brust. Annemiekes Pferd machte vor Schreck zwei Galoppsprünge nach vorne und dies hatte zur Folge, dass sich Clarissas Pferd ebenfalls erschreckte und zur Seite ausbrach. Clarissa konnte sich noch im letzten Moment festhalten.
„Was war das denn? Es ist vollkommen unverantwortlich, ohne jegliche Form des Denkens so dicht auf seinen Vordermann aufzureiten. Moonlight hätte dein Pferd fast getreten. Außerdem hätte nicht viel gefehlt und Clarissa wäre gestürzt. Dann hätte niemand mehr gelacht!“, schimpfte Bianka Henke ungehalten los. „Entschuldigung, das kommt nicht wieder vor!“, entschuldigte sich Annemieke kleinlaut, die ganz rot wurde. Fianna ärgerte sich, dass ihre Freundin die Schuld für diese brisante Situation bekam, dabei war es doch eindeutig Clarissa, die ihr Pferd wild gemacht hatte. Clarissa bekam nicht halb so viele Ermahnungen wie die Bandenmädchen, obwohl sie auch nicht viel besser ritt. „Jetzt tauscht Clarissa mit einem von euch die Position. Wer von euch traut sich die Abteilung anzuführen?“, wandte sich die Reitlehrerin an ihre Schülerinnen. „Ich würde gerne an der Spitze reiten“, meldete sich Mathilda freiwillig.
„Ok, das finde es sehr gut. Schließlich ist es eine Ehre vorne zu reiten und die Richtung vorzugeben“, sagte Bianka Henke und wandte sich an die anderen Mädchen, „Trotzdem bedeutet es nicht, dass die anderen Reiterinnen einfach nur stumpf hinterher reiten sollen. Reiten bedeutet auch, dass man seinen Kopf einschaltet und aktiv mit seinem Pferd arbeitet. Ich habe den Eindruck, dass ihr eure Pferde dem Vordermann folgen lasst und euer Pferd nicht selbstständig genug lenkt“ Die Freundinnen nickten Mathilda aufmunternd zu, als sie sich an die Spitze der Abteilung setzte. Nun fragte die Reitlehrerin Hufschlagfiguren ab, die sie eher selten ritten. „Wo reitest du denn hin?“, rief Bianka Henke. „Pardon, da habe ich wohl etwas verwechselt“, entschuldigte sich Mathilda etwas peinlich berührt. „Das hat man gemerkt“, bemerkte sie und erklärte ihrer Schülerin, wie sie diese Figur zu reiten hatte. Mathilda nickte erleichtert und Bianka Henke ließ die Gruppe die Hufschlagfigur erneut reiten. Fianna war insgeheim froh, dass sie sich nicht gemeldet hatte, aber trotzdem tat ihr Mathilda gerade leid, die sich eine Bemerkung nach der anderen anhören musste.
„Wie lange reitest du schon?“, blaffte die Reitlehrerin, als sich Mathilda den nächsten Schnitzer erlaubte. „Schon über fünf Jahre“, antwortete diese ehrlich. „Jetzt im Ernst? Hast du dich da nicht vertan und vergessen vier Jahre abzuziehen? Wie kann es sein, dass du nicht einmal die Hälfte der Hufschlagfiguren nicht kennst? Zu nächstem Mal lernst du die gefälligst und ich fragte sie vor der Stunde ab“, sagte die Reitlehrerin leicht verärgert. „Meinst du das ernst?“, erwiderte Mathilda, die sich zusammenreißen musste, um nicht zu explodieren. „Was fällt dir ein mich zu duzen? Habe ich vor der Stunde nicht ausdrücklich gesagt, dass ich mit „Sie“ angesprochen werde. Außerdem ist dein Tonfall gerade ziemlich respektlos. Du gehst an die hinterste Stelle der Abteilung und jetzt kommt jemand anderes nach vorne“, fuhr Bianka Henke sie in einem rauen Tonfall an. Nun musste ausgerechnet Aylin die Abteilung anführen. Obwohl sie keine Widerworte gab, war ihr anzumerken, dass sich in dieser Rolle nicht wohl fühlte. Zwar beherrschte die Hufschlagfiguren ziemlich gut, aber dafür haperte es bei den Übergängen zwischen den Gangarten. „Immerhin weißt du, wo du hin reiten musst, aber wir müssen dringend daran arbeiten, dass du die Gangarten sicher beherrschst“, sagte Bianka Henke zu Aylin, kurz bevor sie Stunde beendete.
Aylin nickte nur und entschuldigte sich sogar, dass sie noch einige Defizite hatte. „Ich hätte mich niemals dafür entschuldigt“, dachte Fianna bei sich. Kurz darauf entdeckte sie Emily und Lotta hinter der Bande, die auf der Tribüne saßen. „Hey, ihr beiden!“, rief sie ihnen zu. „Hey, wir haben euch eine ganze Weile beobachtet“, antwortete ihr Lotta. „Dass ihr das nicht gemerkt habt“, giggelte Emily. „Ja, wir waren heute echt mal richtig bei der Sache“, bestätigte Vivien. „Stimmt, so konzentriert war sonst noch niemand in der Freitagnachmittagstunde“, meinte Emily. „Hey, hier wird nicht geredet! Ist das klar? Wie euch soll das noch wiederholen bis ihr das verstanden habt?! Es ist unhöflich aus meiner Reitstunde einen Kaffeeklatsch zu machen. Nur weil ich einmal mit dem Rücken zu euch stehe, braucht ihr nicht glauben, dass ich nichts mitkriege“, kam Bianka Henke verärgert auf die Mädchen zugelaufen und wandte sich dann an die beiden Zaungäste, „Und ihr beide lenkt bitte nicht die Reitschülerinnen ab, ok? Wenn ihr meint ihre Aufmerksamkeit auf euch zu lenken, werfe ich euch raus“ „Entschuldigung, wir wollten nur kurz Hallo sagen“, erwiderte Lotta. „Ihr könnt auch gerne kichern und schnattern, aber dann nach der Stunde“, meinte die Reitlehrerin, die wieder etwas sanfter klang.
Fianna war heilfroh, dass die Reitstunde vorbei war. Es war ein ganz anderes Gefühl als sonst. Normalerweise wurde das Ende einer Reitstunde mit Wehmut begleitet, da die Mädchen wieder eine ganze Woche warten musste, ehe sie sich wieder aufs Pferd schwingen konnte. Rasch sattelte Fianna Rocky ab und tauschte die Trense gegen ein Halfter. Lang wollte sie sich nicht mehr an diesem Ort aufhalten. Nur eine einzige Person bewirkte, dass sie sich auf einmal halbwegs fremd fühlte. „Dieses Monster von Reitlehrerin ist das Letzte! Sie hat mir das Gefühl gegeben, dass ich überhaupt nicht reiten kann und das nur weil ich nicht alle Figuren aus dem FF weiß. Zur nächsten Stunde soll ich vor versammelter Mannschaft einen Vortrag über Hufschlagfiguren halten“, echauffierte sich Mathilda am Ende der Stallgasse in der Gegenwart von Emily und Lotta. „Eigentlich solltest du die Hufschlagfiguren nach fünf Jahren Reiterfahrung wirklich kennen. Das kann doch wohl nicht so schwer sein“, meinte Emily, worauf ihr Mathilda kurz einen bösen Blick zuwarf. „Vorgestern hat die mich genauso dumm angeschnauzt“, meinte Lotta. „Die Frau ist wirklich unfreundlich und herablassend“, beklagte sich nun auch Annemieke.
„Das ist wohl wahr. Vor allem habe ich mich die ganze Zeit so gestresst gefühlt, weil sie uns mit Adleraugen beobachtet hat und bei jedem Fehler sofort gemeckert hat“, sagte Vivien leider etwas zu laut. Nun näherte sich Clarissa von hinten und tippte ihr auf die Schulter. „Darf ich wissen, worüber eure Quasselrunde geht?“, erhob sie ihre hochnäsige Stimme und fuhr nach einer kurzen Sprechpause fort, „Übrigens habt ihr nicht im geringsten das Recht über meine Tante zu lästern“ „Wer hat dich denn nach deiner Meinung gefragt?“, drehte sich Vivien abrupt um. Die Mädchen staunten nicht schlecht. Normalerweise brachten Mathilda und Kiki solche barschen Bemerkungen, und manchmal auch Fianna und Lotta, aber Vivien hielt sich sonst immer zurück. „Wir lästern nicht über deine Tante, sondern wir äußern nur unseren Unmut“, übernahm Lotta und versuchte so pragmatisch zu klingen wie sie konnte.
„Ihr seid echt nichts gewöhnt! Ich frage mich wirklich, wie eure Reitstunden zuvor waren. Wahrscheinlich habt ihr euch auf den Rücken eurer Pferde durch die Gegend schaukeln lassen, da eure alte Reitlehrerin euch nicht sonderlich viel beigebracht hat“, erwiderte Clarissa schnippisch. Nun trat Emily nach vorne. „Ich finde es unverschämt, dass es wagst meine Tante zu beleidigen, die du nicht kennst“, fauchte sie. „Ganz genau!“, rief Mathilda, „Unsere eigentliche Reitlehrerin ist ihre Tante, die den Unterricht tausend besser macht“ „Psst, haltet doch alle mal den Mund!“, zischte Annemieke und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. Bianka Heinke kam auf die Mädchengruppe zu. „Ich sehe, dass ihr wieder unerlaubt am reden seid! Ein paar Worte wechseln ist okay, aber euer Geschnatter hört man überall“, wies sie die Mädchen zurecht und dann knöpfte sie sich ihre eigene Nichte vor. „Es ist unverantwortlich, dass du dein Pferd einfach so stehen lässt und es nicht anbindest, Clarissa“ „Sorry, ich war aber so ablenkt, weil die so laut geredet haben“, beschwerte sich das blonde Mädchen. Ihre Tante zog sie schimpfend am Arm fort. „Man man man! Noch so eine Giftspritze!“, stöhnte Aylin leise.
Die Stimmung war selbst eine Stunde später im Wohnwagen noch etwas getrübt und nicht so lustig wie sonst. „Warum gehen wir überhaupt zur Reitstunde?“, rief Mathilda empört, „Nur um uns demütigen zu lassen? Ich werde die Hufschlagfiguren definitiv nicht alle zur nächsten Reitstunde auswendig lernen. Ich muss schon eh viel zu viel lernen und im Kopf behalten“ „Hey, komm mal wieder runter, Mattilein! Du darfst das Ganze nicht zu sehr an dich heranlassen. Außerdem ist es gar nicht so schwer die Hufschlagfiguren zu lernen“, legte ihr Emily die Hand auf den Unterarm. „Für dich vielleicht, da du eh fast jeden Tag reitest“, murrte ihre Freundin. „Aber, Emily, Bianka hat die ganze Zeit so blöde Bemerkungen gemacht!“, positionierte sich nun auch Aylin auf Mathildas Seite. „Hört zu, Mädels, Bianka will euch nicht demütigen. Nur sie äußert ihre Kritik manchmal etwas ungeschickt“, sagte Emily. „Manchmal?“, betonte Fianna gereizt und ergänzte, „Du kannst wohl nicht mitreden, da du und Lotta die Einzigen seid, die richtig reiten könnt“ „Ja eben und du kannst nicht richtig in unsere Situation hineinversetzten, Emily“, fuhr nun auch Annemieke ihrer besten Freundin an den Karren.
„Hey, wollt ihr gar nicht meine Torte probieren?“, fragte Vivien in die Runde und konnte somit den sich entwickelnden Disput erfolgreich stoppen. „Oh ja, sie sieht richtig lecker aus!“, lud sich Lotta das erste Stück auf den Teller. Viviens Orangentorte sah fantastisch aus: auf die Quarkcreme hatte sie Dreiecke aus Blätterteig gelegt und diese mit Puderzucker bestäubt. „Du hast dir echt viel Mühe gegeben!“, lobte Annemieke. „Danke!“, erwiderte Vivien leicht verlegen. „Habt ihr euch eigentlich für den kommenden Schüleraustausch angemeldet?“, kam Lotta auf den Schüleraustausch im kommenden Jahr zu sprechen. „Ich auf alle Fälle“, nickte Fianna. „Wir auch, aber wir mussten unseren Vater erstmal überreden“, meinte Mathilda. „Wieso das?“, hakte Lotta nach. „Ja, Papa hat manchmal seine launischen Phasen, wo es ihm im Beruf zu stressig wird. Er meint, dass es eine zusätzliche Belastung ist eine fremde Person im Haus zu haben. Dabei werden Matti und ich uns um unseren Austauschschüler kümmern“, rollte Annemieke mit den Augen. „Pah, von wegen Stress! Er treibt sich die ganze Zeit auf dem Tennisplatz rum, geht mit Kollegen saufen, geht schwimmen, hängt in der Sauna ab und das ist alles sooo stressig!“, triefte Mathildas Stimme nur so vor Spott. „Waaas? Jetzt euer Ernst?“, runzelte Vivien die Stirn, „Ich dachte, euer Vater ist cool und lustig“ „Das eigentlich schon“, sagte Annemieke, „Nur manchmal vergisst er, dass er eine Familie hat“ „Oh man, ich hasse sowas“, meinte Aylin, die von zuhause einen starken Familienzusammenhalt gewohnt war. Einerseits war ihr Vater ziemlich streng, anderseits dafür seine Frau und seine Kinder nicht im Stich.
Erst gegen neun kam Mathilda nach Hause und machte sich in der Pizza zuerst eine Pizza im Ofen heiß, da sie gerade einen ordentlichen Schmacht hatte, obwohl sie vorhin zwei Stücke Torte gegessen hatte. Annemieke war schon vor knapp zwei Stunden mit zu Emily gefahren. Dort wollten sie sich einen Beste-Freundinnen-Abend mit vielen Filmen, Pizza und Popkorn machen. Wahrscheinlich würde ihre Schwester auch dort übernachten. Gerade hatte sie auch richtig Lust auf einen Beste-Freundinnen-Abend: Das wären nur sie und Kiki, sonst niemand anderes. Ihre beste Freundin war vor ziemlich genau einem Jahr nach Mainz gezogen. Seitdem hatte sich viel verändert. Fast nichts war mehr so wie früher. Mit einem Mal wurden sie in immer schnelleren Schritten erwachsen. Zum Erwachsenwerden gehörte es auch ebenfalls dazu längere Distanzen zu überbrücken. Das war nicht immer ganz einfach, zumal Kiki eine handvoll neue Freundinnen gefunden hatte und Mathilda immer mehr das Gefühl hatte, dass sie bei ihr nicht mehr an erster Stelle stand.
„Macht es dir etwas aus, dass ich mit dir und Lynn zweite beste Freundinnen habe?“, hatte Kiki sie vor ein paar Monaten gefragt, als sie telefonierten. „Ja klar, warum nicht?“, hatte sie geantwortet, aber in Wirklichkeit verspürte sie einen leichten Stich im Herzen. Wahrscheinlich war nun Lynn Kikis allerbeste Freundin, da sie sich täglich sahen und nicht über eine Stunde Zug fahren mussten, um sich zu treffen. Mathilda fühlte sich manchmal fast schon ein wenig einsam ohne Kiki, da alle anderen Mädchen in ihrer Bande eine beste Freundin hatten. Zum Glück gab es Annemieke, aber ihre Schwester konnte Kiki einfach nicht ersetzen. Andersherum hätte auch Kiki niemals ihren Zwilling ersetzen können. Die Sehnsucht nach ihrer besten Freundin ließ Mathilda traurig werden. „Hach, könnte man die Zeit nicht um Jahre zurückdrehen?“, sagte sie innerlich zu sich selbst.
Das Piepen der Backofenuhr riss sie aus ihren trübseligen Gedanken. Jetzt war endlich die Peperoni-Salami-Pizza fertig, auf die sie sich mächtig freute. Sie nahm sich noch eine kleine Flasche Fanta aus dem Kühlschrank und ging mit einem Tablett in den Flur hinaus. Plötzlich verharrte sie auf der Stelle. Durch die gläserne Wohnzimmertür konnte sie deutlich ihren Vater sehen, der auf dem Sofa saß und neben war eine fremde Frau, die Mathilda nicht kannte. Bestimmt war sie Anfang oder Mitte dreißig. Sie hatte lange schwarze Haare, war auffallend schlank und trug ein enganliegendes dunkles Oberteil. Beide hockten für Mathildas Geschmack viel zu dicht zusammen und jetzt lehnte sich die Schwarzhaarige an den Oberkörper ihres Vaters. Mathilda hielt die Luft an, presste sich an die Wand und hoffte nicht gesehen zu werden. Anscheinend waren ihr Vater und die Fremde viel zu sehr mit sich selbst zu beschäftigt, um auf ihre Umgebung zu achten.
Ihr Vater goss Rotwein in zwei Gläser, beide beugten sich vor und stießen an. Dann legte ihr Vater den Arm um sie. Das war zu viel für Mathilda, zitternd vor Wut fingerte sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche, um einen Schnappschuss via WhatsApp an ihre Schwester zu schicken. Mist! Egal wie häufig sie auf den An- und Ausschaltknopf drückte, das Display blieb schwarz. „Verdammt noch mal, warum muss der Akku leer sein, wenn ich das Handy dringend brauche?!“, fluchte sie leise. Ratlos verharrte sie und spürte, wie ihr das Herz bis zum Hals schlug. Ihr Vater und die fremde Tussi wälzten sich kuschelnd hin und her, bis die Frau vom Sofa rutschte. Am liebsten wäre Mathilda ins Wohnzimmer gestürmt und hätte die Beiden angebrüllt. In diesem Moment brachte sie es dennoch nicht zustande.
Mit wackeligen Beinen schlich sie in ihr Zimmer und schloss die Tür ab. Sie wollte ungestört sein, obwohl es eher unwahrscheinlich gewesen wäre, dass ihr Vater herein platzte. Zuerst stellte ihr Tablett mit der Pizza und dem Getränk auf ihren Schreibtisch, schloss ihr Handy an das Schnellladekabel an und dann griff sie nach dem Telefon, welches sie sich mit ihrer Schwester teilte. Sie musste irgendjemand sprechen. Sie legte das Telefon noch einmal kurz zur Seite, um einmal tief durch zu atmen. Ihre Finger waren immer noch zittrig, sodass sich nicht in der Lage war die Tasten vernünftig zu bedienen. „Ich werde es Papa und dieser Hexe heimzahlen!“, zischte sie leise. Mathilda hätte am liebsten losgeweint, aber gerade schaffte sie es nicht einmal, dass ihr die klitzekleinste Träne ihr in die Augen stieg. „Wen soll ich anrufen?“, fragte sie sich selbst. Ihrer Mutter konnte sie schlecht erzählen, dass ihr Mann sie mit einer Anderen betrog, dann wäre die Ehe endgültig vorbei. Kiki war auf Lynns Geburtstag eingeladen und daher nicht erreichbar. Aber da war noch ihre Schwester, die gerade gemütlich bei Emily auf der Couch hockte. Kurzentschlossen rief sie Emily auf Haustelefon an.
„Hallo, hier spricht Emily Heuberger“, nahm ihre Freundin kurz darauf den Hörer ab. „Hi, hier ist Matti. Kann ich eben Micky sprechen?“ – „Ja Moment, ich gebe sie dir“ Auf einen kurzen Moment Stille vernahm sie die vertraute Stimme ihres Zwillings, die ihrer eigenen sehr ähnlich war. „Ist etwas Schlimmes passiert und warum rufst du mich nicht auf Handy an?“, wollte Annemieke wissen. „Papa hat eine fremde Frau eingeladen. Sie trinken Rotwein und kuscheln auf dem Sofa“, brach es ungehindert aus ihr heraus. „Wie bitte? Das kann ich mir nicht vorstellen“ – „Doch natürlich! Denkst du, ich lüge dich an?“ – „Das nicht. Aber Papa würde niemals Mama betrügen. Er ist doch nicht blöd!“ – „Da irrst du dich aber“ – „Trotzdem kann ich mir das nicht vorstellen. Wenn er etwas mit einer Anderen hätte, dann wäre die Scheidung quasi gebongt“ – „Rate mal, warum ich gerade so aufgewühlt bin. Er setzt alles aufs Spiel: die Ehe, unsere Familie und unsere Zukunft. Stell dir vor, Mama erfährt davon, dann wäre die Kacke erst recht am dampfen“ – „Aha! Klingt ja mal richtig spannend!“ – „Sag mal, Micky, hast du getrunken? Du lallst ein wenig“ – „Ja, wir haben eine Flasche Sekt und ein paar Biere auf dem Tisch stehen. Zudem mischen wir eine halbe Flasche Korn mit Cola“ – „Aha, ihr besauft euch also. Am besten wir sprechen uns morgen wieder, wenn dein Verstand wieder normal ist. Tschüss!“
Fassungslos legte Mathilda auf und starrte ratlos an die Decke. Eigentlich hatte sie noch mehrere Freundinnen, aber niemanden konnte sie in dem Moment diese heikle Situation teilen. Lotta durfte es auf keinen Fall erfahren, das war ihr sofort bewusst. Ihre tratschsüchtige Freundin plauderte Dinge in alle Himmelsrichtungen aus. Rasch fuhr sie ihren Laptop hoch und loggte sich bei Facebook ein. Dort ging sie auf die Seite ihres Vaters. Dort fand sie zunächst nichts Verdächtiges und scrollte ein Stück weiter runter. Der letzte Eintrag stammte vom 31.Oktober, wo ihr Vater auf drei Bildern markiert war. Es war eindeutig die Geburtstagsfete seines Chefs, die in einem noblen Hotel stattfand. Akribisch scannte Mathilda alle Personen, die auf den Bildern zu sehen waren. Auf dem letzten Bild wurde sie fündig: auf dem Gruppenfoto war eine schwarzhaarige schlanke Frau in einem Abendkleid zu sehen. „Das ist sie!“, wisperte sie leise. Glücklicherweise war der Name verlinkt. Ewelina Ignatowska hieß sie, offenbar ein polnischer Name. Mathilda stöberte weiter auf ihrem Profil herum und konnte nichts Nennenswertes mehr rausfinden, außer dass ihr Vater mit ihr auf Facebook befreundet war. Sie ging wieder auf die Seite ihres Vaters zurück und schaute sich an, ob diese Ewelina irgendwelche Beiträge kommentiert hatte. Kein Kommentar war von ihr zu sehen, aber trotzdem hatte sie einige seiner Fotos geliked.
Einen Moment später fiel ihr ein, dass sie noch gar nicht versucht hatte Sven zu erreichen. Sofort wählte sie seine Nummer und musste nicht lange warten. Seine Mutter meldete sich, „Hallo Mathilda, was gibt es denn? Sven isst gerade in der Küche“ – „Darf ich vorbei kommen? Mir geht es gerade nicht so gut. Ich brauche jemanden zum sprechen“ – Ja klar, komm vorbei. Du bist jederzeit willkommen! Willst du bei uns übernachten?“ – „Ja, weil es jetzt schon relativ spät ist“ – „Okay, ich baue das Gästebett auf“ Nach dem Telefonat schaute Mathilda nach, wie weit ihr Handy inzwischen geladen war. Da zehn Prozent nicht wirklich viel waren, schloss sie ihr Mobiltelefon an eine Powerbank an. Leise wie eine Indianerin schlich sie nach unten. Das Wohnzimmer war stockduster. Dort konnten sie offenbar nicht sein, aber trotzdem machte sie das Licht an, um sicher zu gehen.
Das Wohnzimmer war verwaist, also ging sie wieder nach oben. Zuerst schaute sie im Gästezimmer nach, aber dort war auch niemand. Vielleicht hatten sie sich auch ins Schlafzimmer verzogen. Zuerst presste Mathilda ihr Ohr an die Tür. Als sie nichts hörte, öffnete sie die Tür einen kleinen Tür. Auch dort brannte kein Licht. „Scheiße, sie sind mir entwischt!“, fluchte sie und stampfte zornig auf. Eigentlich wollte sie die Beiden auf frischer Tat ertappen und das Foto an ihre Schwester schicken, damit sie ihr endlich glaubte. Niedergeschlagen schlurfte sie in ihr Zimmer zurück, um ihre Tasche mit dem Nötigsten zu packen. Normalerweise durften sie und ihre Schwester nicht ohne Bescheid zu sagen woanders übernachten, aber ihr Vater schien es meist nicht zu registrieren, da er abends lange auf dem Zwutsch war, wenn ihre Mutter nicht zuhause war. Ihre Mutter achtete am meisten, dass die vereinbarten Regeln eingehalten wurden. Gerade spürte Mathilda zum ersten Mal wie sehr sie ihre Mutter und das geregelte Familienleben vermisste.
Etwa eine halbe Stunde später ließ sie sich in Svens Arme fallen. Fast hätte sie losgeschluchzt, als er sie einfach fest an sich drückte und sie sanft küsste. Trotzdem hätte sie es albern gefunden, einfach so ungehemmt los zu flennen. „Komm, wir gehen in mein Zimmer“, nahm er ihr die Tasche ab. Im Zimmer schloss er die Tür ab und sie setzten sich nebeneinander auf sein breites Bett. Vor dem Fenster war bereits das Gästebett aufgebaut. „Als ich vorhin vom Bandentreffen wiederkam, sah ich Papa und eine fremde Frau durch die gläserne Wohnzimmertür. Sie saßen nebeneinander, tranken Rotwein und machten auf anschließend herum. Ich bin dann in mein Zimmer geschlichen und habe meine Schwester angerufen, die bei Emily war und scheinbar angetrunken war. Micky wollte mir partout nicht glauben, was ich ihr erzählt habe. Sie meinte, „Papa ist doch nicht blöd. Er würde sowas nie tun“ – Tja, sie hat es nicht mit eignen Augen gesehen. Ich hätte gerne ein Beweisfoto gemacht, aber mein Handy war leider leer“, erzählte sie. „Hast du eine Ahnung, wer diese Frau ist?“, hakte ihr Freund nach. „Ich habe meinen Vater auf Facebook gestalked und auf einem Vater, wo er markiert wurde, war sie auch mit drauf markiert. Wahrscheinlich ist sie eine Kollegin von ihm“ – „Das liegt natürlich nah. Haben die Beiden nur geschmust oder noch mehr gemacht?“ – „Ich habe sie nur schmusen gesehen und danach konnte ich nicht mehr hinsehen. Aber ich vermute, dass sie sich auch einmal geküsst haben, schließlich waren sie betrunken“ – „Wenn du es nicht gesehen hast, dann kannst du auch nicht sagen, dass sie sicht geküsst haben“ – „Kann schon sein, ganz genau sagen kann ich es auch nicht“
„Handelt es sich vielleicht um ein Missverständnis?“, dachte Sven nach einer kurzen Gesprächspause halblaut nach. Nachdenklich stützte Mathilda ihr Kinn auf ihren Händen. „Hm, da bin ich mir nicht so sicher“, sagte sie. „Du hast erwähnt, dass die Beiden Rotwein getrunken haben“ – „Ja, das haben sie“ – „Eventuell waren sie schon ziemlich angetrunken und haben dann nicht gemerkt, dass sie eine Grenze überschritten haben. An deiner Stelle würde ich erstmal Ruhe bewahren. Ich gehe nicht davon aus, dass dein Vater deine Mutter betrügt“ – „Trotzdem mache ich mir Sorgen. Du weißt doch, dass unsere Eltern sich letzten Monat fast getrennt hätten und dass meine Mutter einmal von Zuhause abgehauen ist. Zum Glück hat sie sich auf dem Weg zum Almhof gemacht, wo meine Schwester und ich derzeit mit unseren Freundinnen waren. Meine Güte, was hat Mama uns für Angst eingejagt. Ich dachte schon, ihr sei etwas Schlimmes passiert“ – „Natürlich kann ich deine Angst verstehen. Es ist nicht schön, wenn sich die Eltern trennen. Das ist Jannis passiert, als er vier war und Lennarts Eltern haben sich auch vor zwei Jahren getrennt, da sein Vater einen Seitensprung hatte“ Mathilda musste in diesem Moment auch an Kiki und Emily denken, deren Eltern ebenfalls geschieden waren.
„Toll, wie bescheuert sind einige Erwachsene? Warum entscheiden sich Paare Kinder zu kriegen und streiten sich dann so heftig, dass die Kinder Alles mitkriegen? Wieso betrügen einige Männer und Frauen ihren Ehepartner, sodass es zur Scheidung kommt? Wissen sie gar nicht, welche Schmerzen sie ihren Kindern damit zufügen? Kiki leidet nach wie vor darunter. Wenn sich ihre Eltern nicht getrennt hätten, wäre sie nie im Leben nach Mainz gezogen“, ereiferte sie sich, wobei ihre Stimme einen leicht weinerlichen Tonfall annahm. „Fang bloß nicht an zu flennen“, meine Sven. „Nein, das tue ich nicht“, sagte Mathilda, die sich wieder besonnener anhörte. Dann erzählte sie ihm, was sie noch bedrückte: Von der vermasselte Reitstunde und dann noch die Sehnsucht nach Kiki. Sven war ein guter Zuhörer und redete tröstend auf sie ein. Anschließend holte er zwei Teller mit aufgewärmter Lasagne und zwei Flaschen Radler aus der Küche und machte den Fernseher an. Während sie aßen und dabei ihre Lieblingsserie schauten, fiel ihr ein, dass sie zuhause ihre Pizza auf dem Schreibtisch vergessen hatte, die mittlerweile bestimmt schon kalt war.
Die Tage und Wochen vergingen fix. Nun neigte sich auch der November dem Ende zu. Die Tageslänge nahm rasant ab, sodass es bereits am späten Nachmittag dunkel wurde. An einem Freitag gingen Lotta und Emily mit ihren Pferden im Wald spazieren, während ihre Freundinnen gerade in der Halle Reitstunde hatten. Lottas Pferd musste fast täglich bewegt werden, doch immerhin heilte Sunshines Verletzung stetig besser ab.
„Eigentlich habe ich kein Bock bei dem Wetter draußen herum zu laufen. Eigentlich würde ich viel lieber mit den anderen reiten, aber nein: Bianka lässt uns nicht daran teilnehmen“, meinte Lotta klagend. „Naja, es war auch mehr als nett von meiner Tante, dass wir quasi umsonst an der Reitstunde teilnehmen durften. Offiziell reiten wir in der Talentfördergruppe und nicht mehr in der Gruppe, in der unsere Freundinnen reiten“, erwiderte ihre Freundin. – „Ich weiß, aber trotzdem ist es so ein blödes Gefühl einfach so weggeschickt zu werden“ – „Ein wenig komisch fühlt es sich auch für mich an, aber was wollen wir machen. Sollen wir uns mit Bianka anlegen und solange auf sie einreden, bis sie nachgibt?“ – „Und was machen wir, wenn Kiki nächste Woche kommt? Soll sie in die Röhre gucken? Sie freut sich immer riesig, wenn sie hier ab und zu mitreiten darf“ – „Eventuell spreche ich morgen noch mal mit Bianka, vielleicht macht sie einmal eine Ausnahme“ An der Wandererhütte drehten die beiden Mädchen um. Es wurde immer nebliger und langsam setzte auch die Dämmerung ein. „Momentan herrscht im Reiterstübchen nach einem Wasserschaden wieder das pure Chaos“, erzählte Emily beiläufig. „Oje, warum das?“, sah Lotta ihre Freundin getroffen an. „Es hat einen Wasserrohrbruch gegeben, der alles zunichte gemacht hat. Eigentlich sollte die Eröffnung des Reiterstübchens schon im Dezember gefeiert werden, aber wahrscheinlich wird daraus nichts. Toll, jetzt proben wir unsere Springquadrille quasi umsonst“, sagte Emily geknickt. „Wahrscheinlich schon“, nickte Lotta enttäuscht.
In der Reitschulhalle fand für die übrigen Bandenmädchen bereits die dritte Reitstunde bei Bianka Henke statt. „Ich hole schnell etwas, aber ich bin gleich wieder da. Reitet weiter in der Abteilung und befolgt Clarissas Anweisungen“, richtete sich Bianka Henke an ihre Reitschülerinnen. „Wir traben auf dem Zirkel“, trieb Clarissa ihren Oldenburger Wallach Moonlight in den Trab. „Als ob ich auf diese dumme Nuss höre“, zischte Fianna verächtlich in Viviens Richtung, die ihr mit einem bestätigenden Nicken antwortete. Die Roten Siebenrinnen taten so, als hätten sie Clarissas Anweisungen nicht gehört. Vivien traute sich kurz die Nachrichten auf ihrem Handy zu checken. Am Beginn der Stunde hatte sie einen derben Rüffel kassiert, als sie mit dem Mobiltelefon in der Hand erwischt wurde. Die Zwillinge ritten nebeneinander her, grinsten sich an und gickerten leise. „Was die Beiden wohl aushecken?“, sagte Aylin leise zu Fianna. Ehe sich die beiden Freundinnen umsahen, war eine wilde Gertenfechterei zwischen den Schwestern im Gange. „Ja, gebt es euch so richtig!“, rief Vivien übermütig. „Matti, Matti, Matti!“, feuerte Fianna den einen Zwilling an. „Micky, Micky, Micky!“, drückten Vivien und Aylin ihre Unterstützung für den zweiten Zwilling aus.
„Getroffen!“, triumphierte Mathilda, die ihre Schwester mit der Gerte am Rücken streifte. „Hey, Angriffe von hinten sind unfair!“, protestierte Annemieke. „Ihr seid unmöglich! Das erzähle ich meiner Tante und ihr bekommt so einen Anpfiff, dass euch ganz anders wird“, ritt Clarissa empört auf die Zwillinge zu. „Warum spielst du dich so auf? Du bist hier nicht die Reitlehrerin“, blaffte Fianna sie an. Die Zwillinge kämpften unter unüberhörbaren Gekicher munter weiter. „Was haben wir da? Wenn ihr nicht wisst, wie ihr mit den Materialien der Reitstaller umzugehen habt, dann werden die nächsten Reitstunden für euch vom Boden aus stattfinden“, wütend hatte sich Bianka Henke vor den Reitschülerinnen aufgebaut. „Entschuldigen Sie, wir haben nur kurz ein wenig herumgealbert“, entschuldigte sich Annemieke stotternd. „Ein bisschen herumgealbert ist wohl gewaltig untertrieben“, wurde die Reitlehrerin laut, „Euer Verhalten ist eine Unverschämtheit und Respektlosigkeit sondergleichen. Kommt es noch zu einem unmöglichen Vorfall, kann ich euch raus werfen und ihr könnt von der Tribüne aus zuschauen“
„Wir versprechen Ihnen, dass wir uns besser konzentrieren werden“, sagte Vivien ernst, die ihr Mobiltelefon wieder in ihrer Jackentasche verstaut hatte. „Außerdem sind wir es nicht gewöhnt, dass wir in der ganzen Stunde schweigen müssen“, meinte Fianna. „Ein paar Worte zu wechseln ist okay, aber eure Plaudereien und Albereien gehen mir auf die Nerven. Solche Verhaltensweisen gehören einfach nicht in einen Reitstall“, beharrte die Reitlehrerin auf ihrem Standpunkt und fügte hinzu, „Jetzt machen wir weiter. Bitte einmal durch die Länge der Bahn wechseln und leichttraben!“ Moonlight riss kurz seinen Kopf ein Stück hoch, als Clarissa ihm einen Klaps gab und trabte darauf zügig an, sodass die Lücke dahinter immer größer wurde. „Macht euren Pferden ein bisschen mehr Feuer unterm Hintern! Merkt ihr gar nicht, wie Clarissa euch abhängt?“, wandte sich Bianka Henke an die fünf Bandengirls. „Warum müssen wir uns immer Clarissa anpassen?“, zog Mathilda genervt die Augenbrauen hoch. „Genau, immer müssen wir uns an Clarissa halten“, unterstützte Fianna ihre Freundin. „Sie trauen uns auch wirklich sehr wenig zu. Bei Rachel reiten wir seit mindestens zwei Jahren nicht mehr in der Abteilung. Ich verstehe nicht, warum Sie uns so behandeln, als ob wir nicht reiten können. Würden Sie uns mehr Freiräume lassen, würden Sie sehen, dass wir deutlich besser reiten können, als Sie denken“, kritisierte Mathilda ihre Reitlehrerin offen.
„Ihr könnt von mir aus weiter herummeckern, aber das wird euch nicht weiterbringen. Ich versuche euch gerade die wichtigsten Grundlagen beizubringen. Bei vielen von euch sehe ich immer noch deutliche Mankos. Wäret ihr in der Lage meine Anweisungen besser umzusetzen, würde ich euch auch nicht durchgehend in der Abteilung reiten lassen und wenn ihr meint, herum zu maulen, könnt ihr das nächste Mal auch ganz zuhause bleiben“, klang Bianka Henke ziemlich verärgert. Im nächsten Moment ermahnte sie Vivien und Aylin, die gerade ein paar Worte miteinander wechselten. „Ich mache bald gar nichts mehr!“, raunzte Mathilda, sodass Fianna und ihre Schwester es hören konnte. „Noch zwanzig Minuten, dann sind wir erlöst“, meinte Annemieke, die einen Blick auf die Uhr warf, die über dem breiten Spiegel an der hölzernen Hallenwand angebracht war.
„Langsam kriege ich Hunger, obwohl ich gut zu Mittag gegessen habe“, drehte sich Fianna zu Mathilda um. „Hey, ich habe noch ein Schokoriegel. Willst du?“, fingerte ihre Freundin in der Jackentasche herum zog einen Kinderriegel heraus. „Ja, gib her“, nickte Fianna gierig. „Fang!“, rief Mathilda und ließ den Schokokeksriegel durch die Luft fliegen. „Das darf wohl nicht wahr sein! Fianna, gib mir sofort den Riegel und du, Mathilda, du kannst gerne gehen, wenn du dich weiterhin so daneben benimmst“, schimpfte die Reitlehrerin los. Als sie sich wieder etwas beruhigt hatte, ließ sie die Reitschülerinnen eine Volte reiten. Einen Moment später kicherte Mathilda ungehalten los, als Fianna ein paar Grimassen zog, um für eine lockere Atmosphäre zu sorgen. Mathilda prustete so heftig, dass sich nach vorne auf den Hals ihres Pferdes fallen ließ und sich nicht mehr einkriegte. „Das war’s, Mathilda! Raus mit dir! Bring dein Pferd in die Box und komme in spätestens zehn Minuten ohne Pferd wieder hier her“, explodierte Bianka Henke. Ohne Widerworte zu geben stieg Mathilda von Snowflakes Rücken und führte die Stute aus der Halle.
An der Bandentür traf sie Emily und Lotta, die sie fast schon ein wenig geschockt ansahen. „Ich habe wirklich noch nicht gesehen, dass jemand aus der Reitstunde geflogen ist. Ich frage mich, wie man das schafft“, war Emily baff. „Ja, dann bin ich wohl die Erste!“, fauchte Mathilda. „Hey, jetzt gräm dich nicht so! Die Frau ist eben doof“, legte ihr Lotta beruhigend die Hand auf die Schulter. „Könntet ihr mir gleich helfen, Snowflake abzusatteln?“, bat Mathilda, die sich ihren Freundinnen gegenüber wieder etwas gemäßigt hatte. „Kommt mit, Mädels, die Frau darf nicht sehen, dass wir Matti helfen!“, raunte Lotta leise. „Okay, wir helfen schon!“, schleppte Emily einen Putzkasten und ein Halfter herbei. Mathilda sattelte Snowflake ab, während Lotta die Schimmelstute striegelte und Emily ihr die Hufe auskratzte. „Rachel ist wirklich tausendfach netter“, fand Lotta, „Ich beobachte euch, wie Bianka euch herunterputzt. Sie wirft euch noch gemeinere Dinge an den Kopf als uns“ „Das ist doch klar, weil wir ja angeblich nicht reiten können“, grummelte Mathilda. „Ach was, so schlecht reitet ihr nicht“, sagte Emily, „Es kann nicht jeder ein Pferd haben wie Lotta und ich“ „Ja genau, wir reiten auch fast jeden Tag“, nickte Lotta. „Ich weiß nicht, ob ich jeden Tag reiten wollte“, sagte Mathilda seufzend, „und ein eigenes Pferd wäre mir viel zu viel Arbeit, obwohl ich das Reiten und die Pferde liebe“ „Mädels, nicht so viel quatschen! Manchmal hat Bianka schon Recht, dass man sich auf das Wesentliche konzentrieren muss“ „Ja, Emily!“, stöhnte Mathilda genervt. „Du musst jetzt gleich wieder zurück, du hast nur zwei Minuten. Geh schon! Wir bringen Snowflake in ihre Box“, stieß Lotta sie an. „Okay, ich bin schon unterwegs. Danke, dass ihr mir geholfen habt!“, umarmte Mathilda ihre beiden Freundinnen kurz.
„Eigentlich möchte ich doch nicht zu Bianka gehen“, blieb Mathilda mitten auf der Stallgasse stehen. „Geh, schließlich hast du Bockmist gebaut und es wäre irgendwie feige, wenn du einfach abhaust“, entgegnete ihr Emily. „Aber ich bin um halb Sechs mit Sven auf dem Weihnachtsmarkt verabredet und ich will dort nicht in Reitkleidung erscheinen“, erwiderte ihre Freundin. „Aha, das wusste ich gar nicht, dass du gar nicht zum Bandentreffen kommst. Danke, dass ich es auch erfahre. Ich wollte mit euch nachher besprechen, wie meine Geburtstagsfeier ablaufen soll“, klang Emily etwas pikiert. „Hä, das habe ich euch doch vorhin in der Schule gesagt, dass ich mit Sven verabredet bin und außerdem weiß ich, dass du deinen Geburtstag am Samstag in zwei Wochen feierst“, sah Mathilda sie verständnislos an. „Komm, Matti, du kriegst gleich richtig Ärger, wenn du jetzt nicht deinen Arsch bewegst. Bianka meint ihre Ansagen ernst und zwar bitterernst!“, schob Lotta ihre Freundin ein Stück vorwärts. „Mathilda, komm in die Halle!“, rief Bianka Henke, „Damit du die Hufschlagfiguren endlich begreifst, darfst du der Abteilung nun zu Fuß folgen“ Mathilda glaubte ein unterdrücktes Grinsen in ihrem Gesicht zu sehen. „Meinen Sie das ernst?“, zitterte Mathildas Stimme vor Fassungslosigkeit.
„Acht Minuten wirst du doch wohl noch laufen können und deiner Fitness tust du auch etwas Gutes“, meinte die Reitlehrerin und sagte an ihre übrigen Reitschülerinnen gewandt, „Ab jetzt wird höchstens nur noch getrabt, damit Mathilda unserer Abteilung ohne Probleme folgen kann“ „An deiner Stelle würde ich schon drei Meter Sicherheitsabstand halten. Du willst doch sicherlich noch deine Zähne behalten, falls eines der Pferde ausschlägt“, sagte Clarissa halb feixend, als sie hochmütig an Mathilda vorbei ritt. Ihre Stimme war leise und boshaft fies. „Kannst du nicht einmal deine blöde Klappe halten, du alte Hexe! Du wurdest nicht aufgefordert dumme Kommentare abzulassen!“, fuhr Aylin das Mädchen mit den blonden Engelslocken an. Bianka, die ihre Ohren an jedem Ort hatte, ist der Kommentar nicht entgangen. „Aylin, du steigst jetzt ab und führst dein Pferd bis zum Ende der Stunde“, befahl die griesgrämige Reitlehrerin. „Das hast du gut gemacht!“, raunte Mathilda ihrer eher schüchterneren Freundin zu. „Ihr beiden geht nicht direkt nebenaneinander!“, schnellte Bianka Henke dazwischen. Mit einem bitterbösen Blick ließ sich Mathilda drei Meter nach hinten fallen, sodass sie das Schlusslicht bildete.
Mathilda verschwand nach der Stunde wie ein Blitz aus dem Stall, ohne auf ihre Freundinnen zu warten. „Eigentlich wollte sie doch mit zum Wohnwagen fahren“, sagte Fianna schulterzuckend. „Wenn sie gekränkt und stinksauer ist, dann rauscht sie immer davon und gerade ist sie mehr als stinksauer. Sie wurde regelrecht gedemütigt und bloßgestellt. Das kann sich meine Schwester sich wirklich nicht geben“, wusste Annemieke, die ihren Zwilling am besten einschätzen konnte. „Ich habe den Eindruck, dass sich Matti absichtlich schlecht benommen hat. Sie immer schnell bockig wird, wenn etwas nicht so läuft, wie sie es sich vorgestellt hat“, äußerte Emily offen ihre Meinung. „Was ist eigentlich mit dir los?“, zischte Aylin, „Hast du dich jetzt auch gegen Mathilda verschworen und stehst auf Biankas Seite?“
„Eigentlich nicht, aber mal ehrlich: Mathilda war gerade ziemlich frech und albern“, entgegnete ihr Emily ruhig und besonnen. „Sag, dich scheint es gar nicht zu interessieren, dass wir von Bianka herablassend behandelt werden“, warf Fianna Emily vor. „Girls, ich will jetzt nichts mehr davon hören. Wehe, ihr fangt euch an euch gegenseitig an die Gurgel zu gehen, dann fahre ich nämlich gleich ganz nach Hause“, rollte Lotta mit den Augen. „Hey, darf ich mitreden? Mich interessiert es schon, worüber ihr so redet“, versuchte sich Clarissa sich zwischen die Freundinnen zu drängeln. „Hau ab!“, sagten Annemieke und Vivien aus einem Munde. Fianna und Aylin rückten so eng zusammen, dass sie eine Barriere bildeten. „Dumme Cliquengänse, so wie ihr drauf seid, werdet ihr noch nicht mal in 20 Jahren richtig reiten können!“, fauchte Clarissa und trollte sich beleidigt.
Nachdem sich Mathilda eine gefühlte Ewigkeit in Svens Ewigkeit über ihre Reitlehrerin beklagt hatte, fuhren sie zu zweit mit ihren Fahrrädern zum Weihnachtsmarkt. „Ich habe mich noch niemals so erniedrigt gefühlt, wie vorhin. Solange diese bescheuerte Bianka den Unterricht macht, gehe ich da nicht wieder hin!“, schimpfte sie, als sie ihre Räder am Weihnachtsmarkteingang in der Nähe des Marktbrunnens abstellten. „Komm, jetzt versuch an etwas anderes zu denken. Merkst du gar nicht, wie du dir die Laune verdirbst?“, nahm Sven ihre Hand und stürzte sich mit ihr ins Getümmel. Da der Weihnachtsmarkt vor wenigen Stunden eröffnet wurde, war es dort proppenvoll. Mathilda vergaß ihren Groll, als sie den Duft von gebrannten Mandeln und all den anderen Leckereien wahrnahm und sich kurz ihre Hände an einer offenen Feuerstelle aufwärmte. Bei einem Seifenstand kaufte sie ein Seifenset als Weihnachtsgeschenk für ihre Mutter. Dann merkte sie ein seichtes Magengrummeln, das sich als Hunger entpuppte.
„Komm, ich brauch als allererstes ein paar Mandeln!“, zog sie ihren Freund zu einem Süßwarenstand. An der gläsernen Theke erstreckte sich eine große Auswahl an gebrannten Mandeln und Nüssen, bunten Süßigkeiten, Schokofrüchten und anderen Leckereien. „Wenn du die große Tüte nimmst, kriegst du ein Drittel gratis“, meinte der Verkäufer. „Ja, ich nehme die große Tüte“, nickte Mathilda und drückte dem jungen Mann einen Fünfeuroschein in die Hand. „Das habe ich gerade wirklich gebraucht“, ließ sie fünf Mandeln gleichzeitig in ihrem Mund verschwinden, worauf sofort noch fünf weitere folgten. „Hey, fress sie nicht alle gleichzeitig auf!“, stieß Sven sie neckend an und nahm sich auch ein paar Mandeln aus der Tüte. Bereit auf dem Weg zum Schmuckstand an der großen Kirche war fast die halbe Tüte leer. „Jetzt habe ich aber Durst“, meinte Mathilda, nachdem sie den Rest gebrannte Mandeln in ihrer schwarzen Umhängetasche mit den neonfarbenen Sternen verschwinden ließ. „Kein Wunder, schließlich hast du dich mit diesem süßen Zeug voll gestopft“ – „Aber die sind so lecker!“ – „Ja, das auf jeden Fall. Wollen wir erstmal etwas trinken?“ – „Ja, gerne!“ – „Okay, ich gebe ein heißes Getränk aus“ – „Oh danke, das ist lieb“ Hand in Hand steuerten sie den nächsten Getränkestand an.
„Bestellst du?“, tickte Mathilda ihren Freund an, „Ich hätte gerne einen Kakao mit einem Schuss Karamelllikör“ „Ja, den nehme ich auch“, nickte Sven und verstummte auf einmal. „Was ist los?“, fragte sie ihn. „Oh verdammt, ich werde erst im Januar sechzehn. Ich habe noch keinen Personalausweis, wenn die mich fragen“, murmelte er leise. „Na und? Du siehst doch älter aus als du bist“, widersprach Mathilda ihrem Freund. Sven sah mit seinen fast sechzehn Jahren wirklich älter aus: Er war 1,82m groß, hatte breite Schulter, sein Bartwuchs setzte ein und seine Stimme klang schon ziemlich männlich. Er hätte ohne Probleme schon als Siebzehnjähriger durchgehen können. Trotzdem weigerte er sich zu bestellen, sodass er Mathilda vorschickte. „Kannst du bitte deinen Ausweis zeigen? Kakao mit Schuss gibt es erst ab 16 und Glühwein erst mit 18“, informierte die junge Frau sie, die Anfang zwanzig sein musste. „Ja, ich bin 16“, zeigte Mathilda ihr den Personalausweis. „Okay, zweimal Kakao mit Karamelllikör?“, nickte die Frau und Mathilda drückte ihr das Geld an die Hand. Einen Moment später kehrte sie zu Sven an den Stehtisch zurück. „Du schickst mich vor, damit ich meinen Perso vorzeigen muss“, machte sie ihm einen scherzhaft gemeinten Vorwurf. „Immerhin kannst du dich schon vernünftig ausweisen“, zwinkerte er und nahm den ersten Schluck. „Puh, ganz schön heiß!“, pustete er. „Tja, dann musst du eben warten“, knuffte sie ihn liebevoll. „Haaayyy, ihr beiden!“, hörte sie eine bekannte Stimme hinter sich. Als sich Mathilda umdrehte, entdeckte sie Katja, Saskia und Tanja aus ihrer Klasse.
„Hi, was macht ihr hier?“, begrüßte Sven die Klassenkameradinnen. Mathilda nickte ihnen nur kurz zu und rührte in ihrem Kakao herum, um den Zicken so wenig Aufmerksamkeit zu schenken wie möglich. „Wir waren shoppen und jetzt gehen wir noch eine Runde über den Weihnachtsmarkt“, antwortete Saskia. „Und wir wollen jetzt noch einen Glühwein trinken“, fügte Katja hinzu. „Ihr und Glühwein trinken?“, zog Sven die Stirn kraus. „Ja klar, das wird doch wohl kein Problem sein“, lachte Tanja kurz auf, „Ich bin fast achtzehn“ „Aber Mathilda musste auch gerade ihren Ausweis zeigen“, meinte Sven. „Ach was, wir müssen keinen Ausweis zeigen“, schüttelte Katja den Kopf, „Wir waren letztens mit Jolanda, Neele und zwei Freundinnen aus der Parallelklasse feiern und da kamen wir auch ohne Ausweis in den Club“ „Wenn ihr meint“, wollte Sven ihnen die Story nicht recht glauben. „Wie schmecken die Getränke hier?“, fragte Tanja. „Ganz gut, aber man spürt den Alkohol fast gar nicht“, sagte Sven.
Mathilda wollte ihm gerade widersprechen, aber dann sagte sie doch nichts. Ihr war es ein Dorn im Auge, dass sich Sven so angeregt mit den Tussen unterhielt. Konnte das Trio vom Tussenkomitee nicht jemand anderes belästigen? Sven und die drei Klassenkameradinnen redeten immer noch munter weiter. „Hey Mathilda, warum sagst du nichts?“, zog Tanja sie leicht an der Beanie-Mütze. „Was soll das?“, schnalzte Mathilda mit der Zunge, aber es klang sanfter als sie es beabsichtigt hatte. „Übrigens finde ich die Mütze mega cool. Wo gibt es die?“, wollte Tanja wissen. Mathilda erkannte sofort, dass es sich nicht um Ironie, sondern um ein ernst gemeintes Kompliment handelte. „In einem Laden, der „Nature Fashion“ heißt“, erwiderte sie und verriet den Mädchen nicht, dass ihr Kiki die Mütze gestrickt und vor einem Jahr zu Weihnachten geschenkt hatte. „Ich würde mir auch gerne so eine Mütze kaufen. Kannst du uns verraten, wo dieser Laden ist?“, hakte Katja nach. „Ihr geht am Rathaus vorbei, dort zweigt eine Gasse nach rechts ab. Dort geht es in die Altstadt. Auf der linken Seite gegenüber vom Stadtcafe ist der Laden“, beschrieb sie ihnen den Weg. Die drei Mädchen waren gegangen, ohne ihren Glühwein zu trinken. Mathilda war erleichtert, dass sie ihnen nicht mehr auf die Pelle rückten. „Warum hast du dich so lange mit den blöden Gänsen fest gequatscht? Mindestens fünf Minuten hast du mit ihnen gequasselt“, machte sie ihrem Freund einen Vorwurf. „Ganz einfach, weil ich nicht so stieselig bin wie du“, antwortete er prompt, „Außerdem kann man mit Klassenkameraden ein paar freundliche Worte wechseln, auch wenn sie nicht die besten Freunde sind. Aber du redest eh nur mit deinen Bandengirls und mit mir. Alle anderen blendest du aus!“
„Das stimmt doch gar nicht. Du tust so, als wäre ich eine totale unfreundliche Person!“, rief sie empört und ließ ihren Becher so doll auf den Tisch sausen, dass ihr fast der halbe Kakao über die Hand schwappte. „Naja, vielleicht habe ich gerade übertrieben“, entschuldigte er sich, „Klar, redest du mit den anderen Klassenkameraden, obwohl du dich meistens auf deine Freundinnen beschränkst. Ich finde ihr Roten Siebenerinnen solltet in den Zukunft lernen euch mehr gegenüber anderen Menschen zu öffnen, die nicht in eurer Bande sind“ – „Das tun wir doch schon längst oder reißen wir euch Fischköpfen immer noch die Flossen ab?“ – „Ne, das nicht. Ich frage mich generell, ob Banden in unserem Alter noch angemessen sind. Wir sind doch seid ein oder zwei Jahren keine Kinder mehr“ – „Ne, bei uns steht es überhaupt nicht zur Debatte die Rote Sieben aufzulösen. Niemals! Außerdem wenn du mir vorwirfst, dass ich sonst keine anderen Freunde hätte, dann hätte ich da noch Elias aus meiner Straße und außerdem Kim und Janet aus meiner Hockeymannschaft“ – „Meine Güte, klingst du angefressen, Matti-Schatz!“ – „Kein Wunder, wenn man vorher aus der Reitstunde fliegt und ich nicht mehr zum Reiten gehen werde, bis Rachel wieder da ist“ Sven legte sanft seinen Arm um seine unglücklich wirkende Freundin. Dann holte er einen Umschlag aus seiner Jackentasche, womit er seine Freundin überraschen wollte.
„Lächle mal bitte! Ich habe bei einem Gewinnspiel im Radio mitgemacht und vier Karten für das Konzert von „Young Spirit“ in Frankfurt gewonnen. Auf ihrer Europatournee spielen sie nur vier Konzerte in Deutschland und zwar in Berlin, Hamburg, München und Frankfurt“, zeigte er ihr eins der Originaltickets. „Wow, ist das dein Ernst? Du hast mir davon gar nichts erzählt. Außerdem ist Young Spirit momentan meine Lieblingsband. Letztens habe ich das neue Album beim Bandentreffen rauf und runter gespielt, bis meine Freundinnen leicht genervt waren. Oh mein Gott, das ist so fantastisch, dass ich sie sehen darf!“, begannen Mathildas Augen zu strahlen. „Naja, ich wollte dich in einem passenden Moment überraschen“, sagte er. Sie brauchte einen Moment, um ihr Glück zu realisieren. „Oh Svenni, du bist der Beste!“, nahm sie seine Hand und hüpfte wie ein junges Kaninchen umher. „Die anderen beiden Karten sind für meinen Onkel und meine Cousine Alice, die beide in Frankfurt wohnen. Wir werden von Freitag auf Sonntag bei ihnen übernachten. Yay, wir werden uns ein geiles Wochenende machen!“, freute sich Sven und fügte hinzu, „Außerdem beinhaltet unser Gewinn ein Meet&Greet, das vor dem Konzert stattfindet“ „Oh mein Gott, ich sterbe jetzt schon, wenn ich mit Nick sprechen werde. Er ist so süß, dass ich mich wahrscheinlich in seiner Gegenwart zerschmelzen werde. Hoffentlich ist mein Englisch überhaupt gut genug, dass ich mit den Jungs kommunizieren kann“, quiekte sie übermütig los. „Er ist soo süß!“, äffte Sven ihre Stimme nach, wofür sie ihm einen leichten Stoß verpasste. „Schon gut! Beruhig dich, Schätzchen. Ich denke schon, dass deine Englischkenntnisse ausreichend sind“, streichelte Sven ihr über den Rücken. „Wenn ich aufgeregt bin, werde ich nicht einmal die leichtesten Vokabeln mehr können“, gab sie zu Bedenken. „Ach was und notfalls hast du immer noch mich dabei“, lachte ihr Freund zu auf.
Auf einmal verpuffte Mathildas Freude halb. „Shit, das Konzert ist am gleichen Tag wie Emilys Geburtstagsparty“, sagte sie enttäuscht. „Na gut, ich kann auch meine Schwester fragen“, erwiderte ihr Freund. „Nein, das tust nicht! Ich werde mitkommen, auch wenn ich bei Emily absagen muss“, sagte sie entschlossen und fügte kleinlaut hinzu, „Eigentlich ist es nicht fair gegenüber Emily. Ich habe ihr schon fest zugesagt. Ach egal, mit Emily kann ich noch oft genug Geburtstag feiern, aber meine Lieblingsband werde ich nur einmal im Leben sehen und ein persönlichesTreffen mit Nick kann ich mir niemals entgehen lassen“ „Cool, das freut mich, dass wir dort zusammen hingehen!“, küsste Sven sie.
Einen Moment später machte die Beiden bei einem Schmuckstand Halt, der Schmuck aus Halbedelsteinen verkaufte. Dort würde sie bestimmt Geschenke für Kiki und ihre Schwester finden. „Drei Teile zum Preis von 15€“, prangte ein Angebot auf einem Plakat. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte eine ältere Verkäuferin. „Ich wollte mir zweimal eine Schmuckkollektion zusammenstellen“, antwortete Mathilda. „Sie können sich jeweils drei Schmuckstücke pro Kollektion aussuchen. Auf der rechten Seite können Sie alle Schmuckstücke nehmen, alles Andere wäre teurer“, meinte die Frau. Für Kiki wählte Mathilda einen Ring aus einem grünen Halbedelsein, eine schlichte Kette mit einem silbernen Pferdeanhänger und ein Paar Ohrhänger, die Ähnlichkeit mit einer Diskokugel hatten. „Was könnte Micky gefallen?“, wisperte sie in Svens Richtung. „Hm, eigentlich müsstest du sie am besten kennen“, zuckte er mit der Schulter. „Das ist es und deshalb soll ihr Geschenk am auserwähltesten sein“, meinte sie. Nachdem sie einen Moment nachgedacht hatte, suchte sie sich einen Ring aus einem türkisenen Stein, ein Armband mit bunten Perlen und ein Paar Feen-Ohrringe aus. „Meine Güte gibst du viel Geld aus“, bemerkte Sven, als sie weiter gingen. „Dafür schenke ich auch nur meinen Eltern, Micky, Kiki und dir etwas“, sagte sie und zog ihn hinter einen Stand, um den Weg zu ihren Fahrrädern abzukürzen und sich nicht so lange durch die Menschenmassen zu schieben.
Neben der Kirche fing die Glockengasse an, wo es viele Kneipen, Restaurants und Cafes gab. Dort war sogar noch draußen viel los, da vor einigen Restaurants Glühwein ausgeschenkt wurde. „Sieh mal, da ist mein Vater!“, wisperte Mathilda aufgeregt. Neben ihm am Stehtisch stand eine Frau in einem dunkelroten langen Mantel, die einen ganzen Kopf kleiner war als er. „Das nicht meine Mutter!“, raunte sie, „Mama hat ab Donnerstag Urlaub und muss bis nächste Woche unsere kranken Großeltern pflegen“ Langsam schlichen sie sich an der Hauswand eines Bücherladens heran. Gott sei dank gab es neben dem Restauranteingang zur Steinofenpizzeria mehrere Terrakottakübel mit Buchsbäumchen, die eine Art Hecke bildeten. „Ich beobachte sie jetzt“, flüsterte Mathilda und kauerte sich hinter den Kübeln zusammen.
Klirrend stießen ihr Vater und die Dame mit zwei Tassen an. Im Halbdunkeln sah Mathilda lange dunkle Haare unter der französischen Schirmmütze hervor lugen. „Das ist Ewelina!“, zischte sie. Dann verharrten beide Jugendliche auf der Stelle. In den ersten Minuten passierte nicht viel, außer dass ihr Vater noch einen Nachschub an Glühwein besorgte. „Du kannst diese Nacht gerne bei mir übernachten, ich habe eine Wohnung direkt über dem Restaurant „Wiener Hof“, das ist nur hundert Meter von hier entfernt“, hörte Mathilda die Frau sagen, die zu ihrer Überraschung gar keinen Akzent hatte. „Ne, ich weiß nicht“, meinte ihr Vater, „Wenn ich nicht nach Hause komme, rufe ich mir ein Taxi“ Mehr bekam Mathilda nicht mit, da ein paar Mädchen an ihnen vorbei liefen, die laut redeten und kicherten. „Ich mache jetzt ein Foto“, wisperte sie und drückte auf den Auslöser ihrer Handykamera. Viel zu sehen war nicht, da es in der Gasse halbdunkel war.
Einen Moment später drückte sie erneut auf den Auslöser, als ihr Vater die Frau in seine Arme schloss und sie ihn auf die Wange küsste. „Diese Arschlöcher!“, fauchte sie leise, ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen und ihr Puls begann in die Höhe zu schnellen. „Psst!“, legte Sven den Zeigefinger auf die Lippen. Kurz darauf brachen ihr Vater und diese Ewelina Hand in Hand auf. Mathilda zog Sven an der Hand hinter sich her, um die Verfolgung aufzunehmen. „Nicht so stürmisch!“, meinte ihr Freund, der fast stolperte. Eine große Menschentraube drängte in die schmale Gasse hinein. „Verdammt, ich sehe sie nicht mehr“, fluchte sie leise. „Da vorne sind sie“, stellte sich Sven kurz auf die Zehenspitze. „Ich will die beiden Idioten sowas von fertig machen!“, kochte Mathilda vor Wut. „Wenn das dein Vater mit meiner Mutter macht, dann reiße ich ihm sprichwörtlich den Kopf ab“, meinte Sven. „Das will ich auch am liebsten machen!“, knirschte sie mit den Zähnen. „Du musst mit deinem Vater reden, wenn diese Ewelina nicht dabei ist. Am besten holst du dir auch noch Unterstützung von deiner Schwester. Ihr müsst ihm sagen, dass er die Ehe und eure Familie gefährdet. Ihr, Zwillinge, müsst anfangen zu kämpfen und eure Familie retten. Macht dein Vater so weiter, kommt eure Mutter dahinter und der Ofen ist ganz aus“, nahm Sven ihr Gesicht in die Hände. „Ja, das werde ich“, nickte sie. In der Nähe vom ZOB drängelten sich so viele Menschen, dass Mathilda und Sven sie aus den Augen verloren.
„Wahrscheinlich haben sie sich ein Taxi oder einen Bus genommen und sind abgebraust!“, regte sie auf. „Scheint so“, zuckte Sven ratlos mit den Achseln. Sie sahen sich auf dem Bussteig um, wo die Leute aus- und einstiegen. Mathildas Vater und Ewelina waren verschwunden. „Dieses Arschloch zerstört unsere Familie!“, fauchte sie leise, wobei Tränen in ihren Augen brannten. „Weiß deine Mutter schon davon?“, wollte ihr Freund wissen. „Noch nicht, aber wenn er so weiter macht, kriegt sie es auf alle Fälle mit. Er macht daraus kein Geheimnis. Sehen es eventuell Leute, die unsere Eltern kennen und meine Mutter in Kenntnis setzen, dann haben wir ein Problem und dabei will ich nicht, dass meine Eltern sich trennen“, sagte Mathilda mit belegter Stimme. Gerade als sie kurz davor war in Tränen auszubrechen, klingelte ihr Handy. „Hi Matti, ich bin’s Micky“, vernahm sie die vertraute Stimme ihrer Schwester. „Ja, was gibt es, Annemieke?“, fragte sie rastlos. „Du hast doch gerade das Foto geschickt, wo Papa und eine fremde Frau drauf sind. Echt krass, dass sie so dicht beieinander stehen. Für meinen Geschmack kommt die Frau ihm zu nahe. Irgendwie weiß ich gerade nicht, was ich denken soll. Ich bin etwas fassungslos“, sagte ihr Zwilling. „Weißt du gerade, wie fassungslos ich bin!“, zischte Mathilda und musste schlucken. „Naja, auf dem Foto ist es halbdunkel. Darauf ist wirklich nicht das allermeiste zu sehen“, fuhr Annemieke fort. „Bin ich blöd und fotografiere sie mit Blitz?“, sagte Mathilda hitzig, „Dann merkt Papa endgültig, dass ich ihn stalke“
Dies brachte ihre Schwester kurz zum Schweigen. „Weißt du, ich will noch keinen Verdacht schüren. Lieber warte ich ab, bis mehr Details ans Licht kommen. Papa kann auch einfach mit einer Kollegin auf den Weihnachtsmarkt gegangen sein“, meinte Annemieke schließlich. „Aber du verschließt doch eh immer die Augen vor der Realität“, warf Mathilda ihr vor. „Wenigstens mach ich nicht immer sofort einen großen Bohei“, entgegnete ihr Annemieke. „Willst du mir immer noch nicht glauben?“, klang Mathilda gereizt. „Hä, das habe ich doch nicht gesagt. Außerdem muss ich jetzt auflegen, Emily ruft mich gerade. Wann bist du zuhause? Auch so um 19Uhr?“, sagte ihr Zwilling. Mathilda legte wortlos auf. „Annemieke ist wirklich komisch. Sie mag es immer noch nicht so recht glauben“, schüttelte sie leicht den Kopf. „Ich glaube, sie ist eher fassungslos und versichert. Sie weiß echt nicht, was sie davon halten soll. Ich weiß doch ganz genau, wie harmoniebedürftig deine Schwester ist. Sie will es einfach nicht wahrhaben, was euer Vater da tut“, meinte Sven, der das Telefonat mitgehört hatte, da Mathilda aus Versehen auf den Lautsprecherknopf ihres Handys gedrückt hatte. „Aber warum ruft sie an, anstatt eine SMS zu schreiben?“, erwiderte sie verständnislos und seufzte, „Manchmal verstehe ich noch nicht mal meinen eigenen Zwilling“ „Es kann sein, dass Micky gerade zwischen Unglauben und Entsetzen schwankt. Ich denke, sie kann manchmal ihre Gefühle auch nicht richtig einordnen“, sagte Sven dazu.
Emily machte es sich mit ihrer Mutter im Wohnzimmer bequem. „Ich habe extra Nachos geholt und zwar die Scharfen, die du so gerne magst“, raschelte ihre Mutter mit der Tüte. Es standen bereits zwei Fläschchen Orangenlimonade, eine Packung Rafaelo, Salzstangen, Karamellpopkorn und Weingummi auf dem niedrigen Couchtisch. Emily zündete drei Duftkerzen an und dimmte das Licht, während ihre Mutter die kaminroten Vorhänge zuzog. Nun war alles vor einen perfekten Filmabend angerichtet. Ihre Mutter und sie hatten sich diesen Abend vorgenommen sich drei Folgen von Game of Thrones anzuschauen. Gerade als ihre Mutter die Blueray aus der Hülle nahm, ertönte „I have a feeling“. „Dein Handy!“, drückte ihr ihre Mutter das Mobiltelefon in die Hand. Dieses Lied hatte Emily sich als Klingelton für ihre Freundinnen ausgesucht, also rief eine ihrer Bandenschwestern an. „Hi, hier ist Mathilda!“, meldete sich ihre Freundin, „Ich muss dir was sagen“ „Dann beeil dich, wir wollen einen Film schauen“, drängte Emily. „Ehm, ja…Es tut mir leid, aber es gibt ein Problem“, stockte ihre Freundin. „Ja okay, du kannst mir immer erzählen, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt“, sagte Emily und ging zum Telefonieren in ihr Zimmer. „Sven hat Karten für ein Konzert von meiner Lieblingsband gewonnen und das Blöde ist, dass das Konzert an dem Tag stattfindet, wo du deinen Geburtstag nachfeierst“, erzählte Mathilda. „Oh ne, jetzt im Ernst? Was nun?“, fragte Emily, die sich unbehaglich fühlte. „Ich habe mich für das Konzert entschieden, da ich die Chance habe die Band in der Autogrammstunde zu treffen. Es tut mir wirklich leid“, sagte ihre Freundin seufzend. „Du sagst mir schon seit Tagen fest zu und jetzt besitzt du die Frechheit einfach so abzusagen! Ich dachte, wir wären gute Freundinnen“, klang Emilys Stimme messerscharf. „Ich weiß, es ist wirklich blöd gelaufen“, seufzte Mathilda.
„Definitiv ist es blöd gelaufen!“, fauchte Emily in ihr Handy. – „Ich verspreche dir, dass wir eine Woche später auf jeden Fall zusammen ins Kino gehen können und ich lade dich sogar ein. Meinetwegen bezahle ich auch Popkorn, Nachos, Eis und Getränke“ – „Kein Bedarf!“ – „Hey, was kann ich dafür, dass Sven die Konzertkarten gewonnen hat? Ich habe mir das auch nicht ausgesucht, dass beides auf den gleichen Tag fällt. Es trübt schon meine Vorfreude auf das Konzert, dass ich dich enttäuschen muss“ – „Jetzt tue doch nicht so, als würdest du dich nicht auf das Konzert freuen. Natürlich freust du dich schon riesig, schließlich himmelst du deine amerikanischen Traumboys tagtäglich an“ – „Emily, jetzt hör mir doch mal zu. Ich bedauere es doch wirklich, dass ich nicht zu deinem Geburtstag kommen kann. Wenn du nicht ins Kino willst, können wir auch in die Trampolinhalle oder auf den Weihnachtsmarkt gehen“ – „Jetzt habe ich echt keinen Bock mit dir irgendwo hinzugehen! Außerdem bist du nicht mehr die Mathilda, die ich kenne und gerne mag. Dir ist dein Sven wichtiger als alles Andere. Du vernachlässigst alle deine Freundinnen. Heute bis du nach dem Reiten einfach abgehauen. Du hättest ruhig noch ein paar freundlich Worte mit uns wechseln als Lotta und ich dir geholfen haben, das Pferd in die Box zu bringen. Aber nein, du machst dich einfach dünne. Übrigens bereue ich es, dass ich dir meine Hilfe angeboten habe“ – „Sorry, ich war einfach nur wütend und fühlte mich erniedrigt als ich der Abteilung zu Fuß folgen musste“ – „Rate mal wieso du rausgeflogen bist? Du hast dich die ganze Zeit frech, aufmüpfig, albern und respektlos benommen. Weißt du eigentlich, wie egoistisch du bist? Du fühlst dich für mich gar nicht mehr wie eine Freundin an!“
Die letzten Worte hatte Emily in ihr Handy gebrüllt, bevor sie das Telefonat abrupt beendet hatte. Als sie tief durchatmete, löste sich eine Träne aus den Augenwinkeln, die sie wütend wegwischte. Kurz darauf folgte eine zweite Träne. „Emily, darf ich reinkommen?“, klopfte ihre Mutter an die Tür. „Mama, lass mich einfach in Ruhe!“, rief Emily. „Komm schon, wir wollen uns einen gemütlichen Mutter-Tochter-Abend machen“, stand ihre Mutter kurz darauf mitten im Zimmer. „Bleib draußen!“, fuhr Emily sie wütend an. „Na gut, ich gehe wieder. Ich starte die Folge erst, wenn du dich dazusetzt“, ging ihre Mutter wieder raus. Emily brauchte fünf Minuten, in denen sie gegen ihre „Ich-will-heulen-Laune“ ankämpfte. Am liebsten sie Manuel anzurufen, aber leider legte er heute im Jugendzentrum bei einer privaten Geburtstagsparty als DJ auf. Trotzdem schrieb sie ihm eine lange Nachricht via WhatsApp.
Als sich Emily wieder halbwegs beruhigt hatte, leistete sie ihrer Mutter Gesellschaft. „Darf ich wissen, was gerade los was?“, wollte diese wissen. Emily erzählte ihr ausführlich von dem Telefonat. „Ich kann Mathilda bis zu einem gewissen Grad verstehen, dass sie ihre Idole sehen will. Andererseits kann ich auch verstehen, dass du sauer und enttäuscht bist. Das muss auch für Mathilda schwer gewesen sein sich zu entscheiden“, meinte ihre Mutter. „Das ist nicht nur das, sondern auch dieses blöde Gefühl, dass wir uns seit der Halloweenparty immer weiter voneinander entfernt haben. Da ich nicht mehr mit ihr auf die gleiche Schule gehe, sehe ich sie nicht mehr jeden Tag und bei den Bandentreffen war sie auch nicht mehr regelmäßig. Ich hatte schon länger das Gefühl, dass es zwischen uns bereits am schwelen ist. Es ist eine Distanz, die sich komisch und schmerzhaft anfühlt“
„Du musst mit ihr sprechen. Es liegt daran, dass ihr euch streitet und immer weiter voneinander abdriftet, weil ihr euch nicht aussprecht“, sagte ihre Mutter dazu. „Das kann ich nicht mit Mathilda. Ich sehe sie nicht häufig genug und momentan bin ich einfach sauer sie, da wird kein streitfreies Gespräch möglich sein“ „Mach dir keine Sorgen, das wird schon wieder gut. Du hast dich sonst auch immer mit deinen Freundinnen vertragen“, legte ihre Mutter ihr die Hand auf den Oberarm.
Es wollte nicht die gewohnte Filmabend-Atmosphäre aufkommen wie sonst. Bereits nach einer Folge verlor Emily die Lust am Schauen und verabschiedete sich in ihr Zimmer. Ihr Handy, welches auf dem Bett lag, blinkte. Offenbar hatte sie mehrere Nachrichten verpasst. „Wenn Mathilda nicht kommen will, dann pfeife einfach auf sie. Du hast genug andere Freundinnen“, spielte sie Manuels Sprachnachricht ab. Auch Annemieke hatte ihr eine längere Sprachnachricht geschickt. „Ich weiß, dass du sauer bist. Es wäre trotzdem nicht nötig gewesen, dass du Matti so fertig gemacht hast. Ich habe sie gerade heulend in unserem Zimmer vorgefunden. Du hast sie richtig angeschrieen und dabei ging es ihr vornherein nicht gut…“, hatte sie ihr mitzuteilen. Bla Bla Bla! Emily stoppte nach wenigen Sekunden das Abspielen der Sprachnachricht. Jetzt nahm Annemieke auch noch ihre Schwester in Schutz. Sofort wählte sie Annemiekes Nummer. „Hi, müssen unbedingt miteinander reden“, sagte Emily, als Annemieke abgenommen hatte. „Ja, das müssen wir. Wir müssen uns unbedingt treffen und zwar jetzt sofort“, klang ihre sonst so besonnene Freundin ziemlich aufgewühlt. „Kannst du das nicht einfach eben erzählen?“, erwiderte Emily. – „Nein, das kann ich nicht so eben am Telefon. Ich brauche jemanden, dem ich dabei angucken kann und neben mir sitzt. Matti liegt jetzt im Bett und will ihre Ruhe haben“ – „Ja, aber wo wollen wir uns treffen?“ – „Du kannst auch gerne zu mir kommen“ – „Aber es dauert eine halbe Stunde mit dem Fahrrad“ – „Wollen wir uns dann im Wohnwagen treffen?“ – „Ja, von mir aus. Das ist nur anderthalb Kilometer von mir entfernt“ – „Ich nehme eben den Roller und bin in etwa zehn Minuten da“
Fast zeitgleich trafen die beiden Freundinnen am Wohnwagen ein. Annemieke machte den Eindruck, als wäre sie ziemlich k.o. und mit den Nerven halbwegs am Ende. Kaum als sie im Wohnwagen auf dem Sofa saßen, begann sie in einem überhasteten Tempo zu erzählen. „Weißt du, vorhin kam Papa um neun nach Hause. Er ging sofort duschen und ließ sein Handy in der Küche liegen. Plötzlich leuchtete das Handydisplay auf. So eine komische Ewelina hatte ihm Herzchen geschickt und ihm geschrieben, dass sie morgen sich einen netten Abend machen könnten. Da ich weiß, wie man das Handy von Papa entsperrt, las ich den Chatverlauf durch. Diese Ewelina ist so pervers, die wollte mit ihm sogar in die Sauna gehen. Endlich konnte ich meiner Schwester glauben, die ihn schon zweimal zusammen mit dieser Tussi gesehen hat“, redete sie wie Wasserfall. „Hat euer Vater etwa eure Mutter betrogen?“, war Emily fassungslos.
„Ja, es sah ganz danach auf“, rief Annemieke aufgebracht, „Ich bin sofort meine Schwester gegangen und habe ihr das erzählt. Wir fingen kurz darauf unseren Vater ab und verpassten ihm einen Einlauf“ – „Was habt ihr gesagt?“ – „Wir haben ihm vorgeworfen, dass er mit dieser Affäre die Familie aufs Spiel setzt und unsere Zukunft gefährdet. Ich habe sogar angefangen zu heulen, weil so emotional geladen war. Papa nahm mich dann in den Arm und sagte, dass es ein Missverständnis gewesen war. Ewelina ist eine Kollegin, mit der er sich gut versteht. Die beiden sind befreundet. Er gab zu, dass sie deutlich zu weit gegangen sind und das er sich in Zukunft ein Stück weit von ihr distanzieren wird. Mathilda drohte ihm sogar, dass sie es Mama weiter sagen wird, falls sie ihn noch einmal mit Ewelina sehen wird“ – „Dann hoffe ich, dass euer Vater den Fehler eingesehen hat“ – „Ich habe aber trotzdem Angst, dass er das verspricht und hinter unserem Rücken weiterhin mit Ewelina flirtet. Du weißt, wie fragil die Ehe unserer Eltern ist. Zwar streiten sie sich längst nicht mehr so heftig und so oft, dennoch kriegen sie sich ab und zu immer wieder in die Haare. Ein blödes Gefühl habe ich: Die Luft ist raus. Sie lieben sich nicht mehr so flammend wie früher und halten nur noch wegen uns zusammen“
„Ich kenne das“, seufzte Emily und sie spürte im Inneren, wie es plötzlich zu schmerzen anfing. Ihr Gedankenkarussell fing sich an zu drehen und dann tauchten all diese Bilder wieder auf: unzählige Streitereien, gegenseitiges Desinteresse und dann die Leere, die eigentlich durch Liebe gefüllt werden sollte. Das Schlimmste war, als ihr Vater eine Neue hatte. Ihr Vater kam manchmal 14 Tage am Stück nicht nach Hause und meldete sich sporadisch. Als ihre Mutter davon erfuhr, dass ihr Vater eine neue Freundin hatte, reichte sie die Scheidung ein. Damals war Emily erst 13 Jahre alt. „Weißt du, ich finde es so traurig“, klang Annemieke geknickt, „Warum können wir als Familie nicht einmal zusammenhalten?“ „Du meinst wohl, warum Eltern nicht zusammen halten können“, verbesserte Emily sie prompt und legte ihr die Hand auf den Unterarm. Annmieke zeigte Emily ein Bild von einem weinenden Mädchen, welches sie selbst gemalt hatte. Das Mädchen hatte große Ähnlichkeiten mit ihr selbst.
„Das Bild habe ich kurz vor meinem 16. Geburtstag gemalt“, erzählte sie, „Damals haben wir noch keinem von euch erzählt, wie sehr sich unsere Eltern streiten“ – „Das kann ich aber verstehen, dass man das nicht gerne erzählt“ – „Ich weiß noch, wie du auf der Klassenfahrt in der sechsten Klasse plötzlich auf dem Rückweg von der Jägerhütte zum Schullandheim anfingst zu weinen und erzählt hast, dass deine Eltern kurz vor der Trennung stehen. Das war echt nicht schön“ – „Das war für mich wirklich eine schreckliche Zeit. Sowas will ich nie wieder erleben“ – „Dadurch dass Papa mit dieser Ewelina unterwegs war, hatten wir auch Angst, dass es zwischen unseren Eltern endgültig vorbei sein könnten. Er sieht ein, dass er einen Fehler gemacht hat und bat uns, dass unsere Mutter davon nichts mitkriegen soll“ Emily konnte die Sorgen und Ängste ihrer besten Freundin nur zu gut verstehen. Die Mädchen redeten solange, bis ihnen fast die Augen zu fielen.
„Ich schlafe hier“, gähnte Annemieke. „Darfst du das überhaupt?“ – „Papa interessiert es nicht und Matti schläft bereits“ – „Trotzdem sollst du ihnen eine Nachricht schreiben, damit sie sich nicht unnötig Sorgen machen“ – „Ja klar“ Die Freundinnen machten es sich im Nachbarraum auf der breiten Schlafmatratze gemütlich. Emily hatte soeben ihre Mutter angerufen und ihr Bescheid gesagt. „Weißt du, ich liebe es hier zu schlafen. Das tue ich viel zu selten“, sagte Annemieke leise. Emily nickte bestätigend. Das letzte Mal hatte sie hier zusammen mit Kiki und den Zwillingen im Sommer geschlafen. „Lily, bitte sei Matti nicht länger böse. Sie ist echt verzweifelt, dass sie dir absagen musste“, tickte Annemieke sie an. „Nein, ich war nur sauer, weil das aus dem Nichts kam“, erwiderte Emily ruhig, „Natürlich hasse ich Matti nicht und wir werden uns auch wieder vertragen“
Am Donnerstag rief Kiki abends bei Emily an. „Hi, ich bin seit dem letzten Wochenende krank. Ich war vorgestern beim Arzt, weil es sich schlimmer anfühlte als eine Erkältung und ich fast 41 Grad hatte. Mir wurde Blut abgenommen und es wurde festgestellt, dass ich das Pfeiffersche Drüsenfieber habe. Es ist so schade, dass ich am Wochenende nicht kommen kann und wahrscheinlich bin auch noch nicht an deinem Geburtstag fit. Ich wurde noch mal zwei Wochen krankgeschrieben. Auch wenn es mir besser gehen sollte, kann ich immer noch hochgradig ansteckend sein“, erzählte Kiki, die sich ziemlich kränklich anhörte. „Oh nein, jetzt darfst du nicht auch noch an meinem Geburtstag fehlen“, sagte Emily traurig. „Ich finde es auch schade, aber ich darf leider nicht kommen“, erwiderte ihre Freundin geknickt. „Ich habe nicht so mega viele Freundinnen. Genau genommen habe ich doch nur euch“, beklagte sich Emily. „Sehe nicht so schwarz. Du hast mit uns schon sieben sehr gute Freundinnen und dann gibt es auch deinen Freund“, versuchte Kiki sie aufzumuntern und fragte, „Bestimmt hast du in deiner neuen Klasse schon neue Freunde gefunden oder?“
„Naja, nicht so wirklich. Die sind alle nicht so auf meiner Wellenlänge“, antwortete Emily. „Gibt es wirklich gar keinen, der nett ist?“, klang Kiki leicht geschockt. „Zwei oder drei Schüler sind auf jeden Fall nett“, bejahte Emily. „In meiner Schule habe ich auch vier gute Freundinnen und meinen Freund. Meine Klasse finde ich eher so mittelmäßig, weil die meisten Idioten im Jahrgang in meiner Klasse sind. Wenigstens habe ich zwei meiner Freundinnen in meiner Klasse, aber den Rest kann man wirklich vergessen“, erzählte ihre Freundin. „Nicht jede Klasse kann so cool sein, wie unsere alte Klasse“, seufzte Emily sehnsuchtsvoll. „Das ist wohl wahr. Da war unsere alte Klasse hingegen wirklich ein Traum“, bestätigte Kiki und fügte hinzu, „Auf der anderen Seite gibt es immer schwarze Schafe. In unserer alten Klasse waren es Jolanda, Katja, Saskia und die restlichen Mitglieder vom Tussenkomitee“ – „Bah, die waren auch echt unter aller Kanone!“ – „Ich vermisse die auch mal so gar nicht, vor allem nicht deren Gerüchtestreuung“ – „Ich frag mich, wie man so zickig, hinterhältig und blöd sein kann?“ – „Oh ja!“
Dann erzählte Emily, dass Mathilda sie seit dem Streit wie Luft behandelte und sie sogar inzwischen auf WhatsApp blockiert hatte. „Stimmt, irgendwie ist Matti ein wenig komisch geworden in der letzten Zeit. Plötzlich ist sie so still, was normalerweise überhaupt nicht ihre Art ist. Mach dir nichts aus diesem Streit. Sie wird dir bestimmt bald wieder verzeihen. Außerdem war das auch für Matti eine schwere Entscheidung und ich weiß nicht, ob ich in diesem Fall anders entschieden hätte“, meinte Kiki. „Im Nachhinein kann ich Matti schon etwas verstehen“, sagte Emily, „Ich glaube, ich habe vor Enttäuschung ein bisschen zu harsch reagiert. Nach dem Streit am Telefon habe ich noch eine böse WhatsApp nachgeschoben, aber zwei Stunden wollte ich mich entschuldigen, aber da hatte sie mich schon blockiert“ „Oh man, das klingt wirklich prickelnd“, seufzte Kiki, „Soll ich Matti mal anschreiben?“ „
Kannst du gerne machen“, erwiderte Emily und fragte, „Hast du noch viel Kontakt mit ihr. „ Geht so. Es ist zwar zwischen uns kein Streit vorgefallen, aber irgendwie zieht sie sich von allen ein wenig zurück. Noch vor ein paar Wochen haben wir fast jeden Abend telefoniert und viel miteinander gelacht, aber jetzt muss man schon fast hoffen, dass man wenigstens einmal am Tag eine WhatsApp von ihr kriegt. Auf der anderen Seite weiß ich, dass sie Ängste und Sorgen hat, wegen der Affäre ihres Vaters“ – „Ich weiß, das hat mir Micky am Wochenende erzählt. Hoffentlich trennen sich ihre Eltern nicht auch noch, das wäre wirklich der Supergau“ – „Können wir bitte über ein anderes Thema reden? Das zieht mich ziemlich runter, zumal daran bei mir so viele schlechte Erinnerungen hängen“ – „Von mir aus, ich mag das Thema genauso wenig wie du“
Nach dem Telefonat ließ sich Emily auf ihr Bett sinken und schloss die Augen. Da war sie wieder, diese riesige Enttäuschung. Nun hatte auch Kiki abgesagt und Emily freute sich gar nicht mehr richtig auf ihre Geburtstagsfeier. „Ich habe nicht so viele Freunde, dass ich jemals richtig groß feiern und eine Location mieten könnte“, dachte sie niedergeschlagen und schloss die Augen. Auch als sie den Nachrichtenton ihres Handys vernahm, konnte sie sich nicht aufraffen, dazu saß die Enttäuschung, die sie immer noch lähmte einfach zu tief. Es war einfach zu schade, dass Kiki nicht kommen konnte. Emily bedauerte es sehr, dass ihre Freundin mittlerweile noch so selten sah. Kiki war eine wunderbare Freundin, die ein gutes Fingerspitzengefühl für ihre Freundinnen hatte und sie glücklich machte. „Kiki ist wie Balsam für die Seele“, hatte Mathilda einst gesagt, womit sie aus Emilys Sicht vollkommen Recht hatte.
Ding Dong! Es klingelte an der Haustür, sodass Emily hoch schreckte. „Es wird eh niemand für mich sein“, seufzte sie kaum hörbar und legte sich wieder hin. Ein Moment später klopfte es an ihrer Zimmertür. „Hey, ich bin’s Manu. Darf ich reinkommen?“, hörte sie ihren Freund von draußen. Emily schlappte zu Tür und öffnete sie. „Hey Schatz, du siehst aber gar nicht glücklich aus“, stellte Manuel fest, als er seine Freundin sah. „Wie auch, wenn jetzt auch noch Kiki abgesagt hat“, murrte sie. „Wie jetzt?“, zog er die Augenbrauen hoch. „Kiki hat das Pfeiffersche Drüsenfieber und muss noch länger das Bett hüten“, erzählte sie frustriert und ließ ihren Freund in ihr Zimmer, wo sie sich zu zwei auf das kleine weinrote Kuschelsofa neben dem Schreibtisch setzten. „Nehme dir das nicht so zu Herzen“, tröstete Manuel sie und nahm sie fest in den Arm, sodass Emily sein Aftershave gut riechen konnte. „Eigentlich habe ich mich jetzt schon so auf den Abend mit meinen besten Freunden gefreut, aber gerade habe ich das Gefühl, dass alle der Reihe nach absagen“ – „Haben bis jetzt nur Mathilda und Kiki abgesagt?“ – „Das schon, aber ich habe Angst, dass eventuell noch Aylin absagt, da sie so strenge Eltern hat oder eine andere Freundin von mir krank wird“ – „Emily, sei doch nicht gleich so pessimistisch“ – „Aber ich habe außer meinen Bandenschwestern keine anderen richtigen Freundinnen, das sind wirklich die Einzigen“ – „Gibt es in deiner neuen Klasse wirklich keine netten Mitschüler?“ – „Hm, nicht so wirklich. Ich bin halt relativ unbeliebt, weil ich nicht so stylisch gekleidet bin, in die Disco gehe und angeblich nach Pferd stinke“ – „Hast du nicht letztens von Nora erzählt, die ganz nett sein soll?“ – „Ja das schon, aber ich verabrede mich irgendwie kaum mit ihr“
„Das können wir ändern!“, schnippte Manu und schlug vor, „Wie wäre es, wenn du sie einlädst? Sie würde sie sich bestimmt richtig freuen“ „Eine Überlegung wäre es wert“, hellte sich Emilys Miene auf. „Dann sag ihr doch eben bescheid“, stupste ihr Freund sie an. „Aber das Problem ist, dass Nora meine anderen Freundinnen nicht kennt und meine Freundinnen Nora nicht kennen“, hatte sie einzuwenden. „Da brauchst du dir keine Sorgen machen“, lachte Manuel kurz auf, „Es ist doch das Lustige an so einer Feier, wenn sich nicht alle kennen und so ein paar tolle Leute kennen lernt. Ich bin mir sicher, deine Freundinnen kennen Jonny auch noch nicht. Aber ich kann garantieren, dass es wirklich lustig wird, da er ein Spaßvogel vor dem Herrn ist“
Auf einmal waren Emilys Enttäuschung und Zweifel wie weggeblasen. „Ich drucke ihr jetzt die Einladung aus!“, sprang sie enthusiastisch vom Sofa auf. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, fuhr ihren PC hoch und schaltete den Drucker ein. „Warum schreibst du ihr keine WhatsApp oder SMS?“, schaute Manuel sie verwundert an. „Ich finde eine richtige Einladung viel cooler und persönlicher. Außerdem habe ich mir so viel Mühe gegeben eine schöne Einladungskarte zu kreieren“, erwiderte Emily. Der Drucker ratterte los und spuckte ihr die bunte Einladungskarte aus. Emily suchte einen Briefumschlag heraus, steckte die Karte hinein und klebte ihn mit einem silbernen Sternsticker zu. „Das wär’s!“, lächelte sie. „Da wird sich Nora sicherlich freuen!“, lächelte ihr Freund zurück. In der Mitte des Raumes umarmten und küssten sich die Beiden. „Na, ist deine Laune jetzt besser?“, grinste er breit. „Auf jeden Fall! Danke, dass du vorgeschlagen hast Nora einzuladen“, sagte sie und schmiegte sich an ihn. Emily war jetzt schon aufgeregt, wie Nora sich verhalten würde, wenn sie die Karte erhalten würde.
„Nora hat in der Klasse auch kaum Freunde und wird von den anderen Klassenkameraden meistens gemieden. Ich weiß nicht, ob sie privat auch noch andere Freundinnen hat, aber bis jetzt hat sie mir darüber noch nichts erzählt“, meinte Emily. „Dann ist sie umso glücklicher, dass du ihre Freundin bist“, sagte ihr Freund und fügte hinzu, „Ich weiß es selbst wie es ist, keine Freunde haben. Ich wurde in der fünften und sechsten Klasse sehr geärgert und war ein richtiger Außenseiter, der keine Freunde hatte. Dann blieb ich zum Glück sitzen und kam in eine nette Klasse, wo ich mich plötzlich vor lauter Freunden kaum noch retten konnte“ „Das war bei mir auch so“, erzählte Emily, „Erst mochte mich keiner und fast die ganze Klasse war fies zu mir, aber dann wiederholte ich die Klasse wegen Fünfen in Mathe, Englisch und Physik. In der neuen Klasse freundete ich mich sofort mit Annemieke an, neben der ich saß. Auch mit ihrer Schwester Mathilda und mit Kiki verstand ich mich auf Anhieb. Es dauerte nicht lange und wir gründeten unsere Bande“ „Das weiß ich. Ich habe dich damals zusammen mit deinen ganzen Freundinnen auf einer Party im Jugendzentrum kennen gelernt“, nickte Manuel.
Am nächsten Tag war Emily ganz heiß darauf Nora die Einladung zu überreichen. Sie kam sogar eine Viertelstunde zu früh zur ersten Stunde. Noch waren nicht sehr viele Schüler vor dem Klassenraum. Zwei Jungs lehnten an der Wand und starrten auf ihre Handys. Victoria, Stephanie und Hatice steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten. Sie kicherten leise, als Emily an ihnen vorbei ging, aber nahmen sonst keine Notiz von ihr. Gerade kam Nora um die Ecke und blieb neben den Jackenhaken stehen. Sie war ganz in sich gekehrt und Emily entdeckte Kopfhörer in ihren Ohren. Offenbar hörte sie Musik. „Hey Nora!“, winkte Emily ihr zu. Ihre Klassenkameradin reagierte nicht. Emily musste erst zu ihr hingehen und sie an der Schulter berühren. „Hey sorry, ich habe dich echt nicht bemerkt. Morgens um diese Uhrzeit bin ich noch nicht ganz da“, entschuldigte sich Nora, die einen ihrer Kopfhörer aus dem Ohr zog.
„Ich habe etwas für dich“, öffnete Emily ihre Schultasche und zauberte den blauen Umschlag hervor. „Huch, was ist das denn? Was soll ich damit?“, machte Nora ein erstauntes Gesicht. „Öffne den Umschlag und dann siehst du es“, sagte Emily. Nora hielt den Umschlag immer noch fest. „Komm schon, mach ihn auf!“, stieß Emily sie sanft an. „Wow! Das ist ja eine Einladung!“, rief Nora, die erfreut und überrascht zugleich war. „Danke Danke Danke! Das ist wirklich lieb von dir! Ich werde auf jeden Fall kommen“, fiel sie Emily um den Hals. Sie übermütig und glücklich hatte Emily ihre Klassenkameradin noch nie gesehen. „Dann lerne ich auch deine anderen Freundinnen kennen. Ich bin schon ganz gespannt, wie Lotta und Annemieke so sind, von denen du mir immer erzählst. Bestimmt sind sie genauso nett wie du. Ach ja, ich liebe mexikanisches Essen über alles. Das wird bestimmt ein ganz cooler Abend. Aber erstmal brauche ich ein gutes Geschenk für dich. Was wünschst du dir eigentlich? “, Nora war in ihrem Redefluss kaum zu stoppen.
Emilys Geburtstagsfeier beim Mexikaner wurde ein voller Erfolg: Das Essen war grandios, es gab eine Cocktailflatrate, Emily durfte sich eine Musikplayliste erstellen und Jonny sorgte mit seinen Scherzen für viele Lacher. Auch Nora, die sich zuerst zurückhielt, kam schließlich mit Aylin, Fianna und Vivien ins Gespräch. Gegen 11Uhr gingen die Gäste nach Hause und Annemieke übernachtete bei Emily.
Am nächsten Morgen verabredeten sich die beiden Freundinnen mit Lotta zu einem Ausritt auf dem Hof von Emilys Tante. „Ich habe Annika gesagt, dass du mit ausreiten willst. Sie meint, dass du Admiral reiten darfst. Das ist das Pony von Sarah, aber das wird schon okay sein, da Sarah dieses Wochenende bei ihrer Patentante ist“, wandte sich Emily an ihre beste Freundin, als sie auf dem Fahrrad nebeneinander den Feldweg entlang fuhren. „Okay, dann weiß ich Bescheid!“, nickte Annemieke und richtete beim Fahren ihre Reitkappe.
Die hellgraue Wolkendecke riss entzwei, sodass die orange Sonne die kahle Winterlandschaft in ein goldiges Licht tauchte. Zudem hatte es in der Nacht leicht gefroren, da die Pfützen mit einer hauchdünnen Eisdecke überzogen waren und der Raureif auf den Gräsern und Hecken glitzerte. „Hach, ich freue mich schon so auf den Ritt durch das Winterwunderland“, schwärmte Annemieke und schloss kurz die Augen. „Träumliese!“, bemerkte Lotta neckend und fügte hinzu, „Zwar sind Ausritte bei diesem Wetter ganz schön, aber für mich nichts Besonderes mehr und warte nur ab, deine Hände werden spätestens nach einer halben Stunde zu Eiszapfen mutieren“ „Aber nicht mit meinen Skihandschuhen“, entgegnete ihr Annemieke prompt. „Sag mal, soll ich dir gleich richtige Reithandschuhe geben? Mit den dicken Skihandschuhen hast du keinen richtigen Griff und außerdem flutschen die Zügel einfach so durch“, wandte sich Emily an ihre beste Freundin. „Okay, aber nur wenn die auch warm genug sind“, gab sich Annemieke einverstanden.
Die Mädchen parkten ihre Fahrräder an der steinernen Mauer neben dem Hofeinfahrtstor. „Annika kommt in ungefähr einer halben Stunde, sie steht noch unter der Dusche“, checkte Emily ihre WhatsApp-Nachrichten. „Aber wir können trotzdem zum Aufwärmen in den Stall gehen“, trippelte Lotta auf der Stelle und blies weiße Atemwölkchen in die Luft. „Da bin ich dabei“, hakte Annemieke sie unter und zog sie in Richtung Stall, wo die Privatpferde standen. „Hallo Sunshine!“, begrüßte Lotta ihren Hannoveranerwallach und wärmte ihre klammen Finger an seinem kräftigen Hals auf. „Was du nur für ein Glück hast, ein eigenes Pferd zu haben“, sagte Annemieke sehnsuchtsvoll. „Schön ist es, aber auch viel Arbeit“, meinte Lotta. „Hey Mädels, kommt mal bitte sofort her!“, rief Emily vom anderen Ende des Stalls.
Lotta und Annemieke eilten herbei und standen genauso wie Emily vor einer leeren Box. „Ist das Jazz Box?“, Annemieke war so perplex, dass sie leicht stotterte. „Ja und er ist nicht da“, klang Emily beunruhigt. „Vielleicht steht er auf einer der Koppeln“, mutmaßte Lotta. Die drei Freundinnen eilten nach draußen und suchten alle fünf großen Koppeln ab. „Das kann doch nicht sein, dass Jazz noch nicht einmal hier zu finden ist“, seufzte Emily kopfschüttelnd. Es standen lediglich fünf Reitschulpferde und drei Privatpferde auf den Wiesen. „Sehr komisch! Vielleicht reitet ihn jemand auf dem Reitplatz oder in der Reithalle“, dachte Annemieke halblaut nach. „Denkst du, dass ich einer anderen Person die Erlaubnis erteile, dass diese Jazz reiten darf, ohne dass ich dabei bin“, antwortete Emily leicht gereizt.
„Ich bin der Meinung, dass wir überall suchen müssen“, sagte Lotta und griff nach Emilys Hand. Sowohl in der Reithalle der Reitschule, als auch auf den beiden Reitplätzen war keine Menschenseele anzutreffen. In der großen Turnierhalle auf der anderen Straßenseite trainierten Juliana und Celine. „Hallo Juliana!“, winkte Emily der brünetten Reiterin zu, die gerade an ihnen vorbei ritt. „Hi Emily, was macht ihr so früh in der Halle?“, erwiderte Juliana überrascht. „Wir wollten eigentlich ausreiten“, antwortete Lotta. „Hast du Jazz gesehen?“, fragte Emily. „Nein, ich habe dein Pferd nicht gesehen“, schüttelte Juliana den Kopf. „Sag mal, ist dein Pferd verschwunden?“, kam Celine herbei geritten. „Ja, wir suchen Jazz“, nickte Emily, „Kannst du uns einen Hinweis geben, wo er sein könnte?“ – „Nein, ich habe Jazz seit Tagen nicht mehr gesehen“ – „Nicht einmal auf der Koppel?“ – „Nein, dort auch nicht“ Emily ließ den Kopf hängen. „Wo soll dieses bescheuerte Pferd sonst noch stecken?“, sagte sie frustriert zu Annemieke und Lotta, die sie untergehakt aus der Halle führten. „Vielleicht wurde Jazz gestohlen?“, kam in Annemieke ein ungeheuerlicher Verdacht auf. „Blödsinn, wer stiehlt hier schon ein Pferd?“, raunzte Emily. „Hallo, ihr Drei! Wo ward ihr? Ich habe euch gesucht“, winkte ihnen Annika zu, die die Straßenseite wechselte. „Hi, wir suchen Jazz“, antwortete Lotta, „Kannst du sachdienliche Hinweise über seinen Verbleib machen?“ „Was? Er ist einfach so weg?“, sah Annika die drei Mädchen einen Moment fassungslos an. „Ja, wir suchen ihn schon mindestens zwanzig Minuten“, jammerte Emily.
„Hä, das ist aber komisch“, meinte ihre Cousine, „Ich habe ihn noch um neun Uhr morgens auf die Koppel gebracht. Das war noch nicht einmal drei Stunden her und jetzt haben wir es gerade einmal halb zwölf“ „Aber dort steht er nicht mehr und ich weiß nicht mehr, wo ich suchen soll. Juliana und Celine haben ihn auch nirgendwo gesehen“, klang Emily geknickt. „Vielleicht gibt es ein Loch im Zaun“, dachte Lotta halblaut nach. „Das eher nicht. Schließlich kontrollieren wir die Zäune regelmäßig. Kommt, wir suchen noch mal alle Koppeln ab und fahren mit dem Fahrrad die Koppeln ab“, schlug Annika vor. Gerade als die Straße überqueren wollten, raste ein rotes Auto die Straße entlang. „Vorsicht, Annemieke!“, rief Annika und zog sie reflexartig am Arm zurück. „Meine Güte war das knapp!“, echauffierte sich Lotta, „Es hätte nicht viel gefehlt und Micky wäre unter dem Auto gelandet“ „Das Problem haben wir öfter mit solchen rasenden Idioten“, meinte Annika, „Die meinen, dass sie diese Straße als Rennstrecke missbrauchen zu können“ „Warum tut man nicht gegen diese Verkehrssünder? Hier ist ein Reiterhof, aber das interessiert diese Arschlöcher sowieso nicht“, schnaubte Emily verärgert. „Stimmt, die Polizei müsste in der Umgebung öfter Streife fahren oder eine Radarfalle aufstellen“, pflichtete Annemieke ihr bei.
Die vier Mädchen stiegen auf ihre Fahrräder und fuhren um jede einzelne Koppel herum. „Jazz ist wirklich nicht da, obwohl alle Gatter verschlossen sind und der Zaun an keiner Stelle ein Leck hat“, stellte Annika fest. „Dann müssen wir auch den Wald und die weitere Umgebung absuchen“, schlussfolgerte Lotta. „Ich bin mir gar nicht so sicher, ob wir ihn im Wald oder auf den Feldern finden werden. Der Verdacht liegt nahe, dass Jazz gestohlen wurde“, hatte Annemieke einzuwenden. „Andererseits wäre es schon sehr auffällig, wenn man versucht am helllichten Tag ein Pferd von der Koppel zu entwenden. Das wäre sicherlich jemanden aufgefallen, wenn man versucht hätte ihn zu stehlen“, widersprach ihr Annika. „Ich rufe jetzt Rachel an“, meinte Emily und hielt sich ihr Handy ans Ohr. Es tutete dreimal, ehe es knackte und ihre Tante den Hörer abnahm. „Hallo Rachel, hier ist Emily“ – „Guten Morgen, was gibt es?“ – „Jazz ist plötzlich spurlos verschwunden und wir können ihn nirgendwo finden“ – „Das kann doch nicht sein! Annika und ich haben ihn zusammen mit Admiral heute Morgen auf die Koppel gebracht“ – „Wir haben im Privatstall und im Stall der Reitschulpferde nachgeschaut und dann alle Koppeln, Reitplätze und Reithallen abgeklappert und ihn nirgends gesehen“ – „Das ist echt seltsam. Ich mach mich gleich mal zusammen mit Manfred auf die Suche“ – „Annika, Annemieke, Lotta und ich suchen gerade die Umgebung ab“ – „Okay, meldet ihr euch bitte spätestens in einer halben Stunde?“ – „Ok, das tun wir“
„Hey, wartet auf uns!“, hörten Emily und ihre Freundinnen jemanden rufen. „Nanu, wer kann das sein?“, sah Emily von ihrem Handy auf. „Hey, da sind ja Fianna, Aylin und Vivi!“, sagte Annemieke überrascht, als sie sich umdrehte. „Huch, was macht ihr hier?“, fragte Emily ihre drei Freundinnen erstaunt, als sie auf dem Sandweg ihre Fahrräder abbremsten. „Lotta hat uns angeschrieben, dass Jazz verschwunden ist“, erwiderte Aylin außer Atem. „Und daher wollten wir euch bei der Suche unterstützen“, ergänzte Fianna. „Sehr gut! Dann können wir drei Suchtrupps bilden“, ergriff Annika die Initiative, „Lotta und Annemieke fahren zu zweit das Wohngebiet ab, dass an unseren Reiterhof grenzt und bitte befragt auch Passanten, die ihr seht. Aylin, Fianna und Vivien, ihr sucht bitte die Felder ab. Emily und ich suchen im Wald. Wenn wir Jazz in spätestens anderthalb Stunden nicht gefunden haben, treffen wir uns zum Krisengipfel auf dem Hof. Verstanden?“
Die Mädchen nickten einstimmig und fuhren in alle Himmelsrichtungen davon. „Guck mal, hier sind sehr viele Hufabdrücke“, deutete Emily auf einen Reitweg, der unmittelbar hinter den Koppeln begann. „Die Hufabdrücke können auch von anderen Pferden kommen“, meinte Annika, „Hier reitet täglich jemand entlang“ „Trotzdem sollten wir diesen Weg weiter verfolgen“, gab Emily die Richtung vor. Da der Boden gefroren war, konnten sie gut auf dem Sandweg fahren, wo sie normalerweise sonst immer mit ihren Fahrrädern stecken blieben. Bereits nach einem halben Kilometer erreichten sie den schmalen Bach, der leise vor sich hinplätscherte. „Irgendwie zweifle ich gerade akut daran, dass Jazz in den Wald gelaufen ist. Ich glaube, wir brauchen uns gar nicht mehr viel weiter vom Hof entfernen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jazz alleine bei dieser Eiseskälte durch den Bach watet“, stoppte Annika vor der kleinen Holzbrücke. „Heißt das, dass du die Suche aufgeben willst?“, sagte Emily mit zugeschnürter Kehle. Sie musste einmal schniefen, als ihr Tränen in die Augen stiegen, die sie mühevoll wegblinzelte. „Nein, das nicht. Als erstes werde ich Mama anrufen und sie wird entscheiden, wie wir weiter verfahren“, entschied Annika und zückte ihr IPhone. Emily bekam nur halb mit, wie Annika telefonierte. Die innere Angst wuchs stetig, nahm überhand und lähmte sie halb. Ihr kam es vor, als wäre sie wie ein manövrierunfähiges Schiff, das auf eine Sandbank aufgelaufen war und sich nicht mehr von der Stelle kam. „Kopf hoch, wir werden nicht aufgeben, solange wir Jazz gefunden haben“, tröstete ihre Cousine sie und fuhr fort, „Wir sollen alle zum Hof zurückkommen. Mama hat Jazz auch nicht finden können und will die Polizei rufen und wir sollten vor Ort sein, weil die Polizisten Fragen stellen werden“
Als Emily und Annika das Hoftor passierten, stand bereits ein blauweißes Polizeiauto auf dem Hof. „Kommt bitte in den Stall!“, winkte Rachel die beiden Mädchen zu sich in die Küche. Am großen Küchentisch versammelten sich zwei Polizisten und Rachels Ehemann. „Guten Tag, mein Name ist Christian Beck. Sind Sie Emily Heuberger, die ein Pferd namens Jazz vermissen“, gab der eine Polizeibeamte Emily die Hand. „Ja, das bin ich“, erwiderte sie. „Seit wann wird Ihr Pferd vermisst?“, hakte er nach. „Ich kam heute Vormittag ca. 11:15 mit zwei Freundinnen in den Stall und stellte fest, dass die Box leer war. Dann suchten wir die Koppeln, Reitplätze und die Umgebung ab, dennoch ohne Erfolg“, berichtete sie. „Konnten Sie Zeugen befragen?“, wollte der zweite Polizist wissen. „Wir trafen leider niemanden, den wir befragen konnten“, antwortete Annika. „Darf ich kurz nach draußen gehen zum Telefonieren“, bat Emily und ging auf die Diele, nachdem Rachel kurz nickte. Draußen wählte sie Lottas Nummer. „Hi, hier ist Lotta Janssen“, meldete sich ihre Freundin rasch. „Kommt bitte zügig zum Hof. Inzwischen ist auch die Polizei da und führt eine Befragung durch“ – „Ja okay. Dann bis gleich!“ – „Warte mal kurz! Wo ward ihr bis jetzt gewesen? Habt ihr Passanten getroffen?“ – „In der ganzen Siedlung haben wir nur fünf Personen getroffen. Eine alte Dame vor einer Bäckerei, eine junge Frau mit Hund an der Kirche und drei Jungs auf einem Bolzplatz, aber niemand hat einen dunkelbraunen Hannoveraner Wallach mit einer weißen Blesse gesehen“ – „Okay, dann kommt bitte wieder zum Hof“ Kurz darauf rief Emily Fianna an und sagte ihr bescheid, dass sie zum Hof kommen sollten.
Die Polizisten blieben noch eine Viertelstunde und stellten den Mädchen weitere Fragen zu Jazz Aussehen und Wesenstyp. Rachel scannte den Pferdepass von Jazz ein und drückte den Beamten mehrere Kopien in die Hand. „Ihr müsst ganz schön hungrig sein nach der Aufregung. Wollt ihr etwas essen und trinken?“, bot Rachel den Mädchen an, nachdem die Polizisten fort waren. „Gerne, ich habe ziemlichen Kohldampf“, nickte Annemieke. Rachel tischte einen riesigen Topf Hühnersuppe, eine Schüssel mit gekochten Eiern, eine Palette mit Aufschnitt, Brot und einen Teller mit Gewürzkuchen auf. Dazu gab es wahlweise Mineralwasser, Kaffee oder Tee. „Tut das gut!“, biss Lotta hungrig von ihrer Salamistulle ab, während auch die anderen Mädchen ordentlich zulangten. Nur Emily hatte keinen sonderlich großen Appetit, starrte den Adventskranz mit seinen drei brennenden Kerzen an und löffelte die Hühnersuppe in Zeitlupentempo.
Es klopfte von außen an die Fensterscheibe. „Wer war das?“, sah Annika von ihrem Teller auf. „Matti! Das war meine Schwester!“, sprang Annemieke auf. „Hä, ich sehe niemanden!“, spähte Lotta zum Fenster hinaus. „Aber ich habe noch gerade so ihre blaue Mütze gesehen, die um die Ecke verschwand“, erwiderte Annemieke und genau in dem Moment klingelte es. „Ich mach schon auf“, lief Emily mit Annemieke zur Haustür. Die Zwillingsschwestern stürmten aufeinander zu, nachdem Emily die Tür öffnete und umarmten sich so fest, als hätten sie sich Jahrzehnte nicht gesehen. Erst einen Moment später realisierte Emily, dass auch Sven mit von der Partie war.
„Hallo, kommt rein!“, winkte die Beiden zu sich hin. Spontan nahmen sich Emily und Mathilda in den Arm. „Herzlichen Glückwunsch nachträglich! Ich habe dir noch ein kleines Geschenk mitgebracht, aber das kriegst du später“, lächelte Mathilda. „Danke, ich wusste gar nicht, dass du kommen wolltest“, freute sich Emily. „Ich habe von Lotta und meiner Schwester mitbekommen, dass Jazz weg ist. Wir sind schon ein bisschen die Gegend abgefahren, aber leider konnten wir ihn noch nicht finden“ Emily erzählte ihrer Freundin von der bis jetzt erfolglosen Suche und von der Polizei, die bis vor wenigen Minuten da war. „Komm, wir gehen jetzt in die Küche“, griff sie nach Mathildas Hand. „Und Sven, du kannst selbstverständlich mitkommen“, wandte sie sich an Mathildas Freund, der bis jetzt noch fast kein Wort gesagt hatte. „Oh Hallo Mathilda!“, begrüßte Rachel ihre Reitschülerin überrascht. „Hi, ich wollte euch alle ein bisschen überraschen und bei der Suche nach Emilys Pferd helfen“, grinste Mathilda breit und neutralisierte ihren Gesichtsausdruck, als sie die angespannte Atmosphäre unter ihren Freundinnen bemerkte. „Hallo, wer bist du denn?“, blieb Rachel überrascht vor Sven stehen. „Guten Tag, ich bin Sven und der Freund von Mathilda“, stellte sich der Junge vor. „Und er geht in unsere Klasse“, fügte Fianna schnell hinzu. „Schön, dich kennen zu lernen. Setz dich ruhig dazu und nimm dir etwas zu Essen“, lächelte Rachel und fragte, „Möchtest du Wasser, Kaffee oder Tee?“ „Ich gebe mich gerne mit einem schwarzen Kaffee zufrieden“, nickte Sven, „Ich glaube, ich kenne Sie: Ich war vor einigen Jahren schon einmal auf Ihrem Hof, als sie mich und meine Freunde mit der Kutsche aus dem Wald geholt hatten, als wir total betrunken waren“ „Stimmt ich erinnere mich, das war damals der letzte Tag vom Western Camp“, erwiderte Rachel, „Außerdem bin ich Rachel und du darfst mich gerne duzen“
Nachdem Mathilda und Sven kurz begrüßt wurden, ging es wieder ernster am Tisch zu. „Am besten nehmen wir Kontakt zu den Höfen aus der Nachbarschaft auf. Es kann sein, dass Jazz ihnen zugelaufen ist“, eröffnete Annika die Diskussion. „Das auf jeden Fall! Dann lass uns gleich zum Hof Zimmermann fahren“, nickte Emily. „Da braucht ihr nicht extra hinfahren“, meinte Rachel, „Wir haben ihre Telefonnummer“ Es klingelte wieder. Annika ging zur Haustür und öffnete sie. „Mama, kannst du eben kommen?“, rief sie von der Diele. Rachel ging raus und Annika gesellte sich wieder zu den Jugendlichen. „Wer war das?“, fragte Emily. „Das waren Nanna und Anna-Lena, zwei Freundinnen meiner Schwester. Sie waren fürchterlich am weinen, aber wollten mir nicht sagen wieso und sie wollten auch nicht mit in die Küche kommen. Stattdessen haben sie mir gesagt, dass sie mit Rachel in ihrem Büro reden wollen“ „Das ist ja merkwürdig“, bemerkte Lotta, „Warum wollen die nicht mit uns reden?“ „Das werden wir gleich sehen“, sagte Annika und goss sich eine Tasse Kaffee ein. Emily flocht sich vor lauter Nervosität kleine Zöpfe in ihr schulterlanges Haar und kaute auf ihrer Lippe herum. „Ich bin mir sicher, dass Jazz bald gefunden wird. Vielleicht haben Nanna und Anna-Lena ein paar wichtige Hinweise“, legte ihr Mathilda die Hand auf den Unterarm. „Hm, aber wieso hätten sie dann so doll weinen sollen?“, machte Vivien ein skeptisches Gesicht.
„Die beiden Mädchen haben euch etwas zu sagen“, betrat Rachel die Küche. Sie hatte zwei Mädchen im Schlepptau, die um die elf Jahre herum alt sein mussten. Die Roten Siebenerinnen kannten Anna-Lena schon länger. Neben ihr stand ein Mädchen, das ungefähr drei Zentimeter kleiner war und wilde hellblonde Locken hatte, die ihr bis zur Schulter reichten. Dies musste Nanna sein. „Um zehn Uhr wollten Nanna und ich mein Pflegepferd von der Koppel holen, weil wir auf dem Reitplatz reiten wollten“, begann Anna-Lena stockend zu erzählen, „Kaum hatte ich Flora am Führstrick, raste ein Squad mit atemberaubenden Tempo an uns vorbei und leider war das Gatter noch offen. Jazz und ein weiteres Pferd erschraken sich so dermaßen, dass sie durch das Gatter auf die Straße stürmten. Wir konnten Snowflake einfangen, da sie nach hundert Metern stehen blieb. Doch Jazz entwischte uns“ Unzählige Tränen liefen dem dunkelhaarigen Mädchen über das Gesicht. „Ihr habt doch nicht mehr alle Tassen im Schrank!“, fauchte Emily zornig.
„Wir konnten nichts tun, Jazz galoppierte einfach davon und wir konnten ihn nicht mehr einholen, obwohl wir hinter ihm her rannten“, schluchzte nun auch Nanna los. „Es trifft nicht euch beide die Schuld, sondern den Fahrer des Squads“, redete Annika beruhigend die beiden jüngeren Mädchen ein. „Trotzdem hättet ihr Beiden viel eher bescheid sagen müssen“, sagte Rachel streng. „Uns war das so peinlich!“, weinte Anna-Lena, „Wir wollten ihn selbst wieder einfangen und sind stundenlang mit den Fahrrädern durch die Gegend gefahren, obwohl es saukalt war und wir nach fast fünf Stunden Hunger bekamen“ „Wir sind sogar bis nach Pfalzdorf gefahren, aber dann waren wir zu kaputt, um die Suche fortzusetzen“, schniefte Nanna. „Immerhin wurde Jazz nicht von der Weide gestohlen. Trotzdem muss ich die Polizei nun auf den neusten Kenntnisstand, weil sie in Richtung Diebstahl ermitteln“, ging Rachel zum Telefonieren ins Büro. Annika stand auf und redete leise und beruhigend auf die Mädchen ein, sodass ihre Tränen versiegten.
Annemieke und Mathilda hockten vor dem Drucker im Arbeitszimmer ihrer Eltern, der seit einigen Minuten auf Hochtouren lief. „Gerade einmal zehn Kopien hat das Ding geschafft“, söhnte Mathilda, „Und zwanzig weitere Exemplare müssen noch gedruckt werden“ „Das kann dauern und ich muss noch das Französischreferat für morgen fertig machen. Ich bin nicht mal bei der Hälfte und es muss bis morgen fertig sein. Manno man, ich bin manchmal so ein Trottel!“, rollte Annemieke mit den Augen und stöhnte dabei. „Ok, dann mach dein Referat fertig und ich kümmere mich weiter um die Vermisstenaushänge“, bot ihr Mathilda an. Annemieke verschwand in ihrem Zimmer, während Mathilda dem Drucker dabei zusah, wie er immer mehr Exemplare der Vermisstenmeldung ausspuckte. „Was wird das bitte?“, stand auf einmal ihr Vater stirnrunzelnd im Türrahmen. „Ehm, eine Vermisstenmeldung“, erwiderte sie leicht stotternd.
„Für wen oder was?“, wollte der skeptische Gesichtsausdruck ihres Vaters nicht weichen. „Emilys Pferd ist davon gelaufen. Daher machen wir Aushänge, die wir überall anbringen. Unsere Freundinnen hängen auch Vermisstenaushänge aus“, erklärte sie ihm. „Ok, ich verstehe“, nickte er und verließ das Zimmer. Auf der Ablage neben dem Schreibtisch ihrer Mutter fand sie eine volle Packung mit Klarsichtfolien. Sorgfältig begann sie die Ausdrucke in die durchsichtigen Plastikhüllen zu stecken. Dreißig Exemplare waren ganz schön ein dicker Stapel. „Da brauch ich eine große Tasche“, dachte sie und schlich in ihr Zimmer. Dort saß ihre Schwester am Schreibtisch, die über ihrem Referat brütete und noch nicht einmal vom Laptopbildschirm aufsah. Rasch griff Mathilda nach einer Umhängetasche mit roten Tulpen drauf, die eigentlich Annemieke gehörte. Gerade noch rechzeitig dachte sie an den Tesafilm, den sie in der Tasche verschwinden ließ. Leise wie eine Indianerin schlich sie die Treppe runter, zog ihre Schuhe und Jacke an und öffnete die Haustür.
„Mathilda, wo willst du hin?“, vernahm sie die scharfe Stimme ihrer Mutter. Mist, gerade im letzten Moment wurde sie doch noch erwischt. „Ich wollte nur mal eben frische Luft schnappen“, erwiderte sie ausweichend. „Das glaube ich dir nicht!“, stellte sich ihre Mutter ihr in den Weg, „Rein mit dir! Du gehst um diese Uhrzeit nicht mehr nach draußen. Morgen ist Schule und da musst du um Viertel vor Sieben aufstehen“ – „Bitte Mama, das ist wirklich dringend. Die Leute müssen so schnell wie möglich auf die Aushänge aufmerksam werden“ – „Das kann bis morgen warten!“ – „Nein, kann es nicht!“ – „Zieh deine Schuhe aus und mach dich bettfertig!“ – „Meine Güte, stellst du dich an! Ich bin spätestens in zehn Minuten wieder da“ – „Zehn Minuten heißt bei dir mindestens zwanzig Minuten und außerdem finde ich es ziemlich respektlos, dass du einfach kommst und gehst wie es dir in den Kram passt. Heute Mittag seid ihr Beiden nicht einmal zum Essen gekommen und habt noch nicht einmal Bescheid gesagt. Ich finde es gut, dass ihr für eure Freundinnen da seid, aber ich habe das Gefühl, dass bei euch die Familie und Schule dafür hinten anstehen. Ich habe den Eindruck, dass das euch nicht gut tut und bald eure Noten darunter leiden werden“ – „Weißt du was, manchmal wünsche ich mir, dass du öfters bei Oma und Opa bist. Dann kannst du uns nicht mehr auf den Zeiger gehen. Micky und ich sind sechzehn und nicht sechs, so wie du uns manchmal behandelst. Mir geht diese Familienidylle langsam wirklich auf den Zeiger. Kapiere endlich, dass wir unsere eigenen Wege gehen wollen. Also hör auf uns die ganze Zeit zu bemuttern und halt dich raus aus unserem Leben!“
Mathilda geigte ihrer Mutter ordentlich die Meinung und brüllte ihr die letzten beiden Sätze lautstark ins Gesicht. „Auf dein Zimmer!“, zeigte ihre Mutter mit dem Finger in Richtung Treppe. „Aber wir haben uns so viel Mühe gegeben und du willst das Alles kaputt machen“, versuchte Mathilda weinerlich zu klingen, was sich allerdings ziemlich merkwürdig anhörte. Fianna konnte auf Knopfdruck weinen, aber Mathilda besaß dafür nicht das notwendige schauspielerische Talent. „Hey, was ist den los?“, kam ihr Vater aus dem Wohnzimmer, „Kann man nicht einmal in Ruhe Fußball gucken, ohne dass ihr euch beiden ankeift?“ „Mathilda wollte um kurz nach zehn einfach abhauen“, klang ihre Mutter empört. „Warum stellst du dich so quer? Es ist gerade einmal kurz nach Zehn“, wandte sich ihr Vater an ihre Mutter. „Findest du das okay, dass unsere Töchter in der Dunkelheit nach zehn Uhr herum streunern?“, funkelte ihre Mutter ihren Mann böse an.
„Du hast aber auch Bedenken!“ – „Immerhin haben unsere Töchter morgen Schule und wenn sie nicht vor elf Uhr im Bett liegen, kommen sie am nächsten Morgen schwer aus den Federn“ – „Langsam kommen unsere Töchter in ein Alter, wo wir nicht mehr darüber entscheiden können, wie sie zu leben haben“ Na toll, jetzt stritten sich ihre Eltern nur ihretwegen. Nun war Mathilda wirklich zum Heulen zumute. „Ich gehe mit Mathilda eine Viertelstunde spazieren. Immerhin hat sie sich für ihre Freundin sehr viel Mühe und darf die Zettel auch jetzt schon aufhängen“, meinte ihr Vater. „Natürlich stehst du wieder auf der Seite des Kindes!“, fauchte ihre Mutter und trollte sich. „Danke Papa“, lächelte Mathilda matt und nahm ihren Vater kurz in den Arm.
Es war bereits halb zwölf, als Mathilda geduscht und in Schlafanzug ihr Zimmer betrat. Annemieke saß immer noch an ihrem Referat. „Bist du fertig?“, stupste sie ihre Schwester seicht an. „Du siehst doch, dass ich gerade das Fazit schreibe“, gähnte ihre Schwester und fügte hinzu, „Vorhin war Mama im Zimmer und hat geschimpft, dass ich das Referat auf den letzten Drücker mache“ „Mama ist heute aber richtig komisch drauf“, meinte Mathilda, „Ich habe mich vorhin auch mit ihr gefetzt“ – „Psst, nicht so laut! Nicht dass sie uns gleich noch einmal einen Einlauf verpasst, weil wir noch nicht im Bett liegen“ „Ich gehe jetzt wirklich pennen. Ich bin vom ganzen Wochenende hundemüde“, warf sich Mathilda gähnend auf ihr Bett und nickte kurz darauf ein.
Annemieke fielen auch fast die Augen zu und murmelte jedes Wort, welches sie auf ihre Powerpointpräsentation schrieb leise vor sich hin. Nun musste sie nur noch die Quellenangaben hinten dran hängen und dann war sie fertig. Mittlerweile war es schon zehn Minuten vor der Geisterstunde. „Shit!“, fluchte sie leise, schlüpfte rasch in ihren Pyjama und ging zum Zähneputzen ins Badezimmer. Glücklich kuschelte sie sich kurz nach Mitternacht in ihre Decke. „Matti, bist du noch wach?“, flüsterte sie, aber nur das leise gleichmäßige Atmen antwortete ihr. Als sie das Licht löschte fing ihr Handy an zu klingeln. „Hallo, hier ist Lily! Darf ich ein paar Minuten mit dir sprechen? Eigentlich wollte ich mit Manu reden, aber er geht gerade nicht an sein Handy und mir geht es gerade total beschissen“, vernahm sie Emilys verheulte Stimme. „Ja klar, wir können ruhig telefonieren“, erwiderte Annemieke. „Ich kann einfach nicht einschlafen, ich sterbe wegen Jazz vor Angst“ – „Oh ja, ich kann das nur zu gut verstehen. Weißt du, er kommt wieder, da bin ich mir ganz sicher“
Nun war auch Mathilda wach geworden. „Geh gefälligst zum Telefonieren raus!“, maulte diese ihre Schwester an. Annemieke schlich ins Gästezimmer, wo sie kurz in Ruhe telefonieren konnte. „Ich kann nicht mehr, mein Kopf ist wie leer radiert und ich muss morgen in der Schule eine Mathearbeit schreiben und ich weiß jetzt schon, dass ich sie verhauen werde. Was wäre, wenn Jazz etwas passiert ist oder er sogar tot ist?“, schluchzte ihre beste Freundin in ihr Handy. Annemieke hätte sich nicht gewundert, wenn ein paar Tränen aus ihrem Smartphone getropft wären. „Jazz ist ganz bestimmt nicht tot. - Kannst du dir nicht morgen ein Attest vom Arzt besorgen? Das würde ich an deiner Stelle machen und ich denke, jeder Arzt hätte dafür sogar Verständnis“, schlug sie Emily vor. „Stimmt, daran habe ich noch nicht gedacht. Ich glaube, ich lasse mich wirklich krank schreiben“ – „Weißt du, wir sind immer für dich da, wenn du jemanden brauchst und außerdem versuchen wir dir bei der Suche so gut zu helfen, wie wir nur können. Matti und Papa haben vorhin an mehreren Bushaltestellen, an der Bäckerei, an der Kirchentür, an der Apotheke, am Supermarkt und an sämtlichen Laternenpfählen die Aushänge angebracht. Ich bin optimistisch, dass dadurch viele Menschen aufmerksam werden und vielleicht hat jemand Jazz auch gesehen“ – „Danke, ich bin so froh, dass ich die liebsten und zuverlässigsten Freundinnen der Welt habe“ – „Kein Ding, dazu sind doch Freunde da. Können wir morgen weiter telefonieren? Ich muss dringend schlafen, zumal ich noch dieses blöde Referat halten muss. Gute Nacht!“ – „Gute Nacht, Süße und viel Glück beim Referat“ – Danke!“ Annemieke schlief schon fast im Gehen und merkte gar nicht mehr bewusst, wie sie sich in ihr Bett legte.
„Der Dupond hat sich richtig darüber aufgeregt, dass ich kein Handout dabei hatte und von meinen Folien abgelesen habe, anstatt frei vorzutragen. Letztendlich habe ich für den Vortrag nur eine Vier plus bekommen und das ist mit Abstand meine schlechteste Französischnote“, erzählte Annemieke in Gegenwart von Aylin und Vivien, als sich die Freundinnen in der zweiten großen Pause in der Cafeteria trafen. „Dafür dass du das Referat vorher nicht geprobt hast, war das noch gut“, meinte Fianna, „Ich hätte da wahrscheinlich eine Fünf oder gar ne Sechs kassiert“ „Außerdem brauchst du dir gar keine Sorgen machen“, stieß Mathilda ihren Zwilling an, „In den letzten beiden Arbeiten hattest du Einsen und die eine Vier ist daher nur ein Ausrutscher“ „Ich glaub auch, dass ich einfach zu wenig Schlaf nach der ganzen Aufregung hatte, da Emily mitten in der Nacht anrief und bitterlich am weinen war“, erzählte Annemieke. „Krass, ich fand, dass man ihr gestern die Panik und Aufregung nicht so stark anmerken konnte“, sagte Aylin. „Genau, sie wirkte sehr gefasst. An ihrer Stelle hätte ich wahrscheinlich geflennt ohne Ende“, meinte Vivien. „Ihr müsst immer bedenken, dass die äußere Fassade nicht immer die inneren Gefühle widerspiegelt. Gestern hat Emily ihre wahren Emotionen so gut es ging zurückgehalten“, äußerte sich Lotta dazu. „Trotzdem hat man sehr deutlich gesehen, dass sie ziemliche Angst und dass es ihr mies ging“, sagte Annemieke, die im Allgemeinen sehr viel Empathie für ihre Mitmenschen hatte und auch verborgene Anzeichen der Körpersprache lesen konnte.
„Habt ihr eigentlich die Zettel schon in eurer Umgebung aufgehängt?“, fragte Lotta in die Runde. „Da hat mir leider meine Mutter einen Strich durch die Rechnung gemacht“, schüttelte Fianna den Kopf. „Unsere Mutter beinahe auch, aber dann ist Papa noch eine Viertelstunde mit mir spazieren gegangen und so konnte ich die Zettel doch noch aufhängen“, erzählte Mathilda. „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, welchen Terz Mama gemacht hat. Sie war stinksauer und hat mich erstmal zehn Minuten runtergeputzt, da ich vergessen habe mich beim Mittagessen und Kaffeetrinken abzumelden. Ich habe mich doch entschuldigt und ihr erzählt, dass wir intensiv nach Emilys Pferd gesucht haben. Da kann man sowas in der Aufregung schnell vergessen, aber Mama ließ das nicht als Entschuldigung gelten“, ereiferte sich Fianna. „Typisch Mütter!“, grummelte Lotta, „Meine Mutter war Gott sei Dank dieses Wochenende mit ihrer besten Freundin in einem Wellnesshotel und kam erst um acht Uhr abends wieder“
„Wisst ihr, ich dachte, ich hätte strenge Eltern, aber manchmal scheinen eure Elter noch strenger zu sein als meine. Naja, meine Eltern sind in der letzten Zeit doch etwas gechillter geworden, da sie sehr viel mit ihrem neu eröffneten Kebabrestaurant zu tun haben und gar nicht so viel Zeit haben sich darum zu kümmern, ob wir alle pünktlich nach Hause kommen“, erzählte Aylin. „Sag mal, warum erzählst du uns nichts von dem Restaurant?“, stieß Mathilda sie an. „Naja, das Restaurant existiert erst seit einer Woche und groß prahlen wollte ich auch nicht“, meinte Aylin. „Das ist doch nicht prahlen“, entgegnete ihr Lotta, „Ich fände es total cool, wenn meine Eltern ein Restaurant hätten“ „Ich weiß nicht. Ich finde es irgendwie klischeehaft, dass meine Eltern zusammen mit einem Onkel einen Dönerladen neben dem Bahnhof eröffnet haben. Nach dem Motto: Türken können nur Döner machen“, sah Aylin ihre Freundinnen etwas skeptisch an. „So ein Blödsinn!“, wandte sich Mathilda an ihre Freundin, „Lass uns demnächst alle zusammen einen Döner essen gehen und vielleicht kriegen wir ihn sogar ermäßigt, wenn wir sagen, dass wir deine Freundinnen sind“
„He, ich war noch gar nicht fertig mit dem, was ich euch erzählen wollte und prompt lenkt ihr das Gespräch auf den Dönerimbiss von Aylins Eltern“, klang Fianna leicht empört. „Was brennt dir auf der Seele?“, wollte Annemieke wissen. „Wisst ihr, dass ich in den letzten beiden Monaten echt oft Stress mit meinen Eltern hatte? Wenn es noch lange so weiter geht, habe ich keine Lust mehr zuhause zu wohnen“, raunte Fianna leise. „Davon hast du uns nichts erzählt“, schüttelte Vivien den Kopf. „Soll ich die ganze Zeit rumjammern, dass meine Mutter dauernd Ärger macht“, erwiderte Fianna wie angefasst und erzählte, „Sie verdonnert mich jeden Abend zum Abwaschen und fordert, dass ich jeden Montag das obere Stockwerk sauge. Sie macht wegen meiner angeblich schlechten Noten Stress, obwohl ich in Französisch und Englisch letztens Zweien geschrieben habe. Ihrer Meinung nach hänge ich viel zu viel mit euch ab und bin für ihren Geschmack viel zu selten zuhause. Sie ärgert sich, dass Tom und ich mit unseren beiden volljährigen Cousins Netflix geholt haben und für ihren Geschmack zu viel vor der Glotze hängen. Nicht nur das: Zudem verbietet sie mir, dass ich mir eine zweite Reihe Ohrlöcher stechen lasse“
„Damit hatten meine Eltern kein Problem“, meinte Annemieke, die sich vor zwei Monaten zusammen mit Emily und Lotta sich ein paar weitere Ohrlöcher stechen ließ. „Wie kann man so kleinlich sein?“, wunderte sich Vivien, „Es ist doch jedermanns Sache, wie viele Ohrlöcher oder Piercings man hat“ „Ja eben!“, nickte Lotta und deutete auf den kleinen glitzernden Stecker an ihrer rechten Ohrmuschel. „Mama meint, das sähe unästhetisch aus, wenn man sich für einen Job bewirbt“, schnaubte Fianna. „Hä, aber viele haben entweder ein Tattoo oder ein Piercing“, meinte Mathilda. „Ja, versuch das mal meiner engstirnigen Mutter zu erklären, die es auch verwerflich findet, wenn sich jemand die Haare grün, blau oder pink färbt“, rollte Fianna mit den Augen. „Deine Mutter scheint wohl Lottas Mutter Konkurrenz zu machen“, warf Vivien prompt ein. „Wenn ich so höre, wie Fiannas Mutter drauf ist, dann ist meine Mutter dahingegen schon sehr gechillt“, sagte Lotta dazu. „Really?“, musste Mathilda unwillkürlich kurz auflachen. „Ja, also mit Mama habe ich momentan nicht so große Probleme wie ich es eine zeitlang mal hatte“, erwidere Lotta.
„Moment mal, ich habe eine Nachricht von Emily“, ließ Annemieke ihre Freundinnen aufhorchen. „Dann schieß los!“, konnte Lotta ihre Neugierde nicht länger zähmen. „Eine Spaziergängerin hat ein freilaufendes Pferd in der Ferne auf einem Acker bei Pfalzdorf gesehen. Kurz darauf hat sie bei Rachel im Büro angerufen“, erzählte Annemieke. „Weiß man, ob es sich um Jazz handelt?“, fragte Vivien. „Man ist sich nicht ganz sicher“, sagte Annemieke, „Andererseits liegt der Verdacht nahe“ „Konnte man ihn einfangen?“, wollte Aylin wissen. „Nein, das Pferd wurde nur aus der Entfernung gesichtet“, verneinte Annemieke. „Verdammt, dann war es vielleicht doch nicht Jazz gewesen!“, schlug Aylin die Augen nieder. „Denk doch mal nach“, sah ihr Lotta in die Augen, „Das wird Jazz gewesen sein, da sonst kein anderes Pferd seinem Besitzer entlaufen ist“ „Welche Farbe hatte das Pferd?“, hakte Vivien nach. „Braun mit einer schwarzen Mähne“, antwortete Annemieke, „Mehr ist noch nicht bekannt“ „Dann ist die Wahrscheinlichkeit sehr groß, dass es Jazz ist“, nickte Lotta überzeugt. Auf einmal gaben sich Lotta und Fianna einen Highfive.
„Was ist denn jetzt los?“, wunderte sich Mathilda. „Unsere Zettelaktion hat gefruchtet! Die Leute haben die aufgehängten Zettel gesehen und daraufhin hat sich eine Zeugin gemeldet“, sprudelte es aus Fianna heraus. „Vielleicht war es auch meine Posts auf Facebook, Twitter und Instagram, der die Leute aufmerksam gemacht hat. Überlegt mal, ich habe bestimmt über 200 Menschen in kürzester Zeit erreicht. Das ist sogar noch effizienter als die aufgehängten Vermisstenanzeigen“, ergänzte Lotta. „Jetzt spiel dich nicht mit deiner ollen Posterei auf irgendwelchen sozialen Netzwerken auf und tue so, als ob du die alleinige Heldin bist, Lotta! Wir haben alle einen Anteil daran, dass sich eine Frau bei Rachel gemeldet hat“, fuhr Mathilda aus der Haut. „So habe ich das nicht gemeint. Immer musst du alles missverstehen, Mathilda!“, zog ihre Freundin beleidigt einen Flunsch. „Und mir geht es auf die Nerven, dass du so wichtigtuerisch bist“, sah Mathilda sie finster an. „Chillt mal! Es bringt nichts, wenn wir uns jetzt noch gegenseitig anzicken. Wir haben alle den gleichen Anteil daran und wir müssen alle zusammenhalten. Emily braucht uns und zwar alle. Verstanden?“, redete Vivien ihren Freundinnen ins Gewissen und glättete die Wogen des aufkeimenden Streits.
Ungefähr zu der gleichen Zeit war Emily mit ihrer Tante im Auto auf der Landstraße unterwegs in Richtung Pfalzendorf. Plötzlich wurde Rachel langsamer und bog auf einen breiteren Feldweg ab und stoppte. „Hier will die Zeugin das Pferd gesehen haben“, hielt Rachel Ausschau. „Bist du dir sicher, dass Jazz wirklich hier gewesen ist?“, klang Emily noch nicht ganz überzeugt. „Doch, sie hat mir sogar diese Straße genannt“, sagte ihre Tante. Emily und Rachel stiegen aus und liefen am Rand eines Feldes entlang bis sie zu einem Hof kamen. „Da ist jemand auf dem Hof. Komm, wir fragen den Mann“, ging Rachel ohne zu zögern durch das Hoftor. „Dürfen wir überhaupt ein fremdes Grundstück betreten?“, raunte Emily leise, die sich leicht unwohl in ihrer Haut fühlte. „Ach was, Fragen kostet ja nichts“, meinte ihre Tante nur und steuerte auf den Mann mit der Schubkarre zu. „Guten Tag, uns ist ein Pferd entlaufen. Haben Sie einen braunen Hannoveraner in der Nähe Ihres Hofes gesehen?“, fragte Rachel ihn. „Öhm..“, musste der Fremde kurz überlegen, „Ja, ich habe schon heute morgen beim Bäcker gehört, dass ein Pferd aus dem Nachbarort ausgebrochen sein soll. Unser halbes Dorf weiß schon davon, aber ich habe Ihr Pferd leider nicht gesehen. Vielleicht ist es an der Straße entlang gelaufen, aber ich war die ganze Zeit bei den Kühen im Stall“
„Kennen Sie jemanden, der ein Pferd frei herumlaufen sah?“, fragte Rachel erneut. „Nein, aber wir wissen, dass ein Pferd frei herumläuft, weil ein Post auf Facebook die Runde macht und darauf sprach mich vorhin auch eine Bekannte an“ Nun traute sich Emily etwas zu sagen. „Ich habe noch ein paar Vermisstenmeldungen in der Handtasche. Könnten Sie die in der Umgebung aufhängen?“, bat sie den fremden Mann. „Das tue ich gerne“, nickte er. „Vielen Dank, das ist echt nett“, lächelte Rachel. „Kein Problem, ich werde Sie auf dem Laufenden halten, sobald ich mehr weiß“, sagte der Mann und verabschiedete sich von ihnen. Emily und Rachel gingen noch ein Stück in Richtung Wald. Mitten auf freier Flur setzte ein heftiger Schneeregen ein. „Ich will wieder zum Auto. Es bringt gar nichts, wenn wir bei diesem Wetter durch die Gegend stapfen, wobei ich hier noch nicht einmal Hufabdrücke sehen kann“, murrte Emily. „Es muss auch nicht sein, dass Jazz genau hier entlang gegangen ist, sondern nur in der Nähe aufgetaucht ist“, erwiderte ihre Tante darauf. „Rachel, können wir nicht zum Auto zurückgehen? Meine Zehen mutieren zu Eisklötzen“, sagte Emily mit Nachdruck. „Meinetwegen, das Wetter ist auch wirklich ungemütlich“, gab Rachel nach.
Um 20Uhr wurde bei Rachels Familie in der Küche zu Abend gegessen. Emily verspürte inzwischen einen großen Hunger. Zum Mittag hatte sie lediglich einen Teller Hühnersuppe herunter bekommen und seitdem hatte sie nichts mehr gegessen. Trotzdem kämpfte sie seit einer Viertelstunde damit ihr Brot zu essen, welche sie mit einem hart gekochten Ei belegt hatte. Abwechselnd starrte sie gedankenverloren auf die brennenden Kerzen des Adventskranzes und dann wieder auf ihr Handy. „Immer noch keinen Appetit, mein Mäuschen?“, sah Elfriede, die Oma von Sarah und Annika besorgt an. „Ja doch, ich bin hungrig“, nickte Emily und fügte hinzu, „Aber das Absurde ist, dass ich trotzdem nichts herunter kriege. Mein Magen ist wie zugeschnürt“ „Ich kenn das“, sagte Annika, „Das ging mir bei Mamas Unfall genauso“ Dann kehrte wieder Schweigen ein. Niemand hatte etwas zu sagen. Generell herrschte eine bedrückte Stimmung. Nur im Hintergrund lief das Radio. Als „Last Christmas“ losdudelte, stand Annika auf und stellte genervt das Radio aus.
„Ich möchte heute Nacht doch gerne hier übernachten“, sagte Emily schließlich, „Zuhause werde ich richtig am Rad drehen“ „Ok, dann rufe ich meine Schwester an. Sie wird Verständnis haben, dass du über Nacht bei uns bleibst“, ging ihre Tante zum Telefonieren in ihr Arbeitszimmer. „Anni, hast du ein Ladekabel für mich?“, sah Emily zu ihrer Cousine auf, „Mein Akku ist auf 5% geschrumpft“ „Komm mit, ich habe noch ein zweites Ladekabel. Bei der Gelegenheit können wir das Feldbett in meinem Zimmer aufbauen und das Schlaflager für dich herrichten“, stand Annika auf. Als Emily ihr die Treppe hinauf folgte, ploppten drei neue WhatsApp-Nachrichten von Lotta, Kiki und Nora auf. „Verdammt noch mal, ich habe keine Neuigkeiten von Jazz!“, stampfte Emily mitten auf der Treppe genervt auf. „An deiner Stelle würde ich das Handy ausmachen, wenn dich das so nervt“, drehte sich Annika zu ihr um. „Tue ich auch. Mein Handy ist eh schon fast tot“, brummte Emily. „Weißt du, wir machen uns einen ruhigen Abend, ok?“, legte ihr ihre Cousine kurz die Hand auf die Schulter.
Emily fühlte sich ein wenig schlecht, fast sogar schuldig, als Annika hin und her flitzte, um ihr Schlaflager herzurichten und dann in der Küche verschwand. Mit einem Tablett mit einer Kanne Tee, zwei Tassen und einem Keksteller mit weihnachtlichem Gebäck kam Annika mit roten Wangen wieder in ihr Zimmer. „Es tut mir leid, dass ich mich so faul auf das Sofa pflanze und dich alles machen lasse. Ich behandle dich gerade wie einen Bimbo“, sagte Emily betrübt. „Mach dir keinen Kopf! Mir würde es genauso elend gehen, wenn mein Pferd verschwunden wäre“, legte Annika tröstend den Arm um sie und schaltete den kleinen Fernseher neben dem Bücherregal an.
„Ich habe jetzt Netflix und wir können gucken, was wir wollen. Die Auswahl ist einfach riesig“, schnappte sich Annika die Fernbedienung. Die beiden Cousinen schauten eine Folge einer Serie nach der anderen. Irgendwann war Emily einfach nur noch müde und konnte kaum die Augen offen halten. „Ist es schlimm, wenn ich mich schon einmal hinlege?“, gähnte sie. „Na klar, leg dich hin“, nickte ihre Cousine, „Wenn es dich nicht stört, gucke ich noch zwei Folgen. Ich habe morgen erst zur dritten Stunde und muss erst um halb neun aufstehen“ „Mach das!“, grummelte Emily nur und wickelte sich in die Decke des Gästebetts ein, ohne sich den Schlafanzug anzuziehen, den Annika ihr hingelegt hatte. Emily hielt ihre Ohren gespitzt, doch die Stimmen aus dem Fernseher vermischten sich immer mehr zu einem Einheitsbrei und keine zehn Minuten später war sie eingeschlafen.
Spätabends klopfte es an der Tür. „Herein!“, murrte Annika und schaltete mit der Fernbedienung den Fernseher aus. Sie hasste es, wenn ihre Mutter kontrollierte, ob sie um halb zwölf im Bett lag. „Es hat doch tatsächlich gerade eine Frau angerufen und das 25 Minuten vor Mitternacht“, begann ihre Mutter zu erzählen. „Um was geht es?“, unterbrach Annika sie. „Die Frau erzählte, dass ihr und ihrer Schwester ein Pferd zugelaufen ist. Sie wollte mit dem Hund eine kleine Gassirunde drehen und da stand ohne Vorwarnung ein Pferd auf ihrem Hof. Es hatte ein Halfter um. Als die Frau einen Führstrick holte, stand es immer noch da. Es ging erstmal ein paar Schritte weg, als sie es einfangen wollte, aber dann ließ es sich von ihr in den Stall führen“, fuhr ihre Mutter fort.
„Mama, das kann doch nur Jazz sein oder?“, rief Annika aufgeregt. „So wie die Frau ihn beschrieben hat, ist es höchstwahrscheinlich Jazz“, nickte sie. Nun war auch Emily wach. „Was ist hier los?“, rieb sie sich die Augen. „Es hat sich eine Frau gemeldet, der ein Pferd zugelaufen ist. Ihrer Beschreibung nach, handelt es sich wahrscheinlich um Jazz“, beugte sich ihre Tante zu ihr runter. „Oh Rachel, wir müssen da ganz schnell hin. Ich bin auch schon angezogen und gleich bin ich startklar“, richtete sich Emily ruckartig in ihrem Bett auf. „Nun mal ganz ruhig. Wir machen uns gleich auf den Weg. Zum Glück hat Manfred den Pferdehänger an seinem Auto gelassen, weshalb ich gleich mit seinem Geländewagen dort hinfahre. Ihr könnt euch in Ruhe eure Jacken und Schuhe anziehen. Bloß keine Hetze um diese Uhrzeit“, redete Rachel ruhig auf die beiden Mädchen ein.
Trotz Mütze, Daunenjacke und Schal fror Emily leicht in dem geräumigen Geländewagen, obwohl Rachel die Heizung ordentlich aufdrehte. Acht Grad minus zeigte die Temperaturanzeige neben dem Lenkrad an. Das waren elf Grad weniger als am Tag. Es hatte auch ein wenig geschneit. Der Hof war mit einer hauchdünnen Schneeschicht bedeckt. Kaum als sie auf die Landstraße abbogen, fing es heftiger an zu schneien. Im Kegel der Scheinwerfer tanzten und wirbelten die Flocken durcheinander. „Mama, fahr lieber vorsichtiger, es könnte glatt sein“, gab Annika zu bedenken. „Mach dir da mal keine unnötigen Sorgen. Ich bin diesen Wagen schon öfter gefahren und das auch im tiefsten Schnee“, meinte ihre Mutter nur. Emily saß auf der Rückbank und sagte kein einziges Wort. Ihre Gefühle wirbelten genauso durcheinander wie die Schneeflocken.
In erster Linie überwog die Erleichterung, aber dann war da noch eine Angst im Hintergrund, dass das zugelaufene Pferd eventuell doch nicht Jazz war. Sie malte sich schon in Gedanken aus, wie sie den Hof erreichten, aus dem Auto stiegen, in den Stall geführt wurden und vor der Box mit dem zugelaufenen Pferd standen, dass leider doch nicht Jazz war. Mit einem Bedauern wandte sich die Frau an sie, dass es eine Verwechslung gegeben hatte. „Schluss mit solchen schwachsinnigen Gedanken!“, schalt sich Emily innerlich selbst. Ihr Kopfkino hatte dazu geführt, dass ihr beinahe schlecht wurde. „In 100m rechts abbiegen“, plärrte das Navi. Emily erlebte es zum ersten Mal, dass ihre Tante das Navi in der Umgebung von Freudenburg nutzte. Offenbar versuchte sie das Risiko zu minimieren, dass sie sich verfuhr. „Gleich sind wir da“, murmelte Rachel während sie den Wagen einen schmalen Waldweg entlang steuerte. Sie musste sich sehr konzentrieren nicht vom Weg abzukommen. Es hatte zwar fast aufgehört zu schneien, aber die Schneedecke war beachtlich angewachsen. „Hier war ich noch gar nicht“, sagte Annika überrascht. „Ich auch noch nicht, obwohl ich fast alle Reiterhöfe und Pferdehalter in der Umgebung kenne“, gab ihre Mutter zu. „Der Hof liegt aber wirklich sehr abgelegen“, meinte Emily. Kaum als sie das sagte, rollten sie auf den Hof. Zu Begrüßung sprang ein greller Scheinwerfer an und dann bellten ein oder zwei Hunde. Nun waren es fünf Minuten nach Mitternacht.
Zwei Personen kamen aus dem Haus, als sie zu dritt ausstiegen. „Hallo, wir werden auf euch gewartet“, kam eine junge Frau auf sie zu. Sie musste gerade einmal Anfang Zwanzig sein. Blonde Haarsträhnen lugten unter ihrer Strickmütze hervor. „Hallo, ich bin Luisa Schneider und das ist meine Schwester Andrea, die zwei Jahre älter ist“, gab sie ihnen die Hand. „Dann kommt mal, mit in den Stall“, sagte Andrea, die eine ungewohnt tiefe und männliche Stimme hatte. Emily musterte sie kurz. Andrea hatte die gleichen hellblonden Haare wie ihre Schwester, aber sie war fast einen Kopf größer, hatte breitere Schultern und ihre Gesichtszüge waren sehr kantig. War Andrea doch ein Mann? Emily traute sie nicht darauf anzusprechen, als sie zum Stall gingen.
„Hier wären wir!“, machte Luisa das Licht an. „Emily, da ist er!“, raunte Annika aufgeregt. Emily rannte los und ignorierte in dem Moment eine der wichtigsten Stallregeln. Nichts konnte sie aufhalten, als Jazz seinen Kopf aus der Box steckte. „Oh Jazz!“, hauchte Emily und umarmte seinen muskulösen Hals. Als sie ihr Gesicht in seiner dichten Mähne verbarg, begannen sich einige Tränchen aus ihren Augenwinkeln zu lösen. „Du bist bestimmt erleichtert, dass du dein Pferd wieder hast“, meinte Luisa. „Ja, das bin ich“, sagte Emily mit belegter Stimme. „Sag mal, weinst du, Lily?“, drehte sich Annika zu ihr hin. „Ja, mir ist gerade ein Stein vom Herzen gefallen, der so groß wie der Mount Everest ist“, schniefte Emily und zwang sich dann wieder sich zu beherrschen. „Dir ist schon bewusst, dass der Mount Everest der größte Berg der Welt ist“, bemerkte Rachel. „Ja klar, im letzten Erdkundetest gab es eine Zwei zurück“, musste Emily auf einmal grinsen. „What the fuck!“, lachte Annika kurz auf, „Ich dachte, Erdkunde und du, ihr werdet nie Best Friends“ „Aber sicher, man muss der armen Erdkunde doch mal eine Chance geben und sich mit ihr anfreunden“, scherzte Emily weiter, worauf es wieder kurz Gelächter gab. Als es fast halb eins war, blies Rachel zum Aufbruch, aber kurz davor lud sie Luisa und Andrea zu einem Kaffeetrinken zu sich auf dem Hof ein.
Bandenchronik im Januar
Das neue Jahr ist noch sehr jung, aber es ist schon immens viel passiert und vor allem auch positive Dinge:
Jetzt ist der Januar wieder vorbei und wir wünschen uns weitere spannende Monate. Demnächst werden auch die französischen Austauschschüler nach Freudenburg kommen und da wird garantiert keine Langweile auftauchen J
Dieses Buch widme ich all meinen treuen Leser und Leserinnen sowie allen, die mich dazu inspiriert haben dieses Buch zu schreiben. Ebenfalls widme ich dieses Buch allen Bandenmädchen und denen, die es im Herzen sind.
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Tag der Veröffentlichung: 16.09.2018
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