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Abschied vom Bandenleben

Es war sehr warm. Die Sonne bratzte vom Himmel herab und noch nicht einmal die kleinste Wolke war zu sehen. Hummeln und Bienen summten mit einer dunkelblauen Libelle um die Wette. Das Laub der Bäume raschelte in der seichten Sommerbrise. Reife und tiefrote Kirschen hingen am Kirschbaum. Unzählige Mücken schwirrten über der Wassertonne neben dem kleinen Gerätschuppen. Aylin, Fianna, Vivien und Emily hatten es sich auf vier Sonnenliegen im Schatten des Wohnwagens bequem gemacht und tranken Aylins selbst gemachten Eistee. Momentan war nicht viel los, da zumal Sommerferien waren und die Hälfte ihrer Bandenfreundinnen verreist war. „Kiki ist auf Rügen, die Zwillinge in Norwegen und Lotta in Ägypten“, zählte Emily auf. „Hier ist schon seit Wochen nichts los“, gähnte Fianna, die wegen der schwülen Luft ziemlich träge war.

 

„Klar, ein Bandentreffen kriegen wir in den Ferien nicht zustande“, meinte Aylin, „Immer ist eine von uns nicht da“ „Das wird sich bald ändern“, versuchte Vivien ihre Freundinnen aufzumuntern, „In anderthalb Wochen sind die Ferien sowieso vorbei“ „Aber dann ist Lotta ab Anfang September in den USA, Kiki wohnt immer noch in Mainz und ich ziehe mit meinem Freund zu seinem Vater nach Kaiserslautern“, gab Emily zu Bedenken. „Na Super, die ganze Bande zieht auseinander“, machte Fianna ein langes Gesicht, „Und Lotta kriegen wir ein ganzes Jahr nicht mehr zu Gesicht“ „So ist das Erwachsenwerden halt“, seufzte Aylin, „Wir verändern uns, die Lebensumstände ändern sich und unsere Wohnorte“ „Ihr habt Recht, das Erwachsenwerden ist nicht gerade leicht“, murmelte Vivien.

 

„Wusstest ihr eigentlich, dass die Piranhas ihre Bande aufgelöst haben?“, schnitt Emily ein neues Thema an. „Waaas?“, machten Fianna und Aylin große Augen. „Hab ich nur beiläufig erfahren“, fuhr Emily fort, „Vor einer Woche habe ich Michael beim Einkaufen getroffen, da hat er mir es erzählt“ „Fühlten sie sich zu erwachsen?“, hakte Vivien nach. „Ömer geht demnächst mit seiner Familie in die Türkei zurück und die anderen Jungs hatten anscheinend keine Lust mehr auf den ganzen Bandenkram“ „Ich kann es bis zu einem gewissen Grad verstehen“, meinte Aylin, „Langsam sind diese Bandenaktionen ziemlich ausgelutscht und wenn wir nach den Sommerferien in die Oberstufe kommen, haben wir eh kaum Zeit für den Bandenkram“ „Befürchtest du eine Bandenflaute?“, funkte Fianna dazwischen. „Genau, das ist es“, nickte ihre beste Freundin, „Seit dem Campingurlaub am Sterntalersee ist hier gar nichts mehr los“ „Sag mal, Aylin, seit wann bist du eigentlich scharf auf Abenteuer?“, räusperte sich Emily.

 

„Hm, ein wenig Action ist immer noch besser als endlose Langweile“, erwiderte Aylin verlege„Aber es sind doch Ferien, da haben wir uns nie so häufig getroffen“, erinnerte Fianna sie. „Das war doch in den Monaten zuvor auch schon zu“, beharrte Vivien, „Als die Hälfte von uns in Frankreich war oder die Franzosen hier zu Besuch waren. Ich habe seit Längerem das Gefühl, dass wir keine ernstzunehmende Bande mehr sind, da wir uns nur noch zum Kaffeeklatsch treffen und keine ernstzunehmende Feinde oder Konkurrenten haben, gegen die wir uns behaupten müssen“ „Das wird sich schon wieder geben“, war Fianna überzeugt, „Spätestens wenn Micky und Matti wieder da sind, ist wieder mehr Leben in der Bude“ „Die Zwillinge allein reichen nicht aus, wenn Lotta und Emily nicht mehr da sind und eine Bande, die sich nur alle paar Monate trifft, macht keinen Sinn“, widersprach ihr Aylin.

 

In der stickigen Hitze nickten die Freundinnen nach und nach ein. Erst als gegen Abend ein Gewitter aufzog wurde Emily wach. In der Ferne grummelte es bereits. „Lass uns in den Wohnwagen gehen“, rüttelte sie Aylin wach. „Was ist denn los?“, öffnete sie verschlafen ein Auge und wischte ihre schwarzen Locken aus ihrem Gesicht. „Ein Gewitter zieht auf, merkt ihr das nicht?“, sagte Emily ungewollt laut. „Oh je, der Himmel ist schon ganz schwarz“, schreckte Fianna neben ihr hoch. Eine heftige Windböe riss den gelben Sonnenschirm um, der fast auf den Kaninchenauslauf fiel. Gerade als die Mädchen im Wohnwagen waren und alle Sachen im Schuppen verstaut hatten, begann es zu tröpfeln. „Puh, das war gerade noch rechtzeitig“, kommentierte Aylin mit einem Blick aus dem Fenster. Wieder grummelte es, aber diesmal lauter und länger. „Es sieht aus, als ob es gleich anfängt“, murmelte Vivien, „Dass es bei dem Wetter noch etwas gibt, war abzusehen“

 

Bereits seit einer Woche war es jeden Tag über dreißig Grad und die Luftfeuchtigkeit lag mindestens so hoch wie in den Tropen. Plötzlich klingelte Emilys Handy. „Hi, hier ist Emily“, meldete sie sich. „Hi, ich bin’s Kiki!“, konnten die anderen Mädchen mithören. „Hi Kiki, was gibt es Neues bei dir?“, fuhr Emily fort. „Ich bin gerade am Kap Arkona und wie geht es dir und den anderen Mädels?“, erwiderte Kiki. „Uns geht es allen ganz gut“, sagte Emily, „Nur die Hälfte von uns ist im Urlaub“ „Prima, seid ihr noch öfter im Schrebergarten?“ „Na klar, wir müssen uns um die Kaninchen kümmern“, bejahte Emily, „Außerdem werden wir demnächst die Kirschen und die Johannisbeeren ernten“

 

Ein Blitz erhellte den Wohnwagen für einen Bruchteil einer Sekunde, kurz darauf krachte ein ohrenbetäubender Donner. Draußen begann es in Strömen zu gießen. „Der Grund weswegen ich anrufe, ist ein anderer“, sprach Kiki weiter, „Ich habe mir in letzter Zeit sehr viele Gedanken gemacht“ „Worüber denn?“, konnte Emily ihre Neugierde nicht länger in Zaum halten. „Dass wir unsere Bande auflösen“, sagte Kiki. „Ist das dein Ernst?“, rief Fianna, die alles mithören konnte. „Lotta wird für ein Jahr in San Fransisco sein und du, Emily, du ziehst doch auch weg. Da ich seit fast zwei Jahren nicht mehr bei euch wohne, weiß ich, wie schwer es ist, sich regelmäßig zu sehen und langsam finde ich, dass eine Bande nicht mehr unserem Alter entsprechend ist. Wir sind alle sechzehn oder siebzehn, da haben wir ganz andere Dinge zu tun, als uns mit dem Bandenkram herumzuschlagen. Da wir jetzt in der Oberstufe sind, wird die Schule uns immer mehr herausfordern“ „Du hast Recht, Kiki“, nickte Emily, „Wir sind langsam zu alt dafür und die Zeit dazu haben wir auch nicht mehr, zumal ich meine Ausbildung beginne“

 

Während Emily mit Kiki telefonierte, sahen sich Aylin, Fianna und Vivien schweigend an. Draußen blitzte es wieder. Das Unwetter war nun im vollen Gang. „Sie wollen die Bande auflösen“, hatte Fianna mit einem Mal Tränen in den Augen. „Ach komm schon, wir werden für immer beste Freundinnen bleiben, daher brauchst du nicht traurig sein“, nahm Aylin sie in den Arm. „Ist die Bande jetzt aufgelöst oder nicht?“, bohrte Fianna, nachdem Emily das Telefonat beendet hatte. „Jetzt doch noch nicht“, schüttelte ihre Freundin den Kopf, „Lotta und die Zwillinge wissen davon noch nichts, daher müssen wir sie darüber in Kenntnis setzen“ Mit einem Mal holten die Freundinnen gleichzeitig ihre Smartphones hervor und schrieben im Gruppenchat was das Zeug hielt.

 

Vivien: Wusstet ihr, dass Kiki die Bande auflösen will? (18:11)

Annemieke: Wann hat sie das gesagt? (18:18)

Emily: Gerade eben, als ich mit Kiki telefoniert habe (18:20)

Mathilda: Das kann doch nicht ihr Ernst sein! (18:22)

Aylin: Doch, sie meint es völlig ernst (18:23)

Fianna: Es ist jammerschade! (18:24)

Mathilda: Dito Carrot, ich schließe mich deiner Meinung an (18:34)

Annemieke: Bis zu einem gewissen Grad kann ich es verstehen, wenn bald drei Bandenschwestern von uns nicht mehr vor Ort sind, macht das Bandendasein keinen Sinn mehr (18:37)

Kiki: Hoffentlich reißt ihr mir nicht den Kopf ab, dass ich mich so entschieden habe, aber unsere Bande bringt nichts mehr, wenn wir uns nicht mehr regelmäßig treffen können (18:48)

Emily: Tja, wir werden älter und haben andere Dinge zu tun (18:51)

Mathilda: Och Mensch, Erwachsenwerden ist echt doof! Ich werde die lustige und aufregende Zeit mit euch vermissen (18:56)

Emily: Dass wir unsere Bande auflösen, bedeutet nicht, dass wir nicht mehr miteinander befreundet sind (19:01)

Fianna: Wenn wir die Rote Sieben schon auflösen, müssen wir den Abschied vom Bandenleben gebührend feiern (19:03)

Vivien: Dann am besten kurz vor Lottas Abreise (19:04)

Lotta: Sry, dass ich mich erst jetzt melde (19:26)

Mathilda: Hi Lotta, was sagst du dazu? (19:30)

Lotta: Ich respektiere Kikis Entscheidung und ich muss sagen, dass wir langsam aus dem Bandenalter raus sind (19:32)

Kiki: Okay, dann müssen wir nur das Abschiedsfest planen (19:37)

 

An einem Spätsommerabend traf sich die Rote Sieben zum letzten Mal. Inzwischen hatte die Schule wieder begonnen und Lotta würde in der nächsten Woche ihre Reise in die USA antreten. Dass alle Bandenmitglieder heute Abend im Schrebergarten versammelt waren, hatte mehrere Gründe: Es war der letzte Abend als Bande, zugleich Lottas Abschiedsfest und die Zwillinge feierten ihren siebzehnten Geburtstag nach. Emily und die Zwillinge hatten ein Grillen auf die Beine gestellt und Lotta brachte einen großen Krug Erdbeerbowle von zuhause mit. „Man, wie ich diese Zeit vermissen werde“, sagte Mathilda, als sie die beiden Biertische aufbauten, die sie sich von Michael geliehen hatten.

 

„Nicht nur du“, seufzte Fianna traurig, „Der Zusammenhalt wird mir fehlen und dieses Gefühl, dass wir wie eine Familie sind“ „Das werden wir auch weiterhin sein, Fianna! Wir sind die acht besten Freundinnen, die es jemals gegeben hat, egal mit oder ohne Bande“, legte ihr Emily den Arm auf die Schulter. „Ich versuche mir es gerade vorzustellen, wie es ein Jahr ohne euch sein wird“, murmelte Lotta, „Obwohl ich mich manchmal mit euch gezankt habe, ihr werdet mir bestimmt fehlen“ „Nun blast doch kein Trübsal, Mädels!“, mischte sich Annemieke ein, „Heute soll noch mal gefeiert werden“ „Dafür bin ich auch“, nickte Kiki. Emily zündete den Grill an. Dunkle Rauchschwaden stiegen in den Himmel empor. Lotta stellte ihre Lautsprecherboxen auf den Tisch, an die sie ihr Handy angeschlossen hatte.

 

Da es inzwischen September war, wurde es relativ früh dunkel und die Luft kühlte sich schlagartig ab, sodass die Mädchen ihre Jacken anziehen mussten. Abwechselnd standen die Mädchen am Grill und brieten Würstchen, Steaks und Maiskolben. Zudem gab es zahlreiche Salate und Baguettes. Anstatt traurig zu sein, redeten die Bandenmädchen über die letzten viereinhalb Jahre. „Was war eigentlich euer schönster Moment als Rote Sieben?“, fragte Lotta in die Runde. „Für mich war es der schönste Moment, als wir zusammen auf Henriettes Reiterhof an der Ostsee waren“, sagte Emily sofort. „Es gab viele schöne Momente“, dachte Annemieke halblaut nach, „Ich weiß gar nicht, was ich alles nennen soll. Auf jeden Fall waren unsere Klassenfahrt in der sechsten Klasse, das Western Camp, die Kanufahrt mit unserer Klasse, der Reiturlaub und unsere Reise in die Alpen toll“

 

„Wisst ihr, ihr seid meine ersten richtigen Freundinnen, die ich gefunden habe“, strahlte Vivien. „Das ging mir nicht anders“, stimmte Aylin ihr zu, „Ich war zuvor auch eine Außenseiterin“ „Gerade du hast dich aus einer kleinen schüchternen Maus in einen wahren Tiger verwandelt, Aylin!“, klopfte ihr Kiki auf die Schulter. Annemieke kramte ein großes Fotoalbum hervor, welches sie mit den Photos aus den letzten Jahren beklebt hatte. Zudem hatte sie Kinokarten, Postkarten, ein paar Lieblingsrezepte der Mädchen, ein paar Schweifhaare ihrer Lieblingspferde, getrocknete Blumen und Basteleien mit hinein geklebt. „Micky, du hast dir echt Mühe gegeben!“, war Lotta ganz beeindruckt. Auf der ersten Seite war ein Photo vor dem Schullandheim während ihrer Klassenfahrt in der sechsten Klasse. „Oh mein Gott, waren wir damals jung!“, staunte Fianna. „Und wie wir aussehen!“, kicherte Annemieke los, „Matti und ich waren damals noch richtige Wuschelköpfe“ „Das seid ihr immer noch“, stupste Lotta sie an. „Hey, das will ich nicht gehört haben“, gab Mathilda mit gespielter Empörung zurück. „Damals trug ich noch ellenlange Indianerzöpfe“, zeigte Kiki auf ein zierliches Mädchen mit einer roten Wollmütze auf dem Bild.

 

„Ich war immer schon die Kleinste gewesen“, murmelte Aylin, „Ich bin nun mal nicht größer geworden als 1,57m“ „Macht nichts! Dafür bist du klein, aber oho!“, legte ihr Mathilda die Hand auf die Schulter. „Aber dafür bin ich nicht mehr die Größte, denn ich bin ab vierzehn nicht mehr gewachsen“, sagte Emily. Inzwischen war Lotta mit 1,76m die Größte der Bande und Emily war genau zwei Zentimeter kleiner. „Wisst ihr, wie wir die Jungs damals gehasst haben?“, erinnerte sich Kiki. „Klaro, ich hätte mich eine zeitlang jeden Tag mit ihnen geprügelt“, nickte Mathilda, „Zumal die Fischköppe in der Schule ihren eklig fischigen Geruch verbreitet haben und ganz schön frech sein konnten“ „Oh ja, sie haben uns ganz schön geärgert“, stöhnte Aylin auf, „Immer diese ganzen Schmährufe und Spötteleien“ „Aber wir haben immer dagegen gehalten und oftmals waren wir die Klügeren“, sah Mathilda sie an. „Hey, können wir in der Bandengeschichte ein paar Schritte überspringen?“, mischte sich Vivien ein, „Ich will endlich auch mal mitreden“

 

Es wurde ein schöner Abend. Die Mädchen tauschten kleine Geschenke untereinander aus, lachten, alberten herum wie früher und hörten ihre Lieblingslieder. Vor allem erinnerten sie sich an die schönen und nicht so schönen Momente, die sie gemeinsam als Rote Sieben hatten. Da es ihnen draußen zu kalt wurde, verzogen sich gegen elf in den Wohnwagen. Um eins fielen Vivien und Fianna fast die Augen zu und die Zwillinge gähnten bei jedem zweiten Wort. „Macht mal alle eure Armbänder ab“, forderte Kiki ihre Freundinnen auf. „Warum denn das?“, sah Vivien sie groß an. „Ich habe einen Samtbeutel mitgebracht, in dem wir alle Armbänder rein tun“, erwiderte sie. „Und wer soll ihn kriegen?“, hakte Mathilda nach. „Ich habe mir gedacht, dass der für Lotta ist, da sie uns ein ganzes Jahr nicht sehen wird“, meinte Kiki, „Dann hat sie uns quasi immer parat, auch wenn es nur unsere Armbänder sind“ „Das ist aber lieb von euch“, lächelte Lotta, „Vielleicht lindert es meine Sehnsucht nach euch“ „Wollen wir nicht langsam gehen?“, gähnte Aylin, „Ich bin hundemüde“

 

Draußen vor der Tür musste Lotta doch noch ein paar Tränen verdrücken. „Ich werde die tolle Zeit als Bande mit euch nie vergessen“, schniefte Annemieke los, die ihre Augen mit einem Taschentuch betupfte. Als die Bandenmädchen sich zu einer minutenlangen und innigen letzten Bandenumarmung zusammenfanden, blieb kein Auge trocken. Jetzt flossen die Tränen, die sie sich vorher verkniffen hatten. „Hey, jetzt ist aber Schluss mit der Gruppenheulerei!“, hob Kiki ihren Kopf, „Wir sind immer noch gute Freundinnen und uns wird niemand trennen!“ „Immerhin können wir uns jetzt als Ex Rote Siebenerinnen bezeichnen“, schwang ein wenig Stolz in Mathildas Stimme mit. „Und einmal im Jahr werden wir immer noch ein Bandentreffen der Ex-Roten-Siebenerinnen auf die Beine stellen“, nahm sich Kiki vor. Nachdem sie sich verabschiedet hatten, machte sich jede auf den Weg nach Hause und in ihr eigenes Leben.

1. Emily – Nachfolgerinnen der Roten Sieben

 Gedankenverloren schaute Emily aus dem Fenster und rührte dabei ihren Milchkaffee um. Außer ihr war noch niemand zuhause. Manuell hatte Basketballtraining und sein Vater war auf der Arbeit. Emilys eigentliches Zuhause war zu weit, sodass sie sich eben auf ihren Motorroller schwingen. Hier in Kaiserslautern hatte sie erst zwei neue Freundinnen gefunden, einmal Katharina und dann Verena. Trotzdem war alles so weit weg, ihre Mutter, ihr Vater, ihre Freundinnen und ihr Pferd Jazz. Manchmal kam sich ein wenig einsam und abgeschieden vor. Vor allem vermisste sie ihr Pferd und ihre besten Freundinnen Annemieke und Lotta. Da Emily sich nicht mehr täglich um Jazz kümmern konnte, hatte sie eine Reitbeteiligung für ihn gesucht. Nanna hieß das Mädchen, welches sich um ihn kümmerte und ihn ritt. Zudem war sie eng mit ihrer Cousine Sarah und deren Freundinnen befreundet. „Eigentlich könnten wir Sarah und ihrer Bande den Wohnwagen als Bandenquartier zur Verfügung stellen“, kam ihr der Gedanke.

 

Ihre Cousine und ihre Freundinnen waren in der letzten Zeit viel vernünftiger geworden und waren nicht mal halb so frech wie früher. Wenigstens könnte sich wieder jemand um die Beete und die Kaninchen kümmern. Immerhin kamen die Zwillinge und Fianna manchmal zu ihrem früheren Bandenquartier, um nach dem Rechten zu sehen und die Kaninchen zu versorgen. Emily wünschte sich sehnlichst, dass wieder mehr Leben im Wohnwagen einkehren würde. Was hatten ihre Freundinnen und sie dort für eine schöne Kindheit und Jugend verbracht! Freitagnachmittag war immer festes Bandentreffen und auch zwischendurch trafen sich die Freundinnen privat. Dort hatten sie ne Menge Spaß gehabt, Tränen gelacht, sich gegenseitig geneckt, Streiche ausgeheckt, Süßkram in sich hineingestopft, sich manchmal gestritten und auch ab und an geweint. Natürlich kümmerten sie sich um die Kaninchen und den Garten, ernteten das Obst und das Gemüse.

 

Um kurz vor sechs Uhr kam sie auf die Idee bei Sarah anzurufen. „Hallo Rachel, kann ich kurz Sarah sprechen?“, meldete sie sich, als ihre Tante den Hörer abnahm. „Moment, ich bringe das Telefon in ihr Zimmer“, sagte Rachel. „Hallo, hier ist Sarah“, meldete sich eine hohe Stimme. „Hi Sarah“, begrüßte Emily ihre zwölfjährige Cousine. „Wieso rufst du jetzt an?“, wollte ihre Cousine wissen. „Ich habe gehört, dass ihr noch kein richtiges Bandenquartier habt“, begann Emily, „Deswegen habe ich mir gedacht, dass wir den Wohnwagen inklusive den Schrebergarten euch überlassen können. Ich habe den Eindruck, dass ihr alt genug seid, für den Wohnwagen, den Garten und die Kaninchen Verantwortung zu übernehmen“ „Natürlich sind wir das! Ich kann gar nicht glauben, dass uns den Wohnwagen schenkst! Danke Emily, du bist die Beste!“, rief Sarah, die am anderen Ende der Leitung vor Freude platzte.

 

„Schenken ist zu viel gesagt, aber ihr dürft den Wohnwagen gerne als Bandenquartier benutzen, zumal wir kaum noch Zeit haben, um dort nach dem Rechten zu sehen. Versprecht mir, dass ihr den Garten gut in Stand haltetet, den Wohnwagen sauber hält und die Kaninchen versorgt. Ich werde in regelmäßigen Abständen immer wieder im Wohnwagen vorbei schauen. Sehe ich, dass dort etwas nicht in Ordnung ist, nehme ich euch die Schlüssel ganz schnell wieder weg“, fuhr sie mit ernster Stimme fort. „Keine Sorge, wir geben schon unser Bestes“, versprach Sarah, „Schließlich ist es eine Ehre für uns“ „Die Schlüsselübergabe ist übrigens Samstagnachmittag, da ich das Wochenende bei Mama sein werde“, sagte Emily. „Okay, ich richte es meinen Freundinnen aus. Bis bald!“, verabschiedete sich Sarah. Nach dem Telefonat schrieb Emily ihren Freundinnen von der bevorstehenden Schlüsselübergabe.

 

„Geht voll klar, momentan ist eh keine von uns mehr regelmäßig im Schrebergarten“, schrieb Kiki einen kurzen Moment später zurück. „Trotzdem schade, dass wir unser geliebtes Bandenquartier so aus der Hand geben“, kam kurz darauf Mathildas Nachricht rein. „Einen Schlüssel werde ich noch behalten, daher können wir uns irgendwann noch mal im Wohnwagen treffen“, antwortete Emily, der einfiel, dass die Zwillinge und Fianna ihre Schlüssel noch nicht bei ihr abgegeben hatten. „Ich finde es in Ordnung, dass wir den Wohnwagen den jüngeren Mädchen hinterlassen, da ich momentan wegen des Filmdrehs eh kaum Zeit habe“, gab Fianna ihr Statement ab. Ihre Freundin Fianna wurde erst vor paar Wochen bei einem Filmcasting für eine Nebenrolle bei einer Vorabendserie angenommen. Emily und die anderen Roten Siebenerinnen hatten sich riesig für sie gefreut und waren mit ihr zur Eisdiele gefahren, um den Triumph zu gebürtig zu feiern.

 

Obwohl es kurz nach Mitternacht war, konnte Emily immer noch nicht einschlafen. Obwohl sie sich dauernd hin und her wälzte, war sie immer noch nicht müde. War es ein Fehler den Wohnwagen Sarah und ihrer Bande zu überlassen. Bereits seit zwei Wochen plante Emily den Wohnwagen ihrer Cousine zu überlassen, weswegen sie letztens die Schlüssel für den Schrebergarten von ihren Freundinnen eingesammelt hatte. Fianna und die Zwillinge sollten die Schlüssel vorerst behalten, damit sie die Kaninchen versorgen konnten. Emily setzte sich im Bett auf und knipste die Nachttischlampe an. War das Ganze doch ein großer Fehler? Nun war es nicht mehr rückgängig zu machen. Auf gar keinen Fall wollte sie ihr Versprechen gegenüber ihrer Cousine brechen, die in letzter Zeit viel freundlicher und vernünftiger geworden war. Während ihre Gedanken Karussell fuhren, starrte Emily ununterbrochen das Foto auf ihrem Nachtisch an. Ein roter Bilderrahmen zierte das Bandenfoto, welches sie ganz am Anfang ihrer Bandenzeit aufgenommen hatten, als der Wohnwagen ganz neu war und sie Vivien noch nicht einmal kannten. Emily konnte immer noch nicht glauben, wie schnell die Zeit ins Land ging. Aus Kindern waren inzwischen junge Frauen geworden, von der jede mittlerweile sein eigenes Leben lebte.

 

Emily bedauerte es insgeheim, dass sie sich immer mehr auseinander lebten und sich nicht mehr jeden Tag sahen. Die Auflösung ihrer Bande war nun gut drei Wochen her und es fühlte sich bereits jetzt schon an, als gäbe es die Rote Sieben seit Jahrzehnten nicht mehr. Am nächsten Freitag saß Emily im Zug, sogar ihr Fahrrad hatte sie dabei, um in Freudenburg mobiler zu sein. Ihren Freund hatte sie diesmal zuhause in Kaiserslautern gelassen. Immerhin war es genau neunzehn Tage her, dass sie in die Bahn gestiegen war und nach Kaiserslautern gefahren war. Aylin, Vivien, Fianna und die Zwillinge hatten ihr einen großen Abschied bereitet und sogar ein Plakat gestaltet. Der nächste Halt wurde angekündigt. Nur noch eine Station trennte sie noch von ihrer geliebten Heimat. Am meisten freute sich Emily, dass die Zwillinge sie vom Bahnhof abholen wollten. Wenig später tauchten draußen die ersten Wohnsiedlungen von Freudenburg auf, die ihr sehr bekannt vorkamen und ganz in der Ferne konnte sie Rachels Reiterhof ausmachen. Gerade als Emily ihren MP3-Player in ihrer Hosentasche verstaute, kam der Zug zum Stehen. „Endlich wieder zuhause!“, sagte sie in Gedanken zu sich selbst.

 

„Hi Lily, hier bin ich!“, hörte sie jemanden rufen. Überrascht drehte sie sich um. „Hi, du bist es!“, schob sie ihr Fahrrad in Annemiekes Richtung. Lachend fielen sich die beiden Freundinnen in die Arme. „Meine Güte, wann habe ich dich das letzte Mal gesehen?“, strahlte Emily über beide Backen, als sie ihrer Freundin in die hellen blaugrauen Augen schaute, die vor Freude leuchteten. „Das waren schon mindestens schon hundert Jahre her oder sogar noch vor der Eiszeit“, witzelte Annemieke. „Wo hast du deine Schwester gelassen, Micky?“, wollte Emily wissen. „Tut mir leid, dass sie heute nicht kann, sie ist gerade in der Zahnklinik und bekommt ihre Weisheitszähne gezogen. Morgen wird sie auch nicht dabei sein“, erwiderte Annemieke. „Arme Matti, sie tut mir schon jetzt leid“, bedauerte Emily, „Sie wird bestimmt noch Tage lang Hamsterbacken haben“ Bevor die beiden Freundinnen sich noch länger fest quatschten, schwangen sie sich auf ihrer Fahrräder und fuhren in Richtung Wohnwagen. Annemieke hatte einen großen Anhänger an ihrem Fahrrad befestigt, um nachher Gegenstände aus dem Wohnwagen mitnehmen zu können.

 

„Hallo Hanni, Hallo Nanni“, flötete Emily, als sie auf den Kaninchenstall zu lief. Ihre beiden ehemaligen Bandenmaskottchen hatte sie drei Wochen lang nicht gesehen. „Sie sehen wohlgenährt aus“, stellte sie zufrieden fest. „Kein Wunder, ich war erst vorgestern hier und habe ihnen unsere Gemüseabfälle mitgebracht“, meinte Annemieke, die gerade Nanni auf dem Arm hatte, während Emily Hanni einfing. „Endlich ein Hauch von Bandenleben in der Luft“, seufzte Emily und schloss die Augen. „Ich vermisse die alten Zeiten auch schon“, meinte ihre Freundin, „Aber wir werden nun mal erwachsen und bauen unser eigenes Leben auf, deshalb müssen wir auch loslassen können, egal wie wunderbar die Zeit als Rote Sieben war“ „Da hast du Recht, wir werden nicht jünger“, pflichtete Emily ihr bei, „Obwohl ich manchmal wünschte, wir wären wie Peter Pan“ „Hm, du erinnerst mich an etwas“, dachte Annemieke halblaut nach, „Weißt du noch als wir uns in der sechsten Klasse aus Apfelsaft und Waldmeister einen Zaubertrunk gemixt haben, damit wir nie erwachsen werden?“ „Ja, jetzt erinnere ich mich“, musste Emily kurz lachen, „Das war natürlich Kikis Idee, die damals gewollt hatte, dass wir für immer Kinder bleiben und nie Interesse am anderen Geschlecht entwickeln“

 

„Offenbar hat der Trunk seine Wirksamkeit verloren“, grinste Annemieke breit, „Aber was soll’s, das Leben geht weiter und steht noch vor weiteren Herausforderungen“ Als die Mädchen den Kaninchenstall ausgemistet hatten, machten sie es sich im Wohnwagen bequem. Annemieke machte ihnen zwei Tassen Ostfriesentee und holte eine Packung Cookies aus ihrer Umhängetasche. „Hier ist es irgendwie leer“, fand Emily. „Kein Wunder! Fianna, Aylin und co haben schon einige Sachen mitgenommen“, meinte Annemieke und entblößte ihren Unterarm. „Was ist das denn?“, rief Emily, „Ist das echt oder nur Henna?“ „Ich wusste, dass ich dich schocken werde. Ja, das ist echt und ich habe es mir vor zehn Tagen stechen lassen“, lachte ihre Freundin. Emily starrte ununterbrochen auf den geschwungenen Schriftzug auf Annemiekes Handgelenk. „Ich hätte nie gedacht, dass du dir ein Tattoo stechen lässt“, war sie immer noch baff.

 

„Jetzt weißt du es“, murmelte ihre Freundin, „Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für einen Aufstand es zuhause gegeben hat, als ich mir das Tattoo stechen lassen wollte. Selbst Matti hat mich für verrückt erklärt und Papa sprang im Dreieck. Mama hat schließlich ihr okay gegeben und daraufhin bin ich mit Raffi losgegangen und wir haben uns beide das Gleiche Tattoo stechen lassen“ „Wow, das muss wohl echte Liebe sein“, entfuhr es Emily beeindruckt. „Ja, er wohnt wegen seines Studiums nur eine halbe Autostunde entfernt und wir können uns an jedem Wochenende sehen“, strahlte Annemieke über beide Backen. Emily war froh, dass ihre beste Freundin, vor fast einem Jahr ihre erste richtige Liebe gefunden hatte. Zuvor hatte Annemieke mächtig darunter gelitten, dass sie lange Single war und hatte Minderwertigkeitskomplexe wegen ihrer kräftigen Statur und den Pickeln im Gesicht.

 

Gut gelaunt schloss Emily die Tür zur Wohnung ihrer Mutter auf. „Hi Mama, bist du da?“, rief sie in den Flur. „Hi Schatz, ich stehe gerade am Herd“, kam die vertraute Stimme ihrer Mutter aus der Küche. Ohne die Schuhe auszuziehen eilte Emily in die Küche. Ihre Mutter ließ auf der Stelle ihre Sachen liegen und fiel ihr um den Hals. „Es ist so schön wieder zuhause zu sein!“, hauchte Emily, die nur so vor Glück strotzte. Voller Enthusiasmus tanzte sie mit ihrer Mutter Arm in Arm zu einem Lied, welches gerade im Radio lief. „Ich habe gekocht, wie du siehst“, eröffnete ihr ihre Mutter mit einem strahlenden Lächeln. Emily begann den Tisch zu decken, während ihre Mutter die Töpfe vom Herd nahm. „Man hat es ja nicht alle Tage, dass die eigene Tochter heimkommt“, meinte sie. Als Vorspeise gab es einen italienischen Salat mit selbstgebackenen Pizzabrötchen. „Wow Mama, dass du dir die ganze Mühe machst“, war Emily ganz hin und weg. „Ja, ich habe heute einen ganz besonderen Gast hier“, lachte ihre Mutter und tischte als Hauptgang Spagetti in Sahnelachssoße auf.

 

„Hast du eigentlich schon welche von deinen zahlreichen Freundinnen getroffen?“, wollte ihre Mutter wissen. „Ja, nur Annemieke“, nickte sie, „Wusstest du, dass sie ein Tattoo auf ihrem Handgelenk hat?“ „Was? Das kann ich mir bei ihr gar nicht vorstellen“, sah ihre Mutter ungläubig drein. „Ich war auch überrascht“, gab Emily zu, „Sie hat sich das Tattoo mit ihrem Freund zusammen stechen lassen“ Während des Essens kamen sie auf die früheren Zeiten zu sprechen. „Oh man, es wäre toll, wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte“, seufzte Emily schwermütig, „Die ganze Bandenzeit voller Spaß, Freundschaft und Zusammenhalt, ach war das fantastisch, auch wenn wir uns manchmal derbe gestritten hatten“ „Ich denke, ihr seid immer noch befreundet“, runzelte ihre Mutter die Stirn. „Na klar, sind wir das“, nickte Emily, „Aber wir sehen uns nicht mehr so regelmäßig und ich sehe meine Freundinnen nur, wenn ich an den Wochenenden hier bin und Lotta kriege bis zum nächsten Sommer nicht zu Gesicht“

 

„Ach, wie geht es Lotta in Amerika?“, erkundigte sich ihre Mutter. „Ihr geht es prima, vor wenigen Tagen kam die erste Postkarte bei mir an. Ihre Gastfamilie ist richtig cool, in der Highschool hat sie bereits jede Menge Freunde gefunden und sie schwimmt in der Schulmannschaft“, erzählte Emily. Zu guter letzt gab es Panna Cotta mit passierten Erdbeeren. „Du bist eine wahre Dreisterneköchin!“, fand sie aus dem Schwärmen nicht wieder heraus. „Was hältst du davon, wenn wir uns einen Film anschauen, ich habe ein paar neue Bluerays angeschafft“, schlug ihre Mutter vor. „Vorschlag angenommen!“, nickte Emily begeistert. Zu zweit machten sie es sich vor dem Fernseher gemütlich. Auf dem Couchtisch standen Chips, Cola, Weingummis und Schokobonbons. „Ich sehe es schon kommen, wir werden heute Abend noch ins Fresskoma fallen“, grinste Emily und griff beherzt zu. Gerade gab es nichts Schöneres als mit der Mutter auf dem Sofa zu sitzen und sich einen spannenden Thriller rein zu ziehen. 

 

Am nächsten Tag traf sich Emily schon um halb drei mit Annemieke, Aylin, Kiki und Fianna am Wohnwagen. „Hier muss unbedingt Klarschiff gemacht werden“, nahm Aylin Kehrblech und Schaufel in die Hand. „Ich finde Staubwischen viel wichtiger“, hantierte Kiki mit einem Staubwedel herum. „Man könnte meinen wir wären schon Jahre nicht mehr hier gewesen“, meinte Fianna, die gerade dabei war die beiden Fenster im Wohnraum und im Schlafzimmer zu putzen. Emily begann schon mal den Tee aufzusetzen, deckte den Tisch und stellte Annemiekes selbstgebackenen Cupcakes mit dem rosa Zuckerguss und den silbernen Zuckerperlen dazu. „Uff, endlich haben wir es geschafft“, warf sich Fianna auf das kleine rote Sofa. „Wir haben noch knapp zwanzig Minuten Zeit“, warf Annemieke einen Blick auf ihre Uhr. „Ich habe etwas gefunden“, hielt Emily eine kleine Elfe aus Ton hoch, die an manchen Stellen zusammen geklebt war. „Das ist meine geliebte Elfe!“, sprang Annemieke auf, „Die habe ich vor vier Jahren im Kunstunterricht getöpfert. Jetzt weiß ich, was mir noch gefehlt hatte“ „Ich kann mich auch noch erinnern, wie Emily deine Elfe bei Wiwis Einweihungsparty herunter geworfen hat und sie zu Bruch gegangen ist, weil wir zu wild getanzt haben“, erinnerte sich Kiki.

 

„Ja, Matti hat sie damals mit Sekundenkleber repariert“, nickte Annemieke. „Haha, Matti der Elfendoktor“, kicherte Fianna, worauf ihre Freundinnen kurz auflachten. „Hi, es tut mir leid, dass ich etwas später gekommen bin“, kam Vivien mit hochrotem Kopf herein, „Ich war noch auf einer Demo gegen die Abholzung des Waldgebietes in der Nähe unserer Schule“ „Macht nichts, die Kleinen sind eh noch nicht da“, machte Annemieke Platz, damit sich Vivien setzen konnte. „Stellt euch vor, die ganzen Bäume wollen sie fällen und die Feuchtgebiete trocken legen und das nur für eine neue Schnellstraße. Als ob es nicht schon genug Straßen gibt! Viele Tiere werden ihren Lebensraum verlieren, stellt euch das vor!“, ereiferte sich ihre Freundin. „Klingt auf jeden Fall ziemlich übel“, fand Emily. Die anderen Freundinnen machten betroffene Gesichter, aber sagten nichts. „Oh ich habe noch etwas vergessen“, eilte Kiki zu ihrer Tasche und holte eine große Tupperdose mit Zimtwaffeln hervor. „Es hat sich nichts geändert, Micky und Kiki sind immer noch unsere Bandenbäckerinnen“, kommentierte Fianna. „Wir sind keine Bande mehr!“, erinnerte Aylin sie. „Aber wenn wir sind, fühlt es sich aber so an“, hielt ihr Fianna vor.

 

„Sie kommen!“, zischte Kiki und eilte zur Tür. „Herein, herein!“, rief Emily. „Hi Mädels!“, begrüßte Sarah die älteren Mädels und hatte sechs Freundinnen im Schlepptau. „Wen hast du da alles mitgebracht?“, machte Kiki große Augen. „Kim, Anna-Lena und Jenny kennt ihr bereits“, schob Sarah die drei Mädchen mit den bekannten Gesichtern in den Wohnwagen. „Das ist Nanna“, stellte Sarah ein Mädchen mit hellblonden schulterlangen Locken vor. Als nächstes machte sie Lynn mit den ehemaligen Roten Siebenerinnen bekannt. Lynn war kleiner als die anderen Mädchen, hatte schwarze Haare und mandelförmige Augen, da sie Vietnamesin war. Als letztes kam ein Mädchen mit dunkelbraunen Haaren und einer schwarz umrahmten Brille herein. Emily fiel auf, dass sie viel schüchterner war als ihre Freundinnen.

 

„Und das ist Jasmin“, legte ihr Sarah die Hand auf die Schulter. „Setzt euch hin, der Tisch ist für euch gedeckt“, lächelte Kiki. „Vielen Dank für Alles! Das wird ein toller Nachmittag“, fielen Sarah und Kim jeder Ex Roten Siebenerinnen um den Hals. „Bevor wir es vergessen, wir haben auch Geschenke“, rannte Jenny zu ihrem Rucksack. „Mit Hilfe von Rachel haben wir für jede von euch einen kleinen Bilderrahmen mit euch und euren Lieblingspferden erstellt, acht Stück müssten es insgesamt sein“, fuhr Anna-Lena fort. „Danke, das ist ja lieb von euch“, freute sich Annemieke. „Fehlen eigentlich zwei von euch?“, stutzte Sarah, „Ihr ward doch sonst immer zu acht“ „Meine Schwester hatte eine Zahn-OP“, erwiderte Annemieke, „Und Lotta ist für ein Jahr in Amerika“

 

Belustigt sahen die älteren Mädchen den Jüngeren zu, wie sie den Kuchen verdrückten und herumalberten. „Was waren das noch für Zeiten!“, stupste Fianna Kiki an. „Ja, es war eine richtig coole Zeit“, nickte sie, „Wir waren als Bande unschlagbar“ „Umso stolzer können wir sein, dass wir würdige Nachfolgerinnen gefunden haben“, klang Emily zufrieden. „Hauptsache der Bandenkult bleibt erhalten“, pflichtete ihr Annemieke bei, „Ohne eine coole Mädchenbande wäre der Wohnwagen tot“ „Und um die Kaninchen würde sich auch wieder regelmäßiger gekümmert werden“, murmelte Vivien. „Schade, dass die Wohnwagennachmittage endgültig Geschichte sind“, bedauerte Aylin ein wenig. „Später können wir uns gerne noch mal hier treffen, denn einen Schlüssel behalte ich“, wisperte Emily. „Was waren eure aufregendsten und schönsten Erlebnisse als Bande?“, drehte sich Sarah zu den ehemaligen Bandenmädchen um. „Unsere Bandenfahrt auf den Reiterhof meiner Patentante, dort konnten wir Ausritte am Strand machen“, antwortete Fianna als Erste. „Mir hat das Western Camp vor einigen Jahren auch viel Spaß gemacht“, sagte Emily, „Bis auf die Tatsache, dass beim Blitzeinschlag der Stall in Flammen aufgegangen ist“ „Ich fand auch die Kanutour mit unserer Klasse toll und natürlich auch die erste Klassenfahrt, wo wir unsere Bande gegründet haben“, schaltete sich Kiki ins Gespräch ein.

 

„Ich fand unsere gemeinsame Fahrt in die Alpen spitze“, schwärmte Vivien. „Ich habe die Bandennachmittage über alles geliebt“, huschte ein Lächeln über Aylins Gesicht, „Es war alles schön, ganz besonders die Reitstunden, das anschließende Teetrinken und Kuchenessen und dann das Ausspionieren unser anfänglichen Erzfeinde, die Piranhas“ „Mir hat die Bande unglaublich viel Halt und Selbstbewusstsein gegeben“, äußerte sich Annemieke als Letzte, „Wir waren wie eine Familie und sind es immer noch, obwohl wir nur noch selten zusammen kommen. Jeden Tag steckten wir zusammen, dachten uns Streiche aus, neckten uns gegenseitig, schlugen uns auch mal die Köpfe ein und trösteten uns, wenn eine von uns traurig war“ „Ihr ward wirklich eine gestandene Bande gewesen und ihr seid meine Vorbilder“, gestand Kim.

 

Die jüngeren Mädchen begannen von ihrer Bande zu erzählen. Sie nannten sich die Lustigen Einhörner und hatten in ihrer Klasse auch eine Jungengruppe, die ihre Erzfeine waren. Fianna und Kiki belieferten sie mit Ideen für Streiche, die sie den Jungs spielen konnten. „Lasst nicht alles mit euch machen“, richtete sich Emily an ihre jüngere Cousine. „Quatsch, sehen wir etwa so aus!“, lachte Sarah. Anschließend ging es nach draußen, damit Emily ein Gruppenbild von den Lustigen Einhörnern und dem Wohnwagen schießen konnten. „Hey, die Kaninchen fehlen!“, rief Anna-Lena. „Unsere Bandenmaskottchen müssen mit auf das Foto“, war Nanna der Überzeugung und lief zum Kaninchenstall. „Alle lächeln!“, rief Emily und knipste ein neues Foto mit den beiden Kaninchen. Danach überreichte sie den Bandenmädchen die Schlüssel.

 

Die Lustigen Einhörner verabschiedeten sich kurz darauf, während die ehemaligen Roten Siebenerinnen noch einen Moment blieben. „Mir fällt es gerade verdammt schwer Abschied zu nehmen“, bildeten sich Tränen in Annemiekes Augenwinkeln, die sie mühsam wegblinzelte. „Mir geht es nicht anders“, hatte Aylin einen dicken Kloß im Hals. „Wir müssen uns hier unbedingt hier wieder treffen, wenn Lotta zurück ist“, sagte Fianna. „Aber sicher werden wir das“, nickte Kiki, „Nur weil die Kleinen unser Quartier übernommen haben, heißt das nicht, dass wir hier nie wieder zurück kommen werden“ „Seht mal, was ich noch habe“, wedelte Emily mit dem Schlüsselbund, an dem der Wohnwagenschlüssel befestigt war. „Schrebergarten Adieu, Wohnwagen Adieu, Bandenzeit Adieu!“, ließ Vivien ihre Mundwinkel nach unten hängen.

 

 

2. Aylin – Freundschaft oder Liebe?

Es war kurz nach drei. Aylin hatte es verdammt eilig und trat umso heftiger in die Pedale, dass ein Auto neben ihr hupte, registrierte sie nicht mehr. Warum musste ihre Mutter sie gerade eben noch mit einer Einkaufsliste zum Supermarkt schicken? Dadurch hatte sie eine halbe Stunde verplempert und um halb vier hatte sie sich mit Shary im Stadtpark verabredet. Shary war am Anfang des Schuljahres neu in ihre Klasse gekommen und da sie neben Aylin saß, freundeten sich die beiden Mädchen ziemlich schnell an. Inzwischen verbrachte sie mehr Zeit mit ihr als mit ihren Freundinnen von der Roten Sieben. Da Sharys Vater Äthiopier war, hatte sie eine schokoladenbraune Haut, wilde schwarze Locken und die hübschesten schwarzen Augen, die sie je gesehen hatte. An einer roten Ampel rückte Aylin ihre Pandamütze zurrecht.

 

In letzter Zeit war es Herbst geworden und die Temperaturen sanken zunehmend. Aylin hatte das Gefühl, dass ihre Ohren kurz vor dem Abfrieren waren. Nur noch einen halben Kilometer und gleich wäre sie am Treffpunkt. Bei dem Gedanken an ihre Freundin, begann es wieder in ihr zu kribbeln und diesmal heftiger als sonst. Momentan dachte sie öfter an Sharys schlanken athletischen Körper, an ihre strahlenden Augen und ihre Haare, die sie oft zu langen Rastazöpfen geflochten hatte. Aus den milchigen weißgrauen Wolken begann es zu nieseln. Nach einem Spaziergang würde sie sich schön mit ihrer Freundin in ein gemütliches Cafe setzen. Zum glück hatte sie fünfundzwanzig Euro dabei, sodass sie Shary auf ein Stück Kuchen einladen konnte. Seitdem sie nebenbei jobbte, waren Shoppingtouren und mit Freundinnen essen gehen wieder drin.

 

„Hi Panda!“, winkte ihr Shary von einer Parkbank aus zu, nachdem Aylin ihr Fahrrad abgestellt hatte. „Hi Hase!“, erwiderte sie und fiel ihrer Freundin um den Hals. Dass sie sich gegenseitig Tierspitznamen gaben, lag daran, dass Aylin momentan oft eine Pandamütze trug und Shary eine Mütze mit Hasenohren. „Du riechst gut“, schnupperte Aylin kurz an ihr, „Hast du Parfüm aufgetragen?“ „Na klar“, lächelte sie, sodass ihre weißen Zähne hervorblitzten. „Komm, lass uns in die Einkaufstraße gehen“, nahm Shary ihre Hand. Der Regen wurde stärker und peitschte ihnen ein scharfer Wind ins Gesicht. Solange Shary in ihrer Nähe war, wurde Aylin nicht kalt. „Hallo, ihr Beide!“, grüßte Vivien, die ihnen mit dem Fahrrad entgegen kamen. „Hi Vivi!“, strahlte Aylin, „Was machst du hier?“ „Ich komme gerade vom Jugendzentrum, wir planen ein neues Projekt gegen die Regenwaldvernichtung in Südamerika“, erzählte ihre Freundin, die kurz anhielt und schnell weiter fahren musste, da sie noch einkaufen musste. „Vivi ist echt nett und deine anderen Freundinnen auch“, sagte Shary.

 

Aylin hatte Shary erst letztens mit auf eine Shoppingtour mit Fianna, Emily und den Zwillingen genommen und hatte den Eindruck, dass sie sich exzellent mit den anderen Mädchen verstand. „Schade, dass du Lotta und Kiki noch nicht kennst“, sagte sie auf einmal, „Wer ist das?“, fragte Shary. „Das sind zwei meiner Bandenfreundinnen, die nicht mehr hier wohnen. Kiki ist nach Mainz gezogen und Lotta ist für ein Jahr in den USA“, erzählte Aylin ihr. Hand in Hand bummelten die beiden Mädchen durch die Einkaufstraße und machten vor diversen Schaufenstern halt. „Wollen wir uns nicht ins Cafe setzen?“, schlug Aylin vor, die dringend einen warmen Kakao zum Aufwärmen brauchte. „Gleich, erstmal will mir eine Röhrenjeans kaufen“, wurde sie von ihrer Freundin ausgebremst. Aylin ging mit in den Laden herein. „Wow, alles reduziert!“, staunte Shary und schaute sich um, „Hier ist nichts teuerer als fünfzehn Euro“ Sie nahm gleich zwei Jeans mit. Aylin hatte keine große Lust sich mit neuen Klamotten einzudecken. Erst am Wochenende war sie mit Annemieke, Fianna und Emily shoppen. „Hey, ich habe etwas ultracooles entdeckt!“, rief Shary und hielt ein graues Sweatshirt mit einem goldenen Smiley hoch. „Sieht nicht schlecht aus“, fand sie.

 

„Lass uns beide das gleich Shirt kaufen, damit wir im Schwesternlook auflaufen können“, war Shary begeistert. Aylin nickte bereitwillig, da das Shirt nur sechs Euro kostete. „Cool, dass wir beiden den gleichen Style haben“, freute sich ihre Freundin. Anschließend steuerten die beiden Freundinnen das Stadtcafe auf dem Rathausplatz an. Vor einem Brunnen blieb Shary stehen. „Leonie und Franziska haben mir erzählt, dass es Glück bringt, wenn man sich hier küsst oder ein paar Centstücke in den Brunnen wirft“, meinte Shary. Ohne Vorwarnung gab sie Aylin ein Küsschen auf die Wange. Wieder explodierten neue Schmetterlingsladungen in Aylins Bauch. Nun stand es außer Frage. Sie war verliebt. „Noch mal!“, flüsterte Aylin und schlang ihre Arme um sie. Diesmal küssten sie sich richtig auf den Mund. „Hab ich dir schon gesagt, dass ich auf dich stehe“, lächelte Shary. „Das Gleiche kann ich auch über dich sagen“, gab Aylin zurück.

 

Aylin bekam fast einen Herzstillstand als sie Fianna und Mathilda auf dem Rathausplatz entdeckte. Die beiden Mädchen schauten sich ungläubig an, verdrehten die Augen und gingen noch mehr auf Distanz. Nachdem sie sich von ihrer Schockstarre erholt hatten, begannen sie zu tuscheln und zu kicherten leise. „Soll das wahr gewesen sein, was ich gerade gesehen habe? Hat sie ein Mädchen geküsst“, hörte Aylin Mathilda sagen. „Das kann doch nicht wahr sein?“, schüttelte Fianna den Kopf. Dann drehten sich die beiden Mädchen um und machten kehrt. „Sag mal, was haben die so blöd geglubscht?“, stupste Shary sie an, „Waren das nicht deine Freundinnen?“ „Das waren Fianna und Mathilda“, erwiderte Aylin tonlos, „Sie haben gesehen, wie wir hier rumgeknutscht haben“ „Ich weiß, ich konnte nicht ahnen, dass sie so merkwürdig reagieren“ Tränen sammelten sich in Aylins Augen. Von zwei guten Freundinnen so behandelt zu werden, tat scheußlich weh. „Sie haben mich sonst noch nie stehen ohne zu grüßen“, weinte Aylin fast. „Komm sei nicht traurig, dass sind halt Ziegen“, versuchte Shary sie aufzumuntern.

 

Nur mit aller größten Mühe konnte sie verhindern, dass sie in Tränen ausbrach. Wie Mathilda und Fianna sie behandelt hatten, ging ihr gerade sehr nahe. Trotzdem beschloss sie nicht die ganze Zeit Trauer zu schieben und setzte ein Lächeln auf. „Wenn Mathilda und Fianna uns so blöd anstarren, dann ignorieren wir sie halt“, sagte Shary, als sie im Cafe saßen. „Es wird mir schwer fallen, Fianna ist mit Vivien meine beste Freundin“, seufzte Aylin, „Mathilda mag ich eigentlich auch, obwohl ich es nicht sonderlich mag, dass sie immer wieder unsensibel reagiert und ihre Launen hat“ Da die beiden Freundinnen sich nicht ihren Nachmittag verderben wollten, wechselten sie schnell das Gesprächsthema. Sie bestellten ein Menü für zwei Personen, dass Flammende Liebe hieß. Die Mädchen bekamen ganz große Augen, als ein riesiger Teller mit einem warmen Schokoladensoufflee, drei Kugeln Zimteis und heißem Kirschkompott auf ihren Tisch gestellt wurde. „Auf unseren tollen Nachmittag“, hob Shary ihre Kaffeetasse. Lächelnd stießen die Mädchen mit ihrem Latte Macchiato an.

 

Am Abend lag Aylin stundenlang wach. Ihr war bewusst, dass hinter der Freundschaft mit Shary viel mehr steckte, als sie zuvor angenommen hatte. Obwohl sie ihre Freundin erst einen Monat kannte, hatten beide eine enge Zuneigung zueinander entwickelt und standen gegenseitig auf sich. Immer mehr wurde ihr klar, dass sie anders war als ihre Freundinnen von der Roten Sieben und all die anderen Leute, die sie kannte. Während alle anderen auf das andere Geschlecht standen, hatte sie sich in ein Mädchen verliebt. Wie würden das nur ihr Freundeskreis oder ihre Familie finden? Würde ihr Vater sie vor die Tür setzen, wenn er davon erfuhr? Garantiert würde er ausrasten und an einen auserwählten Mann verheiraten.

 

Dieser Gedanke und tausende weitere quälten sie die Nacht hindurch. Konnte sie nicht heterosexuell sein wie jeder andere auch? Wem konnte sie sich anvertrauen? Ihren Freundinnen wohl kaum und ihrer Familie wohl gar nicht. Von Mathilda und Fianna war sie vorhin maßlos enttäuscht worden, als sie auf dem Rathausplatz halblaut über sie gelästert hatten und sie einfach stehen ließen. Lotta, Kiki und co würden bestimmt nicht anders reagieren. Da war noch Vivien, von der sie noch nie enttäuscht wurde. Vivien hatte ihr immer zugehört und hatte kein einziges Geheimnis weiter verraten. Sie war noch toleranter als Annemieke und Emily. Gerade hatte sie den Drang mit ihr zu telefonieren, aber um zwei Uhr nach Mitternacht konnte sie niemanden mehr anrufen. Seufzend wälzte sie sich hin und her. Das Gedankenkarussell drehte sich weiter im Kreis und ließ sie kein Auge zu kriegen.

 

Ein paar Tage später beim Frühstück sah Aylins Vater von der Zeitung auf. „Freitagnachmittag habe ich ein Treffen mit einem Sohn meines Arbeitskollegen arrangiert“, begann er, „Er ist zwei Jahre älter als du und macht momentan eine Ausbildung zum Mechatroniker“ „Papa, was meinst du mit Treffen?“, wurde Aylin skeptisch. „Langsam bist du in einem Alter, indem sich Jungen und Mädchen näher kommen“, machte er erste Andeutungen. „Aber ich kenne ihn noch nicht einmal und weiß nicht, wie er heißt“, protestierte Aylin fast. „Er heißt Deniz, er wird im November neunzehn und interessiert sich für Computerspiele, Autos und Fußball“ Das waren nicht gerade Aylins Themen. „Papa, ich darf mir selber aussuchen, wen ich date. Ich will nicht mit einem fremden Jungen verkuppelt werden“, widersprach sie ihm energisch. „Ich habe es mit seinem Vater bereits geklärt, um vier Uhr bringe ich dich bei Deniz vorbei und dabei bleibt es, basta!“, setzte er sich durch. Gerade als Aylin etwas Patziges erwidern wollte, legte ihre große Schwester Fatima die Hand auf die Schulter.

 

„Sieh es doch mal positiv. Papa hat definitiv einen guten Jungen für dich ausgesucht. Ich kenne Deniz noch von früher, er ist ein freundlicher und höflicher Junge“, redete sie besänftigend auf Aylin ein. Verärgert sprang Aylin auf, rannte ins Bad, putzte sich schnell die Zähne und bürstete ihre wilden Locken. Sie schnappte sich ihre Tasche und schlüpfte in ihre Ballarinas. Im Treppenhaus fingen ihr an die Tränen über die Wangen zu laufen. Wie konnte ihr Vater sie zwingen einen fremden Jungen zu daten? Es gab nur eine Person, auf die sie stand und das war leider ein Mädchen. Bestimmt wäre der Teufel los, wenn ihr Vater von der Beziehung zwischen ihr und Shary erfuhr. Aylin nahm sich vor einen Teil des Schulweges zu Fuß zu gehen. Bestimmt würde sie von allen Seiten komisch angeguckt werden, wenn sie mit tränenüberströmtem Gesicht in den Bus stieg. Geräuschvoll putzte sie sich ihre Nase und wischte sich die Tränen weg. Das schöne Spätsommerwetter an einem Septembermorgen passte gar nicht zu ihrer Stimmung. Sie hätte auch nein sagen können, aber ihr Vater duldete keine anderen Meinungen und Aylin war nicht gerade der Typ, der den Konflikt suchte. Am besten erzählte sie niemanden davon, dass sie auf Mädchen stand. Shary war die einzige, die wusste, wie sie wirklich tickte. Doch ihre Freundin war in Dingen sexueller Neigung genauso wie sie.

 

In der ersten Stunde schrieben sie einen Vokabeltest in Englisch. Aylin war so durch den Wind, dass ihr Kopf wie leergefegt war und sie nicht mal die Hälfte der gefragten Wörter richtig zu Papier brachte. „Sag mal, Panda, was ist los mit dir?“, legte ihr Shary die Hand auf den Rücken. Ihr war nicht entgangen, dass sich Aylin gerade nicht besonders wohl in ihrer Haut fühlte. „Erzähl ich dir in der Pause, Hase“, erwiderte sie. „Guck mal, die Beiden!“, zeigte Felix mit dem nackten Zeigefinger auf sie. „Hehe, wir wissen, dass da was läuft“, grinste sein Kumpel Oliver. Janette formte mit den Händen ein Herz, worauf ihre beiden Busenfreundinnen Emma und Fabienne zu kichern anfingen. „Jetzt ist aber mal gut, ihr Affen!“, funkelte Vivien ihre Klassenkameraden böse an. Kurz darauf gongte es zur Pause. „Kommt ihr mit? Wir treffen uns mit Fianna und den Zwillingen?“, drehte sich Vivien zu Aylin und Shary um. „Okay!“, nickte Aylin nur, zog ihre Jacke über und schnappte sich ihren Apfel. „Sag mal, Aylin, du siehst gerade nicht besonders glücklich aus. Was ist los?“, empfing Fianna sie. „Wie soll ich das erzählen“, schluckte Aylin.

 

„Komm wir verziehen uns auf die hinterste Ecke des Schulhofes“, schlug Annemieke vor, „Da kannst du uns in Ruhe erzählen, was dir auf der Seele liegt“ Hinter den Mülltonnen waren die Mädchen für sich. Über ihnen raschelten die goldbraunen Blätter und das Gejohle der Jungs auf dem Fußballfeld dräng nur gedämpft zu ihnen rüber. „Nun schieß los!“, forderte Mathilda, die unbedingt wissen wollte, wieso es Aylin gerade nicht gut ging. „Mein Vater hat ein Treffen mit einem Jungen arrangiert, ohne dass ich davon wusste oder es wollte“, begann sie stockend. „Wie kann dein Vater nur so etwas tun? Was für ein Unmensch muss man nur sein, dass man seine Tochter zwingt eine Beziehung mit einem Jungen einzugehen?“, brauste Shary auf, die sichtlich geschockt war. „Ich wusste noch nicht mal, wie er heißt und wie alt ist“, stiegen Aylin Tränen in die Augen. „Lass dir es auf keinen Fall bieten, dass dein Vater dich zu sowas zwingt!“, redete Fianna auf sie ein. „Aber mit meinem Vater kann man nicht reden, es zählt nur seine Meinung“, klang Aylin verzweifelt. „An deiner Stelle würde ich das Date schwänzen“, sagte Mathilda. „Das kann ich eben nicht, mein Vater bringt mich höchstpersönlich zu diesem Kerl“, zischte Aylin.

 

„Pass mal auf, Aylin“, begann Annemieke mit ihrer ruhigen Stimme, „Ein Treffen bedeutet nicht, dass ihr gleich ein Paar seid. Vielleicht findest du den Jungen auch ganz nett, wenn du nicht mehr von ihm willst, würde ich es ihm gegenüber zeigen, aber dabei solltest du höflich und nett bleiben. Es wird sich herausstellen, wie ihr euch versteht oder ob ihr überhaupt zusammen passt“ Ein kurzes Lächeln huschte über Aylins Gesicht. Annemieke hatte immer gute Ratschläge und konnte in den verzwicktsten Situationen besonnen bleiben, weshalb sich die Freundinnen ihr sehr gerne anvertrauten. „Genau, ignorier ihn einfach und sei ihm gegenüber sehr schüchtern“, nickte Fianna heftig, „Kommt kein richtiges Gespräch zustande, wird er auch kein richtiges Interesse an dir entwickeln und er wird nach keiner weiteren Verabredung fragen“ „Genau das werde ich tun“, war Aylin entschlossen, „Ich gehe zu diesem Date, aber ich werde extra schüchtern sein und nicht mit ihm das Gespräch suchen“ „Coole Einstellung, Panda!“, gab ihr Shary einen Highfive und lehnte sich an ihre Schulter. „So kannst du deinen Vater hinten herum austricksen“, strahlte Vivien. „Genau, lass nicht alles mit dir machen, Aylin“, pflichtete ihr Mathilda bei.

 

„Ich will euch noch etwas sagen“, sah Aylin ihre Freundinnen an und hielt kurz inne, bevor sie weiter sprach, „Wie ihr gemerkt habt, bin ich nicht so wie die Mehrheit der Menschen. Es ist so, dass ich auf Mädchen stehe und ganz besonders auf Shary“ „Aber du warst doch vor zwei Jahren mit Sven zusammen“, entfuhr es Mathilda. „Aber das war bloß Schein“, erwiderte Aylin, „In Wirklichkeit interessiere ich mich seit ich zwölf bin für Frauen und Mädchen. Ich wollte bloß, dass keiner davon etwas erfährt und meine Familie darf es nicht erfahren, schon gar nicht mein Vater. Ich hatte immer Angst, dass ich blöde Sprüche zu hören bekam, wenn ich mich früher geoutet hätte“ „Egal, ob du lesbisch bist oder nicht, du bist eine tolle Freundin!“, nahm Annemieke sie in den Arm. „Dem kann ich nur zustimmen“, legte Vivien ihre Arme um Aylin und Annemieke. „Ich muss zugeben, dass es anfangs ein wenig merkwürdig aussah, als du mit Shary herum geturtelt hast. Aber in Prinzip habe ich nichts dagegen, dass du sie liebst. Ihr passt wunderbar zusammen und du bist immer noch eine meiner besten Freundinnen“, schloss sich Fianna in die Umarmung ein.

 

„Ich bin so froh, dass du einfach Aylin bist, so wie sie leibt und lebt“, war Vivien glücklich. „Stimmt, viel besser, als wenn sie so eine Zicke wäre“, gab ihr Mathilda Recht und fügte hinzu, „Ich war erstmal doch etwas geschockt, als ich gesehen habe, dass ihr Beide euch vor ein paar Tagen auf dem Rathausplatz geküsst habt. Doch ich werde mich daran gewöhnen, schließlich ist es nichts Unnormales als Mädchen ein anderes Mädchen zu lieben“ „Und lass dich nicht verbiegen, Panda! Du bist das coolste Mädchen weit und breit“, wuschelte Shary Aylin über ihre Pandamütze. Zu sechst lagen sich die Mädchen für einen kurzen Moment in den Armen. Aylin war froh, endlich hatte sie die Rückendeckung ihrer Freundinnen. Vor ihren Freundinnen gaben sich Aylin und Shary einen Kuss auf die Lippen. Kurz darauf beendete das Klingeln die Pause. „Oh wie süß, die halten schon wieder Händchen!“, kicherte Emma, mit der sie am Schuleingang zusammen trafen.

 

„Oh lala!“, grinste Fabienne, worauf Olivia und Janette fies kicherten. „Das erste lesbische Paar, das wäre der Aufmacher der nächsten Schulzeitung“, spottete Felix, der mit Olivia Hand in Hand ging. „Hattet ihr schon eure ersten romantischen Momente in der Kiste?“, hakte Linus nach, worauf sich die ganze Clique vor Lachen bog. „Wisst ihr was, es gibt nichts Dümmeres als euer pubertäres und unreifes Verhalten“, baute sich Annemieke vor ihnen auf. „Allerdings!“, nickte Fianna bestimmt, „Noch eine blöde Anmache oder dumme Sprüche über Lesben und ihr habt unseren gesamten Freundeskreis gegen uns“ „Und unser Freundeskreis ist größer als ihr denkt“, klang Mathilda drohend. „Also passt auf, was ihr von euch gebt, sonst habt ihr viel Ärger am Hals“, schloss Vivien ab. „Was für dumme und zurückgebliebene Kinder!“, flüsterte Fianna in Aylins Richtung.

 

Ein paar Tage später saß Aylin auf dem Beifahrersitz im Auto ihres Vaters. Während der ganzen Fahrt sprachen ihr Vater und sie kein Wort miteinander. Aylin war immer noch außer sich, dass sie gezwungen war, zu diesem Date hinzugehen, obwohl Fatima dauernd auf sie eingeredet hatte und meinte, dass Deniz doch ein ganz netter Junge sei. Aylin konnte sich kein Urteil über ihn erlauben, da sie ihn nur wenige Male von weitem in der Moschee gesehen hatte und ihn nicht weiter kannte. An der nächsten Kreuzung traten ihr die Tränen in die Augen. „Nicht heulen, Aylin!“, nahm sie sich vor und setzte ein Pokerface auf. Vor ihrem Vater wollte sie sich auf keinen Fall die Blöße geben und anfangen zu weinen. Stattdessen legte sie sich im Kopf einen Plan zurrecht, wie das Date ablaufen konnte, sodass Deniz möglichst schnell das Interesse an ihr verlor. „Da wären wir!“, hielt ihr Vater an einem Randstreifen einer Nebenstraße an. Aylin brach der kalte Schweiß aus, während sie sich abschnallte und die Tür öffnete. „Ich wünsche dir viel Spaß, ich hole dich heute Abend wieder ab“, verabschiedete ihr Vater sich von ihr. „Tschüss!“, erwiderte sie gereizt und knallte die Beiwagentür hinter sich zu.

 

Aylin stand unschlüssig auf dem Bürgersteig herum. Sollte sie klingeln oder weglaufen? Noch immer stand der Wagen ihres Vaters auf dem Randstreifen. Bestimmt beobachtete er sie. Daher brachte Zögern nichts. Aylin schritt schweren Herzens auf die Eingangstür des Hauses zu und klingelte. Eine freundlich aussehende Frau, die zwischen vierzig und fünfzig sein musste, machte ihr auf. „Hallo, du musst sicherlich Aylin sein“, gab sie ihr die Hand, „Ich bin die Mutter von Deniz“ Aylin grüßte zurück und tat so, als wäre sie sehr schüchtern. „Komm ruhig rein“, lachte die Frau und schloss die Haustür hinter sich. Aylin starrte immer noch auf den roten orientalischen Teppich, auf dem sie gerade stand. „Deniz, dein Besuch ist da“, rief Deniz Mutter. „Ja, ich komm schon!“, hörte sie eine männliche Stimme aus einem der Zimmer. „Hallo Aylin, ich bin Deniz“, gab der junge Mann, der mehr als ein Kopf größer war als sie, ihr die Hand. „Hallo!“, brachte Aylin ein schmales Lächeln über die Lippen. „Deniz, der Tisch auf der Terrasse ist schon gedeckt“, sagte seine Mutter. „Ich habe jetzt aber noch kein Hunger und erstmal will ich Aylin mein Zimmer zeigen“, erwiderte ihr Sohn. Wortlos folgte Aylin Deniz in sein Zimmer.

 

Neugierig schaute sich Aylin um, überall hingen Poster von Fußballclubs, Formel-1-Wagen und Gangster Rappern an den Wänden. Über seinem Bett war eine Fahne der Türkei befestigt. „Setz dich!“, stellte er ihr einen Stuhl hin. „Danke!“, erwiderte sie höflich. „Du siehst gerade, was ich spiele“, deutete er auf den großen Bildschirm seiner Spielkonsole, „Kennst du GTA?“ „Das spielen meine Brüder, aber ich spiele es nicht“, antwortete sie. „Hast du etwas dagegen, dass ich das Spiel eben zuende spiele?“, fragte er. „Ich habe nichts dagegen“, murmelte sie und holte in der Zwischenzeit ihr Handy aus der Tasche. „Na, wie läuft das Date?“, schrieb ihr Mathilda. „Naja, Deniz sitzt vor seiner Konsole und ich langweile mich“, tippte Aylin als Antwort. Als sie kurz aufblickte, sah sie, wie sich Deniz mit der Polizei ein Verfolgungsrennen auf dem Bildschirm lieferte. „Läuft ja nicht so prickelnd!“, kam in sekundenschnelle die Antwort ihrer Freundin zurück. „Ich werde hier sitzen und gar nichts sagen“, nahm sich Aylin im Stillen vor und starrte auf die Uhr über der Zimmertür.  

 

„Genug gezockt!“, legte Deniz seinen Controler beiseite, „Meine Mutter hat für uns den Tisch auf der Terrasse gedeckt“ Aylin nickte nur und folgte ihm ohne ein Wort zu sagen. Staunend sah sie sich um. Der Garten war wirklich schön. So viele Pflanzen, eine Gartenlaube, ein kleiner Gartenteich und ein gemauerter Steingrill: Hier hatten sie sich wirklich ein kleines Paradies geschaffen. „Ich dachte, ihr wolltet freiwillig verhungern“, lachte seine Mutter herzlich, die ihnen eine große Wassermelonenspalte auf den Tisch stellte. „Vielen Dank!“, murmelte Aylin. „Bedien dich, du bist hier der Gast“, lächelte Deniz freundlich. Zögerlich nahm sie sich ein Stück von einem Mohnkuchen und schnitt sich etwas von der Melone ab. Aylin und Deniz schwiegen sich einen Moment an, nachdem die Mutter gegangen war. „Du kannst ruhig ein bisschen mehr von dir erzählen“, sah er sie herausfordernd an, „Du bist ein richtig schönes Mädchen mit sehr hübschen Locken und leuchtenden Augen, aber nur etwas zu wortkarg“ „Was soll ich von mir erzählen?“, murmelte sie. „Was hast du für Hobbys und wie verbringst du deine Freizeit?“, wollte er wissen. „Reiten, Bauchtanz, Singen, Malen, Zeichnen, Nähen, Backen und natürlich meine Freundinnen treffen“, zählte sie auf.

 

Nun holte Deniz aus und begann sich über Fußball, Gangsterrap, Computerspiele und Formel1 auszulassen. Aylin teilte diese Themen nicht im Geringsten mit ihm und bald schwiegen sie sich wieder an. „Sag mal, wo gehst du zur Schule?“, versuchte Deniz es mit der nächsten Frage. „Ich bin in der zehnten Klasse des Altsstädtischen Gymnasiums“, antwortete sie knapp. „Aha, da war meine Cousine auch, sie hat dort im letzten Jahr Abitur gemacht“, erzählte er. Aylin nickte nur und nippte an ihrem Apfeltee, der inzwischen ganz kalt geworden war. „Du hast doch bestimmt dort ein paar gute Freundinnen oder?“, unternahm er den nächsten Anlauf, um ein Gespräch zustande zu bekommen. „Ja, ich habe zwei gute Freundinnen in meiner Klasse und ein paar weitere, die eine Klasse über mir sind“, erwiderte sie und widmete sich ihrem Kuchen. Als Deniz merkte, dass Aylin nicht zu knacken war, stellte er jegliche Bemühung ein, um die Unterhaltung aufrecht zu erhalten. Schweigend saßen sie sich gegenüber und starrten auf ihre Handys.

 

Gerade hatte Aylin WhatsApp geöffnet. Natürlich fragten alle ihre Freundinnen, wie das „Date“ lief. Aylin schrieb ihnen, dass sie Deniz mit vorgespielter Schüchternheit abwimmelte. „Bravo, lass dich von deinem Vater mit niemanden verkuppeln!“, schrieb ihr Shary als erstes zurück. Bei den Gedanken an Shary hatte sie wieder einen riesigen Schmetterlingsschwarm im Bauch. Aylin hoffte inständig, dass sie rote nicht rot im Gesicht wurde. Weder Deniz noch ihr Vater durften nicht im Geringsten wissen, dass sie ein Mädchen liebte. „Ich geh wieder rein“, sagte Deniz schließlich, „Meine Konsole ruft. Sag meiner Mutter bloß nichts davon. Sie würde sauer werden, wenn sie wüsste, dass wir die ganze Zeit vor dem Bildschirm hocken“ Aylin sah zu ihm auf, aber sagte nichts. „Willst du mitkommen?“, fragte er. „Nö, ich bleibe hier noch einen Moment sitzen“, antwortete sie.

 

„Hast du ihn abwimmeln können?“, wollte Fianna als allererstes in der ersten großen Pause wissen. „Ich habe soviel Desinteresse gezeigt und kaum ein Wort geredet, wie nur ging und am Ende meinte Deniz, dass es zwischen uns beiden nichts werden wird“, erzählte Aylin. „Cool, du hast ihn tatsächlich abwimmeln können? Das wäre großartig!“, gab ihr Mathilda einen Highfive. „Ja, aber mein Vater war nicht sonderlich begeistert drüber und war auf dem Rückweg ziemlich sauer“, meinte sie. „Es ist egal, was dein Vater sagt“, legte ihr Vivien die Hand auf die Schulter, „Er hat nicht zu entscheiden, mit wem du zusammen bist. Das entscheidest immer noch du und kein anderer“

 

„Das sehe ich auch so“, nickte Shary heftig und legte ihren Arm um sie. Wieder flatterten hunderte Schmetterlinge in Aylins Bauch. Shary war die Richtige, aber sonst niemand. „Ich habe dich lieb, Panda!“, flüsterte Shary ihr ins Ohr. „Ich dich auch, Hase!“, erwiderte Aylin und gab ihrer Freundin einen Kuss. „Ihr seid so ein schönes Paar!“, lächelte Annemieke, „Es soll sich bloß keiner zwischen euch stellen“ „Quatsch, das wird keiner. Unsere Liebe ist stark genug, um sich gegen den Rest der Welt zu stellen“, versicherte ihr Shary. Mit einem Mal hatte Aylin Tränen in den Augen, nicht weil sie traurig war, sondern weil sie das glücklichste Mädchen der Welt war. Ja, sie liebte Shary und zum Glück akzeptierten es mittlerweile ihre Freundinnen.

 

3. Annemieke – Die Kraft der Liebe

 Gerade war das 2:1 für die Freudenburger Hockeyauswahl gefallen, nachdem Mathilda ihrer Mitspielerin Marie den Ball in den Lauf gespielt hatte. Jubelnd fielen sich die jungen Spielerinnen in die Arme. Annemieke strahlte, als sie ihren Eltern, ihren Großeltern und Raffael einen Blick zuwarf, die auf der kleinen Tribüne saßen und ihre Mannschaft fleißig anfeuerten. Hurra, sie führten gegen ihre härtesten Rivalinnen aus der Nachbarstadt. Sie hatten den Spielstand gedreht. Was für eine Sensation! Der Pfiff zur Pause ertönte. „Ihr macht gerade ein super Spiel, Zwillinge! Weiter so und der Sieg ist in unseren Händen!“, lobte Nana, die Spielführerin auf den Weg in die Kabine. Annemieke und ihre Schwester strahlten um die Wette und legten ihre Hockeyschläger beiseite, um aus ihren Flaschen zu trinken. In der Auswahlmannschaft der Stadt zu spielen, zu den die besten Spielerinnen aus drei Vereinen gehörten, erfüllte die Schwestern mit viel Stolz.

 

„Du bist heute einfach spitze und nicht zu toppen!“, schwärmte Annemieke von ihrer Zwillingsschwester. „Du aber auch“, gab Mathilda das Lob an sie zurück, „Ohne dich würde die Zwillingsabwehrmauer nicht existieren“ Rücken an Rücken gelehnt saßen sie auf der Holzbank und tranken aus ihren Flaschen. „Die zweite Halbzeit wird hart“, hörten sie Franzi sagen. „Oh ja, unsere Gegnerinnen werden nach Maries wunderschönen Treffer eine irre Wut im Bauch haben und das lassen sich die Bachstätterinnen nicht bieten“, sagte Grit. „Wollen wir doch mal positiv sein und fest daran glauben, dass wir den Sieg einfahren“, mischte sich Mathilda in das Gespräch ein. „Na klar, das werden wir oder zumindest werden wir um jeden Preis darum kämpfen“, nickte Franzi, sodass ihr dunkelbrauner Pferdeschwanz wippte. „Auf jeden Fall werden wir das!“, gab sich Annemieke kämpferisch.

 

Die Gegnerinnen drehten nach der Pause richtig auf und warfen alles nach vorne. Annemieke, Mathilda, Lara und Kathrin mussten in der Defensive höllisch aufpassen, um sich nicht von einem Tempoangriff überrumpeln zu lassen. Obwohl sie erst knapp fünf Minuten gespielt hatten, lief Annemieke der Schweiß über die Stirn. Ihre pfeilschnellen Gegenspielerinnen verlangten ihr alles ab. Da Annemieke nicht die Schnellste war, konnte sie wenigsten mit einem sicheren Stellungsspiel und einem robusten Zweikampfverhalten ihre Fehler wieder wettmachen. Die Bachstätterinnen hatten vorhin schon zwei gute Gelegenheiten zum Ausgleich und gerade folgte ein Pfostenschuss von der Spielerin, die die Freudenburgerinnen in Rückstand gebracht hatte. „Micky, mehr auf deine Gegenspielerin achten, sie steht wieder völlig frei“, rief Mathilda. Annemieke ärgerte sich, dass sie wieder für eine Sekunde unaufmerksam war. „Nein, ich lass sie kein Tor schießen“, nahm sie sich vor und behielt die Spielerin mit der Nummer Fünf ab da an gut im Auge.

 

Wieder leiteten die Bachstätterinnen einen schnellen Konter ein. Einige ihrer Spielerinnen konnten laufen wie der Wind. Annemieke sprintete, so schnell sie konnte, auf eine gegnerische Angreiferin zu, um zu verhindern, dass sie den Ball zu ihrer Mitspielerin passte, die frei vor dem Tor stand. Dabei übersah Annemieke eine weitere Gegenspielerin, mit der sie fast zusammen stieß. Erst im letzten Augenblick sprang sie zur Seite und spürte einen stechenden Schmerz in ihrem linken Knie. Unsanft fiel sie mit einem spitzen Schrei auf den Hallenboden und krümmte sich vor Schmerzen. Ohne dass sie etwas dagegen tun konnte, schossen ihr Tränen in die Augen. „Micky, was ist passiert?“, hörte sie einer ihrer Teamkolleginnen rufen. „Oh nein, Micky, bist du ernsthaft verletzt?“, klang Mathilda schockiert. Nun kam ihr Trainer angerannt. „Annemieke, bist du in Ordnung?“, kniete er sich neben ihr hin. „Mein Knie!“, stöhnte sie. „Kathy, bring einen Kühlbeutel!“, rief ihr Trainer einer Betreuerin zu. Die junge Frau rannte los und kam kurz darauf mit einem Kühlpack wieder, das sie auf Annemiekes verletztes Knie legte. „Kannst du aufstehen?“, hielt ihr der Trainer die Hand hin. Mathilda und er halfen Annemieke auf.

 

Als Annemieke ihr Knie versuchte vorsichtig zu belasten, schrie sie fast vor Schmerzen. Himmel, tat das weh! „Ich kann nicht laufen“, sagte sie den Tränen nahe. Kurzerhand trugen Mathilda und Nadine sie zur Spielerbank, damit sie sich setzen konnte. „Ich möchte ausgewechselt werden“, sagte Mathilda zu ihrem Trainer, „Ich muss bei meiner Schwester bleiben, sie hat sich ernsthaft etwas getan“ Für die Zwillinge waren nun Elli und Merle im Spiel. Annemiekes Knie begann noch heftiger zu schmerzen und zu pochen. Es fühlte sich wie ein Messerstich an. „Wir werden einen Krankenwagen rufen“, teilte ihnen Kathy mit. Annemieke nickte nur und begann zu weinen. Es war unerträglich. Jede geringste Bewegung tat höllisch weh. Weinend drückte sie ihr Gesicht an Mathildas Schulter. „Es wird alles gut, Schwesterchen!“, tröstete ihre Schwester sie, die mittlerweile auch Tränen in den Augen hatte. „Gute Besserung!“, wünschten ihr Sarah und Zoe, die neben ihnen auf der Bank saßen. Annemieke merkte erst gar nicht, dass zwei Rettungssanitäter gekommen waren, die eine Bahre auf Rollen dabei hatten.

 

Unter Tränen wurde Annemieke aus der Halle gerollt und in den Krankenwagen verladen. Mathilda fragte, ob sie mitfahren durfte und bekam sofort die Erlaubnis von ihrem Trainer. Die Schmerzen wurden erträglicher, als der Arzt ihr ein Schmerzmittel spritzte und das Knie mit einer Schiene stabilisierte. „Wir werden nicht darum herum kommen Ihr Knie mittels Röntgen und MRT zu untersuchen“, sagte der Arzt zu Annemieke. „Werde ich lange verletzt sein?“, erblasste Annemieke. „Das werden wir bei der Untersuchung feststellen, wie schwer die Verletzung ist“, erwiderte er. Mathilda rief währenddessen ihre Eltern an. „Mama und Papa kommen direkt zum Krankenhaus“, teilte sie ihrer Schwester mit. Der Krankenwagen bremste ab und die hintere Hecktür wurde geöffnet. Annemieke wurde zum Eingang der Notaufnahme geschoben. Hier war sie bereits schon einmal gewesen, als sie vor über vier Jahren bei einer Mutprobe im Steinbruch abgestürzt war. „Liebling, was machst du auch nur für Sachen!“, lief ihre Mutter auf sie zu und streichelte ihr über den Kopf. „Ich muss mir das Knie verdreht haben“, schniefte Annemieke.

 

„Können Sie draußen warten?“, wandte sich ein junger Arzt an ihre Eltern und Mathilda, „Sie können Ihre Tochter wieder sehen, sobald wir mit der Untersuchung fertig sind“ Die Tür hinter ihnen schloss. Nun waren Annemieke und der junge Arzt alleine im Untersuchungszimmer. „Guten Tag, mein Name ist Dr. Johannes Burdorf“, gab er ihr die Hand, „Ist es okay, wenn ich du sage?“ „Von mir aus“, nickte Annemieke. „Kannst du erzählen, wie es passiert ist?“, fragte er. „Ich bin gesprintet, weil ich eine Gegenspielerin einholen wollte und habe nicht gemerkt, dass ich fast mit einer anderen Gegenspielerin zusammen gestoßen bin und musste ganz schnell zur Seite springen. Wahrscheinlich hat in dem Moment mein Knie nachgegeben“, berichtete sie. „Oh ja, das ist richtig angeschwollen“, murmelte er und tastete ihre Verletzung ab. Wieder tat es ziemlich weh. Annemieke musste echt die Zähne aufeinander beißen um nicht zu weinen oder zu jammern. „Es sind garantiert einige Bänder und Knorpel im Knie mit in Leidenschaft gezogen worden. Um zu erkennen, um welche Verletzung es sich genau handelt, setzen wir die Untersuchung mit Röntgen und Kernspin fort“, sagte er mit einem Fachkennerblick.

 

Zwei Stunden später lag sie auf ihrem Zimmer, der Kinder- und Jugendstation, dass sie sich mit einem anderen Mädchen teilte. Wieder war Annemieke in Tränen aufgelöst, nachdem ihr mitgeteilt wurde, dass sie sich das Kreuzband gerissen hatte und nächste Woche operiert werden musste. „Warum muss ich immer so ein Pech haben?“, heulte sie los. „Ganz ruhig, Schatz!“, streichelte Raffael ihre Hand. Mathilda hielt ihre andere Hand und ihre Eltern sahen sich betroffen an. „Es tut mir so leid, Süße, dass du dieses Schmerzen erleiden musst“, zitterte die Stimme ihrer Mutter. Annemieke befürchtete, dass sie gleich auch noch in Tränen ausbrach. „Du bist ein großes und ganz tapferes Mädchen, Annemieke“, meinte ihr Vater, „Das machst du schon!“ Er stellte ihr eine Vase mit Tulpen auf ihren Nachttisch, wo sich bereits ein paar Süßigkeitentüten stapelten. Ihre Mutter drückte ihr das Handy in die Hand.

 

Sofort schrieb Annemieke alle ihre Freundinnen und Freunde an, dass sie mit einer schweren Knieverletzung im Krankenhaus lag. „Oh je, du Arme! Du tust mir richtig leid. Ich komm dich bald im Krankenhaus besuchen“, schrieb ihr ihre beste Freundin Emily. „Micky, du Pechvogel. Gute Besserung!“, kam eine Nachricht von Aylin. „Das hört sich ganz übel an, hoffentlich verheilt dein Knie wieder ganz schnell“, schrieb ihre neue Freundin Alexandra dazu, mit der sie zusammen in der Schule viele Kurse hatte. „Ich muss jetzt los, mein Zug fährt bald. Tschüss Darling!“, stand Raffael auf und gab ihr einen Abschiedskuss. Traurig sah Annemieke ihren Freund hinterher und musste fast wieder weinen. „Nimm’s nicht so tragisch! Wir werden noch bis heute Abend bei dir bleiben“, tröstete ihre Zwillingsschwester sie.

 

Die OP stand für nächsten Dienstag an. Annemieke war einerseits sehr nervös, aber gleichzeitig froh, dass die Sehnen in ihrem Knie wieder gerichtet wurden. Kurz nachdem sie die Narkosespritze bekam gesetzt bekam, wurde ihr schwarz vor Augen und sie fiel in einen tiefen Schlaf. Daher bekam sie nicht mit, wie sie in den OP geschoben wurde und das Ärzteteam ständig um sie herum wirbelte. Erst zwei Stunden später wachte sie in einem anderen Raum wieder auf. Eine weitere Stunde verging, bevor sie überhaupt einen klaren Gedanken fassen konnte. Vor lauter Müdigkeit schlief sie ein, bis sie am späten Nachmittag von einer Krankenschwester geweckt wurde. „Draußen wartet Besuch auf dich“, kündigte sie an. Die Tür schwang auf und Raffael stand mitten im Raum. „Hallo, meine kleine tapfere Heldin! Es freut mich, dass die Operation so erfolgreich verlaufen ist“, freute er sich und gab ihr einen leidenschaftlichen Kuss. „Ich hatte ganz umsonst Angst gehabt, aber im Endeffekt habe ich keine Schmerzen gehabt“, strahlte sie. Ihr ging es deutlich besser, auch wenn sie ihr Bein immer noch nicht bewegen durfte. „Das wird wohl an den Schmerzmitteln liegen“, sagte ihr Freund und fügte hinzu, „Weißt du, was heute für ein besonderer Tag ist?“

 

„Nein, was denn?“, erwiderte sie irritiert. „Genau vor einem Jahr habe ich meine kleine Almprinzessin zum ersten Mal geküsst und seitdem sind wir ein Paar“, löste er das Rätsel. „Ach stimmt, das habe ich ganz vergessen“, fiel es ihr ein. „Mach dir nichts draus, du hast momentan ganz andere Sorgen“, beruhigte er sie und überreichte ihr ein kleines rotes Kästchen. „Darf ich aufmachen?“, fragte sie neugierig. „Aber klar, das ist nur für dich“, nickte er. Ein schlichter silberner Ring kam zum Vorschein. „Gib deinen Ringfinger her“, nahm er ihre Hand und steckte den Ring auf ihren Ringfinger. „Du bist so süß, Raffi, vielen Dank!“, sagte sie nach einer Weile, nachdem sie ihre Worte wieder gefunden hatte. „Für meine Micky Mouse habe ich immer eine Überraschung in Petto grinste Raffael. „Dafür ich habe ich den charmantesten Jungen der Welt“, gab sie ihnen einen Kuss.

 

„Hallihallo!“, schwang im nächsten Moment die Tür auf. Mathilda und Kiki kamen in das Krankenzimmer und umarmten Annemieke. „Hi, es ist schön, dass ihr da seid“, strahlte Annemieke und fügte hinzu, „Kiki, ich wusste gar nicht, dass du wieder hier bist“ „Doch, doch, ich habe auch Herbstferien falls du es vergessen hast. Ich übernachte bei Fianna, die gerade eine Musicalprobe hat“, erwiderte ihre schwarzhaarige Freundin. „Cool!“, nickte sie und fügte etwas deprimiert hinzu, „Leider kann ich kaum etwas mit euch unternehmen solange ich noch im Krankenhaus bin“ „Ich hab’s!“, platzte es aus Mathilda heraus, „Wir leihen uns einen Rollstuhl für Micky und schieben sie durch den Park“ „Dann werden wir uns wahrscheinlich darum streiten wer sie schieben darf“, meinte Raffael. „Oder ich bestimme, wer mich schiebt“, wandte Annemieke ein. „Klar, das wäre auch eine Lösung“, nickte Kiki. „Seit wann trägst du einen Ring?“, fiel Mathilda auf, dass ihre Schwester einen Silberring trug.

 

„Das ist doch klar, von wem sie den Ring hat“, guckte Kiki in Raffaels Richtung. „Steht dir aber, Schwesterchen, damit siehst du ein bisschen erwachsener aus“, fuhr Mathilda fort. „Wenn du meinst“, lächelte Annemieke. „Stimmt, sieht wirklich bisschen aus wie ein Ehering“, fand Kiki. „So weit ist es doch noch nicht“, lachten Annemieke und Raffael. „Dann werden Kiki und ich deine Trauzeuginnen sein“, leuchteten Mathildas Augen. „Das läge aber sehr weit in der Zukunft“, meinte Raffael, „Micky ist gerade siebzehn geworden und ich bin neunzehn“ „Fast hätte ich es vergessen!“, wühlte Kiki in ihrer Handtasche, „Ich habe natürlich ein Geschenk für meine tapferste Freundin“ Sie überreichte Annemieke ein blaues Tütchen. „Dankeschön, die sind aber hübsch!“, betrachtete sie die beiden Muschelohrringe. „Freut mich, dass sie dir gefallen“, lächelte Kiki. „Moment, ich habe auch noch für dich!“, zauberte Mathilda ein wunderschönes Armband mit vielen glitzernden Anhängern aus ihrer Jackentasche, welches sie ihrer Schwester umband.

 

„Noch mal vielen Dank für alles“, war Annemieke ganz überwältigt. „Ich glaube, ihr müsst gehen“, wandte sich Mathilda an Raffael und Kiki, „Meine Mutter schreibt mir gerade, dass sie jetzt zum Krankenhaus kommen“ Da nur drei Besucher zur gleichen Zeit erlaubt waren, verließen Kiki und Raffael das Zimmer. Kurz darauf kamen die Eltern der Zwillinge ins Zimmer. „Da ist unsere tapfere Maus!“, lächelte ihr Vater und streichelte ihr über den Kopf. „Du scheinst die OP ganz gut überstanden zu haben“, meinte ihre Mutter und gab ihr einen Kuss. „Ja, das habe ich auch, ich merkte gar nichts, bis ich wieder hier wach geworden bin“, nickte Annemieke. „Wir haben dir noch etwas mitgebracht“, stellte ihr Vater eine Vase mit einem bunten Blumenstrauß auf den Nachttisch. „Wir haben dir noch die Bücher von deiner Lieblingsserie und ein Mandalabuch besorgt, so kann dir nicht mehr langweilig werden“, grinste ihre Mutter verschmitzt. „Stimmt, so kann mir nicht mehr langweilig werden“, lachte Annemieke, „Danke, ihr seid die Besten!“

 

Ein paar Tage später wurde sie entlassen. Da Herbstferien waren, versäumte sie glücklicherweise nichts in der Schule. Zuhause war deutlich besser als im Krankenhaus, trotzdem war ihr häufig langweilig. Die Bücher, die ihre Eltern ihr geschenkt hatten, hatte sie binnen kürzester Zeit verschlungen und ihre Zwillingsschwester unternahm viel mit ihren Freunden oder war beim Hockeytraining. Annemieke selbst konnte nichts machen. Mit einem frisch operierten Knie waren Fahrstunden, Hockeytraining, Reiten und Shoppingtouren mit ihren Freundinnen nicht drin. „Manchmal kann das Leben so gemein sein. Warum vergnügen sich alle anderen, während ich alleine auf dem Sofa versauere?“, murrte sie und schaltete den Fernseher aus. Momentan lief nur Mist. Seufzend sah sie aus dem Fenster. Nichts als Wolken uns Nieselregen! Das hellte ihre verkorkste Laune auch nicht auf, sondern ganz im Gegenteil.

 

Ganz unerwartet klingelte es an der Haustür. „Micky, Besuch für dich!“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Flur. „Hallo Micky Mouse!“, schneite Elinor ins Wohnzimmer und wickelte sich aus ihrem ellenlangen karierten Schal. Elinor war eine von ihren neuen Freundinnen, die sie erst in der Oberstufe kennen gelernt hatte. Ihren Vornamen hatte sie ihrer englischen Mutter zu verdanken und allgemein war sie ein bisschen schräg, was Annemieke zu schätzen wusste. Elinor war ein wenig wie ein Hippie gekleidet, hatte eine gelbe Blume im Haar und trug allerlei selbst gebastelten Schmuck. „Wie geht es deinem Knie? Hast du die OP gut überstanden“, wollte sie als erstes wissen. „Es wird langsam besser, aber es wird noch lange dauern, bis ich wieder normal laufen kann. Heftige Schmerzen habe ich dank der guten Schmerzmittel nicht mehr, allerdings muss ich mir jeden Tag eine Thrombosespitze geben“, erwiderte Annemieke und richtete sich im Sessel auf. „Ach du Arme!“, wurde sie von Elinor bemitleidet. „Es gibt Schlimmeres!“, gab sie unbeeindruckt zurück. „Wollen wir Tee kochen und einen Film kochen?“, schlug ihre Freundin vor. „Gerne, ich kann aber nicht eben mal so schnell aufstehen“, seufzte sie und fügte hinzu, „Aber du kannst gerne zu meiner Mutter in die Küche gehen und fragen, ob sie uns Tee kocht“

 

„Der Auftrag wird erfüllt, meine Majestät!“, lächelte Elinor und verschwand in die Küche. Wenige Minuten später kam sie mit einem Tablett mit einer Thermoskanne, einem Korb voller warmer Zimtschnecken und einer Packung Kinderriegel wieder. „Deine Mutter ist wohl sehr großzügig!“, lachte Elinor. „Klar, sie hilft mir da, wo es nur geht“, nickte Annemieke. Die Mädchen warfen die DVD ein und machten es sich im Kerzenschein mit Decken und Kissen gemütlich. Elinors Duftkerzen verbreiteten einen angenehmen Geruch im Wohnzimmer. Der Nachmittag war dank Elinor gerettet! Annemieke hatte den Film vor einem halben Jahr mit ihren Freundinnen im Kino gesehen. „Musst du an dieser Stelle auch heulen?“, schnappte sich Elinor ein Taschentuch. „Oh ja, das ist wirklich die rührendste Stelle. Damals im Kino habe ich wie ein Schlosshund geheult“, murmelte sie und blinzelte eine Träne weg.  

 

Da die beiden Freundinnen nicht die ganze Zeit vor dem Fernseher hocken wollten, holte Elinor ihre Geige raus. Annemieke begleitete sie auf ihrer Klarinette. Ihr gefiel es, dass ihre Freundin ihre Vorliebe für Musik teilte. Generell übte Annemieke viel öfter, seitdem sie ihren Sportunfall hatte. Vielleicht sollte sie doch später Musik studieren. Gerade als die beiden Mädchen das nächste Stück anstimmten, platze Mathilda mit Björn ins Wohnzimmer, mit dem sie inzwischen sehr gut befreundet war. „Matti, wie siehst du denn aus?!“, ließ Annemieke fast ihr Instrument fallen. „Ich war beim Frisör, wie man sieht. Es musste ein Tapetenwechsel her, ich habe die Haarfarbe nicht mehr ausgehalten“, grinste ihr Zwilling schelmisch. „Da hat er bei dir wohl Kahlschlag gemacht“, kommentierte Elinor trocken. „Und hundert Kilo Farbe drauf geklatscht“, fügte Annemieke hinzu.

 

„Den Frisurtipp habe ich übrigens von ihm“, zeigte Mathilda auf ihren Begleiter. „Ich war der Meinung, sie sollte etwas Neues ausprobieren“, meldete sich Björn zu Wort. Annemieke fand, dass ihre Zwillingsschwester mit den hoch gegelten, wasserstoffblond gefärbten und rappelkurzen Haaren kaum mehr wieder zu erkennen war. „Willst du so rumlaufen?“, lachte Elinor. „Wie meinst du das?“, sah Mathilda sie ein wenig irritiert an. „Ich habe nie gedacht, dass du dir deine Haare so schneiden lässt“, fuhr Elinor fort, „Ich finde es trotzdem sehr cool“ „Danke, aber ich werde meine Haare wieder wachsen lassen“, meinte Mathilda, „Ich wollte nur meine hellen Haare wieder habe, da mir dieser Braunton nicht wirklich zu mir passte“ „Gott sei dank“, murmelte Annemieke ganz leise.

 

4. Vivien - Zwischen den Türen

 Gut gelaunt zeichnete Vivien mit einem Filzstift die Umrisse der Erde auf das weiße Stück Pappe, welches ein Plakat werden sollte. „Bist du bald so weit?“, sah ihr Alex über die Schulter. „Gleich, nur noch paar Feinheiten und dann bin ich fertig“, stammelte sie verlegen, als sie in seine dunkelbraunen Augen sah. „Okay, aber du brauchst nicht zu hetzen, du hast noch etwas Zeit“, erwiderte er und rückte seine coole Wollmütze zurrecht, unter der ein paar Spitzen seiner dunklen Haare frech hervorlugten. Alex war in der gleichen Jugendorganisation „Save the earth“ wie Vivien, die sich für den Klimaschutz und den Erhalt der Flora und Fauna weltweit einsetzte. Einmal pro Woche traf sich die Gruppe im Jugendzentrum, wo sie Aktionen planten, über aktuelle Themen debattierten und Demonstrationen vorbereiteten. Am nächsten Samstag sollte eine Demonstration für den Klimaschutz in der Innenstadt stattfinden und natürlich war Viviens Gruppe mit von der Partie.

 

„Wenn du Lust hast, können wir nach der Demo zusammen etwas trinken gehen?“, zwinkerte ihr Alex zu, als sie am großen Tisch saßen. „Gerne, ich habe da sogar Zeit“, nickte sie. „Ich würde dich gerne einladen“, fuhr er charmant fort, „Meine Großeltern haben mir beim letzten Kaffeetrinken einen großen Batzen Geld in die Hand gedrückt und ich weiß nicht was ich damit anfangen soll. Einen Teil habe ich an unsere Organisation gespendet, aber ich habe immer noch was übrig“ „Könnt, ihr bitte noch einmal zuhören“, bat Christian, der die Gruppe leitete, für einen kurzen Moment um Aufmerksamkeit. Vivien war trotzdem nicht bei der Sache und schielte die ganze Zeit unauffällig zu Alex rüber. Er war inzwischen ein guter Freund von ihr, dennoch fand sie ihn von Anfang irgendwie anziehend. Vielleicht würde ihre geplante Verabredung sogar ein Date werden. Vivien wusste, dass viele Mädchen aus seiner Schule auf Alex standen, aber er ließ die Mehrheit der aufgetakelten Tussen nicht an sich heran und zeigte sich den meisten Mädchen gegenüber ziemlich reserviert.

 

Zuhause loggte sich Vivien, nachdem sie ihre Ziege Kitty versorgt hatte, bei Skype ein. Sie brauchte nicht einmal zwei Minuten warten und da dudelte die Melodie des Videoanrufes los. Vivien nahm den Anruf an und auf ihrem Bildschirm tauchte Niels Gesicht auf. „Hi Süße, wie geht es dir?“, vernahm sie seine tiefe Stimme, die schon sehr erwachsen wirkte, obwohl er erst in zwei Monaten sechzehn werden würde. „Prima, wir haben heute mit der Gruppe alle Banner und Plakate fertig bekommen. So können wir Samstag bei der Demo großes Geschütz auffahren“, erzählte sie. „Cool, leider kann ich Samstag nicht dabei sein, ich habe ein Handballspiel“, mischte sich ein bisschen Enttäuschung in seine Stimme, „Wir müssen uns echt mal hinkriegen, dass wir uns treffen“ „Stimmt, uns ist immer etwas dazwischen gekommen, entweder war einer von uns krank oder passte aus anderen Gründen nicht“, erwiderte sie. „Vivi, ich will dich unbedingt kennen lernen, du bist so ein hübsches Mädchen“, sagte ihr Chat-Kumpel.

 

„Wir werden schon einen Termin finden“, erwiderte sie und begann von den Erlebnissen der letzten Wochen zu erzählen. „Ach, eure Mädchenbande existiert nicht mehr?“, fragte Niels überrascht nach. „Schon zwei Monate nicht mehr“, meinte sie, „Wir sind zu alt, drei Bandenmitglieder leben momentan woanders und wir haben für den Bandenkram kaum noch Zeit. So ist das Leben in der Welt der Erwachsenen, jede lebt ihr eigenes Leben“ Es wurde noch ein ganz nettes und angeregtes Gespräch, bis es aus Vivien rausrutschte, dass sie am Samstag mit Alex verabredet war. „Darf ich wissen, was für ein Kerl das ist?“, runzelte Niels die Stirn. „Nur ein guter Kumpel von mir, mit dem ich auf die Demo gehe“, konnte sie ihn halbwegs beruhigen. „Wenn das mal die Wahrheit ist?“, sah er immer noch leicht skeptisch aus. „Aber natürlich“, nickte sie heftig. Einen Augenblick später machte Vivien Schluss, da sie Hunger hatte und sich eine Pizza in den Ofen schieben wollte. „Ich bin so ein Esel!“, schimpfte sie mit sich selbst, „Warum habe ich das nur ausgeplappert?“

 

Alex war zwar ein guter Kumpel, genauso wie Niels auch, aber Alex war mindestens zwei Jahre älter als er, wirkte reifer und war zudem sehr attraktiv. Vivien traute sich nicht, dies Niels zu sagen, zumal er sich immer noch nennenswerte Chance bei ihr ausmalte. Alex große Pluspunkte waren, dass Vivien ihn bereits gut kannte, sich blendend mit ihr verstand und er vor Ort war. Niels wohnte in einer Stadt, die über hundert Kilometer entfernt war und so hatte Vivien noch nicht im echten Leben gesehen. „Niels wird garantiert denken, dass ich ihn für einen anderen Jungen stehe lasse“, ging ihr durch den Kopf, „Er machte vorhin schon einen fast eifersüchtigen Eindruck. Zum Glück habe ich Alex Namen nicht erwähnt“ Gleichzeitig wurde ihr auch klar, dass sie Niels die Wahrheit sagen musste, wenn etwas zwischen ihr und Alex zustande käme.

 

Am Samstagnachmittag traf sich Viviens Gruppe am Marktplatz, von hier aus sollte der Demonstrationszug durch die ganze Innenstadt gehen. Auffällig war, dass sie sich alle hellgrüne Shirts übergezogen hatten. „Na, bist du auch am Start?“, begrüßte Alex sie, der heute eine obercoole Strickmütze in dunkelgrün trug. „Na klar, sogar voll motiviert!“, lächelte sie und ließ sich zur Begrüßung kurz von ihm in den Arm nehmen. „Cool, ich bin umso motivierter, wenn wir nachher zusammen einen trinken gehen, aber erstmal fighten wir für den Erhalt des Regenwaldes und für den Klimaschutz“, grinste er sie an. Vivien schmolz innerlich dahin, er war wirklich süß. Als sich mehrere Gruppen und Demonstrationsteilnehmer versammelt hatten, setzte sich der Zug in Bewegung. Eine Trommelgruppe, die vorweg lief, sorgte für Stimmung. Viviens Gruppe hielt alle möglichen Plakate und Banner hoch, die sie selbst gestaltet hatten. Mitten in der Einkaufsstraße entdeckte sie Mathilda, Fianna und Aylin, denen sie freudig zuwinkte. „Was machst du hier?“, rief ihr Aylin zu.

 

„Siehst du doch, ich laufe auf einer Demonstration für den Schutz des Regenwaldes mit“, erwiderte Vivien. „Dann viel Spaß!“, zwinkerte ihr Fianna zu. Viel mehr Zeit hatte sie nicht, um sich mit ihren Freundinnen zu unterhalten. „Kennst du diese Mädchen?“, stupste Alex sie an. „Ja, das sind ein paar von meinen besten Freundinnen, die auf meine Schule gehen“, nickte Vivien. „Sie scheinen ganz sympathisch zu sein“, fand Alex, „Schade, dass sie sich unserem Zug nicht angeschlossen haben. Vielleicht kannst du sie beim nächsten Mal fragen“ „Offenbar sind sie shoppen oder hatten etwas anderes zu tun, aber vielleicht schaffe ich es, dass ich beim nächsten Mal eine von ihnen überrede“, antwortete sie. Vivien hatte schon öfter versucht ihre Freundinnen zu überzeugen einmal zum Treffen ihrer Organisation mitzukommen, aber entweder waren sie nicht sonderlich interessiert oder sie meinten, dass sie dafür keine Zeit mehr hatten. Vivien hingegen opferte einen Großteil ihrer Freizeit dafür, da sie seit den Sommerferien mit dem Reiten aufgehört hatte.

 

Nach der Demo führte Alex sie zu einer schicken Bar, die „Bottle“ hieß und mit vielen neonfarbenen Lichtern beleuchtet war. Da Vivien vor drei Monaten sechzehn geworden war, wurde ihr der Zutritt gewährt, allerdings durfte sie sich nur die alkoholfreien Cocktails aussuchen. Vivien war das ganz lieb, da sie sowieso nicht auf harte Alkoholika stand. Alex wiederum gönnte sich einen alkoholhaltigen Cocktail, da er schon über achtzehn war. „Was sagst du zu der Resonanz unserer Demo?“, wollte er von ihr wissen. „Das waren ganz schön viele Leute, die sich uns angeschlossen haben“, war Vivien immer noch beeindruckt. „Aber mich freut es, dass immer mehr Menschen aufwachen, was den Umwelt- und den Klimaschutz betrifft“, meinte er zufrieden. Alex bestellte sich nach dem ersten Cocktail gleich den nächsten. Vivien wollte im Anschluss nur noch eine kleine Cola trinken, weil sie seine Einladung nicht all zu sehr ausnutzen wollte und lieber bescheiden blieb.

 

Vivien fiel auf, dass mit steigendem Alkoholkonsum Alex von seinem Thema abkam und sich mehr über private Dinge unterhielt. Vivien hing an seinen Lippen, denn er konnte gut und spannend erzählen. „Weißt du, meine letzte Freundin war eine hohle Tussi, die interessierte sich nur für Mode und so einen Mist. Sie meinte, sie könnte anderen Leuten total arrogant gegenüber auftreten und dann hat sie eine Klassenkameradin über längere Zeit mit ihren Freundinnen systematisch fertig gemacht. Das war der Zeitpunkt, wo ich mit ihr Schluss gemacht habe“, erzählte er. „Hattest du seither wieder eine Freundin?“, fragte sie nach kurzem Zögern. „Nein, ich wollte warten, bis das richtige Mädchen kommt, welches zu mir passen könnte“, erwiderte er und warf ihr einen geheimnisvollen Blick zu. Mal wieder war er total sweet und wieder begannen die Schmetterlinge in Viviens Bauch durcheinander zu flattern. War das schon eine Andeutung, ob er wirklich etwas Ernstes von ihr wollte?

 

Sechs Tage später, als Vivien aus der Schule kam, fand sie ihre Mutter weinend in der Küche vor. „Mama, was ist um Himmels Willen los?“, blieben Vivien fast die Worte im Halse stecken. „Oma ist schwer krank“, meldete sich ihre Mutter zu Wort, nachdem sie sich die Nase geputzt hatte. „Das heißt?“, forschte sie weiter nach. „Sie hat Bauchspeicheldrüsenkrebs und hat nur noch wenige Monate oder gar Wochen zu leben“, schluchzte ihre Mutter auf. Vivien hatte das Gefühl, als wurde ihr ganz plötzlich der Boden unter den Füßen entzogen. „Das kann doch nicht wahr sein“, stammelte sie entsetzt. Ihre Mutter nickte nur unter Tränen. Jetzt wurde es klar, dass es die grausame Realität war. Vivien rannte die Treppe rauf, schloss sich in ihrem Zimmer ein, warf sich auf ihr Bett und weinte hemmungslos. Ein Leben ohne ihre Großmutter war unvorstellbar. Seitdem sie denken konnte, war ihre Oma eine wichtige Stütze und Vivien war mit ihr viel gereist. Erst in den Herbstferien war sie mit ihr eine Woche in Irland und im Sommer für ein paar Tage in der Schweiz.

 

Diese Horrordiagnose traf sie wie der Blitz und es stand bereits jetzt schon fest, dass ihre Oma den Kampf gegen diese hinterhältige Krankheit verlieren würde. Vivien konnte ihre Tränen nicht stoppen, auch als plötzlich ihr Handy klingelte. „Hier ist Vivien Mahlmann“, meldete sie sich mit verheulter Stimme. „Ach du liebes bisschen, was ist passiert?“, hörte sie Mathilda am anderen Ende der Leitung, „Ich wollte fragen, ob du zu unserem Videonachmittag kommst. Fianna, Aylin, Emily und Mickys neue Freundin Elinor sind auch da“ „Nein, ich komme nicht. Ich habe gerade erfahren, dass Oma schwer krank ist und sterben wird“, brach Vivien wieder in Tränen aus. „Oh Gott, was hat sie nur?“, wollte ihre Freundin wissen, die sich richtig geschockt anhörte. „Bauchspeicheldrüsenkrebs“, schluchzte sie auf.

 

„Oh nein, das tut mir sehr leid, das ist eine echt fiese Krankheit“, klang Mathilda sehr betroffen. Vivien bat das Telefonat zu beenden, da sie mit dem Nerven am Ende war. Gerade als sie ihr Handy weglegen wollte, poppte eine Nachricht von Alex auf, der wissen wollte, wie es ihr geht. „Hi, mir geht’s dreckig L Oma ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt und wird nicht mehr lange leben. Hilfe, ich kann einfach nicht mehr“, schrieb sie ihm zurück. „Soll ich eben kurz auf einen Spaziergang vorbei kommen?“, antwortete er. „Gerne, ich kann jeden Trost gut gebrauchen“, tippte sie und schickte die Nachricht ab.

 

Alex klingelte wie versprochen an der Haustür. „Du siehst richtig fertig aus“, sagte er, als sie ihm die Tür aufmachte. Vivien nickte nur, ihre Augen waren immer noch verquollen und ihr war Gesicht knallrot. Da hatte es nichts geholfen, dass sie sich Minuten lang das Gesicht gewaschen hatte. Hastig zog sie sich Schuhe und Jacke an, bevor sie die Haustür hinter sich schloss. „Ich weiß, wie du dich fühlen musst“, redete er mit seiner sanften Stimme auf sie ein, „Vor zwei Jahren ist mein Opa gestorben, mit dem ich immer gezeltet und geangelt habe. Glaub mir, er fehlt mir immer noch sehr“ Langsam schritten sie nebeneinander durch den Park. Auf dem Boden lagen bereits schon viele Blätter und dafür waren die Baumwipfel fast kahl. Zudem war der Himmel mit bleigrauen Wolken verhangen. So sah ein trister Novembertag aus. „Ich kann mir es nicht vorstellen, wenn Oma eines Tages einfach so stirbt“, schnäuzte sich Vivien, „Sie hat mir sogar versprochen, dass wir in zwei Jahren in die Vereinigte Staaten reisen“

 

Mitfühlend legte Alex ihr den Arm um die Schulter. „Komm, wir setzen uns kurz auf die Bank und machen kurz Pause“, sagte er. „Wenn Oma tot ist, muss Opa ins Altenheim“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme, „Er kann nicht alleine leben, seitdem er an Demenz erkrankt ist. Er kann noch nicht mal alleine vernünftig seine Schuhe anziehen“ Vivien konnte nicht verhindern, dass sie weinend in sich zusammensackte. „Vivien, ich bin immer an deiner Seite, wenn ich dich brauche. Ich bin dein Freund, der dir zur Seite stehen wird, wenn deine Oma nicht mehr lebt“, tröstete er sie und nahm ihre Hand. „Danke!“, hauchte sie leise und ließ sich erschöpft in seine Arme sinken. „Ich weiß nicht, ob es jetzt ein guter Zeitpunkt ist, es dir zu sagen“, holte er tief Luft, „Ich mag dich so sehr, dass ich schon sagen muss, dass ich dich liebe. Du bist das Mädchen, welches ich mir wünsche. Ich war mir von Anfang an sicher, dass wir gut zusammen passen“ Vivien war baff und traute ihren Ohren nicht. Mit dieser Aussage hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Ihre Gefühle schwankten zwischen großer Dankbarkeit, Ungläubigkeit und Freude.

 

Sie war so durcheinander, dass sie kein Wort über die Lippen brachte, trotzdem hielt sie die ganze Zeit seine Hand, während sie durch die Baumallee liefen. „Wenn du Lust hast, kannst du Sonntagmittag zu uns kommen. Meine Mutter kann hervorragend kochen. Sie würde sich freuen, wenn sie dich kennen lernt“, lud er sie für übermorgen zum Essen ein. „Ich muss meine Mutter fragen, ob ich kommen darf, aber im Normalfall hat sie nichts dagegen“, erwiderte sie verlegen und stellte mit einem Mal fest, dass sie nicht mehr weinte. „Cool, das freut mich sehr“, lächelte er und beugte sich zu ihr runter. „Darf ich?“, fragte er und näherte sich mit seinen Lippen ihren eigenen Lippen, sodass sie sich ganz kurz berührten. Wieder war Vivien sehr überrascht, dass er sie aus heiterem Himmel küsste. Zuvor hatte sie noch nie ein Junge geküsst. „Ich liebe dich auch!“, sagte sie im Inneren, aber sprach diesen Gedanken nicht laut aus. Dank Alex variierte ihre Gefühlspalette von todtraurig über Hoffnung bis hin zum starken Verliebtsein. Vivien konnte es gar nicht glauben, dass sie (fast) mit ihm zusammen war. „Komm, wir gehen nach Hause, es wird langsam kalt“, gab Alex die Richtung vor, „Wenn du magst, bleibe ich noch ein bisschen“ Vivien nickte nur und hielt seine Hand fest.

 

Am nächsten Morgen klingelte es schon ganz früh an der Haustür. Vivien lag noch im Bett. Wer könnte es gewesen sein? Bestimmt nur der Postbote, wer sollte sonst schon um halb neun bei ihnen klingeln. Rasch zog sie sich ihren Morgenmantel über und lief die Treppe runter. Als sie die Haustür öffnete, blieb ihr vor Überraschung der Mund offen stehen. „Hi Mathilda, was machst du hier?“, fragte sie. „Ich wollte dir nur kurz einen Besuch abstatten. Ich hätte wohl noch etwas mehr als eine Stunde Zeit, aber danach muss ich weiter, da ich noch ein Hockeyspiel habe“, erwiderte ihre Freundin mit der hoch gegelten Kurzhaarfrisur. „Klar komm rein“, nickte Vivien und hakte nach, „Wo hast du deine Schwester gelassen?“ „Ach, die ist zuhause, Micky kann sich immer noch nicht ohne Krücken fortbewegen“, antwortete Mathilda und zog ihre Schuhe aus. Schnell belud Vivien ein großes Tablett mit ein paar Scheiben Toast, einer Flasche Orangensaft, Zimtcroissants, Salami, Frischkäse und Geschirr. Schwatzend verschwanden die beiden Freundinnen in Viviens Zimmer, wo sie sich auf ihr Bett setzen.

 

„Die Sache mit deiner Oma macht dich bestimmt sehr zu schaffen“, begann Mathilda, „Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlen musst. Vor ein paar Wochen hatte unser Opa eine große Herz-OP. Wir wussten nicht, ob er sie übersteht. Nun ist er in der Reha, aber es wird noch dauern, bis er gesund ist. Oma ist knapp einen Monat davor schwer gestürzt und hat sich das Becken gebrochen. Da sie nicht alleine zuhause bleiben kann, wohnt sie seit drei Wochen bei uns, bis Opa wieder fit ist“ „Hört sich alles nicht gut an“, musste Vivien schlucken. Im Gegensatz zu Mathildas Großeltern, die die Chance hatten wieder gesund zu werden, war ihre eigene Oma todkrank. „Hier, das hat meine Schwester für dich gemacht“, drückte ihr ihre Freundin einen Schutzengel aus Fimo in die Hand. „Danke, der ist aber schön geworden. Richte Micky tausend Dank aus“, strahlte sie und stellte den Schutzengel auf ihren Nachttisch.

 

„Das werde ich machen“, nickte Mathilda und erzählte, „Gestern als wir den Videonachmittag gemacht haben, haben wir uns auch über die Krankheit deiner Oma unterhalten. Es ist schrecklich, da wir wissen, wie sehr du an ihr hängst“ Vivien nickte nur schwach, aber sagte nichts, da ihr fast wieder die Tränen in den Augen standen. „Lass uns mal lieber das Thema wechseln“, schlug Mathilda vor, die merkte, dass Vivien nicht länger darüber reden wollte. Während die beiden Mädchen frühstückten, redeten sie über dies und das. „Cool, bist du schon mit Alex zusammen?“, freute sich Mathilda. „Naja, ich würde sagen eher fast“, meinte Vivien, „Jedenfalls hat er mich morgen zum Mittagessen bei sich zuhause eingeladen“ „Wie cool, ich glaube, du hast ein richtiges Date“, strahlte ihre Freundin. „Da gäbe es nur ein Problem“, murmelte Vivien, „Niels ist an mir interessiert und will in Zukunft auch ein Date mit mir“ „Du musst dich für eine Person entscheiden“, holte ihre Freundin tief Luft, „Es gibt nur einen Jungen, den du lieben kannst und ich würde mich an deiner Stelle für Alex entscheiden, da du ihn schon länger kennst und ihn persönlich gesehen hast“

 

Vivien befolgte Mathildas Ratschlag und loggte sich bei Skype ein, nachdem ihre Freundin wieder gefahren war. Sie musste es über das Herz bringen und Niels die Wahrheit schreiben, egal wie sehr sie ihn damit enttäuschte. Manchmal musste man direkt sein, womit Mathilda nie ein Problem hatte. Endlich hatte sich Vivien aufgerafft und begann zu schreiben. „Hallo Niels, vielleicht habe ich dir schon erzählt, dass ich einen Jungen kennen gelernt habe, der etwas älter ist als ich. Jedenfalls lernte ich ihn über eine Jugendgruppe kennen. Wir verstehen uns sehr gut, wir teilen ähnliche Interessen und machen viel gemeinsam. In letzter Zeit hat sich einiges zwischen uns entwickelt und morgen habe ich mein erstes richtiges Date mit ihm. Sei mir nicht böse, dass ich mich in ihn verliebt habe, aber es ist nun mal passiert. Das ist nichts gegen dich, aber ich mag dich trotzdem sehr gerne. Wenn du magst, können wir auch so befreundet sein und uns treffen. Viele Grüße, deine Vivi!“, verfasste sie die Nachricht, was allerdings fast eine Stunde in Anspruch nahm, dass sie sich den Kopf zerbrach, wie sie es am geschicktesten formulieren konnte. Vivien war heilfroh, als sie es endlich hinter sich hatte. Da Niels nicht online war, fuhr sie den Rechner wieder runter und zog sich richtig an. Ihre Ziege Kitty musste noch gefüttert werden, das hatte sie fast vergessen.

5. Fianna – Berufswunsch Schauspielerin

„Sei vernünftig und schlag dir diesen Blödsinn aus dem Kopf, Kind“, sagte ihre Mutter beim Abendessen zum zigsten Mal. „Du hast aber nicht zu bestimmen, was ich aus meiner Zukunft mache“, erwiderte Fianna zickig. „Als Schauspielerin landest du schneller auf der Straße, als dir lieb ist“, fuhr ihre Mutter im gleichen genervten Tonfall fort, „Konzentriere dich lieber auf die Schule und schreibe anständige Noten“ „Ich werde sowieso nach dem Fachabitur die Schule verlassen“, verschränkte Fianna die Arme vor der Brust. „Das wirst du nicht“, hielt ihre Mutter weiterhin dagegen, „Du musst das Abitur machen und das mit anständigen Noten“ „Meine Güte, es lass doch Fianna mal in Ruhe, Mom. Sie ist doch alt genug, dass sie sich alleine entscheiden kann, was sie aus ihrem Leben macht“, mischte sich Fiannas Zwillingsbruder Tom ein. Fianna warf ihm ein dankbares Lächeln zu.

 

„Fianna, du solltest dir wirklich noch mal in Ruhe Gedanken machen“, meldete sich ihr Vater zu Wort, „Wir wollen dir nichts verbieten oder gar vorschreiben, aber du solltest schon abwägen, was sinnvoll ist oder nicht“ „Ich hatte bereist eine Statistenrolle in einer Fernsehserie und bei einer Musicalschule wäre ich nach dem Vorsprechen auch angenommen worden, wenn Mom mir die Unterschrift verweigert hätte“, holte Fianna tief Luft. „Hör mal zu, Liebes!“, begann ihre Mutter, „Als du diese Nebenrolle in dem Film hattest, waren Sommer- bzw. Herbstferien. Damals hattest du genug Zeit, ohne dass du dich um die Schule kümmern musstest. Außerdem habe ich dir die Unterschrift für die Musicalakademie verweigert, weil das eine ganztägige Ausbildung gewesen wäre und du hättest dafür nach Frankfurt ziehen müssen. Mit sechzehn wärst du mindestens zwei Jahre zu jung gewesen, um alleine zu leben“ Fianna versagte die Sprache, statt zu antworten, sprang sie auf und lief aus der Küche. Es war einfach sinnlos mit ihre Mutter über ihren Traumberuf zu sprechen.

 

Als sie sich in ihrem Zimmer einigermaßen beruhigt hatte, nachdem sie mit ihren Meerschweinchen Elsa und Lissy gekuschelt hatte, nahm sie ihr Textbuch in die Hand. Es erfüllte sie umso mehr mit Stolz, dass sie im Weihnachtsmusical „Der Nussknacker“ die Hauptrolle der Clara ergattern konnte. Fianna nahm sich ihr Textbuch zur Hand und begann halblaut zu lesen, was sie jeden Abend tat. In anderthalb Wochen musste sie ihre Rolle perfekt beherrschen. Zum Glück war es ein Tanzmusical mit vielen einzelnen Tanzstücken, wo nicht so viel gesprochen wurde. Nur in einzelnen Szenen wurde hauptsächlich gesprochen oder gesungen. Fianna profitierte allgemein davon, dass sie elf Jahre Ballett getanzt hatte, somit konnte sie sich beim Casting gegen ihre Konkurrentinnen durchsetzen. Gerade als sie in einer Textzeile versunken war, klopfte ihr Bruder an die Tür. „Hast du dich wieder eingekriegt?“, fragte er. „Ja, so einigermaßen“, nickte sie. „Mama will auch ganz über uns bestimmen“, meinte er. „Ja, sie kapiert nicht, dass wir in fast anderthalb Jahren erwachsen sind“, erwiderte sie genervt.

 

„Ich finde, du sollst schon das machen, was dir liegt“, fuhr Tom fort, „Genau und mir liegt die Schauspielerei“, nickte Fianna bestätigend, „Ich habe nicht umsonst in den Sommerferien die Statistenrolle bekommen und ich habe schon von mehreren Seiten zu hören bekommen, dass ich Talent hätte. Die Einzige, die das nicht rafft, ist natürlich Mama. Stattdessen will sie, dass ich irgendwas in Richtung BWL studiere oder so eine bescheuerte Büroausbildung machen. Nein, das tue ich niemals. Ich will nicht im Arbeitsamt enden wie sie, wo sie die ganze Zeit mit irgendwelchen komischen Leuten zu tun hat“, redete sie sich in Rage. „Reg dich ab, Schwester!“, setzte sich ihr Bruder neben sie auf die Bettkante, „Ich sehe, du regst dich gerade wieder unheimlich auf. Es ist noch bisschen hin, bis du dein Abitur hast. Bis dahin können sich deine Vorstellungen wieder ganz geändert haben oder du hast mit einem Mal eine ganz neue Idee. Wir sind in einem Alter, wo wir ständig zwischen Dingen schwanken und noch nicht genau wissen, was wir wollen“

 

„Ja, du hast Recht“, sagte sie nach einer Weile, „Vielleicht überstürze ich mich mal wieder. Ich muss wirklich gucken, ob ich nach der Schule wirklich eine Schauspielausbildung anfange oder mich doch für ein anderes Studienfach entscheide. Es ist schwierig, da ich noch kaum eine andere Idee habe, was ich machen könnte“ „Glaubst du, ich weiß schon, was ich werden will“, sah ihr Zwilling sie stirnrunzelnd an, „Ich habe seit dem Sommer meinen Realschulabschluss in der Tasche und nun werde ich in den kommenden Jahren mein Abitur machen“ Die beiden Geschwister unterhielten sich noch eine Weile, bis Tom schließlich in sein eigenes Zimmer ging und Fianna sich wieder ihrem Textbuch widmete. Zweifelsfrei war die Schauspielerei ihre Leidenschaft, genauso wie das Ballett. Leider musste sie vor fast anderthalb Jahren das Tanzen aufgrund von Knieproblemen und mangelnder Zeit aufgeben, aber der Traum vom Beruf als Schauspielerin war noch lange nicht begraben.

 

Leise murmelte Fianna ihren Text vor sich hin, als sie mit ihren Freundinnen am Samstag über den Weihnachtsmarkt lief. „Hey, fällt dir nicht auf, dass du die ganze Zeit vor dich hin murmelst?“, stupste Emily sie. „Ups, ich war mal wieder beim Nussknacker-Musical“, wurde sie leicht rot. „Das hat man wohl gemerkt“, kicherte Aylin. „Versuch doch mal an etwas anderes zu denken. Du kannst doch am Abend weiterlernen“, tickte Kiki sie an. „Mädels, da ich Geburtstag hatte und nun endlich achtzehn bin, gebe ich heute einen aus“, kündigte Emily an. „Was denn? Glühwein wohl kaum, den würdest nur du alleine trinken“, sagte Vivien. „Ich müsste nur noch neun Monate warten, dann bin ich auch volljährig, genauso wie Micky“, meinte Mathilda. „Ich müsste noch fast anderthalb Jahre warten“, seufzte Fianna. Die ehemaligen Roten Siebenrinnen verzogen sich ein kleines gemütliches Kaffeezelt, wo sie sich erstmal die Finger an einem kleinen Ofen wärmten. Die Mädchen waren vollständig bis auf Lotta, die momentan für ein Jahr in Amerika war.

 

„Sagt mir, was ihr trinken wollt“, holte Emily Stift und Zettel aus ihrer Tasche. Sie hatte dreimal heiße Schokolade mit Sahne notiert, zweimal Cafe Latte und einen Chaitee, während sie einen Kakao mit einem Schuss Baileys ausprobieren wollte. Darüber hinaus einigten sich Mädchen auf sieben Mal Zimtwaffeln mit Apfelkompott. „Wir müssen unbedingt einen für Lotta mittrinken“, meinte Annemieke, als sie ihre Getränke an ihrem Tisch stehen hatten. „Moment, ich mache mal eben ein Gruppen-Selfie“, holte Emily den Selfiestick heraus, der nun zum ersten Mal zum Einsatz kommen würde. „Das Bild sieht echt klasse, als hätten wir ein Bandentreffen“, fand Vivien. „Bande war früher, jetzt sind wir halt eine Clique“, meinte Kiki. „Obwohl ich darin auch keinen großen Unterschied sehe“, sagte Fianna dazu. Eine Weile sagten die Freundinnen kaum ein Wort, da sie sich ihren Waffeln und den Getränken widmeten. Fianna summte leise zu einem Weihnachtslied mit, welches im Hintergrund dudelte.

 

„Wisst ihr was?“, unterbrach Mathilda plötzlich das Schweigen. „Ja erzähl, was dir auf dem Herzen liegt“, forderte Kiki sie auf. „Papa hat eine neue Arbeitsstelle gefunden“, fing Annemieke an. „Er wird kurz nach Neujahr nach Hamburg ziehen“, sprach ihre Schwester weiter. „Freut mich, dass euer Vater wieder Arbeit hat“, lächelte Aylin. „Naja, ich bin da eher gespalten“, meinte Annemieke dazu, „Einerseits bin ich froh, dass er in Hamburg einen gut bezahlten Job bekommt, andererseits muss er wegziehen und kann uns höchstens am Wochenende besuchen“ „Aber dann können uns unsere Eltern wenigstens nicht oft zanken“, konnte Mathilda etwas Gutes daran finden. „Zanken sich eure Eltern immer noch?“, machte Fianna ein ungläubiges Gesicht. „Manchmal schon, aber nicht so schlimm wie letztes Jahr als wir zusammen auf die Alm gefahren sind“, antwortete Annemieke. „Immerhin haben sie es versucht, dass zusammen auskommen“, warf ihre Schwester ein, „Aber seit dem letzten Streit vergangener Woche gehen sie sich so gut wie es geht aus dem Weg“ „Vielleicht ist es doch nicht schlecht, dass eure Eltern sich nicht mehr jeden Tag sehen“, meinte Emily.

 

Fianna war unheimlich müde, als sie spätabends zurückkam. „Wo warst du noch so lange gewesen, Fianna?“, fragte ihr Vater, der ihr im Flur entgegen kam. „Nur mit Freundinnen auf dem Weihnachtsmarkt, Emily hatte ihren Geburtstag mit uns nachgefeiert“, antwortete sie und spürte, welch einen großen Hunger sie hatte. Außer der Waffel hatte sie sonst nichts auf dem Weihnachtsmarkt gegessen. Zum Glück fand sie in der Tiefkühltruhe eine Pizza Salami, die sie rasch im Backofen aufbuk. Schon bei dem Pizzageruch begann ihr Magen zu knurren. Um die Wartezeit zu überbrücken goss sie sich ein Glas Cola ein. Endlich war die Pizza fertig. Fianna schnitt sich ein großes Stück davon ab und ließ es in ihrem Mund verschwinden, sodass sie sich die Zunge verbrannte. „Verflixt!“, fluchte sie und nahm einen großen Schluck Cola. In Jogginghose kam Tom in die Küche geschlurft. „Sag nicht, du isst gerade die letzte Pizza“, sagte er. „Ne, da müssten noch ein oder zwei Pizzen sein, allerdings mit Pilzen“, erwiderte sie. „Okay, Pilze sind nicht mein Ding. Ich kann mir auch eine Lasagne warm machen“, meinte ihr Zwillingsbruder. „Wenn Mama wüsste, dass wir uns mit Fastfood voll stopfen“, musste sie plötzlich grinsen. „Dann reißt sie uns sicherlich den Kopf ab“, beendete Tom den Satz und schob die Lasagne in die Mikrowelle. Als sie fertig war, setzte er sich mit seinem Essen neben sie und schenkte sich ebenfalls Cola ein. Schweigend saßen die Zwillinge nebeneinander und aßen.

 

„Wir dürfen nicht vergessen, dass wir den Müll nach draußen bringen“, erinnerte Fianna ihren Bruder, „Mama wird immer sauer, wenn die ganzen Verpackungen hier rum fliegen“ Tom nickte nur und machte sich an seiner Lasagne zu schaffen. Nach dem Essen ging Fianna in ihr Zimmer. Sie war nach der Pizza noch müder als vorher und wollte es sich auf ihrem Bett bequem machen. Als sie sich auf ihre weiche Decke fallen ließ, merkte sie, dass sie auf ihrem Textbuch saß. „Blödes Textbuch!“, murrte sie leise, denn gerade war ihr überhaupt nicht nach Textlernen. Die Vorführung war schon am kommenden Donnerstagabend. Ach egal, lernen konnte die nächsten Tage immer noch und außerdem beherrschte sie den Text schon ganz gut. Stattdessen machte sie leise ihre Lieblingsmusik an und machte es sich auf ihrem Bett bequem. Je länger sie schon auf ihrer Bettdecke hockte, desto mehr wurde sie in den Strudel ihrer Gedanken hinein gesogen.

 

Irgendwie musste sie gerade an Kiki denken, die vorhin auf dem Weihnachtsmarkt erzählte, wie toll die Beziehung zwischen ihr und Lennart lief. Fianna machte es irgendwie nachdenklich, dass viele ihrer Freundinnen bereits eine längere Beziehung führten. Sie selbst war im Frühherbst kurz mit Robin zusammen, den sie in der Theater-AG kennen gelernt hatte, allerdings zog er im Oktober unglücklicherweise weg und somit war es wieder vorbei mit ihm. Insgeheim beneidete sie Kiki und Annemieke sehr, die es schon länger schafften, ihre Fernbeziehungen aufrecht zu erhalten. „Irgendwann wird schon der Richtige kommen, ich muss nur Geduld mitbringen!“, sagte sie leise zu sich selber. Auf der anderen Seite konnte die Liebe auch Stress machen. Unweigerlich musste sie an die Eltern von Kiki und Emily denken, die geschieden waren oder an die Eltern von Annemieke und Mathilda, die sich nach wie vor öfter in die Wolle bekamen. Je mehr sie daran dachte, umso glücklicher war, dass es bei ihren eigenen Eltern nach wie vor reibungsfrei lief.

 

Am Donnerstag war der große Tag, das alljährliche Weihnachtstheaterstück fand in der Schulaula statt. Gerade hatte die Theater-AG die Generalprobe hinter sich gebracht. Rasch zog Fianna ihr Kleid aus und schlüpfte in die viel komfortable Jeans. „Ihr könnt euch noch eine Stunde ausruhen, bevor es wieder in die Maske geht“, meinte Frau Liebig, die die Theater-AG leitete. „Kommt, wir gehen in die Cafeteria“, richtete sich Fianna an ihre beiden Freundinnen Aylin und Sophie, die beide in der zehnten Klasse waren. Untergehakt liefen die drei Mädchen durch die Gänge. „Jetzt ist gerade fast keine Menschenseele außer uns unterwegs, es ist schon fast gespenstisch still“, murmelte Sophie. „Außer dass wir leise am reden sind“, wisperte Aylin, die es nicht wagte laut zu sprechen. Die Mädchen holten sich Kuchen und Kakao in der Cafeteria und setzten sich an einen freien Tisch. „Darf ich mich zu euch setzen?“, stand Michael mit einem vollen Tablett vor ihrem Tisch, der ebenfalls in der Theatergruppe war.

 

Aylin nickte nur, während Fianna die Kuchenstücke auf den Tellern zählte. „Vier Stücke Kuchen, da hat jemand guten Hunger“, sah sie ihn neckend an. „Ich habe heute zum Mittag nur drei Brote gehabt und dementsprechend habe ich jetzt Kohldampf“, biss er herzhaft in ein Stück Mohnkuchen. „Seid ihr auch so nervös?“, war Aylin leicht hibbelig. „Ein bisschen schon“, gestand Fianna, die zum ersten Mal eine Hauptrolle bekommen hatte. „Ich bin kaum aufgeregt, denn ich bin mir sicher, dass es klappen wird“, war Michael sichtlich gelassener als die drei Mädchen. „Du musst auch nicht singen“, sagte Aylin, die sich vor lauter Nervosität kleine Zöpfchen in ihre schwarzen lockigen Haare flocht. „Mach dir nicht ins Hemd. Du hast doch schon so oft vor anderen Leuten gesungen. Denk doch mal an die Lifeauftritte bei unzähligen Schulfesten und bei dem Schulduell vor einigen Jahren zurück. Bis jetzt hast du es immer mit Bravour gemeistert“, beruhigte Fianna ihre Freundin. „Es ist jedes Mal ein Kampf mit meinem Lampenfieber. Ich muss bei jedem Auftritt hart dagegen ankämpfen, dass ich vor Angst nicht im Boden versinke“, meinte Aylin. „Ich muss gestehen, dass ich auch bisschen unruhig bin, da ich das Titellied gleich in der Eröffnungsszene singen muss und ich weiß, dass ich nicht die große Sängerin bin, aber ich werde es irgendwie schon hinkriegen“, legte ihr Fianna die Hand auf die Schulter.

 

Am späten Nachmittag wurden die Schauspieler zur Anprobe gebeten und anschließend in die Maske geschickt. Fianna verfolgte jeden Schritt, wie sie sich immer mehr in Clara verwandelte. Ihr weißes Kleid hatte sie inzwischen schon an. Nun machte sich eine Helferin an ihren Haaren und an ihrem Gesicht zu schaffen. Zuerst kam die Schminke und dann wurden ihre Haare gebürstet, die kupferrot glänzten. Die Dame hinter ihr flocht ihr langes Haar zu zwei Zöpfen und befestigte an jedem Zopfende eine große blaue Schleife. „Nun sind wir fertig mit dir“, sah ihre Stylistin zufrieden aus, als sie Fianna noch ein weißgeblümtes Haartuch in die Haare geschoben und ihr ein Perlenarmband um ihr Handgelenk gebunden hatte.

 

„Du bist kaum wieder zu erkennen, Carrot!“, lief Aylin auf sie zu. „Aber du siehst toll aus“, hatte Sophie hinzu zu fügen. „Ihr seht aber auch ziemlich cool aus“, fand Fianna. Zu dritt knipsten die Mädchen noch ein Selfie von sich und Fianna schickte es an ihre Freunde und ihren Bruder. „Meine Güte siehst du alt aus, Michi!“, rief Aylin Michael hinter her. „Kein Wunder, ich bin ja auch ein älterer Herr“, erwiderte er. „Darf ich mal am Bart ziehen?“, sah Fianna ihn frech an. „Untersteh dich, Clara!“, hob er warnend seinen Zeigefinger, worauf die drei Mädchen loskicherten. „Lass uns einem Moment hinsetzen“, zog Sophie ihre beiden Freundinnen zu einer Stuhlreihe. „Einen chillen kann nicht schaden“, legte Aylin ihre Beine über Kreuz. Fianna begann ihren Text in Gedanken noch einmal von vorne durchzugehen und sah dabei zu, wie die Gegenstände und Leinwände für das Bühnenbild herbei geschleppt wurden.

 

Der Vorhang öffnete sich und die Scheinwerfer gingen an. Nun stand Fianna vor ausverkauftem Haus auf der Bühne. Sie verharrte einen Moment und holte Luft. Dann erklang die Musik. Zaghaft begann sie zu singen und drehte sich um ihre eigene Achse. Im Tanzen war sie geschult, dadurch dass sie mehr als ihr halbes Leben lang Ballett getanzt hatte. Nur das Singen war so eine Sache. Alleine um das Eröffnungslied zu singen, musste sie sehr intensiv üben und die Bemühungen machten sich in diesem Moment bezahlt. Lauter Szenenapplaus brandete auf, als die Musik wieder verstummte und nun kam die erste Szene. Fianna, die sich gerade mehr wie Clara fühlte als eh und je, ging in ihrer Rolle förmlich auf. Selbst die kritische Stelle, bei der es während der Proben immer gehakt hatte, ging ihr locker von der Hand. Nach der zweiten Szene konnte sie endlich abtreten und sich eine kurze Pause gönnen. Hinter den Kulissen nahm sie erstmal einen großen Schluck aus ihrer Wasserflasche. Sie bekam mit, wie Aylin ihr Solo vortrug.

 

Fianna war sehr stolz auf ihre beste Freundin, die eine richtige Bereicherung für die Theater-AG war. Nach kurzem Verschnaufen war sie selbst wieder dran. Diesmal handelte es sich um eine reine Tanzszene, bei der sie nicht sprechen oder singen musste. Voller Elan und Eleganz schwebte sie in ihrem wunderschönen Kleid über die Bühne. Bei dem Anblick der geschmeidigen Tänzerin bekamen viele Zuschauer große Augen oder lächelten voller Wonne. Wieder wurde eifrig geklatscht als Fianna für einen Moment von der Bühne abtrat. „Du bist heute bärenstark! Weiter so! Unser Auftritt ist schon jetzt ein Hit“, wurde sie von Michael gelobt. Fianna nahm das Lob mit einem strahlenden Lächeln an und schon ging es wieder weiter. Diesmal spielte sie die Szene zusammen mit Michael. Allerdings geriet sie doch einmal kurz ins Stolpern als sie auf den Zipfel ihres Kleides trat und kurz mit ihren Armen rudern musste, um das Gleichgewicht wieder zu finden.

 

Die Theatergruppe musste sich dutzende Male verbeugen und erntete den verdienten Applaus. Rasch zogen sich Fianna und Aylin um, denn sie wollten auf jeden Fall nicht beim Sektempfang fehlen. „Good job! You have been awesome!“, gratulierte ihr Vater ihr als erstes. „Wir sind so stolz auf dich!“, umarmte ihre Mutter sie. „Platz Eins der Darsteller gehört dir!“, zwinkerte Tom ihr zu. Dann stieß sie gemeinsam mit ihrer Familie an. „Glückwunsch zur sehr guten Leistung!“, tickte Emily sie an. Kiki, Aylin, Vivien und die Zwillinge standen ebenfalls hinter ihr. Alle ihrer Freundinnen waren in Abendrobe gekleidet und trugen schicke Handtäschchen. Nur Fianna hatte ihr Kapuzenshirt, ihre Jeans und ihre Ugg-Boots an. „Lasst uns zusammen auf unsere beiden Musicalstars anstoßen!“, hob Mathilda ihr Sektglas.

 

„Hey, nicht so voreilig, ich habe gerade Ebbe im Glas“, rief Fianna und schnappte sich schnell ein volles Glas vom Tisch nebenan. „Fianna und Aylin müssen in die Mitte“, bestimmte Kiki. Die anderen Freundinnen bildeten einen geschlossenen Kreis um die beiden Darstellerinnen und ließen ihre Gläser klirren. „Ihr ward grandios!“, strahlten Annemiekes Augen vor Begeisterung, „Ich habe ein paar Videos gedreht und sie Lotta geschickt“ „Bestimmt ärgert sie sich gerade, dass sie in Amerika hockt und etwas Sensationelles verpasst hat“, sagte Vivien, die ihre Arme um Fianna und Aylin gelegt hatte und sich von Kiki ablichten ließ. Drüben wurde ein Büffet mit leckeren Schnitten und Snacks eröffnet. Fianna bunkerte sich schnell ein paar Lachsschnitten, die sie über alles liebte.

 

6. Lotta – American way of life

 Es war bereits ein halbes Jahr vergangen, seitdem Lotta nun bei ihrer amerikanischen Gastfamilie in einem Vorort von Los Angeles war. Es gefiel ihr außerordentlich gut hier. Schnell hatte sie neue Freunde gefunden, war inzwischen mit ihrem Schwarm Caleb zusammen und verstand sich prima mit ihren Gastgeschwistern Jenny und Jake, ebenso wie mit ihren Gasteltern. Irgendwie waren die Menschen hier viel gelassener und spontaner, was Lotta aus Deutschland nicht gewohnt war. Auch in der Highschool lief es gut und ihre Englischkenntnisse hatten sich auch enorm verbessert. Ihre Eltern und Freunde aus Deutschland behaupteten sogar, dass sie mittlerweile mit einem leicht amerikanischen Akzent sprach, wenn Lotta mit ihnen skypte. Was für Lotta die größte Ehre war, dass sie in das Schulteam der Sportschwimmer aufgenommen wurde. Allerdings musste sie dafür sehr hart im Schwimmbecken und im Fitnessstudio für den Erfolg trainieren, denn bald stand wieder ein Wettbewerb gegen andere Highschools an.

 

Auch heute hatte Lotta zwei Stunden trainieren müssen und kam ausgelaugt nach Hause. Schnell lief sie in ihr Zimmer, um ihre Nachrichten zu checken. „Hallo Schatz! Ich hoffe dir geht es drüben gut. Ich habe gehört, dass du momentan viel für einen Wettkampf trainieren musst. Wir drücken dir die Daumen, dass du eine gute Platzierung erreichst. Wie ist sonst das Wetter bei euch in LA? Bei uns wird es zunehmend Frühling, aber es regnet sehr oft. Ganz liebe Grüße aus Deutschland, deine Mom!“, hörte sie als erstes eine Sprachnachricht von ihrer Mutter ab. „Hi, ich trainiere nun täglich, aber es macht mir Spaß. Der Frühling ist hier bereits angekommen. Es wird täglich wärmer und die Sonne scheint. Mein Gastbruder Jake meint, dass wir demnächst wieder ans Meer fahren und Wellen reiten können. Viele Grüße aus LA, deine Lotta!“, antwortete sie ihrer Mutter rasch, bevor sich den anderen Nachrichten widmete, die von ihren Freunden stammte, die sich hauptsächlich nach ihrem Wohlbefinden erkundigten.

 

Bei Emilys langer Mail wurde sie stutzig. „Hi Lotta, wahrscheinlich werde ich dich schocken. Vor ein paar Tagen ging ich zum Arzt, weil mir ständig übel wurde und ich mich immer wieder übergeben musste. Er hat mich untersucht und konnte eine organische Ursache feststellen und hat mit mir einen Schwangerschaftstest durchgeführt. Dieser fiel sogar positiv aus. Lotta, kannst du dir vorstellen, dass ich im August Mama werde? Diese Nachricht hat mich so umgehauen, dass ich sofort Micky angerufen habe. Ich war so durch den Wind und stand so unter Schock, dass ich angefangen habe zu heulen. Ich werde Mutter und das gerade einmal mit achtzehn Jahren! Micky hat mich beruhigt und meinte, dass ein Baby ein ganz besonderes Geschenk sei. Langsam freue ich mich auch über die Nachricht, besonders Manuell hat mich erstmal abgeknutscht, nachdem ich ihm die Nachricht überbracht habe. Erst am nächsten Tag habe ich mich getraut, meinen Eltern zu sagen, dass ich schwanger bin. Meine Mutter hat vor Freude fast geweint, während mein Vater ein bisschen sauer war, dass ich meine Ausbildung aufs Spiel setze. Ich muss mich jetzt wieder einer Ausarbeitung widmen und wünsche dir eine angenehme Zeit dort drüben. Ganz liebe Grüße, deine Lily!“, hatte Emily ihr mitzuteilen.

 

Lotta war so erstaunt, dass sie ihrer Freundin gerade mal zur Schwangerschaft gratulieren konnte. Kaum zu glauben! Die Rote Sieben bekam bald ihr erstes Bandenbaby und das war das Zeichen dafür, dass ihre Kindheit nun wirklich vorbei war. Lotta spürte, dass sie einen großen Redebedarf hatte und schaute, wer bei Skype online war. Von ihren deutschen Freunden war niemand online, bis auf Mathilda. Lotta versuchte ihr Glück und drückte auf den grünen Hörer. Es dauerte einen Moment, bis die Verbindung hergestellt war. „Hallo Matti!“, winkte sie in die Cam. „Hi, American Girl!“, grüßte Mathilda zurück, die mit Fianna und ihrer Schwester am Laptop saß. Bei ihren Freundinnen in Freudenburg war es aufgrund der Zeitverschiebung später Abend. „Übrigens Fianna übernachtet heute bei uns“, hatte Annemieke ihr mitzuteilen.

 

„Sagt mal, findet ihr Emilys Nachricht auch so krass“, stieß Lotta das Thema von Emilys Schwangerschaft an. „Ja, ich war danach echt sprachlos“, nickte Mathilda, „Man rechnet mit Vielem, aber nicht mit sowas“ „Ich konnte es erst nicht glauben, als Emily mich anrief“, begann ihre Zwillingsschwester zu erzählen, „Emily war so durcheinander und aufgeregt, dass sie anfing zu weinen und ich war erstmal sehr erschrocken, was überhaupt los war. Sie erzählte mir, dass sie schwanger sei, worauf ich mich sehr gefreut habe. Aber Emily konnte meine Freude im ersten Moment überhaupt verstehen und hat mich nur angeblafft, dass sie Riesenärger von ihren Eltern bekommen würde. Daraufhin habe ich auf sie ermunternd eingeredet, dass ein Baby das schönste Geschenk sei, was man überhaupt bekommen kann und dass sie es später nicht mehr bereuen wird, dass das Kind bekommen hat“

 

„Außerdem wird das die Beziehung zwischen ihr und Manuell festigen“, meinte Fianna. „Das auf jeden Fall“, nickte Lotta, „Trotzdem ist es schon heftig, dass die erste von uns ihre Familie gründet“ „Stimmt wohl, als wir vor fünf Jahren unsere Bande gründeten, dachte noch keine von uns daran, dass wir irgendwann erwachsen werden“, pflichtete Mathilda ihr bei. „Wisst ihr was, manchmal würde ich gerne zurück in die alte Zeiten reisen, wo wir noch unsere Bande hatten und in wilden Abenteuern steckten“, sehnte sich Annemieke in ihre Kindheit zurück. „Ja, das wäre nicht schlecht“, fand Lotta und fügte nach kurzem Überlegen hinzu, „Aber das Jahr in Amerika ist auch nicht schlecht, immerhin habe ich hier neue Freunde gefunden und bin seit zwei Monaten mit Caleb zusammen“ „Freut mich, dass du inzwischen wieder einen Freund hast“, zwinkerte Fianna in die Kamera. Die Freundinnen unterhielten sich noch eine Weile, bis es ihren deutschen Freundinnen zu spät wurde.

 

Am nächsten Tag fuhren Lotta und ihre Clique direkt nach der Schule zur nächsten Mall. Zusammen mit ihren Freundinnen Jenny, Marian, Vicky, Claire und Stacey wollte sie den Freitag ausklingen lassen. Ein richtiger Mädelsnachmittag sollte es werden. Zudem brauchte Lotta noch ein Ballkleid, denn am ersten Aprilwochenende sollte der Highschool-Ball stattfinden. Einen Tanzpartner hatte sie bereits, selbstverständlich würde sie mit Caleb tanzen, aber sie hatte noch nicht das passende Kleid und die Schuhe, sowieso die Accessoires durften auch nicht fehlen. Stacey, die Modequeen der Clique nahm Lotta mit in einen Laden, wo es edle Kleider gab, die alle sehr teuer aussahen. „Muss es so teuer sein?“, fragte sie ihre Freundin. „Na klar, das ist ein wichtiges Event und außerdem gehörst du zu unserer Clique. Niemand will sich mit einem billigen Kleid blamieren und sich zum Gespött der Schule machen“, meinte Stacey, die bereits drei Kleider von der Stange genommen hatte und sie Lotta in die Hand drückte. Sie verschwand in der Umkleidekabine und probierte die Kleider nacheinander an. „Das türkisblaue Kleid mit den Pailletten stand dir am besten“, war Jenny der Meinung.

 

„Oh ja, darin siehst du wundervoll aus“, nickte Vicky. „Okay, wenn ihr meint, dass ich damit am besten aussehe, nehme ich es mit“, packte Lotta das Ballkleid zufrieden in einen Korb. „Jetzt brauchen wir noch die Schuhe und den passenden Schmuck“, meinte Marian. Stacey und Claire hakten Lotta bei sich unter und liefen ihr in den nächsten Shop, der auf Haarschmuck spezialisiert war. „Hier setz mal das auf!“, kam Jenny mit einer Brautkrone wieder und setzte sie Lotta auf den Kopf. „Noch will sie Caleb nicht heiraten“, kicherte Stacey. Lotta suchte sich doch lieber einen anderen Haarschmuck mit vielen kleinen violetten Blümchen aus. „Das sieht bestimmt noch besser aus, wenn du dir mit dieser Spange die Haare hochsteckst“, hielt Stacey eine schillernde Muschelspange in der Hand. „Sie hat Ähnlichkeiten mit Arielle der Meerjungfrau“, grinste Claire. Lotta entschied sich trotzdem für den Blumenschmuck und die Muschelspange. „Prima, dann brauchen wir nur noch die Schuhe und den übrigen Schmuck“, klang Stacey zufrieden.

 

Nach dem Großeinkauf gönnten sich die Mädchen einen Kinobesuch. Mit mehreren Taschen unter den Armen fuhren sie die Rolltreppe hoch zur Kinopassage. Dort roch es verführerisch nach Karamellpopkorn. Nachdem sie ihre Eintrittskarten ergattert hatten, besorgten Marian und Jenny schnell sechs große Popkorntüten und Jenny holte sechsmal Cola. „Es kann losgehen, Girls!“, strahlte Stacey gut gelaunt, als sie den dunklen Kinosaal betraten. Bereits jetzt flimmerte irgendeine Werbung auf der Leinwand. „Mal wieder stundenlang irgendwelche dumme nutzlose Werbung“, stöhnte Marian genervt und faltete ihre 3D-Brille in ihren Händen. „Wenn ich du wäre, würde ich nicht die Brille so zerknicken“, stieß Claire sie seicht an. Während sich ein Werbefilm an den nächsten reihte, unterhielten sich die Mädchen leise über den kommenden Frühlingsball.

 

„Hoffentlich bekommt nicht Cindy oder ihre genauso dämliche Freundin Lissy die Ballkrone. Letztes Jahr war Cindy Ballqueen und im Jahr davor Lissy“, wisperte Jenny. „Das hoffe ich auch“, nickte Claire, „Diese Angebergirls lassen bestimmt einen teuer bezahlten Stylisten kommen, damit sie die Nummer Eins sind“ „So sind die Plastics nun mal: ihre Eltern sind stinkreich, aber sie selbst sind strohdumm“, meinte Marian und zuckte mit den Achseln. Der Film begann und die Mädchen setzten ihre 3D-Brillen auf. Der Actionfilm startete mit einer wilden Verfolgungsjagd, wo zwei Sportwagen über ein bergiges Gelände jagten. Lotta wurde bei dem Anblick leicht schwindelig. Das fühlte sich genauso an wie Achterbahnfahren, wo sie auch die Orientierung verlor. Bei jeder spannenden Szene, griff sie beherzt in ihre Popkorntüte oder nahm einen großen Schluck aus der Colaflasche. Sie musste sich arg zügeln, damit sie nicht vor der Halbzeit des Films ihr gesamtes Popkorn aufgefuttert hatte. Deshalb hielt ihr Claire eine Packung mit Wassermelonenkaugummis hin. Lotta nahm sich eins und begann zu kauen. Jedes mal, wenn eine actionreiche Szene kam, brauchte sie etwas zu lutschen oder zu kauen.

 

Dank des Kaugummis reichte Lottas Popkornvorrat noch bis zum Ende des Films. „Hättet ihr Lust noch essen zu gehen?“, fragte Vicky ihre Freundinnen, als sie aus dem Kino kamen. „Gerne, ich habe mittlerweile echt Hunger“, nickte Marian. Die Mädchen kehrten in ein Pancake-Restaurant ein, dort konnte man sich Pfannkuchen in den verschiedensten Varianten bestellen. Lottas Lieblingsvariante war mit Ahornsirup und Apfelmus. Die Pfannkuchen ihrer Freundinnen sahen zumeist bunter aus. Viele von ihnen wählten bunte Schokolinsen, Zuckerstreusel, Marchmellows, Nutella, Vanillesoße oder andere Süßigkeiten. Marian war die Einzige, die zu ihren Pancakes Früchte und Erdbeermarmelade wählte. Lotta war begeistert, dass es speziell Restaurants für Pfannkuchen gab. So etwas kannte sie aus Deutschland. Generell gab es hier in Amerika viele Sachen, die es drüben auf dem alten Kontinent nicht gab. Dafür vermisste Lotta hier eine Altstadt, die es dafür in Freudenburg und in vielen anderen deutschen Städten gab.

 

Am Sonntag fand der Schwimmwettkampf der Highschools aus der Umgebung statt. Die große Schwimmhalle war mit vielen Bannern und Fahnen geschmückt. Als Lotta die Halle betrat, hatten sich schon viele der Zuschauer auf ihre Plätze gesetzt. Von der Tribüne aus winkte ihr Caleb zu, der ein Schild „Schatz, du packst das!“ in die Höhe hielt. Lotta winkte zurück und suchte Claire, Jenna und Kelly, mit der sie die 4x100m-Staffel Schwimmen sollte. Ihr Trainer Mr. Hogdson schickte die vier Mädchen zum Warmschwimmen. Claire und Lotta warfen sich ein siegesgewisses Lächeln zu, als sie nebeneinander her schwammen. In der Halle war jetzt schon eine großartige Stimmung. Insgesamt traten bei der Freistil-Staffel acht Teams, die alle ihre Anhänger mitgebracht hatten, die lautstark die Namen ihrer Highschools riefen. Lotta konnte im Stimmengewirr den Namen ihrer eigenen Highschool am besten heraushören.

 

Kein Wunder, denn sie hatten ein Heimspiel und somit gehörten die meisten Fans zu ihrer eigenen Highschool. Nun wurden die Wettkampfteilnehmerinnen zusammengetrommelt, die sich am Schwimmbeckenrand aufstellten. Von Lottas Team startete Kelly als erstes, während Lotta die Letzte Starterin sein würde. Das Startsignal ertönte. Zeitgleich hüpften acht Schwimmerinnen mit einem Kopfsprung ins Wasser. Fast schien es so, als wollte Kelly nicht mehr auftauchen, denn sie kam erst auf der Hälfte der Bahn wieder an die Wasseroberfläche. „Kelly, Kelly, Kelly!“, feuerte Lotta, Claire und Jenna ihre Mannschaftskameradin an. Da Kelly das Brustschwimmen bevorzugte, wurde sie von gleich fünf Konkurrentinnen abgehängt. „Das kann doch nicht wahr sein!“, schüttelte Jenna den Kopf. „Ich habe ihr gesagt, sie sollte es mit Rückenschwimmen, Kraulen oder Schmetterling versuchen“, fügte Claire resigniert hinzu. „Nun gebt doch nicht die Hoffnung auf, wir können es noch gut aufholen“, ermunterte Lotta ihre Freundinnen.

 

Jenna war als Nächste dran und schaffte es viel Zeit wettzumachen. Lotta staunte, wie schnell sie war. Dadurch dass Jenna so gut aufgeholt hatte, lag die Raymond-Highschool zwischenzeitlich auf dem vierten Platz. Claire konnte ihre Position halten und kam mit ihrer guten Leistung sehr nah an die Drittplatzierten heran. Nun stand Lotta auf dem Startblock bereit und wartete darauf, dass Claire den Beckenrand berührte. Lottas Puls beschleunigte und sie atmete tief durch. Als ihre Freundin mit den Fingerspitzen den Beckenrand berührte, stieß sich Lotta mit ihren Beinen kräftig ab und tauchte kopfüber in die Fluten. Sie versuchte so lange wie möglich unter Wasser zu bleiben, denn so kam sie am schnellsten voran. Irgendwas musste sie doch auftauchen und tief Luft holen, wobei sie sogar ein bisschen Wasser schluckte. Instinktiv entschied sie sich für das Kraulen, denn das war ihre Königsdisziplin. Sie hörte, wie hunderte Menschen ihren Namen riefen, obwohl sie wegen dem Wasser in den Ohren es etwas verschwommen wahrnahm.

 

„Lotta, Lotta, Lotta!“, wurde lauthals gerufen, was sie umso mehr anspornte. Als sie am anderen Ende wendete, merkte sie, dass sie in Führung lag. Doch rechts neben ihr war eine dunkelhäutige Schülerin, die mit ihr gleichzog. Lotta gab alles, damit sie nicht überholt wurde. Doch nur wenige Meter vor dem Ziel musste sie feststellen, dass sie mit ihr nicht mehr mithalten konnte. Lottas ganzer Körper begann unglaublich zu schmerzen. Das dunkelhäutige Mädchen überholte sie und klatschte als erstes an den Beckenrand und Lotta kam kurz darauf ins Ziel. Jubelnd zogen Claire und Jenna sie aus dem Becken. „Du warst brillant!“, fiel ihr Claire in die Arme. „Bravo Lotta, du hast die beste Zeit von uns allen“, strahlte Kelly, die sich wie ein kleines Kind über den zweiten Platz freute. „Dass wir gegen die Eagle-Highschool keine Chance hatten, war mir klar“, sagte Jenna, „Aber immerhin haben wir unsere ärgsten Rivalinnen von der Redriver-School geschlagen“

 

Übermütig fielen sich die Teamkameradinnen in die Arme, hüften herum und wurden auch von ihrem Trainer beglückwünscht, der ihnen Handtücher und einen Stapel T-Shirts in die Hand drückte. Rasch trockneten sich die Mädchen ab und zogen sich hellgrüne T-Shirts über, als es zur Siegerehrung ging. Die Zuschauer sangen, jubelten und klatschten begeistert. Es wurden Fahnen mit in den Farben ihrer Highschool geschwenkt. Lotta entdeckte ihre Gastfamilie und Caleb, der ihr eine Kusshand zuwarf. Stolz standen die Zweitplatzierten mit dem Gewinnerteam und den Drittplatzierten auf dem Siegertreppchen und hielten ihre Silbermedaillen in die Kameras. Lotta bekam sogar noch eine weitere Uhrkunde für die zweitbeste Zeit des Tages nach der dunkelhäutigen Starterin der Eagle-Highschool.

 

„Kommt mal her, wir müssen dringend von euch ein Foto für die Schulhomepage machen“, winkte Jake die vier Mädchen zu sich rüber, der der Fotograf der Schülerzeitung war. Arm in Arm ließen sich die vier Schwimmerinnen von ihm ablichten und grinsten wie Honigkuchenpferde in die Linse. „Wow, sehr cooles Foto! Das nehmen wir“, war Jake sehr zufrieden und ließ die Mädchen in die Umkleide gehen. Lotta gönnte sich zunächst eine warme Dusche. Während sie das süßlich riechende Shampoo in ihre Haare massierte, spürte sie, wie kalt das Wasser im Becken gewesen war. „Ohne dich wären wir nicht Zweiter geworden“, zwinkerte Claire Lotta zu. „Aber ward auch in Topform“, erwiderte Lotta, die der Meinung war, dass sie nicht alleine zum Erfolg beitragen hatte. „Ich dachte schon, dass ich es vermasselt hätte, nachdem ich total abgehängt wurde“, meinte Kelly, die ihre dunklen Haare auswrang. „Wäre es nur Brustschwimmen gewesen, wärst du unter den Besten gelandet“, drehte sich Jenna zu ihr um.

 

Nach dem Wettkampf lud Caleb sie zum Essen in ein Steakhouse ein. „Du warst heute Weltklasse, Schatz!“, lobte er sie und schenkte ihr eine hübsche Silberkette mit einem glitzernden Kristall. „Danke!“, lächelte sie und gab ihm einen Kuss. Nachdem sie bestellt hatten, schaute Lotta auf ihrem IPhone nach, ob sie Nachrichten bekommen hatte. Als erstes öffnete sie die WhatsApp-Nachricht von Vivien, die ihr mit vielen Tränensmileys mitteilte, dass ihre Oma gestern gestorben war. Lotta wusste, dass sie an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt war. Lotta bekundete schnell ihr Beileid, ehe sie sich Annemiekes Nachricht darunter widmete, die ihr ein Video geschickt hatte. Lotta lud das Video herunter und sah sich es mit Köpfhörern an.

 

Mathilda, die zum ersten Mal für die Juniorennationalmannschaft spielte, war darauf zu sehen. Lotta freute sich, dass ihre Freundin auf dem guten Wege war professionelle Hockeyspielerin zu werden. Dazu hatten sie das Spiel 3:0 gegen Österreich gewonnen, während ihre Freundin mit einer erstklassigen Defensivleistung das zu null bewahrte. „Na, was schaust du dir an?“, beugte sich Caleb über ihre Schulter. „Das eine gute Freundin von mir, die ihr erstes Hockeyspiel in der deutschen Jugendnationalmannschaft bestritten hatte“, erwiderte sie. „Das ist ja cool, dass du auch eine Freundin hast, die genauso erfolgreich im Sport ist, wie du!“, war ihr Freund beeindruckt. Als Lotta einen Kellner mit zwei Tellern um die Ecke kommen sah, packte sie schnell ihr Handy weg. Caleb und sie stießen mit ihren Gläsern an, bevor sie sich das Essen schmecken ließen. Lotta merkte beim ersten Bissen, wie groß ihr Kohldampf war.

 

Lotta war am Tag des Frühlingsballs voller Vorfreude und Spannung. Stacey und Vicky waren gekommen und gemeinsam stylten sich die vier Freundinnen für bevorstehenden Abend. Die ganze Schule würde anwesend sein. „Als erstes machen wir aus dir eine Balltänzerin“, knöpfte sich Stacey Lotta vor, die sie an den Schminktisch in Jennys Zimmer setzte. Lotta war beeindruckt, wie ihre Augen funkeln konnten, als Stacey mit ihrem Gesicht fertig war. Auch ihr Gesicht wirkte eher herzförmig als oval, wie sonst immer. Nun begann Stacey kleine Zöpfchen in ihr blondes Haar zu flechten und steckte sie mit der Muschelspange hoch. Zum Schluss kamen der Blumenhaarschmuck und ein paar wunderschöne kristalline Ohrringe, die im Licht in allen Farben glitzerten. „Ein Ring würde dir auch stehen“, steckte ihr Stacey einen einfachen silbernen Ring auf Lottas Ringfinger. Nun waren ihre Freundinnen an der Reihe, die sich gegenseitig schminkten und schick machten.

 

Lotta, die mit halbem Auge dabei zusah, vertrieb sich die Zeit mit einem Handyspiel. Gerade als sich Stacey selbst geschminkt hatte und ihr oranges Ballkleid abgezogen hatte, klingelte es an der Haustür. Es waren Caleb und seine beiden Kumpels Matt und Louis. „Die Kutsche steht bereit, Prinzessin!“, gab Caleb Lotta einen Begrüßungskuss. Auch Louis küsste seine Freundin Stacey, während Jenny ihrem Tanzpartner Matt nur die Hand gab. „Jake, wo bleibst du nur?“, rief Jenny ins Treppenhaus. „Ich bin auf dem Klo“, drang Jakes Stimme matt zu ihnen rüber. „Da haben wir ihn gerade im richtigen Moment erwischt“, kicherte Stacey los. „Gott sei dank, ist mein Ballpartner noch am leben“, grinste Vicky erleichtert.

 

Lotta nahm auf dem Beifahrersitz von Calebs flotten Cabrio platz. Hinter ihnen saßen Louis und Stacey. Vicky, Jake, Jenny und Matt waren in Matts schwarzen Ford gestiegen und fuhren ihnen hinter her. Caleb ließ das Dach des Cabrios herunter fahren, sodass sich ein paar Haare aus den aufwendigen Frisuren der Mädchen lösten. „Du spinnst doch wohl! Nun sind unsere Frisuren im Eimer“, regte sich Stacey auf. „Du kannst du dir die Haare gleich noch mal neu machen und mit ein paar losen Haarsträhnen siehst du richtig sexy aus“, beruhigte Louis seine Freundin. Lotta und Louis gefiel die Fahrt in dem Cabrio sehr. Fröhlich winkten sie den Passanten auf dem Bürgersteig zu. Zudem war es ein lauwarmer Frühlingsabend und in der Abenddämmerung sahen die Straßen von Los Angeles noch beeindruckender aus.

 

Mehrere Palmen und andere subtropische Pflanzen säumten die Straßenränder und an den Fassaden der Gebäude leuchteten bunte Werbetafeln, auf denen bewegte Videos zu sehen waren. Wow, der Anblick der Szenerie war einfach überwältigend! Gutgelaunt drehte Caleb die Musik auf und seine Freunde begannen im Takt mitzuwippen. „Ihr habt wohl gute Laune!“, kommentierte ein Mann, der an einer roten Ampel warten musste. Caleb winkte ihm ausgelassen zu und brauste weiter. Bald war die Tiefgarage von der Cityhalle erreicht. Die Jungs ließen die Mädchen zuerst aussteigen. Ali und Mary, die in ihre Klasse gingen, winkten Lotta und Jenny freundlich zu.  

 

Das Orchester stimmte das erste Lied an. Sanft hatte Caleb ihr seine Arme um die Taille gelegt, als sie sich langsam zum Walzer bewegten. Es war traumhaft schön. Fast noch schöner als der letztes Ball auf ihrem Gymnasium in Freudenburg. Damals hatte es ein paar unschöne Zwischenfälle gegeben. Ihre Mutter war betrunken und näherte sich ihrem Physiklehrer Herr Kempf an. Doch der Gipfel des damaligen Abends war, dass Mathilda von ihrem Freund Sven betrogen wurde, der mit Manon tanzte und sie stehen ließ. Lotta erinnerte sich genau, wie ihre Freundin damals plötzlich verschwunden war und sie verzweifelt nach ihr suchten. Erst nach Mitternacht konnte Annemieke ihren Freundinnen Entwarnung geben, dass ihre Schwester im Wohnwagen war. Lotta war zu der Zeit sehr wütend auf Sven, da ihre Freundin danach mehrere Wochen Liebeskummer geschoben hatte. Hoffentlich blieb sie heute Abend von solchen Dramen verschont. Bis jetzt schien alles friedlich zu verlaufen und alle Anwesenden hatten ihren Spaß. Neben ihnen tanzten dutzende von anderen Paaren, die sich glücklich anlächelten.

 

Nach dem offiziellen Part des Balls, stieg die große Party, worauf sich die Jugendlichen meisten gefreut hatten. Nun spielte eine Band, die mit einem Schlag eine sensationelle Stimmung verbreitete. Endlich konnten sie sich mit Getränken bewaffnen und das leckere Fingerfood-Büffet stürmen. Als Caleb mit seinen Jungs an der Biertheke abhing, nutzte Lotta den Augenblick mit ihren Freundinnen alleine zu sein. „Seht mal, wir können für die besten Tanzpaare aus jedem Jahrgang abstimmen“, zog Jenny die Freundinnen zu den Wahlurnen. Für jeden Jahrgang standen fünf Tanzpaare zur Wahl. Lotta war erstaunt, dass sie und Caleb für den elften Jahrgang zur Wahl standen. Obwohl sie für sich selber eine Stimme hätte geben können, gab sie ihre Stimme Stacey und Louis. Nach dem die Freundinnen ihre Stimmzettel eingeworfen hatten, zogen Vicky und Marian die Freundinnen auf die Tanzfläche.

 

Jubelnd stürzten sie sich ins Getümmel und tanzten ausgelassen im Licht der bunten Scheinwerfer. Plötzlich wurde Lotta heftig von der Seite angerempelt, sodass sie hinfiel und sich im Fallen gerade noch an Jennas Arm festhalten konnte. Lotta konnte fünf aufgebrezelte Personen entdecken, die hinterhältig kicherten und zusahen, dass sie Land gewannen. „Das waren natürlich Cindy und ihre dummen Freundinnen“, schnaubte Stacey verächtlich. „Wann kapieren sie endlich, dass sie nicht die Schönsten sind? Guckt mal wie künstlich sie heute wieder aussehen, damit werden sie ihrem Namen gerecht“, rollte Ali mit den Augen. „Lass dich nicht von den Plastics beirren, das sind nur hirnlose Zicken!“, sagte Marian leise zu Lotta. „Das tue ich nicht!“, meinte diese gelassen und tanzte munter weiter.

 

Endlich kam Caleb wieder. „Na, hast du dir ein paar Biere zu viel gegönnt?“, neckte sie ihn. „Ach was, ich bin noch ganz klar bei Verstand“, erwiderte er und drückte sie an seinen durchtrainierten Oberkörper. Lotta merkte sofort, dass er draufgängerisch und übermütiger war als sonst. Er hüpfte mit ihr wild hin und her. „Mensch lass das! So kann ich nicht tanzen“, beklagte sie sich, denn mit ihren hohen Pfennigabsätzen knickte sie immer wieder beinahe um. „Ich bin gleich wieder da“, verschwand sie kurz zu den Schließfächern. Schnell tauschte sie ihre Heighheels gegen flache Ballerinas ein. So konnte sie wild mit Freund umher wirbeln, wie sie wollte. Gerade als sie sich mehrmals um ihre eigene Achse drehte, fielen ihr die Haare ins Gesicht. Oh nein, was war das? Ihre Haare waren lose und dann hörte sie es hinter sich leise kichern. Ausgerechnet Cindy und die anderen Plastics waren das. „Gehört das dir?“, hielt ein rotblondes Mädchen ihre Muschelspange in der Hand. „Hallo Disneyprinzessin!“, sagte Cindy herablassend und wieder kicherte ihr Anhang. „Lass um Himmels Willen die Spange und das kitschige Blumenhaarband weg, damit siehst du wie eine Prinzessin aus einem Kinderfilm aus“, stichelte Lissy.

 

Lotta wusste nicht, wie ihr geschah. „Verpisst euch, ihr hohlen Nüsse!“, schnauzte Caleb sie an und riss dem rothaarigen Mädchen die Spange aus der Hand. „Mal wieder müsst ihr für Ärger sorgen, ihr dämlichen Barbies!“, kam Stacey herbei geeilt. „Ihr habt Lotta absichtlich die Spange aus den Haaren gezogen!“, regte sich Jenna auf. Caleb und ihre Freundinnen machten die Plastics so lange fertig, bis sie sich von alleine trollten. „Solche dummen Schnallen!“, schüttelte Jenny den Kopf, „Die sind bloß neidisch, weil du schöner aussiehst“ „Bis gerade eben war ich hübscher, aber seht euch nur meine Haare an“, jammerte Lotta. „Komm mal mit, wir richten dich eben wieder her“, hakte Stacey sie unter und ging mit ihr zur Mädchentoilette. In null komma nichts hatte ihre Freundin die alte Frisur wieder hergerichtet und jetzt sah es sogar noch besser aus als vorhin, weil sie diesmal den Blumenschmuck weggelassen hatte. „Wehe, die Zicken vergehen sich noch mal an dir, dann werde ich Cindy vor versammelter Mannschaft hinschubsen“, knurrte Stacey.

 

Relativ am Abend wurden die Ballkönige und Ballköniginnen gekürt. Da Lotta und ihre Freunde in der elften Klasse waren, dauerte es noch ein Weilchen, denn zuerst kamen die Klassen sieben und acht an die Reihe. „Als ich in der siebten Klasse war, war ich auch einmal Ballkönigin. Damals war ich noch mit Stan zusammen“, raunte Jenny Lotta zu. Nun wurden die Namen der höheren Klassen vorgelesen. Es war nicht außergewöhnlich, dass Lissy und ihr Tanzpartner den dritten Platz machten. Stacey und Louis landeten auf dem zweiten Platz. „Bestimmt wird wieder eine von den Plastics gewinnen“, flüsterte Marian, worauf Ali und Mary stumm nickten. „Die Sieger der elften Klasse sind Lotta Janssen und Caleb O’Connell!“, verkündete der Moderator. Lotta traute ihren Ohren nicht, als sie Calebs und ihren Namen hörte.

 

„Komm, wir müssen zur Bühne!“, nahm Caleb ihre Hand. Tatsache, sie waren wirklich die Gewinner des heutigen Abends! Lotta konnte es kaum fassen, als sie ein Diadem auf den Kopf gesetzt bekam. „Freust du dich nicht?“, tickte Caleb sie an, „Wir haben gewonnen!“ Daraufhin gab er ihr einen Kuss und die ganze Schule applaudierte, als sie im Scheinwerferlicht standen. Eine Konfettikanone knallte und ein goldener Konfettiregen ging über sie nieder. Der Moderator überreichte ihnen anschließend zwei Freikarten für einen bekannten Freizeitpark. „Kommt mal her, ihr beiden, ich muss euch unbedingt vor die Linse kriegen“, kam Jake auf sie zu und machte mehrere Fotos. Dann mischte sich das Paar unter die Freunde, die sie von allen Seiten bejubelten. „Du hast zurecht gewonnen, Lotta!“, drückte Jenny ihren Arm.

7. Kiki - Führerscheinprüfung und Babyglück

„Du packst das schon, ich habe es gerade auch geschafft. Viel Glück, Kiki!“, wurde Kiki von ihrer Freundin Lynn umarmt, bevor sie in den Fahrschulwagen stieg. Heute war ein warmer Tag mitten im Juni und dazu war es für Kiki ein ganz besonderer Tag: ihre Fahrprüfung stand an. Vor über vier Monaten war sie 17 geworden und seit über einem halben Jahr arbeitete sie daraufhin, dass sie eines Tages alleine hinter dem Steuer sitzen konnte. „Hi Kiki!“, begrüßte ihr Fahrlehrer Carsten sie. „Hi!“, erwiderte sie knapp und mit jedem Schritt, dem sie sich dem Wagen näherten, fühlten sich ihre Beine wie Wackelpudding an. „Mach dir nicht ins Hemd, ich war bei meiner Fahrprüfung genauso aufgeregt wie du“, klopfte ihr Carsten freundschaftlich auf die Schulter. Am Auto angekommen, musste Kiki erstmal ein paar technische Fragen beantworten.

 

Endlich war es soweit: Kiki stellte den Sitz richtig ein, schnallte sich an, startete den Motor, legte den ersten Gang ein und löste die Handbremse. Schon auf den ersten Metern schlug ihr das Herz bis zum Hals und ihre Hände waren so feuchte, dass sie fast vom Lenkrad rutschten. „Nur die Ruhe bewahren!“, meinte der Prüfer gelassen und fing mit ihrem Fahrlehrer eine Unterhaltung über die neusten Motorradmodelle an. Er sagte lediglich, wo sie lang fahren sollte. Dadurch, dass sie sich nicht mehr so beobachtet fühlte, konnte sie viel befreiter fahren. Nach der ersten Ampel an der Hauptstraße ging es auf die Autobahn, wo zum Glück nicht viel los war. Kiki liebte schnelles Fahren, das war viel besser als dieses lästige stop-and-go im Stadtverkehr. „Jetzt verlassen wir die Autobahn“, kündigte der Prüfer im nächsten Augenblick an. Kiki fand es insgeheim schade, dass die Autobahnfahrt schon zuende war, aber bis jetzt lief die Fahrprüfung einwandfrei.

 

Kaum waren sie von der Autobahn herunter gefahren, mussten sie vor einer verschlossenen Bahnschranke warten. Kiki merkte erst beim zweifachen Räuspern ihres Fahrlehrers, dass sie den Motor abstellen musste. Es dauerte gefühlte fünf Minuten bis die Bahn kam. Als sie den Schüssel umdrehte, merkte sie, dass der Motor ein komisches Geräusch von sich gab und im nächsten Moment schwieg. „Sollten Sie nicht lieber in den ersten Gang schalten?“, gab der Prüfer ihr einen Tipp. Um Himmels Willen, wie konnte sie das nur vergessen? Kiki bekam einen großen Schreck und startete den Wagen noch mal neu. Hinter ihr wurde bereits gehupt und deswegen sah sie zu, dass sie schnell von der Stelle kam. Als nächstes wurde sie durch ein Wohngebiet gelotst, wo rechts vor links galt. Kiki musste echt aufpassen, dass sie keine Seitenstraßen oder hinter Hecken versteckte Kreuzungen übersah. An einer unübersichtlichen Kreuzung tastete sie sich langsam vorwärts.

 

„Wollen wir noch bis Weihnachten warten?“, gab der Prüfer einen Kommentar von sich, worauf Carsten ihn mit einer Diskussion über ein kommendes Motocrossrennen ablenkte. Kiki war doch froh, dass sie gut geguckt hatte, denn von rechts kam ein Linienbus, den sie erstmal vorbei fahren ließ. Anschließend wurde ein Supermarktparkplatz angesteuert, dort sollte Kiki rückwärts in eine Parklücke einparken. Glücklicherweise wählte der Prüfer eine Lücke, die breit genug war, um problemlos einzuparken. „Sehr gut gemacht!“, lobte Carsten, als sie gerade in der Parklücke standen. „Nun fahren wir über die Cilienstraße zurück zum TÜV kündigte der Prüfer an. Kiki hoffte, dass kein Fehler mehr unterlief, denn ihrer besten Freundin Mathilda war auf den letzten Metern ihrer ersten Prüfung ein drastischer Fehler passiert, weshalb sie erneut antreten musste. „Nun führen wir eine Gefahrenbremsung durch“, sagte der Prüfer, als sie in einem verkehrsberuhigten Bereich unterwegs waren. Als das Kommando gab, trat Kiki mit aller Macht gleichzeitig auf Bremse und Kupplung, sodass der Wagen ruckartig zum Stillstand kam. „Bis jetzt sieht es gut aus, Kiki!“, lobte Carsten sie, als sie zum TÜV zurück fuhren.

 

Erleichtert stellte Kiki das Auto auf dem Parkplatz ab und zog die Handbremse an. „Herzlichen Glückwunsch, Sie haben die Prüfung mit Erfolg bestanden, obwohl es zwischendurch ein paar Kleinigkeiten zu bemängeln gab“, schüttelte ihr der Prüfer die Hand. Kaum zu glauben, dass sie die Prüfung, die das Tor zum Erwachsenendasein war, gepackt hatte. „Super, du hast es geschafft!“, gab Carsten ihr einen Highfive. Drinnen an der Rezeption wurde Kiki ihr vorläufiger Führerschein fertig gestellt. Noch immer konnte sie nicht glauben, dass sie alleine ohne Carsten Autofahren durfte. „Mit 18 bekommst du den richtigen Führerschein und dann musst du nicht diesen gelben Wisch vorzeigen“, zwinkerte ihr Fahrlehrer ihr zu und verabschiedete sich kurz darauf, da der nächste Fahrschüler wartete.

 

Vor dem Getränkeautomat traf sie Lynn, die extra auf sie gewartet hatte. „Hast du es geschafft?“, kam sie sofort auf Kiki zu. „Wie du siehst: ja!“, hielt Kiki ihr das gelbe Blatt unter die Nase. „Hurra, wir dürfen beide alleine Auto fahren!“, jubelte Lynn und ihr in die Arme. Freudestrahlend wirbelten die beiden Freundinnen umher. „Meine Mutter holt mich gleich ab, soll sie dich mitnehmen und nach Hause bringen?“, fragte ihre Freundin. „Klar, das wäre echt nett, sonst müsste ich den Bus nehmen“, bedankte sich Kiki. Kaum waren sie aus der Tür getreten, kam ihnen Lynns Mutter freudestrahlend entgegen. „Wie ich sehe, habt ihr beide bestanden“, schlussfolgerte Lynns Mutter, als die beiden Mädchen ihr freudestrahlend entgegenkamen. „Ja, das haben wir“, nickte Lynn und fragte, „Können wir Kiki nach Hause bringen?“ „Von mir aus gerne“, bejahte ihre Mutter und gratulierte ihnen herzlich zur bestandenen Prüfung.

 

Kiki wunderte sich, dass Mirja bereits zuhause war, obwohl es erst kurz nach elf war. Anscheinend hatte sie erst nachmittags eine Vorlesung in der Uni. „Na Schwesterchen, wie ist es gelaufen?“, kam sie sofort auf Kiki zugelaufen. „Gut, wie du sehen kannst“, zeigte ihr Kiki voller Stolz den Führerschein. „Bravo Kiki, das ist phänomenal!“, freute sich Mirja und erdrückte sie fast. Die beiden Schwestern gönnten sich zur Feier des Tages eine Tüte Gummibärchen und eine Flasche Eistee. „Kommen heute eigentlich die Zwillinge und Lennart?“, wollte Mirja wissen. „Ganz genau, ich habe sie zum Übernachten eingeladen“, bejahte sie und schon bei dem Gedanken, dass sie endlich Mathilda, Annemieke und Lennart wieder sehen würde, wurde sie vor Freude ganz hibbelig. Um zwölf Uhr kam ihre Mutter von der Arbeit. „Du hast den Führerschein bestanden?“, schritt sie auf ihre jüngste Tochter zu. „Das habe ich“, strahlte sie. „Herzlichen Glückwunsch, das hast du großartig gemacht!“, umarmte ihre Mutter sie, „Du kannst uns gleich zum Bahnhof fahren und deine Freunde abholen“ „Das mache ich doch gerne“, nickte Kiki. „Zur Feier des Tages bestellen nachher Pizza, wenn wir deine Freunde vom Bahnhof abgeholt haben“, verkündete ihre Mutter.

 

„Mama, wir müssen jetzt wirklich beeilen, denn der Zug kommt in einer halben Stunde an“, sah Kiki auf die Uhr in der Küche. „Stimmt, aber das schaffen wir“, meinte ihre Mutter, „Soll ich den Hinweg fahren, dann sind wir schneller“ „Das wäre mir lieber“, nickte sie und nahm auf dem Beifahrersitz platz. Während der Fahrt setzte sich Kiki ihre Sonnenbrille auf und ihr schwarzes seidiges Haar, welches ihr fast wieder bis zu den Schultern reichte. Sie sang gutgelaunt zu einem Song mit, der im Radio lief. „Hurra, ich sehe gleich meine beiden besten Freundinnen und Lennart wieder“, dachte sie bei sich selbst. Ihre Mutter parkte den Wagen in einer Parkgarage am Bahnhof. „Los, wir müssen uns sputen, der Zug kommt schon in einer Minute an“, drängte Kiki, die einen Zahn zulegte. „Was ich kann ich dafür, dass wir wieder einen ellenlangen Stau hatten“, schnaufte ihre Mutter hinter ihr. Sie betraten eine Rolltreppe, die zum Gleis führte. Inzwischen kamen ihnen dutzende Menschen mit teils schweren Gepäck entgegen. „Der Zug muss schon da sein“, raunte Kiki ihrer Mutter zu. „Dann kommen wir gerade rechtzeitig“, schmunzelte diese.

 

Auf dem Bahnsteig waren nicht mehr viele Menschen unterwegs, sodass Kiki auf Anhieb zwei hellblonde Lockenköpfe und einen schlaksigen Jungen mit Baseballcap entdeckte. Sie stieß einen Jubelschrei aus und sprintete los. „Kiki!“, jubelten die Zwillinge, die ihre Freundin fast erdrückten. „Hey Kiki!“, schritt Lennart auf sie zu, als Kiki sich aus Mathildas und Annemiekes Fängen befreien konnte und gab ihr einen sanften Kuss. „Schön, dass ihr da seid!“, war Kiki außer sich vor Freude. „Das war auch echt wieder Zeit. Wir haben uns seit den Osterferien nicht mehr gesehen“, fand Mathilda. „Ich schon!“, rief Lennart dazwischen, „Wir sehen uns alle zwei Wochen, da ich zweimal im Monat nach Mainz fahre“ „Du könntest echt wieder öfter nach Freudenburg kommen“, stieß Mathilda ihre Freundin an. „Na klar, das werde ich, wenn die Sommerferien anfangen“, versprach ihr Kiki. „Wie ist deine Führerscheinprüfung gelaufen?“, fragte Annemieke. „Sehr gut, ich habe bestanden!“, teilte ihnen Kiki mit, worauf sie wieder von allen Seiten umarmt wurde und ihre Freunde ihr überschwänglich gratulierten.

 

„Du warst besser als ich. Ich habe kurz vor Prüfungsende einen Fahrradfahrer übersehen, sodass mein Fahrlehrer eingreifen musste. Somit war die Prüfung gelaufen und ich wurde ohne meinen Schein nach Hause geschickt wurde. Ich war so fertig mit der Welt, sodass ich mich zuhause in meinem Zimmer eingeschlossen und wie ein Schlosshund geheult habe. Erst vor knapp zwei Wochen habe ich den Führerschein im zweiten Anlauf bestanden“, erzählte ihr Mathilda auf dem Weg zum Auto. „Ich konnte wegen der bescheuerten Knieverletzung erst vor kurzem wieder mit Fahrstunden anfangen, sonst hätte ich den Schein schon längst“, wandte Annemieke ein, „Immerhin wurde ich gestern erst von Matti durch die Gegend kutschiert und das war total lustig“ „Ich habe die Fahrprüfung genau eine Woche nach meinem siebzehnten Geburtstag bestanden“, mischte sich Lennart in ihre Unterhaltung ein. „Magst du uns nach Hause fahren?“, bekam Kiki den Schlüssel von ihrer Mutter in die Hand gedrückt. Kiki setzte sich ans Steuer, ihre Mutter saß auf dem Beifahrersitz, während Lennart und die Zwillinge auf der Rückbank platz nahmen. „Nun werde ich euch meine Fahrkünste präsentieren!“, verkündete Kiki. „Ai ai Käpt’n, bring uns heile nach Hause!“, scherzte Lennart, als Kiki rückwärts aus der Parklücke herausfuhr. „Ein neues Zeitalter bricht an, nun werde ich bald von vielen Freunden durch die Gegend gefahren“, kommentierte Mathilda. „Oh ja, wir werden erwachsen“, nickte ihre Schwester.

 

Zuhause hatte Mirja den Gartentisch unter der Linde gedeckt. „Ihr wollt doch lieber unter euch sein, daher bleiben wir in der Küche“, meinte Kikis ältere Schwester, die es eilig hatte, da sie noch eine Vorlesung hatte. Ganz Unrecht hatte Mirja nicht, die vier Jugendlichen wollten lieber unter sich sein. Es gab viel zu erzählen, denn in den letzten Monaten war echt viel passiert. Mathilda hatte schon drei Spiele für die Hockeyjuniorenmannschaft bestritten und war seit einem Monat mit Björn zusammen, der bei ihnen in der Straße wohnte. Kiki freute sich sehr für ihre beste Freundin, dass sie wieder einen Freund hatte, nachdem sie vor über einem Jahr mit Sven eine bittere Enttäuschung erlebt hatte. „Ich habe mit Sven übrigens den Kontakt abgebrochen, nachdem wir uns endgültig zerstritten haben“, erzählte Mathilda beiläufig.

 

„Allgemein sind die Piranhas nicht mehr so dicke befreundet wie früher“, fügte ihre Zwillingsschwester hinzu. „Naja, wir entwickeln uns auseinander“, meinte Lennart, „Ich bin zwar immer noch gut mit Michi und Jannis befreundet, aber inzwischen habe ich viele neue Freunde kennen gelernt. Sven und Max gehören mittlerweile eh zur großen Clique um Jolanda und ok. Mit Ömer und Ricardo habe ich inzwischen leider nicht mehr so viel Kontakt“ „Das machen wir aber besser!“, zwinkerte Kiki den Zwillingen zu. „Genau, wir sind immer noch acht gute Freundinnen, auch wenn Lotta momentan noch in Amerika ist“, pflichtete ihr Annemieke bei. „Es ist cool, dass ihr noch so gut den Kontakt haltet“, fand Lennart. Kiki gab ihrem Freund Recht, sie war wirklich stolz auf die bärenstarke Freundschaft der ehemaligen Roten Sieben, die auch ohne Bande bestehen blieb.

 

Die vier Freunde genossen die Pizza und nach dem Essen ruhten sie sich auf den Liegestühlen aus und nippten nebenbei Zitroneneistee. Als Lennart kurz zur Toilette ging, sprang Annemieke kurzerhand auf, ließ ihr Handy ins Gras plumpsen und lief jubelnd über die Rasenfläche. „Was ist los mit dir? Bist du verrückt geworden“, sah Mathilda erschrocken auf und stieß versehentlich ihr Glas um. „Micky, erzähl uns endlich, was Sache ist!“, drängte nun auch Kiki. „Ihr werdet es kaum glauben!“, strahlte Annemieke über beide Backen, „Emily ist Mama geworden!“ „Waaasss?“, riefen ihre Schwester und Kiki gleichzeitig. „Passt mal auf, Emily wurde heute Morgen mit heftiger Übelkeit ins Krankenhaus eingeliefert und bereits eine Stunde später setzten die Wehen ein. Um kurz nach zwölf kam ihre Tochter Sophia auf die Welt. Eigentlich sollte das Baby erst im August geboren werden, aber es kam acht Wochen zu früh und muss erstmal noch für eine gewisse Zeit im Brutkasten bleiben, da es noch nicht ganz von alleine atmet“, erzählte sie, nachdem sie sich ein wenig beruhigt und ihr Handy aufgehoben hatte.

 

Wie immer war es Annemieke, die von Emily zuerst benachrichtigt wurde, da Emily und sie die allerbesten und unzertrennlichsten Freundinnen waren. „Wie phänomenal! Das erste Bandenbaby wurde geboren!“, sprang Kiki auf und tanzte ausgelassen umher. „Juhuu, das muss gefeiert werden!“, juchzte Mathilda und setzte zu einem Luftsprung an. Die drei Freundinnen stießen Jubelschreie aus, hüpften wild umher, fassten sich an den Händen und tanzten wild durch den Garten. Sie ließen sich ins Gras fallen und sprangen kurz darauf wieder wie Osterlämmer umher. „Seid ihr noch ganz dicht?“, kommentierte Lennart den Freudentanz der drei Mädchen. „Emily hat eine Tochter bekommen!“, erwiderte Kiki außer Atem. „Wirklich oder erzählt ihr mir einen vom Pferd?“, zog ihr Freund die Augenbrauen hoch. „Sieh mal hier!“, hielt ihm Annemieke ihm ihr Smartphone unter die Nase. „Cool, das freut mich sehr für Lily!“, sagte er schließlich. Früher war er ebenfalls etwas mehr als ein Jahr mit Emily zusammen gewesen. „Ich werde dem Baby Socken stricken“, funkelten Annemiekes Augen voller Elan. „Und ich werde ihm einen Strampler kaufen“, fügte Kiki hinzu.

 

Bevor die Freunde in die Innenstadt aufbrachen, liefen sie zu einem Babyfachgeschäft in der Nähe. „Wie findet ihr den?“, hielt Kiki einen quietschrosa Strampler hoch. „Nicht so mein Fall“, sah Mathilda etwas skeptisch drein. „Wie wäre es damit?“, kam Annemieke mit einer rotweiß gestreiften Variante an. „Das ist schon deutlich besser“, nickte ihre Schwester. „Okay, dann nehmen wir den schon mal mit“, entschied Kiki. Mathilda legte noch eine Packung Schnuller dazu, während Kiki von ihrem Taschengeld noch ein Schmusekissen kaufte. „Sind wir dann mal so weit?“, taperte Lennart ungeduldig auf und ab. „Ich brauche noch dringend Wolle, sonst kann ich die Söckchen nicht stricken“, fiel Annemieke ein. „Dann mach hin, ich wachse sonst hier fest“, brummte Lennart. Während er sich mit seinem Handy ablenkte, verschwanden Kiki und die Zwillinge in einem Bastelgeschäft nebenan.

 

„Typisch Weiber!“, brummte Lennart, als die Mädchen mit vollen Taschen wiederkamen. „Yeah, ich kann gleich mit dem Stricken beginnen“, freute sich Annemieke. „Wollen wir nicht gleich in die Stadt?“, fragte Lennart und nahm Kikis Hand. „Es ist doch noch viel zu früh, um in die Stadt zu gehen“, fand seine Freundin. „Genau, wir können noch eine Weile im Garten chillen“, wandte Mathilda ein, „Es ist gerade ziemlich warm und will einfach nur gemütlich im Schatten sitzen“ „Hättet ihr Lust auf ein Eis?“, fragte Annemieke, als sie an einer kleinen Eisdiele vorbei kamen. Ihre Idee fand breite Zustimmung unter den Freunden, sodass sich jeder zwei oder drei Kugeln in der Waffel gönnte. Sie mussten sich sehr beeilen, denn das Eis schmolz bei dem Wetter sehr schnell. „Eigentlich ist heute Schwimmbadwetter“, meinte Mathilda, die mächtig schwitzte, obwohl sie nur ein Top und eine Hotpants anhatte. „Wir können uns gleich unter den Rasensprenger stellen“, schlug Kiki vor. „Endlich sind wir da“, wischte sich Lennart den Schweiß von der Stirn. Kiki öffnete die Gartenpforte. „Kalte Dusche – Wir kommen!“, rannte Mathilda los und stellte sich unter den Rasensprenger. Der Wasserstrahl traf sie mitten im Gesicht, sodass ihre Haare im Gesicht kleben blieben. Lachend rannten die Jugendlichen umher, hüpften munter auf und ab und ließen sich nach einer Weile auf vier Liegestühlen unter der kräftigen Eiche nieder. „Jetzt kann ich endlich anfangen“, schnappte sich Annemieke zwei Stricknadeln und ein rotes Wollknäuel, während die anderen entweder dösten oder über Köpfhörer Musik hörten. 

 

Erst am Abend begaben sich die Freunde auf eine Kneipentour. „Schade, dass wir noch keine 18 sind“, bedauerte Mathilda, die eine Karte mit farbenfrohen Cocktails studierte. „Macht nichts, es gibt auch ganz viele alkoholfreie Cocktails“, stupste ihre Schwester sie an. „Aber Bier können wir uns trotzdem auch bestellen“, meinte Lennart. „Von mir aus gerne, dann können wir auf Kikis Führerschein anstoßen“, nickte Mathilda, die einen Kellner herbeiwinkte. Die Freunde bestellten sich entweder ein richtiges Bier oder ein Biermischgetränk. „Ich bin wohl der einzige richtige Hahn im Korb“, murmelte Lennart vor sich hin, als er sah, dass er als Einziger ein großes Bier bestellt hatte, während die Mädchen einen Biermix mit Cola oder Limonade bevorzugten. „Reines Bier ist nicht meins“, erwiderte Annemieke leise.

 

„Übrigens habe ich mal wieder umwerfende Neuigkeiten“, stellte Mathilda ihr Bierglas mit einem Mal ab, sodass der Inhalt fast überschwabbte. „Wann hast du mal keine Neuigkeiten, du kleine Überraschungskiste?“, sah Lennart sie neckend an. „Ich war erst vor wenigen Tagen in Hamburg und habe den Vertrag für meinen neuen Verein unterzeichnet. Ich werde ab September in der ersten Hockeyliga der Frauen spielen“, holte sie tief Luft und fuhr fort, „Das bedeutet, dass ich in zweieinhalb Monaten zu Papa nach Hamburg ziehe. Ich werde auf eine Gesamtschule gehen, wo ich erst nach dreizehn Jahren mein Abi machen werde“ „Wow, damit habe ich wirklich nicht gerechnet“, verschlug es Kiki fast die Sprache. „Ach man, irgendwie ziehen alle in andere Städte“, murrte Annemieke. „Aber Lotta kommt immerhin bald wieder“, zwinkerte ihr Kiki zu.

 

„Ich kenne eine coole Bar mit einem fabelhaften Blick auf den Rhein“, lotste Kiki ihre Freunde durch die Altstadt. „Ich hätte mal Lust auf etwas Süßes“, äußerte Mathilda einen Wunsch. „Kein Problem, ich zeige euch gleich die coolste Cocktailbar der ganzen Stadt“, hakte Kiki sich bei ihr und ihrer Schwester unter. Kaum waren sie angekommen, winkten zwei Mädchen Kiki zu. „Wer war das?“, wollte Lennart wissen. „Das sind Caro und Sabrina, zwei Schulfreundinnen“, erwiderte Kiki. „Hi, was machst du hier?“, fragte Sabrina, ein schlankes Mädchen mit hohem Pferdeschwanz und Brille. „Ich wollte meinen Freunden aus Freudenburg ein bisschen die Stadt zeigen“, richtete sie sich an ihre Mainzer Freundinnen. „Ihr könnt gerne zu uns an den Tisch kommen“, sagte Caro, die neben Sabrina saß. „Übrigens Moritz kommt gleich auch noch“, meinte Sabrina, „Aber wir passen auch zu siebt an den Tisch, nur jemand muss mal eben einen Stuhl holen“ Kiki stand auf und besorgte einen Stuhl vom Nachbartisch, damit sich Annemieke setzten konnte.

 

„Hallo, ich bin Moritz!“, kam ein dunkelhaariger Junge an den Tisch und gab Kikis Freunden die Hand, als er sich vorstellte. „Schön euch kennen zu lernen“, lächelte Sabrina. „Danke, ich freue mich auch, dass ein paar von Kikis Mainzer Freunden kennen lernen darf“, erwiderte Annemieke freundlich und studierte die Cocktailkarte. „Hier gibt es eine große Auswahl an Cocktails“, beugte sich Caro zu ihr rüber. „Gerade ist es doch ein wenig schade, dass ich erst im nächsten Monat 18 werde“, bedauerte Sabrina ein wenig. „Hehe, ich bin wohl der einzige Glückspilz, ich bin schon etwas länger 18“, sah Moritz sie neckend an. „Wie wäre es, wenn du für uns die alkoholhaltigen Cocktails mitbestellst?“, schlug Lennart vor. „Au ja, bitte tu das!“, leuchteten Mathildas Augen. „Es ist schon ein wenig auffällig, wenn ich drei Cocktails auf einmal bestelle“, sagte Moriz, „Ich kann euch nachher für euch einen alkoholhaltigen Cocktail bestellen“ Kiki, Annemieke und die beiden Mainzer Mädchen hatten bereits Cocktails bestellt, die sie trinken wollten.

 

„Ich habe von Lynn gehört, dass ihr heute den Führerschein bestanden habt“, tickte Caro Kiki an. „Herzlichen Glückwunsch, Kiki!“, gab ihr Moritz die Hand. In nächsten Moment kamen sieben bunte Cocktails um die Ecke. „Es gibt wieder etwas zu trinken!“, frohlockte Mathilda. „Genau, dann können wir auf Kikis Führerschein anstoßen“, stimmte Sabrina in ihre gute Laune ein. „Ich stoße bestimmt zum zehnten Mal darauf an“, grinste Kiki, die sich unter ihren Freunden pudelwohl fühlte. Es wurde ein lustiger und geselliger Abend. Zufrieden stellte Kiki fest, dass sich Lennart und die Zwillinge wunderbar mit ihren Mainzer Freunden verstanden. „Habt ihr das gesehen?“, sah Lennart an den Himmel. „Klar, das war eine Sternschnuppe und ihr dürft euch etwas wünschen“, meinte Caro. Niemanden war die hell leuchtende Sternschnuppe entgangen, die über ihre Köpfe hinwegzischte. „Mein Wunsch ist bereits schon längst in Erfüllung gegangen“, gab Lennart Kiki einen Kuss. „Meiner auch“, lächelte sie und hielt seine Hand. Sie war sehr glücklich, dass sie mit so einem fürsorglichen und lieben Jungen wie ihm zusammen war. „Ihr seid wirklich ein süßes Paar“, fand Sabrina. „Wie lange seid ihr schon zusammen?“, wollte Caro wissen. „Ungefähr 14 Monate“, antwortete Lennart. „Wollen wir nicht langsam nach Hause, mir ist kalt“, begann Annemieke zu frösteln, die bereits ihre Jacke ausgezogen hatte. „Von mir aus schon, denn es ist im Vergleich zu vorhin wirklich kühl geworden“, stand Kiki auf.

 

8. Mathilda – Ein Schritt ins neue Leben

 An einem schönen Spätsommertag waren Mathilda und ihr Freund Björn an den Sterntalersee gefahren. Es war erst ein Jahr, dass Mathilda mit ihren Freunden hier gezeltet hatte. Heute wollte sie mit Björn den schönen Tag ausklingen lassen und spontan waren sie in Björns Auto gestiegen. „Es ist so schade, dass es einer meiner letzten Abende hier sein wird“, bedauerte Mathilda ein bisschen, als sie sich auf eine Bank gesetzt hatten und warf einen Blick auf den See. Die Abendsonne spiegelte sich goldorange auf den leichten Wellen der Wasseroberfläche. „Ich werde dich auch vermissen, Schatz“, nahm Björn ihre Hand. „Ich versuche es jeden Tag zu verdrängen, dass ich bald nicht mehr hier sein werde“, musste sie schlucken. „Nicht nur du“, seufzte Björn und rückte seine Brille zurecht. Schweigend rückte sie näher an ihn heran und legte ihren Kopf seine Schulte. Sanft fuhr er ihr durch die hellblonden Locken, die ihr fast wieder bis zur Schulter reichten.

 

Erst seit einigen Monaten ließ sie sich ihre Haare wieder wachsen. Zuvor hatte sie andere Frisuren und Haarfarben ausprobiert, bis sie feststellte, dass ihr ihre hellen Naturlocken am besten standen. „Heute ist kein Tag zum Traurigsein“, sagte ihr Freund leise. „Da hast du Recht“, setzte sich Mathilda mit einem Mal wieder gerade hin. „Wir müssen zusehen, dass wir um halb zehn wieder beim Auto sind“, erinnerte Björn sie, als sie noch ein Stückchen weiter gingen. „Was hältst du davon, wenn wir ein bisschen Tretboot fahren?“, schlug sie vor. „Meinst du nicht, dass es jetzt ein wenig spät ist?“, runzelte Björn die Stirn. „Ach was, wir können uns ein Boot für eine halbe Stunde mieten“, widersprach sie im und zog ihn in Richtung Anlegestelle. Björn gab sich geschlagen, denn Mathilda konnte sehr beharrlich sein, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte.

 

Wenig später hockten sie in einem blauen Tretboot und dümpelten langsam über den See. „Du bist doch der Beste!“, gab Mathilda ihrem Freund einen Kuss. „Haha, weil ich mich immer von dir breitschlagen lasse“, erwiderte er lachend. Langsam neigte sich die Sonne immer mehr dem Horizont entgegen und der Himmel verfärbte sich von goldgelb, über rosarot bis türkisblau. Mathilda musste die Impressionen mit ihrer Handykamera festhalten. „Bald ist es doch Zeit, dass wir wieder zurückfahren“, stupste Björn sie an. „Gleich, zehn Minuten haben wir noch“, schaute sie auf ihrer hellgrünen Icewatch-Armbanduhr nach. „Bis dahin können wie gemütlich zum Steg zurücktreten“, lehnte sich Björn zurück. „Vielen Dank, dass du mir einer meiner letzten Tage hier versüßt hast“, küsste Mathilda ihn, als sie wieder Land unter ihren Füßen hatten.

 

„Dafür bin ich der persönliche Glücksbringer meiner lieben Matti!“, nahm Björn ihre Hand als sie zum Auto gingen. Schwungvoll ließ sie sich auf den Beifahrersitz fallen und drückte auf einen Knopf, sodass die Fensterscheibe herunterfuhr. Im Auto war es in den letzten drei Stunden ziemlich warm und stickig geworden. Björn drehte das Radio auf, gerade lief einer von Mathildas Lieblingssongs. Gutgelaunt sang und wippte sie mit. Dabei streckte sie den Kopf zum Fenster heraus, sodass ihre Haare kräftig durchgepustet wurden. „Du siehst vielleicht aus!“, lachte Björn, „Sollen wir dich zur Pudelparade schicken?“ „Pah, ich bin kein Pudel“, knuffte sie ihn leicht. „Doch mit deinen wilden Locken siehst du schon ein bisschen so aus“, nickte er. Mathilda streifte ihr Haargummi vom Handgelenk und band ihre wilde Mähne straff nach hinten. „Ha, jetzt bin ich kein Pudel mehr“, sah sie ihn siegesgewiss an. „Dafür siehst du aus wie eine Hexe!“, erwiderte er neckend. „Noch ein Wort und ich…“, hob sie drohend ihre Faust. „Kein Angriff auf den Fahrer!“, wehrte er ihre Hand ab.

 

Mathilda spielte ein bisschen mit dem Radio rum und suchte einen Jugendsender, die abends oft fetzige und angesagte Musik im Programm hatte. Im nächsten Moment klingelte ihr Handy, sodass sie das Radio wieder leiser stellte. „Hier ist Mathilda“, meldete sie sich. „Hi Matti, ich bin’s Micky“, meldete sich ihre Zwillingsschwester, „Emily hat sich gemeldet, sie wollte morgen Nachmittag mit ihrer kleinen Sophia vorbei kommen. Sie wollte mit uns ein wenig spazieren fahren“ „Morgen ist schlecht, da muss ich meine Sachen packen“, erwiderte Mathilda. „Na gut, vielleicht können wir einfach bei uns zuhause nur Kaffeetrinken“, erwiderte Annemieke. „Okay, das wäre echt besser“, meinte sie und legte im nächsten Moment auf. Björn brachte sie noch bis zur eigenen Haustür und verabschiedete sich mit einem Kuss.

 

Mathilda war am nächsten Tag damit beschäftigt zwei große Koffer zu packen. Sie ärgerte sich ein bisschen, dass ihr Hockeyschläger so sperrig war, sodass sie die eine Tasche komplett wieder auspacken musste, damit das sperrige Sportutensil dort hinein passte. „Vergesse deine Sportschuhe nicht“, stellte ihr Annemieke ihr die leuchtendorangen Hallenschuhe hin. „Die hätte ich garantiert nicht vergessen, dass sind doch meine Lieblingsschuhe“, lachte sie kurz auf, während sie ihre Sporthallenschuhe mit ihren anderen Sportsachen zusammen verstaute. Gerade sie ein paar Jeans und Jogginghosen zusammensuchte, klingte es unten an der Haustür.

 

„Das muss Emily sein“, sprang Annemieke von ihrem Bett auf und huschte aus dem Zimmer. „Bald werde ich mir das Zimmer nicht mehr mit Micky teilen“, wurde sie bei dem Gedanken traurig, dass sie und Annemieke bald voneinander getrennt leben würden. Anderseits war es auch verlockend, dass sie ihr eigenes Leben anfangen konnte, wo ihre Schwester nicht immer die andere Hälfte von ihr war. Seit sie auf der Welt war, teilte sie ihr Zimmer, die gleichen Hobbys und Freundinnen mit ihr. Nun war die Zeit gekommen, in der sie sich ein bisschen mehr von ihrem Zwilling abgrenzen konnte. Ein Babyweinen riss sie aus ihren Gedanken. Das war eindeutig Sophia. Mathilda sprang auf, denn sie hatte während des ganzen Packens vergessen, dass ihre Freundin Emily gekommen.

 

„Schön dich auch noch mal zu sehen!“, umarmte Emily sie. Draußen auf der Terrasse war der Tisch schon gedeckt. Es gab eine leckere Joghurttorte mit Aprikosen, die die Zwillinge über alles lebte. Ihre Oma hatte sie gebacken, denn seitdem ihr Großvater im Mai gestorben war, lebte sie mit in ihrem Haus. „Ich dachte, ich könnte dir ein bisschen den Abschied versüßen“, gesellte sich ihre Großmutter dazu, die gerade im Garten das Unkraut zupfte. „Dann will ich allein wegen deiner Backkünste nicht mehr nach Hamburg ziehen“, drehte sich Mathilda zu ihr um. Nun waren alle Augenpaare auf Annemieke gerichtet, die die kleine Sophia auf dem Arm hatte. „Die Kleine ist ja so niedlich!“, begannen Augen ihrer Großmutter an zu leuchten. „Sie ist erst vor zwei Tagen zwei Monate alt geworden“, sagte Emily, die ihre kleine Tochter zurück zu sich nahm. „Darf ich sie auch noch mal auf den Schoß nehmen?“, fragte Mathilda. „Aber nur kurz, Sophia soll schlafen“, reichte ihr Emily das Baby. Emilys Tochter schlief seelenruhig auf Mathildas Schoß weiter. Wie süß Babys sein konnten, wenn sie vor sich hinschlummerten.

 

„Du bist unser erstes Rote-Sieben-Baby“, streichelte Mathilda dem Säugling liebevoll über den Kopf. „Genau und Sophia hat gleich acht Rote-Sieben-Mamas“, grinste ihre Schwester. „Soll ich euch noch Kaffee bringen?“, kam die Großmutter der Zwillinge an den Tisch. „Nein danke, wir sind gut versorgt“, schüttelte Mathilda den Kopf. „Bist du eigentlich schon aufgeregt wegen morgen?“, wandte sich Emily an sie. „Oh ja, das bin ich“, nickte Mathilda, „Vor allem soll ich übermorgen zum ersten Mal meine neue Schule besuchen werde“ „Ach, du packst das schon“, klopfte ihr Emily aufmunternd auf die Schulter. „Bist du da so sicher?“, murmelte Mathilda leise, sodass Emily und Annemieke nicht hörten. „Du wirst schon neue Freunde finden. Du warst schon immer selbstbewusster und offenherziger als ich. Daher mach dir keinen Kopf“, zwinkerte ihr Annemieke zu. Mathilda geriet ein wenig ins Zweifeln, zwar war sie ihr Leben lang selbstbewusst gewesen und ging gerne unter Leute, allerdings hatte sie immer ihre Zwillingsschwester dabei. In Hamburg wartete ein Neustart auf sie, diesmal ohne Annemieke und ihre Freundinnen, sodass sie sich alleine behaupten musste.

 

Am nächsten Tag war es soweit: Alle Taschen und Koffer wurden ins Auto verladen. Sogar Björn begleitete sie. Auf dem ganzen Weg sagte Mathilda kein Wort, ihr war ganz schwer ums Herz und sie musste schlucken, damit ihr bereits nicht jetzt schon die Tränen kamen. Schweigend nahm sie ihr Gepäck und schritt die Bahnhofsstraße entlang. Als sie den Bahnsteig betrat, erlebte sie eine Überraschung. Alle ihre Freundinnen und Freunde waren gekommen, um sich von ihr zu verabschieden. Kiki und Lennart hielten einen Banner hoch, auf dem in großen bunten Buchstaben geschrieben stand „Gute Reise, Matti!“ und selbst Lotta winkte ihr zu, die erst seit wenigen Tagen aus Amerika zurückgekommen war. „Hi Matti, schön dich wieder zu sehen!“, fiel ihr Lotta lächelnd um den Hals. „Es ist toll, dass wir uns noch mal vor meiner Abreise treffen“, brachte Mathilda ein zaghaftes Lächeln über die Lippen. „Wir haben noch eine Reisebox für dich zusammengestellt, die von allen ehemaligen Roten Siebenerinnen stammt“, überreichten Aylin und Vivien einen Schuhkarton, der mit Tesafilm zugeklebt war.

 

„Ich bin auch noch mal gekommen. Ich habe dich lange nicht mehr gesehen, aber ich wollte dir gerne noch mal Tschüss sagen“, kam Elias auf sie zu, der früher auch in ihrer Straße gewohnt hatte. Mathilda war überwältigt, wie viele alte und aktuelle Freunde gekommen waren, um ihr eine gute Reise zu wünschen. Alle ehemaligen Roten Siebenerinnen waren anwesend und auch ein paar weitere Freunde aus der Schule. Plötzlich kamen Kim und Janet zum Gleis gehastet. „Ich dachte, wir verpassen dich“, keuchte Janet. „Ihr habt Glück, der Zug hat zehn Minuten Verspätung hat“, zwinkerte ihr Annemieke zu. „Hier, das ist ein bisschen Proviant“, überreichte Kim Mathilda eine Packung Trüffelpralinen, die sie über alles liebte. „Danke, es ist so rührend, wie ihr an mich denkt“, erwiderte Mathilda gerührt und plötzlich war ihre Kehle wie zugeschnürt. „Stimmt, etwas mit dir nicht, Schatz?“, nahm Björn sie in den Arm. Mathilda versuchte ihm zu antworten, aber gerade versagte ihre Stimme. Stattdessen verbarg sie ihr Gesicht an seiner Schulter, damit niemand ihre aufsteigenden Tränen bemerkte. „Es ist so schade, dass du soweit wegziehst, Matti“, bedauerte Fianna. „Oh ja, wir werden uns noch viel weniger sehen als sonst“, nickte Emily traurig.

 

Eine Ansage verkündete den einfahrenden Zug. Mathilda wurde von allen Seiten umarmt. „Gute Reise, Liebling!“, nahm ihre Mutter sie fest in den Arm. „Melde dich, wenn du in Hamburg bist“, gab Björn ihr einen Kuss. „Mach’s gut, wir sehen uns an eurem Geburtstag!“, verabschiedete sich Kiki und konnte nicht verhindern, dass ein paar Tränchen über ihre geröteten Wangen liefen. „Ich werde dich jetzt schon vermissen!“, schluchzte Annemieke los, die sich immer noch an ihre Zwillingsschwester geklammert hatte. Nun flossen etliche Tränen, die meisten allerdings bei den Zwillingen und ihrer Mutter. Björn, Annemieke und ihre Mutter halfen ihr das Gepäck in den Zug zu bringen. Mathilda nahm die Umgebung nur durch einen Tränenschleier wahr.

 

Zum Glück saß sie alleine in einem Abteil, sodass sie ungestört weinen konnte. Die Bahn setzte sich in Bewegung. Ihre Mutter, Annemieke, Björn und ihre Freunde begannen eifrig zu winken und der Banner wurde geschwenkt. Mathilda winkte so lange, bis die Bahn den Bahnhof verlassen hatte. Nun strömten ihr unzählige Tränen über das Gesicht. Ihre Zeit in Freudenburg war vorbei, stattdessen wartete ein neuer Lebensabschnitt in Hamburg. Als sie sich ausgeweint hatte, öffnete sie die Reisebox, die sie von ihren Freundinnen bekommen hatte. Ein Sorgenpüppchen, ein Brief von ihren Freundinnen, eine Tüte Gummibärchen, ein Stadtplan von Hamburg, ein kleiner Traumfänger und zwei Duftkerzen kamen zum Vorschein. Mathilda war überglücklich, dass sie die weltbesten Freundinnen hatte, obwohl es sie in dem Moment sehr traurig machte, dass sie ihre früheren Bandenschwestern zurücklassen musste.

 

Völlig müde ließ sie sich am Ende einer langen anstrengenden Reise am Hamburger Hauptbahnhof in die Arme ihres Vaters fallen. „Willkommen in deiner neuen Heimat“, begrüßte er sie und sie gingen zu seinem Auto. Gedankenverloren starrte sie aus dem Fenster und guckte zwischendrin auf ihr Handy. „Was hältst du davon, wenn wir erstmal etwas essen?“, schlug ihr Vater vor. „Gerne, ich habe gerade wirklich Hunger“, nickte sie. Außer den Süßigkeiten und ein paar belegten Brötchen hatte sie sonst noch nichts Richtiges gegessen. Im nächsten Moment hielt ihr Vater beim nächsten Schnellrestaurant. Mathilda und ihr Vater bestellten sich mehrere Hamburger, Chickennuggets, Pommes und zweimal Cola. Da sie beide einen unbeschreiblichen Kohldampf hatten, verputzten sie das Menü in null komma nichts und bestellten sich zum Nachtisch ein Softeis.

 

Danach ging es in Richtung der Wohnung ihres Vaters. Mathilda war überrascht, als sie ihr neues helles Zimmer betrat. Ein frisch gemachtes Bett stand unter einer Dachschräge und neben der Tür hing ein großer Spiegel. Erstmal setzte sie sich die Bettdecke, sortierte ihre Haare und schoss ein Selfie, welches sie direkt an Annemieke, Kiki und Björn schickte. Endlich war sie nach einer stundenlangen Reise angekommen. „Wollen wir uns gleich den neusten James Bond reinziehen?“, klopfte ihr Vater an die Tür. „Nein, gerade nicht“, lehnte sie ab, „Ich möchte mich gerne noch eine Stunde ausruhen“ Nachdem ihr Vater gegangen war, wählte sie die Nummer ihrer Schwester. Gerade hatte sie ein großes Bedürfnis mit Annemieke zu sprechen. Obwohl sie ihren Zwilling seit genau acht Stunden nicht mehr gesehen hatte, fühlte sie sich ohne sie ein wenig einsam.

 

Mathilda war an ihrem ersten Schultag sehr aufgeregt und konnte in der Nacht zuvor kaum schlafen. Bereits um sechs Uhr stand sie auf, fing an ihre Haare zu glätten und schminkte sich sogar ein wenig. Normalerweise war dies gar nicht ihre Art, aber sie wollte an ihrer neuen Schule nicht gleich mit ihrem wilden Lockenkopf auffallen. Nach einem kleinen Frühstück schwang sie sich auf ihr Fahrrad. Ihr Vater begleitete sie, denn sie hatten noch einen Termin beim Rektor. Der Schulleiter hieß Herr Johannsen und hatte aufgrund seines Rauschesbarts Ähnlichkeiten mit einem alten Seemann. Mathilda fand ihn auf Anhieb sympathisch. Hoffentlich waren ihre neuen Lehrer und Mitschüler genauso freundlich.

 

Zur dritten Stunde setzte ihr Vater sie vor dem Biosaal ab, wo sie gleich zum ersten Mal im Unterricht sitzen würde. Als die ersten Schüler sich vor dem Raum versammelten, wurde ihr leicht mulmig. Es war ein merkwürdiges Gefühl, welches sie davor nicht kannte. Früher in Freudenburg hatte sie in der Schule all ihre Freundinnen und vor allem Annemieke um sich herumgehabt. Nun war sie ganz alleine und konnte nur passiv den Gesprächen um sie herum lauschen. „Dich kenne ich noch nicht, du musst neu sein“, stand wie aus dem Nichts ein Mädchen mit schwarzen Haaren und hellblauen Augen vor ihr. „Ich bin übrigens Kira“, gab sie ihr die Hand. „Hi, ich bin Mathilda und wohne erst seit vorgestern in Hamburg“, stellte sich Mathilda ebenfalls vor. „Wenn du magst, können wir gleich nebeneinander sitzen“, sagte ihre neue Mitschülerin. „Von mir aus“, nickte sie lächelnd und folgte ihr.

 

Mathilda lebte sich sehr schnell in der neuen Stadt ein. Sowohl in ihrer Hockeymannschaft, als in der Schule kam sie gut mit den Leuten zurrecht. In der Hockeymannschaft verstand sie sich besonders gut mit Jessica, die fast sieben Jahre älter war als sie. In der Schule wurde sie in die Clique von Kira, Nathalie, Johann und Oliver aufgenommen. Es hatte sich alles zum Guten gewendet, obwohl sie zuerst große Bedenken hatte, dass sie überhaupt in so einer großen Stadt wie Hamburg zurrecht käme. Nathalie, die nur drei Straßen weiter wohnte, zeigte ihr ein paar schöne Ecken an der Alster, wo man in Frieden seine Seele baumeln lassen konnte. Trotz ihrer neuen Freunde vermisste Mathilda ihre Schwester, ihre Mutter, Björn und ihre alten Freunde. Sie konnte es kaum erwarten, dass sie einen Tag nach ihren achtzehnten Geburtstag in den Zug steigen konnte und zurück nach Freudenburg fahren konnte. Zum Glück hatte sie an diesem Wochenende noch kein Spiel mit ihrer Hockeymannschaft, da sie Saison erst in zwei Wochen starten würde.

 

Kurzerhand wurde sie von Nathalie begleitet, die sie kurzfristig ebenfalls eingeladen hatte. „Ich bin schon gespannt, wie deine Schwester sein wird. Sieht sie genauso aus, wie du?“, fragte Nathalie während der Bahnfahrt neugierig. „Ja, wir sind uns sehr ähnlich, wir sind eben eineiige Zwillinge“, nickte Mathilda, „Doch seit dem wir in der neunten Klasse sind, kleiden wir uns unterschiedlich und haben auch nicht mehr die gleiche Frisur“ Sie erzählte ihrer neuen Freundin noch mehr Geschichten von ihrer Zwillingsschwester und ihrer ehemaligen Bande. „Wow, dass ihr so viele Abenteuer zusammen erlebt habt. Ihr musstet wohl die besten Freundinnen auf dem Erdball gewesen sein. Ich wäre nur zu gerne in eurer Bande gewesen“, war Nathalie beeindruckt. „Das sind wir immer noch, auch wenn wir offiziell keine Bande mehr sind. Ich bin über WhatsApp, Skype und Facebook jeden Tag mit ihnen in Kontakt“, meinte Mathilda.

 

In Freudenburg wurden Mathilda und Nathalie von Annemieke, ihrer Mutter und Björn abgeholt. „Da ist ja meine erwachsene Tochter!“, winkte ihre Mutter ihr zu und nahm Mathilda in den Arm. „Alles Gute zur Volljährigkeit, Liebling!“, begrüßte Björn sie mit einem Kuss. Beinahe noch mehr freute sich Mathilda, dass sie endlich wieder ihre Schwester in den Arm nehmen konnte. Freudig gratulierten sie sich gegenseitig zum Geburtstag und wirbelten Arm in Arm wild umher. Erst beim zweiten Blick fiel ihr auf, dass ihre Schwester im Gegensatz zu ihr geschminkt, frisiert und schick angezogen war. „Wow, du siehst klasse aus“, lächelte Mathilda. „Ja, die Kette, die Ohrringe und das Armband habe ich von Raffi bekommen“, strahlte ihre Schwester. Mathilda fiel ein, dass sie vergessen hatte Nathalie vorzustellen. „Dies ist übrigens meine neue Hamburger Freunde Nathalie“, stellte Mathilda sie vor. „Freut mich, dich kennen zu lernen“, gab ihr Björn die Hand. Auch Annemieke stellte sich vor und schüttelte ihr freundlich die Hand. „Kommt jetzt, wir müssen zuhause noch einiges vorbereiten“, blies ihre Mutter zum Aufbruch, die Mathilda eine Tasche abgenommen hatte. „Wie ist es so in Hamburg?“, wollte Björn während der Fahrt wissen. „Die Stadt ist einfach riesig, aber es gibt auch schöne Ecken und mir gefällt es bis jetzt ziemlich gut“, erwiderte sie.

 

„Weißt du schon, dass Elias, Raffael, Kim, Janet und unsere Cousins Maren und Felix auch kommen?“, stupste Annemieke sie an. „Wow, das ist ja cool!“, freute sich Mathilda. Als sie zuhause waren, zeigten Annemieke, Raffael und Björn ihr, was sie in der Zwischenzeit geschafft hatten. Im Garten standen zwei Grills, mehrere Tische, Bänke und ein Bierzelt. Sogar an die Dekoration wurde gedacht: Unzählige bunte Lampions waren an der Wäscheleine aufgehängt, ein paar Bambusfackeln schmückten die Beete und Annemieke hatte zusammen mit Raffael eine Lichterkette am Hibiskusstrauch befestigt. „Die Party kann kommen!“, rieb sich Mathilda freudig die Hände. Ihre Vorfreude kannte keine Grenze: Sie war zurück in ihrer alten Heimat, sie zählte nun offiziell zu den Erwachsenen, sie sah ihre Zwillingsschwester, ihren Freund und ihre alten Freunde wieder und heute stand noch eine große Gartenparty auf dem Programm. „Wir müssen noch die Salate und Brote vorbereiten“, hakte Annemieke ihre Schwester auf dem Weg zur Küche unter. Zusammen mit ihrer Mutter arbeiteten die Zwillinge und Nathalie noch eine Weile in der Küche, während Björn und Raffael zum nächsten Supermarkt gefahren waren, um noch ein paar Sachen zu besorgen. „Hast du schon mitbekommen, dass Elias heute Cocktails mixen will?“, tickte Annemieke ihre Schwester an, die vor Freude einen Indianertanz aufführte. „Ich dürfte erst in zwei Monaten Cocktails trinken, bis dahin bin auch ich volljährig“, bemerkte Nathalie nebenbei, als sie eine Paprika klein schnitt. „Macht nichts, wir sind in keinem öffentlichen Lokal“, zwinkerte ihr Mathilda zu.

 

Gegen halb acht kamen die ersten Gäste. Lotta und Emily standen vor der Tür. Es gab ein großes Hallo. Mathilda stellte ihnen Nathalie vor, die Lotta und Emily lächelnd die Hand gab. „Wo hast du die Kleine gelassen?“, fragte Annemieke. „Bei Oma und Opa“, erwiderte Emily, „Ich glaube eine wilde Party ist nichts für ein kleines Baby“ Lotta bestand darauf, dass sie Mathilda stylen wollte. „Muss das sein?“, zog sie einen Flunsch. „Komm schon, das ist dein achtzehnter Geburtstag“, knuffte Lotta sie. „In Prinzip könnte ich ein Kleid tragen“, bemerkte Annemieke angesichts des lauwarmen Spätsommerabends. „Oh ja, ein schickes Sommerkleid ist immer passend“, war Lotta angetan. Die Mädchen probierten einige Kleider durch. „Wie wäre es hier mit?“, schlug Lotta vor, die ein grünes Kleid in der Hand hielt. „Schick sieht es jedenfalls aus“, fand Nathalie. Mathilda sah ihre Freundinnen zweifelnd an.

 

„Das Kleid hattest du letztes Jahr beim Frühlingsball an“, erkannte Emily das Ballkleid wieder. „Genau aus dem Grund will ich es nicht anziehen“, sah Mathilda nicht besonders begeistert und musste automatisch daran denken, wie Sven sie damals mit Manon betrogen hatte. Seitdem hatte sie das Kleid nicht mehr angerührt. „Es sind doch schon fast anderthalb Jahre vergangen. Inzwischen muss Gras drüber gewachsen sein. Inzwischen hast du einen neuen Freund und Sven kommt heute eh nicht“, versuchte Lotta ihre Freundin weiterhin zu überreden. Mathilda gab sich geschlagen und zog das Kleid an, während Annemieke sich ihr rotes Ballkleid vom Frühlingsball überstreifte. Annemieke und Emily staunten nicht schlecht, als Lotta dabei war Mathilda zu schminken. Mit dem Make-up wirkte ihr Gesicht längst nicht mehr so rundlich, sondern eher herzförmig. Zum Schluss suchte Lotta für Mathilda passende Ohrringe und eine Kette raus.

 

Um kurz nach acht waren fast alle Gäste anwesend. Es fehlten nur noch Kiki, Lennart, Vivien und Aylin. Inzwischen drehte Michael die Musik auf und sorgte für gute Stimmung. Felix und Elias kümmerten sich gemeinsam um die Würstchen und Steaks, die auf den Grillrosten vor sich hin brutzelten. „Fast habe ich die vegetarischen Würstchen vergessen“, lief Mathilda mit einer Packung Sojabratwürstchen aus der Küche. „Stimmt, Aylin ist seit längerem kein Fleisch mehr und Vivien ist ebenfalls seit fast einem halben Jahr Vegetarierin“, meinte Emily. „Ich würde auch sehr gerne ohne Fleisch leben, aber ich kann dem Geruch von Steaks und Grillwürstchen nicht widerstehen“, mischte sich Fianna in ihr Gespräch ein. „Es reicht, wenn man schon weniger Fleisch isst“, sagte Lotta. „Oder man kauft hochwertiges Fleisch vom Biobauern“, konnte Annemieke beifügen. „Hey Zwillinge, es sind neue Gäste da!“, kam ihnen ihre Cousine Maren entgegen gelaufen. „Wer denn?“, wollte Annemieke wissen. „Zwei Jungs und drei Mädchen“, erwiderte ihre Cousine. „Dann ist da bestimmt auch Kiki dabei!“, wurde Mathilda vor Freude ganz hibbelig und machte einen kleinen Luftsprung.

 

Die beiden Schwestern flitzten über den Flur und kollidierten beinahe mit Lennart und Kiki. „Alles alles Gute zur Volljährigkeit!“, fiel Kiki den Zwillingen zeitgleich um den Hals. „Juhu, da seid ihr ja, ihr Geburtstagskinder“, jubelte Vivien, die ihnen mit einer Umarmung gratulierte. „Habt ihr Aylin zufällig auch dabei?“, fragte Annemieke. Im nächsten Moment ging die Tür vom Gäste-WC auf und Aylin kam ihnen freudestrahlend entgegen, die den Zwillingen alles Gute wünschte. „Kommt mit uns in den Garten“, hakte Annemieke sich fröhlich bei Kiki und Vivien unter. „Da ist ja ein Mädchen, das ich nicht kenne“, fiel Aylin auf, dass Nathalie die ganze Zeit neben Mathilda stand. „Hallo, ich bin Nathalie und bin Mathildas neue Freundin aus Hamburg“, stellte sich Nathalie von alleine vor. „Offenbar bist du auch Naruto-Fan“, stellte Aylin fest, als sie einen Blick auf. „Oh ja!“, nickte Nathalie. „Cool, ich habe sogar den neusten Naruto-Band dabei“, zog Aylin ein kleines Büchlein aus ihrer zierlichen Umhängetasche. Mathilda und Annemieke zwinkerten sich gegenseitig zu, als Nathalie und Aylin in ein tiefes Gespräch verwickelt waren. „Jetzt steht Nathalie wenigstens nicht mehr so im Abseits“, stellte Annemieke zufrieden fest. Draußen wurden bereits die Würstchen und das Fleisch serviert. „Ich habe schon mal eine Wurst für dich auf den Teller gelegt“, sagte Björn, als sich Mathilda neben ihn setzte. „Auf die Zwillinge!“, stießen ihre Freunde mit Sekt oder Orangensaft an. „Auf unsere Volljährigkeit!“, posaunte Mathilda durch das Festzelt.

 

Nach dem Essen durften die Zwillinge ihre Geschenke auspacken. „Soll ich euch ein paar Sachen abnehmen?“, fragte Maren. „Gerne, tue die Geschenke auf den Wohnzimmertisch“, sagte Mathilda zu ihrer Cousine. Zum Schluss überreichte Kiki den Schwestern zwei Diademe und zwei Schärpen. Als sie Mathildas skeptisches Gesicht sah, sagte sie, „Heute steht ihr beiden im Mittelpunkt, ihr seid die Geburtstagsköniginnen!“ Als Annemieke und Mathilda sich die glitzernden Diademe in ihre Haare geschoben und die Schärpen umgehängt hatten, kam Lotta zur Terrasse geeilt. „Einmal cheese, Zwillingsmäuse!“, rief sie ausgelassen und fotografierte die Schwestern. „Raffael und Björn, kommt einmal bitte zur Terrasse“, wurde die Freunde der Zwillinge herbei gerufen. Die beiden Tanzpärchen eröffneten die Party offiziell mit ihrem Eröffnungstanz. Danach wurde das Lied „Endlich 18!“ gespielt, gutgelaunt hüpften die Jugendlichen zu dem Song durch den Garten. Auch Aylin, Vivien und Nathalie, die eher introvertiert waren, wippten zum Takt mit. Inzwischen wurde ein Zettel herumgereicht, wo jeder seine Musikwünsche aufschreiben konnte.

 

Elias war schon eifrig dabei Cocktails zu mixen, die ersten händigte er an die Zwillinge aus, die sich beide Pina Colada mit weißem Rum bestellt hatten. „Schmeckt vorzüglich!“, lobte Mathilda, die das muntere Treiben um sich herum beobachtete. „Genauso schmeckt das Erwachsensein!“, schmunzelte ihre Schwester, die sich neben sie gesetzt hatte und sich bei ihr anlehnte. Inzwischen waren ungefähr fünfundzwanzig Personen anwesend, auch drei Freundinnen aus Mathildas und Annemiekes alter Hockeymannschaft waren da, darunter auch Janet und Kim. „Weißt du, dass ich Donnerstag meine Fahrprüfung habe?“, sagte Annemieke irgendwann beiläufig. „Nein, davon hast du nichts erzählt“, schüttelte Mathilda den Kopf. „Ich habe es nur Oma und Mama erzählt“, meinte ihr Zwilling, „Ich will es außer dir niemanden erzählen, denn es macht mich total kirre, wenn ich von allen Seiten darauf angesprochen werde“ „Das kann ich nur zu gut verstehen“, nickte sie, „Wichtig ist, dass du dich in Ruhe auf die Prüfung konzentrierst“

 

Elinor und Alexandra, zwei von Annemiekes Freundinnen hatten Wunderkerzen mitgebracht. Sie hielten die Wunderkerzen in den Händen oder steckten sie in den Boden, sodass es ein großes Herz ergab. Die grellen Funken bildeten einen deutlichen Kontrast zur schwarzen Nacht. „Ich habe auch noch etwas“, rief Jannis laut, der kurz zu Michaels Auto rannte. Er kam mit zwei großen Silvesterbatterien wieder. „Willst du hier ein Feuerwerk anzünden?“, wurden Annemiekes Augen fast tellergroß. „Lass uns das lieber auf der Straße machen, das ist sicherer, allein wegen dem Zelt“, schlug Mathilda vor. „In der Nähe gibt es doch einen Supermarkt mit einem großen Parkplatz“, wandte Raffael ein. „Genau dort können wir es machen“, nickte Mathilda. „Dann müssen wir aber laufen“, nörgelte Aylin. „Komm schon, die paar Meter schaffst du auch“, hakte sich Kiki bei ihr ein. Knapp zehn Minuten war die große Gruppe auf dem Supermarktparkplatz versammelt, als Jannis das Feuerwerk anzündeten. Mathilda und Björn standen eng umschlungen nebeneinander und küssten sich, als bunte Leuchtkugeln und knisternde Leuchtsterne in den Abendhimmel schossen. „Was für ein schönes Geburtstagsfest für unseren fabelhaften Zwillinge!“, freute sich Kiki. „Es ist sogar das schönste Fest meines Lebens!“, strahlte Annemieke, die mit ihrer Schwester Hand in Hand die Straße entlangging. „Hoch sollen sie leben!“, rief Fianna übermütig.  

Eine Zeitreise in alte Tage

Etwa fünf Monate später, hatte die ehemaligen Rote Siebenerinnen ein Treffen geplant. Ein Wochenende lang wollte sie alte Bandenzeiten auferstehen lassen. Dazu hatten sie einen Termin in den Winterferien gewählt, da zufällig alle acht Freundinnen Zeit hatten. Schon am Donnerstagabend war Emily mit Sarah und Annemieke beschäftigt den Wohnwagen für das Ehemaligentreffen herzurichten. „Na, wie läuft es bei euch in der Bande?“, wollte Emily von ihrer fast 14-jährigen Cousine wissen. „Ganz gut, drei meiner Freundinnen haben bereits schon einen Freund. Zum Glück leidet unsere Freundschaft nicht darunter, denn wir treffen uns immer noch regelmäßig“, erwiderte Sarah. „Habt ihr keine Rivalen?“, hakte Annemieke nach. „Klar, wir haben so eine bescheuerte Jungenclique, die Schimpansen, mit denen wir uns öfter kräftig in die Haare kriegen“, nickte Emilys Cousine.

 

„Oha, schon so spät! Wir müssen Matti vom Bahnhof abholen“, sah Annemieke auf ihre goldene Armbanduhr. „Wo hast du das Auto geparkt?“, wollte Emily wissen. „Direkt auf dem Schrebergartenparkplatz“, erwiderte ihre beste Freundin. „Kommst du auch alleine zurrecht?“, wandte sich Emily an Sarah. „Klar, gleich werden eh noch Nanna und Anna-Lena kommen, denn wir müssen noch den Kaninchenstall sauber machen“, bejahte diese. Emily und Annemieke liefen hastig zum Auto. Annemieke rollte vom Parkplatz, fuhr über eine kleine Nebenstraße und bog von dort aus auf dem Innenstadtring ab. Dort musste sie der Hauptverkehrstraße einfach noch ein ganzes Stück folgen, bis schließlich das Bahnhofsgebäude in Sicht kam.

 

Am nächsten Vormittag saß die ehemalige Bande im Wohnwagen, wie zu alten Bandenzeiten. „Wisst ihr, es ist wunderbar in alte Zeiten zurückzureisen“, fand Aylin, die an ihrem grünen Tee nippte. „Oh ja, es ist ultracool“, pflichtete ihr Fianna bei. Emily hatte ihre kleine Tochter Sophia mitgebracht, die inzwischen fast acht Monate alt war. In Windeseile eroberte sie mit ihrem niedlichen Lachen die Herzen der Mädchen. Jeder der Freundinnen wollte sich mit dem Baby fotografieren lassen und passend zum Treffen trug Sophia einen roten Strampler, den Kiki und die Zwillinge ihr geschenkt hatten. Alle waren stolz auf das erste Bandenbaby und schlossen die Kleine rasch ins Herz. „Krass, wie sich Zeiten ändern“, stellte Lotta fest. „Ich denke gerade noch daran, wie wir vor über sechs Jahren unsere Bande gegründet haben“, warf Emily ein. „Seht mal her, ich habe alte Fotos mitgebracht“, wedelte Kiki mit einem Briefumschlag.

 

„Ihr saht damals wirklich ganz anders aus, obwohl man Aylin, Kiki und die Zwillinge auf den Bildern auf jeden Fall wieder erkennen kann“, sagte Vivien. „Besonders Matti sieht noch so aus wie früher. Sie ist immer noch der alte Bauerntrampel von früher“, schaute Lotta ihre Freundin leicht neckend an. „Komm schon, ein bisschen modebewusster bin ich schon geworden und außerdem laufe ich nicht mehr in alten Wollpullis herum, die an den Seite schon Löcher bekommen“, entgegnete ihr Mathilda, die eine schicke Sweatshirtjacke trug und ihre Haare zu einem Dutt gebunden hatte. Aylin pries ein Mohngebäck an, welches sie selbst gebacken hatte. „Nein danke, es gibt bei uns zuhause gleich Mittagessen“, lehnte Annemieke ab. „Aber wir können nachher noch ordentlich Kuchen mit in die Eishalle nehmen“, meinte Kiki. „Wann treffen wir uns noch mal?“, wollte Lotta wissen. „Um halb drei“, antwortete Kiki, „Wir wollen uns da mit den Lustigen Einhörner treffen“ „Ich muss los, Mama hat mir eine Nachricht geschickt, dass es in der Viertelstunde Essen gibt“, stand Fianna auf. „Bis nachher“, winkten ihr Vivien und Emily hinterher.

 

Stimmengewirr vermischte sich mit der lauten Musik, als die ehemaligen Roten Siebenerinnen die Eishalle betraten. „Hey, da seid ihr ja!“, winkte Sarah, Emilys jüngere Cousine den großen Mädchen zu, die mit ihren Freundinnen bereits auf der Eisbahn war. „Wir müssen uns nur eben die Schlittschuhe anziehen und dann kommen wir“, antwortete ihr Kiki. „Ich habe noch etwas für euch“, holte Lotta ein Samtsäckchen aus ihrer metallicsilbernen Handtasche. „Was willst du damit?“, sah Vivien sie groß an. „Das sind unsere Freundschaftsbänder“, erinnerte Lotta sie. „Ach stimmt, ich hatte ganz vergessen, dass es die noch gibt“, erwiderte Vivien. „Ich finde anlässlich des Bandentreffens könnten wir uns die für die nächsten beiden Tage umbinden“, fand Aylin. „Gerne, schließlich lassen wir für dieses Wochenende die alten Bandenzeiten auferstehen“, nickte Annemieke, die ihre Schlittschuhe zuschnürte.

 

Die Mädchen begaben sich auf die Eisfläche, nachdem sie sich gegenseitig ihre alten Freundschaftsbänder umgebunden hatten. Zu zweit oder zu dritt hielten sie sich an den Händen und glitten über das Eis. „Wir haben übrigens Kuchen und Kakao dabei“, wandte sich Emily an ihre Cousine. „Cool, wir hätten auch noch Cola, Chips, Erdnussflips und Süßigkeiten dabei“, erwiderte Sarah. „Cool, ich habe noch Schokokaramellmuffins“, fingen Nannas Augen an zu leuchten. „Sehr gut, verhungern werden wir nicht“, grinste Emily. „Seht mal, was die können“, tickte Anna-Lena Sarah und Nanna gleichzeitig an. Nun waren alle Augenpaare auf Fianna, Kiki und Lotta gerichtet, die eine Art Tanz aufführten und sich dabei um ihre eigene Achse drehten. „Das kann ich auch“, krähte Sarahs Freundin Kim übermütig. „Trau dich, Kim!“, raunte Nanna ihr zu. Bereits bei der dritten Pirouette landete Kim unsanft auf ihren Hintern. „Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen“, kommentierte eine ihrer Freundinnen.

 

Wenig später kam die Eismaschine, die die Bahn wieder glättete. Die Mädchen nutzten die Zeit für ein Picknick auf der Tribüne. Lotta verteilte Pappbecher, während Aylin eine Dose mit lecker riechenden Plätzchen herumreichte. Die ausgepackten Leckereien sorgten sowohl bei den jüngeren, als auch bei den älteren Mädchen für Begeisterung. „Oh nein, die Schimpansen sind hier!“, raunte Jenny ihren Freundinnen zu. „Die haben mir gerade noch gefehlt“, flüsterte Jasmin, ein Mädchen mit Brille und dunklen Locken, die ein wenig schüchtern und ängstlich wirkte. „Lasst euch doch nicht von solchen Idioten ins Bockshorn jagen“, wandte sich Mathilda an die jüngeren Mädchen. „Notfalls verjage ich sie eigenhändig“, zwinkerte ihnen Kiki zu. Kaum war von der besagten Jungenclique die Rede, bauten sich fünf Jungs vor den Lustigen Einhörnern auf, starteten ihr albernes Affengeheul, bewarfen Sarahs Freundinnen mit Papierfetzen und fingen an ein paar Mädchen aus ihrer Bande zu verspotten. „Brillenschlange, Brillenschlange, Brillenschlange!“, zeigte ein großer Junge auf Jasmin. Zwei seiner Kumpels machten sich über Lynn lustig, die auffällig klein war und ein vierter Junge zog an Nannas hellen Locken. Allerdings bekam Jasmin die meisten Hänseleien ab. Aylin bekam mit, dass nicht mehr viel fehlte und sie in Tränen ausbrechen würde. Früher hatte sie auch nah am Wasser gebaut, wenn sie gehänselt wurde. „Hört auf!“, rief sie laut und entschlossen, sodass die Jungs kurz verstummten.

 

„Darf ich fragen aus welchem Zoo ihr ausgebüchst seid?“, räusperte sich Mathilda. „Haut endlich ab!“, schleuderte Sarah den Jungs entgegen. Nun begannen Nanna, Kim, Lynn und Jenny Butterkekse zu zerbröseln, die sie nach den frechen Jungs warfen. Annemieke erwischte ihre Schwester dabei, die ebenfalls einen Keks in mehrere Stückchen zerbrach. „Du willst doch wohl nicht mit Keksen um dich werfen“, raunte sie ihr zu. „Ach was!“, brummte Mathilda. „Gib zu, du wolltest dich an der Keksschlacht beteiligen. Aber du bist keine zwölf mehr, daher schickt es sich nicht, dass du mit Lebensmitteln um dich wirfst“, stieß Annemieke ihren Zwilling neckend an. Ertappt ließ Mathilda die Keksbrösel in ihrem Mund verschwinden. Manchmal wünschte sie sich, dass sie die Zeit um ein paar Jahre zurückdrehen konnte und sich nicht immer Gedanken darum machen musste, welches Verhalten in ihrem Alter angemessen war. In früheren Jahren war sie immer die vorlauteste, frechste und selbstbewussteste Rote Siebenerin, die nie auf den Mund gefallen war. Diese Zeiten waren nun vorbei, schließlich war sie schon volljährig und es wäre peinlich sich in der Öffentlichkeit wie ein kleines Kind zu benehmen.  

 

„Die Bahn ist endlich wieder freigegeben!“, stand Kim auf. „Jippie, es geht weiter!“, jubelte Nanna. „Wollen wir eine lange Kette machen?“, schlug Sarah mit leuchtenden Augen vor. „Wie stellst du dir das vor?“, machte Lotta ein leicht skeptisches Gesicht. „Ich finde wir sind eindeutlich zu viele“, fand Emily. „Wir können doch uns in einer langen Reihe aufstellen und ein paar Meter langsam zusammen fahren“, schlug Kim vor. „Na gut, ausprobieren können wir es“, erwiderte Kiki, die Aylins und Lottas Hände nahm. Lotta griff wiederum nach Nannas Hand. Nun standen die Mädchen in einer langen Reihe und fuhren langsam an. „Um Himmels willen, nicht so schnell!“, machte Jasmin ein ängstliches Gesicht und klammerte sich an Annemiekes Arm fest. „Hilfe, nicht so schnell!“, fiepte es hinter ihnen. Geistesgegenwärtig drehte sich Sarah um und sah Philipp von den Schimpansen näher kommen. Rasch stellte sie ihm ein Bein, sodass er lang hinschlug. „Das kommt davon, dass du dich ständig über Jasmin lustig machst!“, rief sie voller Genugtuung, ließ Fiannas Hand los und flitzte davon. Nun jagten zwei von Philipps Freunden hinter Sarah her.

 

„Oh nein, nun geht das schon wieder los!“, stöhnte Lynn. „Los Mädels, wir müssen die Aufmerksamkeit der Affen auf uns lenken, bevor sie sich alle auf Sarah stürzen“, raunte Nanna ihren Bandenfreundinnen zu. Sie drehte den Schimpansen eine lange Nase und begann Grimassen zu ziehen. Jasmin, Jenny und die großen Mädchen sahen ihnen von der Bande aus zu, wie fünf Lustige Einhörner und die Schimpansen sich gegenseitig über das Eis jagten. „Es kommt mir bekannt vor, wie sie sich gegenseitig bekriegen“, musste Fianna schmunzeln. „Oh ja, da kommen alte Erinnerungen hoch“, nickte Annemieke. „Besonders zwischen Nanna und unseren Zwillingen stelle ich große Ähnlichkeiten fest. Sie ähneln sich nicht nur optisch, sondern Nanna scheint genauso frech zu sein, wie unsere Zwillingsmäuse damals“, meldete sich Lotta zu Wort. „Stimmt, Nanna ist irgendwie schon wie Matti, als sie in dem Alter war“, pflichtete ihr Kiki bei. „Freut mich, dass es eine ehrenwürdige Nachfolgerin von mir und Micky gibt“, lächelte Mathilda zufrieden, die sich an der Bande angelehnt hatte.

 

Abends trafen sich die Freundinnen im Wohnwagen. Da Kiki morgen Geburtstag hatte, wollten sie hineinfeiern. Es war nicht nur irgendeine Party, sondern eine Mottoparty „Zeitreise in die Kindheit“. „Wow Aylin, wie passt du noch in dieses Kleid rein?“, war Fianna erstaunt, die ihre beste Freundin in ihrem Marienkäferkleid von oben bis unten musterte. „Ich bin seitdem ich vierzehn bin nicht mehr viel gewachsen“, meinte Aylin. „Fianna, mit den Zöpfen, dem grünen Kleid und den geringelten Kniestrümpfen siehst du wirklich aus wie Pippi Langstrumpf“, lachte Emily, die sich verkleidungstechnisch ordentlich ins Zeug gelegt und für die Party am heutigen Abend eigenhändig eine Latzhose mit bunten Flicken genäht hatte. Vivien trug ein langes gelbschwarzgestreiftes Oberteil, in dem sie ein bisschen aussah wie Biene Maja.

 

Die Zwillinge trugen alte rote Wollpullis mit bunten Blumen drauf, die ihre Großmutter ihnen vor einigen Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte. In ihren wilden Locken glitzerten sämtliche Blumen- und Sternhaarspangen. Seit gefühlten Jahrzehnten waren sie wieder im Zwillingslook unterwegs. Kiki steckte in ihrem Pocahontaskleid, welches sie früher jedes Jahr zum Karneval anhatte und hatte ihre schwarzen Haare zu Zöpfen geflochten. Lotta hingegen sah aus, wie ein junges Schulmädchen bei der Einschulung. Sie hüpfte munter in ihrem blauweiß karierten Kleid umher, hatte eine große weiße Schleife in ihre Haare gebunden und hatte sich eine kleine Schultüte unter ihrem Arm geklemmt. „Wir sehen wirklich umwerfend aus!“, lachte Kiki. Die Mädchen quetschten sich auf und vor das Sofa, um ein Gruppenbild mithilfe eines Selfiesticks von sich zu schießen.

 

Gegen zehn Uhr kam Jannis, der ihnen acht Pizzakartons brachte. Seit einigen Monaten jobbte er bei einer Pizzeria und brachte den Leuten die Pizza nach Hause. „Lasst es euch schmecken, meine Damen!“, wünschte er ihnen einen guten Appetit. Viel Zeit hatte er nicht, da der nächste Auftrag schon auf ihn wartete. „Habt ihr etwas dagegen, wenn Lennart um halb zwölf kommt?“, fragte Kiki in die Runde, als sie ihre Pizza in acht Teile zerschnitt. „Nein, wieso?“, sah Emily von ihrem Teller auf. „Da bin ich ja beruhigt“, lächelte Kiki. Sie hatte ihren Freund absichtlich später hinzu gebeten, da sie sich mit ihrer früheren Bande einen schönen Mädelsabend machen wollte. Mathilda holte zwei Flaschen alkoholhaltigen Cocktail aus ihrer Umhängetasche.

 

„Alkohol und unsere Kinderkleidung, das passt wirklich gut“, begann Fianna zu kichern. „Warum nicht, immerhin kombinieren wir das gerade sehr geschickt“, grinste Mathilda. „Habt ihr Lust ein paar Gesellschaftsspiele zu spielen?“, packte Fianna ein paar Spiele auf den Tisch. „Gerne, das ist mir viel lieber als eine wilde Party“, war Aylin sofort angetan. Lotta machte ein paar Lieder an, die sie noch aus ihrer Kindheit und Jugend kannten. Allerdings nicht zu laut, da sie sich noch unterhalten wollten. Aylin, Kiki und die Zwillinge bauten das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel auf, während die anderen ein Kartenspiel zockten. Anschließend spielten sie eine Runde Activity in Zweierteams. Fianna hatte ein paar Karten extra beschriftet, so machte das Spiel noch mehr Spaß und bei den Pantomimen lagen die Freundinnen vor Lachen am Boden. „Ich glaube, das wird mein lustigster Geburtstag seit langem“, wischte sich Kiki die Lachtränen aus den Augenwinkeln.

 

Kurz nach halb zwölf hatte es Lennart zum Wohnwagen geschafft. „Ich werde heute kein Bier oder Sekt mittrinken“, sagte er zu Kiki, „Ich werde uns nachher mit dem Auto nach Hause bringen“ „Uhhh, du hast einen Chauffeur!“, kommentierte Mathilda und formte mit ihren Händen ein Herz. „Und wo bleibt unser Chauffeur?“, fragte Annemieke leise. „Ihr könnt bei mir mitfahren“, bot Emily an, „Aylin werde ich auch mitnehmen“ „Vivien und ich werden bei Lotta mitfahren“, rief Fianna. „Wollen wir noch eine Runde Skat spielen?“, klatschte Kiki in die Hände. „Gerne, so schaffen wir es noch die Minuten bis zu deiner Volljährigkeit tot zu schlagen“, nickte Lotta. Lennart und die Mädchen setzten sich an den großen Tisch.

 

Emily mischte einen großen Stapel Karten und teilte die Karten an ihre Freunde aus. „Wann ist es endlich Mitternacht?“, sah Mathilda alle paar Minuten einen Blick auf die Uhr. „Matti, konzentrier dich auf das Spiel!“, wurde sie von ihrer Schwester geknufft, als sie an der Reihe war. „Ich muss eben nach drüben“, verschwand Aylin mit Fianna im Raum mit den Schlafkojen“ „In zwei Minuten ist es Mitternacht“, stellte Lennart fest, als er auf sein Handy schaute. „Wollen wir das Spiel einpacken?“, schob Mathilda die Karten von sich weg. „Ja, gib her“, verstaute Fianna die Karten in der Schachtel. „Kiki, wir müssen wir kurz die Augen verbinden“, nahm Annemieke ihr blaues Halstuch mit den Sternen ab und verband Kiki damit die Augen.

 

Mathilda packte schnell mehrere Packungen Knicklichter aus und brauchte sie zum Leuchten, indem sie die Lichter mehrfach knickte. Rasch steckten die Mädchen sie zu leuchtenden Heiligenscheinen zusammen, die sie sich auf ihre Köpfe setzten. Ein paar Teelichter auf dem Tisch wurden angezündet, bevor das Licht gelöscht wurde. Lennart stimmte den Countdown an. Bei Null vielen die Freundinnen Kiki jubeln um den Arm und Lennart küsste sie achtzehn Male. „Hurra, Kiki ist volljährig!“, wirbelte Mathilda jubelnd umher. Nun kamen Fianna und Aylin mit einer großen Torte, die mit vielen Wunderkerzen bestückt war aus dem Nachbarzimmer. „Alles Gute, Kiki!“, rief Fianna und tanzte mit dem Geburtstagskind um einen Stuhl herum, der mitten im Wohnraum stand. Lotta hielt diesen Moment mit ihrer Handykamera fest. Nachdem jeder Kiki herzlich gratuliert hatte, setzten sie sich um den Tisch und der Kuchen wurde angeschnitten. „Die Torte hat übrigens Aylin gemacht“, klopfte Fianna ihrer Freundin auf die Schulter.

 

„Die ist ihr wirklich gut gelungen“, lobte Annemieke. „Der Sekt, fast hätte ich ihn vergessen“, sprang ihre Zwillingsschwester auf und lief zum Kühlschrank. Lotta, Emily und Lennart griffen lieber zum Orangensaft, da sie noch Auto fahren mussten. Aylin trank aufgrund ihrer Religion keinen Alkohol und begnügte sich ebenfalls mit O-Saft. Dann durfte Kiki ihre Geschenke auspacken. „Was hält ihr davon, wenn wir ein bisschen Party machen? Schließlich haben wir einen Grund zum Feiern“, machte Fianna ihr Lieblingslied aus den Charts an. Alle Stühle und der Tisch wurden beiseite geschoben, sodass ausgelassen getanzt werden konnte. Emily ermahnte ihre Freunde, dass sie nicht zu wild tanzten. „Es ist irgendwie alles wie früher“, stellte Lotta grinsend fest, „Fianna springt wie ein übermütiges Känguru umher, die Zwillinge tanzen am wildesten und Emily hat Angst, dass irgendetwas zu Bruch geht“ „Los, steht auf!“, zog Kiki sie und Aylin in ihren Tanzkreis. „Hey, wir können noch ein paar Wunderkerzen anzünden“, fiel Aylin ein. „Aber nicht hier drinnen“, drinnen bestimmte Emily und öffnete die Tür. Jeder bekam mehrere Wunderkerzen in die Hand gedrückt, die vor der Wohnwagentür angezündet wurden.

 

Am nächsten Vormittag war Emily schon um zehn Uhr im Stall, um die Pferde zu satteln. Annika, Sarah und ihre Tante Rachel halfen ihr dabei. „Bestimmt freuen sich die anderen Mädchen schon“, zwinkerte ihr Sarah zu. „Bestimmt“, nickte Emily, die Blümchen die Hufe auskratzte. „Ich freue mich schon, dass ich meine alten Mädchenbande wieder sehe“, freute sich Rachel, „Ich habe euch in den letzten anderthalb Jahren vermisst, denn ich hatte danach unter meinen Reitschülern nie wieder so eine lustige und quirlige Bande wie ihr“ Die Reitstunde am Vormittag sollte eine Überraschung sein, deshalb hatte sie ihre Freundinnen um elf Uhr hier hin bestellt und ihnen lediglich gesagt, sie sollten sich enge Hosen und feste Schuhe anziehen. „Hallihallo!“, betraten Annemieke und Mathilda den Stall. „Was soll das denn werden?“, hob Mathilda die Augenbrauen. „Sollen wir etwa reiten?“, fügte ihre Schwester hinzu. „Genau so sieht es aus“, strahlte Emily. „Wir haben doch gar keine Helme dabei“, merkte Annemieke an. „Nicht schlimm, für Helme habe ich schon gesorgt“, antwortete ihr Rachel aus der Sattelkammer. Die Zwillinge halfen tatkräftig dabei die Pferde für die Reitstunde vorzubereiten.

 

Bald waren auch die anderen Mädchen da, die Emily aus Dank für die spontane Reitstunde überschwänglich um den Hals fielen. „Ob ich überhaupt noch reiten kann?“, war Aylin skeptisch, als sie Caruso in die Reithalle führte. „Natürlich kannst du das“, nickte Kiki, die sich auf Lanzelots Rücken schwang. Kiki hatte in Mainz ein Pflegepferd und war neben Lotta und Emily die einzige aktive Reiterin der ehemaligen Bande. All ihre anderen Freundinnen nahmen seit dem vorletzten Sommer keine Reitstunden mehr. „Es ist wunderschön wieder auf dem Pferd zu sitzen“, schwebte Annemieke im siebten Himmel, als sie sich auf Rockys Rücken durch die Halle tragen ließ. „Ich habe glatt vergessen, wie sich ein Pferderücken unter meinem Hintern anfühlt“, lachte Vivien. Die Mädchen ritten sich erstmal warm, bevor sie sich in einer Abteilung sortierten. Wie früher gab Rachel ihnen Anweisungen und Emily, die am besten reiten konnte, ritt vorweg. Kiki stellte zufrieden fest, dass niemand von ihnen das Reiten verlernt hatte. Selbst das Galoppieren klappte wie in alten Zeiten. Zum Schluss bauten Sarah und Annika einen Spaßparcour auf.

 

Die Mädchen mussten versuchen mit ihren Pferden über eine Wippe zu reiten, dann kamen ein Slalompacour und ein niedriges Hindernis. Zu guter letzt mussten sie sich mit Sarah einen Ball zuwerfen und einen Tennisball auf einer Suppenkelle balancieren. „Vielen Dank, für die fantastische Reitstunde!“, bedankte sich Kiki, als sie Blümchen trocken ritt. „Das war noch nicht alles“, schmunzelte die Reitlehrerin, „Da du heute Geburtstag hast, lade ich euch gleich zu einem Mittagessen ein“ Kiki bedankte sich nochmals und führte Blümchen in die Stallgasse. „Irgendwie fühle ich mich um einige Jahre zurückversetzt“, sagte Lotta zu Emily. „Oh ja, es war schön wieder mit unseren Freundinnen zu reiten“, nickte ihre Freundin. Die ehemaligen Roten Siebenerinnen plapperten durcheinander und es war das genau das muntere Treiben in der Stallgasse, als es anschließend nach der Reitstunde zum Bandentreffen in den Wohnwagen ging.

 

Nach dem Mittagessen bei Rachel brachen die Freundinnen wieder auf. Emily und die Zwillinge hatten eine kleine Rundreise zu den Orten ihrer Kindheit auf die Beine gestellt. Die frühere Mädchenbande passte komfortabel in zwei Autos und so ging es erstmal zum Sterntalersee. Allerdings machten sie einen Zwischenstopp am Altstädtischen Gymnasium. „Wow, wie spannend!“, gähnte Lotta. „Immerhin sind Emily, Matti und ich nicht mehr Schülerinnen unserer alten Schule“, merkte Kiki an. „Irgendwie vermisse ich die alten Schulzeiten“, tickte Mathilda ihre Schwester an. „Oh ja, es war nur zu schön, als wir alle noch in die gleiche Klasse gingen“, geriet Aylin ins Schwärmen. „Das waren noch Zeiten!“, murmelte Fianna. Nun wurde den Mädchen bewusst, wie viel Zeit inzwischen vergangen war. Als sie eine Runde über den Schulhof geschlendert waren, ging es weiter.

 

Beim Sterntalersee gab es deutlich mehr zu sehen. Fasziniert hielt Kiki nach irgendwelchen Vögeln Ausschau, die sie auf dem zugefrorenen See entdecken konnte. Glücklicherweise hatte sie ein Fernglas in ihrer Jackentasche und konnte die Vogelscharen auf dem zugefrorenen See beobachten, die dort eine Rast einlegten. Hoppla, fast wäre sie über eine Wurzel gefallen, die aus dem Waldboden ragte. Mathilda konnte sie im letzten Moment am Arm packen. „Ich glaube, du solltest besser doch nicht mit Fernglas vor den Augen durch die Gegend laufen“, kicherte Aylin. Kiki packte ihr Fernglas weg und genoss den Spaziergang auch so. Inzwischen kam die Sonne raus und es wurde ein schöner klarer Wintertag. „Irgendwie bevorzuge ich den See immer noch im Sommer, als wir hier mit den Piranhas gezeltet haben“, murmelte Vivien, der bereits jetzt leicht kalt war. „Wir können uns gerne noch mal hinsetzen“, taten Aylin die Füße weh, als sie die Hälfte des Sees umrundet hatten.

 

„Keine schlechte Idee, ich habe wieder zwei Thermoskannen Tee dabei“, stellte Lotta ihren schweren Rucksack auf einer Bank ab und teilte Pappbecher aus. Warmer Tee war genau das richtige bei der Kälte und wärmte wunderbar von innen. Dazu gab es noch Kuchen und Muffins, die noch von gestern übrig geblieben waren. Langsam senkte sich die orangefarbene Sonne über dem See. „Wir sollten weitergehen, nicht dass es nachher noch dunkel wird, bevor wir wieder bei den Autos sind“, stand Emily auf. Schnell wurden die Sachen zusammen gepackt und die Gruppe marschierte der Abendsonne entgegen. Kiki und Mathilda waren leicht genervt, als Lotta bei jeder Gelegenheit anhielt und Fotos machte. „Du wirst später auch Fotografin, genauso wie deine Mutter“, kommentierte Annemieke, als Lotta zum zigsten Mal den Sonnenuntergang ablichtete. „Hm, da bin ich mir nicht so sicher“, zuckte diese mit den Achseln und ging gar nicht auf die genervten Blicke ihrer Freundinnen ein. Aylin war heilfroh, dass sie sich nach dem langen Marsch auf den Beifahrersitz von Emilys Auto setzen konnte. „Ihr hätte mir doch sagen können, dass ihr eine Wanderung mit mir vorhabt. Ich hätte mir dann wenigstens vernünftige Schuhe anziehen können“, schwang ein gewisser Vorwurf in ihrer Stimme mit.

 

Als es dunkel wurde, ging es zurück nach Freudenburg. Emily und Lotta stellten ihre Autos im Parkhaus ab. Von dort aus liefen sie zu Fuß zur Burg, die hoch über den Dächern ihrer Stadt thronte. „Ich will nicht mehr laufen, ich habe schon genug Orte gesehen“, klang Aylin erschöpft. „Stimmt wohl, ich bin auch ziemlich geschafft“, pflichtete ihr Vivien bei, die sich bei ihr unterhakte. „Wir setzen uns gleich gemütlich ins Kino“, wandte sich Kiki an ihre beiden Freundinnen. „Gute Idee, ich habe langsam auch keine Lust mehr draußen bei der Kälte herum zu laufen“, meinte Emily. Mathilda schaute auf ihrer to-do-Liste nach, auf der sie die meisten Punkte abgehakt hatte. „Es war klar, dass wir nicht alle Punkte an einem Tag schaffen“, sagte Annemieke zu ihr und lehnte sich gegen die halbhohe Burgmauer. „Aber wir machen im Sommer garantiert noch ein Bandentreffen. Da können wir bestimmt viel mehr machen, als im Winter“, wandte Fianna ein. „Aber sicher!“, nickte Kiki. „Ich bin dafür, dass wir zwei oder dreimal im Jahr treffen, dann können wir zusammen tolle Erlebniswochenenden planen“, war Lotta der Meinung, als sie ihre Stadt bei Nacht fotografierte. Außer ein paar Lichtern und beleuchteten Gebäuden und Kirchen in der Altstadt war nicht viel zu sehen. Es war kalt als die Mädchen zurück zur Parkgarage gingen.

 

„Zum Glück gibt beim Kino eine Tiefgarage, so haben wir es zu Fuß nicht mehr weit“, meinte Emily, als sie an einer roten Ampel hielt. „Gott sei dank!“, seufzte Aylin erleichtert, „Heute Abend werde ich wie ein Stein ins Bett fallen“ Lotta war mit Kiki, Mathilda und Fianna zuerst beim Kino angelangt und besorgte acht Karten für einen animierten 3D-Film, der im Dschungel spielte. Als ihre anderen Freundinnen kamen, hatten sie sich bereits mit Popkorn und Cola bewaffnet. „Sag mal, wie viele Stunden habt ihr denn gebraucht?“, zog Mathilda Emily auf. „Das war nicht gerade einfach einen Parkplatz zu finden“, sagte ihre Freundin außer Atem. „Hehe, habe ich dir den letzten Parkplatz weggenommen?“, grinste Lotta frech. „Ich musste sogar so lange warten, bis ein alter Opa in sein Auto stieg und mir einen Parkplatz freigemacht hat“, erzählte Emily, während sie die rote Wendeltreppe zum Kinosaal hoch liefen.

 

Die Freundinnen hatten acht Plätze in einer Reihe gebucht. „Es kommt mir so vor, als würden wir den Altersdurchschnitt leicht anheben“, stellte Kiki fest. Außer ihnen waren hauptsächlich Kinder und Jugendliche im Kino, die mindestens drei Jahre jünger waren als sie selbst. Obwohl die Freundinnen zwischen 17 und 19 waren, mochten sie immer noch gerne Filme, die für jüngere Altersgruppen gedacht waren. Nach einer endlosen Werbung begann endlich der Film, der ungefähr anderthalb Stunden dauerte. Die Mädchen tauchten in den Regenwald Amazoniens ein. Sie flogen mit den Affen mit Lianen von Baum zu Baum und tauchten mit bunten Fischen im Amazonas um die Wette. Als der Film zuende war, lud Kiki ihre Freundinnen anschließend in ein Schnellrestaurant ein. Dort ließen sie den Abend mit Softdrinks, Pommes, Hamburgern, Chickennuggets und Softeis ausklingen.

 

Am Sonntagmorgen trafen sich die Mädchen bereits um neun Uhr am Wohnwagen. Jede von ihnen brachte etwas zu essen mit, sodass sie ein leckeres Frühstück in Windeseile herzaubern konnten. Diesmal war auch Emilys kleine Tochter Sophia dabei. Annemieke machte dem Baby schnell eine Flasche Milch warm. „Schade, dass unser Bandenwochenende so schnell wieder vorbei ist“, klang Fianna enttäuscht. „Oh ja, es war toll, dass wir unsere Bande wieder für ein Wochenende auferstehen lassen konnten“, lächelte Vivien. Die Freundinnen unterhielten sich eine ganze Weile angeregt. Zwischendurch wurde auf der Herdplatte Rührei gekocht oder Pancakes in der Pfanne zubereitet. „Mädels, ich muss gleich wieder weg“, sah Mathilda auf ihre Uhr, „Mein Zug nach Hamburg geht um ein Uhr und ich habe Mama versprochen, dass ich um zwölf wieder zuhause bin“

 

„Schade, dass die Zeit immer so rasen muss“, klang Aylin etwas enttäuscht. Als Mathilda aufstand und sich anzog, nahm Annemieke ihre Jacke vom Haken. „Erstmal nehmen wir alle unser Freundschaftsband wieder ab“, sammelte Lotta die Armbänder wieder ein und verstaute sie im Samtbeutel. Die Freundinnen drückten Mathilda und Annemieke noch mal fest zum Abschied. „Auf wieder sehen!“, winkten die anderen Freundinnen den Zwillingen hinterher. „War auf jeden Fall ein tolles Wochenende“, lächelte Kiki zufrieden. Im nächsten Moment fing Sophia leise an zu weinen. Fianna hob die Kleine aus ihrem Kinderwagen und überreichte sie Emily, die anfing ein Kinderlied zu singen und ihre Tochter auf dem Arm in den Schlaf schaukelte.

 

Rezept: großes Freundinnen-Frühstück

 Frühstücksbrötchen

Zutaten (12 Brötchen):

  • 250ml lauwarmes Wasser
  • 1 Hefewürfel
  • 500g helles Mehl
  • 75g Butter/Mandarine
  • 1,5 TL Salz
  • Käse, Mohn und Sesam

So geht’s: Hefe in Wasser lösen und die Zutaten miteinander verrühren. Den Teig an einem warmen Ort gehen lassen. Nun den Teig in etwa 12 gleichgroße Stücke teilen und zu kleinen runden Brötchen formen. Wenn ihr wollt, könnt ihr die Brötchen in Mohn/Sesam wälzen oder gar mit Käse überbacken. Schließlich werden die Brötchen bei 220 Grad im vorgeheizten Ofen backen.

 

Rührei

Zutaten (1 Person):

  • 2 Eier
  • Salz und Pfeffer
  • 1 großer Schuss Milch
  • Gewürze (Muskat, Curry, Paprika, Rosmarin, Basilikum,…)
  • Fett zum Braten

So geht’s: Eier mit Milch in einem hohen Behältnis gut verrühren. Dann mit Salz, Pfeffer und Gewürzen eurer Wahl würzen und abschmecken. Butaris oder Butter in der Pfanne schmelzen, das Rührei zugeben und immer wieder umrühren. Fertig ist das Rührei, wenn das Ei vollständig geronnen ist. Toll dazu schmeckt knusprig gebratener Bakon.

 

Erdbeer-Bananenquark

Zutaten:

  • 2 reife Bananen
  • 1-3 Hand voll Erdbeeren
  • 500g Quark
  • 2 gehäufte EL Zucker
  • 1 TL Vanillezucker
  • 1 Schuss Zitronensaft

So geht’s: Die Früchte pürieren und unter den Quark mischen. Den Zucker und Vanillezucker hinzugeben und ein Schuss Zitronensaft für die Frische.

 

Power-Müsli

Zutaten:

  • Haferflocken
  • Nüsse gemahlen
  • Leinsamen oder Chiasamen
  • Getrocknete Früchte (Bananen, Apfel,..)
  • Honig oder Zucker zum Süßen
  • Milch oder Joghurt

So geht’s: Alle Zutaten vermengen und wenn ihr wollt mit Honig oder Zucker süßen. Den Honig könnt ihr in ein wenig Orangen- oder Zitronensaft und Wasser lösen und unterrühren. Lecker schmeckt das Müsli nicht nur mit Milch, sondern auch mit Joghurt.

 

Selbstgepresster Orangensaft

Zutaten (4 Personen):

  • 10 große Orangen
  • Ein wenig Vanillezucker
  • 1 Spritzer Zitronensaft
  • andere Fruchtsäfte z.B. Maracuja- oder Mangosaft

So geht’s: Orangen auspressen, Zitronensaft und Vanillezucker hinzugeben. Wenn ihr mögt könnt ihr noch andere Fruchtsäfte runter mischen.

 

 

 

 

Widmung

Dieses Buch widme ich all meinen treuen Leser und Leserinnen sowie allen, die mich dazu inspiriert haben dieses Buch zu schreiben. Ebenfalls widme ich dieses Buch allen Bandenmädchen und denen, die es im Herzen sind.

 

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Impressum

Tag der Veröffentlichung: 26.03.2016

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine treusten Leser und Leserinnen: mein Freund Chris, meine beste Freundin Anna, meine treuste Kritikerin Betty, meine treue Leserin Anika und Lenny, die meinen Bandengirls ein fabelhaftes Gesicht gegeben hat.

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