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Ein neues Zuhause für das kleine Rentier

In Lappland hoch im Norden Europas fing der Winter meist gegen Ende November an. Die kürzer werdende Tage, die klirrende Kälte, tiefhängende bleigraue Wolken und eine scharfe Brise aus Nordost kündigten den Schnee immer schon ein paar Tage vorher an. Erst sanken die Temperaturen deutlich unter den Gefrierpunkt und dann fing es langsam an zu schneien. Die ersten Flocken setzten sich wie feiner kristalliner Puderzucker auf den Bergen Lapplands ab. Die zunächst rotbraunen Berghänge wurden zuerst immer milchiger und verfärbten sich anschließend in ein eindeutiges Weiß. Daraufhin schneite es tagelang und die Gegend versank zunehmend im meterhohen Schnee. Kaum ein Mensch war bei diesen Witterungsbedingungen in Lapplands eisiger und rauer Wildniss anzutreffen. Lediglich streiften ein paar Rentierherden umher.

 

Heute klarte es zum ersten Mal seit einer Woche auf. Die tiefstehende Sonne ließ den Schnee rötlich-orange glitzern und ein scharfer eiskalter Wind wehte über das Land. Mitten in der Kälte irrte ein kleines Rentier umher und wusste nicht, wohin es lief. Das weiße Imperium breitete sich schier endlos vor ihm aus. Schon längst hatte es die Hoffnung aufgegeben seine Herde wieder zu finden. Es klapperte mit den Zähnen und schluchzte leise, bis es auf einmal drei Kinder mit rot lackierten Holzschlitten sah. Es waren Stina und ihre beiden besten Freunde Pekka und Lotta. Sie wollten unbedingt die wenigen hellen Stunden des Tages in der Natur ausnutzen. Pekka fiel das kleine Rentier als erstes auf.

"Seht, da scheint sich wer verirrt zu haben", rief er und deutete in die Richtung des kleinen Rentieres.

„Ich gehe mal nachschauen", beschloss Stina und schritt leise auf das kleine Geschöpf zu, welches zu ihrer Überraschung seelenruhig sitzen blieb.

„Was hast du denn, Kleines?“, fragte Stina mitfühlend. Das kleine Rentier schniefte und schaute Stina und ihre Freunde schüchtern an.

„Es hat bestimmt seine Herde verloren“, vermutete Pekka.

„Moment mal, die Herde muss bestimmt in der Nähe sein“, warf Stina ein. „Rentiere sind sehr soziale Tiere und lassen einzelne Tiere nicht zurück.“

"Trotzdem kann es bei dem Schneesturm vorgestern passiert sein", überlegte Pekka weiter.

 

Stina kannte sich sehr gut mit Rentieren aus, denn ihr Vater kümmerte sich als Stallmeister um die Rentiere des Weihnachtsmannes. Sie stieß einen lauten Pfiff aus, bei dem normalerweise die Rentiere immer angetrabt kamen. Doch diesmal antwortete nur das Echo der Berge.

„Vielleicht kann dein Vater das Rentier unterbringen, es kann auf keinen Fall alleine in dieser Kälte bleiben“, schlug Lotta vor.

„Selbstverständlich werde ich es mitnehmen, wenn wir seine Herde nicht finden“, beschloss Stina nickend. „Ganz egal was mein Vater sagt. Notfalls verstecke ich es unter meinem Bett.“ 

Die Kinder setzten das kleine Rentier auf einen ihrer Schlitten und sausten mit ihm die Abfahrt hinunter. Ein fürchterlich eisiger Wind peitschte den Kindern ins Gesicht und färbte ihre Wangen und Nasen rot. Langsam wurde es dunkel und die Venus stieg am Osthimmel empor. Unten im Tal waren bereits einige Lichter ihres Dorfes zu sehen.

 

„Dort unten siehst du das Dorf des Weihnachtsmannes“, sagte Stina zum kleinen Rentier. „Es heißt Korvatunturi und dort leben wir auch.“ 

Korvatunturi war relativ klein, aber idyllisch und bestand überwiegend aus dunkelroten Holzhäusern sowie einer Kirche im Dorfkern.

„Schau! In diesem Haus lebt unsere Familie“, flüsterte Stina dem kleinen Rentier ins Ohr. „Neben unserem Haus befindet sich der große Rentierstall, in dem die Rentiere des Weihnachtsmannes stehen.“

Am Dorfeingang trennte sich Stina von Lotta und Elias, die ebenfalls nach Hause gingen. Stina öffnete die Stalltor des großen Rentierstalls und sofort kroch ihr die angenehm warme Stallluft entgegen.

„Stina, wo hast du dieses Rentier gefunden?“, fragte ihr Vater sie sofort, als er das kleine Rentier neben seiner Tochter entdeckte. Mit langsamen Schritten ging er auf Stina zu.

„Ich habe es in den Bergen gefunden, ganz alleine ohne Herde“, erzählte ihm Stina. „Ich will es mit nach Hause nehmen, damit es nicht verhungert oder erfriert.“

„Das geht nicht, du kannst doch kein Wildtier mit in unser Haus nehmen“, meinte ihr Vater.

 

„Bitte Papa, in der freien Natur findet es momentan kein Futter und würde verhungern“, flehte Stina. „Außerdem könntest du es im Rentierstall unterbringen.“

„Nein, das geht nicht“, erwiderte ihr Vater kühl. „Der Rentierstall ist momentan voll.“

„Aber wir können das kleine Rentier nicht in die Wildnis schicken, schau mal, wie es vor Kälte zittert“, stiegen ihr die Tränen in den Augen. Ihr Vater legte seinen Finger auf die Lippe, kratzte sich am Kopf und überlegte kurz.

„Meinetwegen könnten wir es in dem Haustierstall neben dem Rentierstall unterbringen. Das müsste gehen, soweit ich weiß, sind dort nur ein Esel, Ziegen, Schweine und Schafe drin“, fiel ihm ein. Stina strahlte vor Erleichterung. Direkt hinter dem Rentierstall stand ein kleiner roter Stall, der eher einem Schuppen glich. Stina brachte das kleine Rentier dorthin und deckte es mit es mit einer Wolldecke zu. Im Stall war es fast dunkel und angenehm warm. Nur eine Stalllaterne, die von der Decke hing, sorgte für etwas dämmriges Licht. In der warmen behaglichen Atmosphäre schlief das kleine Rentier ziemlich schnell ein. Es war so müde, dass nicht einmal mitbekam, dass Stina ihm eine Schale Wasser und einen Napf mit Trockenfutter vor ihm hingestellt hatte.

„Ich komme nachher wieder, aber jetzt muss ich Abendbrot essen“, flüstert Stina ihrem kleinen Freund ins Ohr und schloss die Stalltür hinter sich.

 

Das kleine Rentier wachte erst auf, als irgendwer seine Nase anstupste.

"Hey, du scheinst ziemlich durch den Wind zu sein", huschte eine Ratte vor seinem Kopf entlang.

 „Wie bist du überhaupt hier her gekommen?“, fragte eine schwarze Katze mit weißen Pfötchen, die sich vor ihm niederließ und freundlich in seine Richtung schaute.

„Ich… Ehm… Ich wurde von einem Mädchen mit einer Zipfelmütze am Berghang gefunden, als ich alleine durch den Schnee irrte“, antwortete das kleine Rentier etwas verunsichert und verwirrt. „Dieses Mädchen hat mich mitgenommen und hier her in den Stall gebracht.“

 „Ich bin Nora die Stallkatze“, stellte sie sich vor und fragte: "Wie heißt du eigentlich?"

„Ich bin ein Rentier“, antwortete es.

„Das ist mir wohl klar“, nickte die Stallkatze. „Aber hast du auch einen Namen oder?“

Das kleine Rentier schüttelte den Kopf: „Nein habe ich nicht. Ich war für alle immer das kleine Rentier und habe daher keinen Namen.“

„Warte nur ab!“, meinte Jesse das Schwein. "Stina gibt jedem Tier einen Namen."

 

Nun scharrten sich auch Matilda die Ziege, die Stallratte Anton, Mikael der Esel und Monika das Schaf mit ihren beiden Lämmchen Emma und Leo um das kleine Rentier und wollten jedes Detail über seine Herkunft wissen.

„Ich lebte bis vor kurzen in einer großen Rentierherde, die einer Nomadenfamilie gehörte, draußen in den Bergen. Vorgestern als wir weiter gezogen sind, kamen wir in einen Schneesturm. Ich war langsamer als der Rest der Herde und blieb im Schnee stecken. Im dichten Schneetreiben verlor ich erst meine Mutter und dann die Orientierung und meine Herde war verschwunden“, erzählte es. Im nächsten Augenblick klopfte es an die Stalltür. Stina kam mit einer Tüte Heu herein und füllte die Heuraufe auf.

„Geht es dir gut, kleines Rentier?“, fragte sie zärtlich und kraulte es behutsam hinter den Ohren.

 

Im Halbdunkeln des Stalls und ohne Mütze sah Stina interessanter aus. Sie hatte ihre langen dunklen Haare zu einem langen geflochtenen Zopf zusammen gebunden und ihre grünen Augen glänzten im Kerzenschein. Das kleine Rentier und die anderen Tiere freuten sich sehr, dass sie etwas zum Essen hatten. Beim Hinausgehen sagte Stina zu dem kleinen Rentier: „Ich werde mir Gedanken für einen passenden Namen für dich machen.“

„Du bekommst auch einen Namen“, freute sich die Stallratte Anton.

„Weißt du, dass hier der Weihnachtsmann wohnt?“, fragte Matilda, die Ziege.

„Das hat mir Stina schon erzählt“, erwiderte das kleine Rentier. „Aber wer ist dieser Weihnachtsmann überhaupt?“

„Du weißt nicht, wer der Weihnachtsmann ist?“, riefen die Lämmchen Emma und Leo entsetzt.

 

„Hör gut zu“, räusperte sich Mikael, der alte Esel. "Der Weihnachtsmann, der hier wohnt, bringt jedes Jahr den Kindern auf der ganzen Welt zu Weihnachten ihre Geschenke. Die Kinder schicken ihm ihre Wunschzettel aus allen Herrenländern und der Weihnachtsmann erfüllt ihnen all ihre Wünsche. Wenn ein Kind nur unartig war, kriegt es selbstverständlich keine oder weniger Geschenke.“

„Wie schafft es ein Weihnachtsmann alle Kinder auf dieser Erde an einem einzigen Abend zu beschenken“, fragte das kleine Rentier ungläubig.

„Ganz einfach, weil der Schlitten des Weihnachtsmanns fliegen kann“, grunzte Jesse das Schwein.

„Der Schlitten des Weihnachtsmannes fliegt sogar schneller als ein Flugzeug. Er kann damit in zwei Stunden nach China fliegen. Außerdem hat er viele kleine Helfer, die dafür sorgen, dass wie am Schnürchen läuft“, wusste Nora, die Stallkatze.

 

Das kleine Rentier fühlte sich unter seinen neuen Freunden pudelwohl. Schon nach wenigen Tagen war sein Heimweh vollständig verflogen. Während der wenigen hellen Stunden am Tag spielte es mit den beiden Lämmchen Leo und Emma vor dem Stall im Schnee. Sogar eine Schneerutsche bauten sie gemeinsam. Abends erzählten ihm die Stalltiere einige wissenswerte Fakten über das Weihnachtsfest, den Weihnachtsmann und über den Beruf des Schlittenziehens als Rentier.

„Glaubt ihr, dass ich eines Tages auch mal den Schlitten des Weihnachtsmanns ziehen werde?", wollte das kleine Rentier von seinen Freunden wissen. So sehr es die Stallbewohner mochte, so sehr sehnte es sich, zu den anderen Rentieren zu gehören. Täglich beobachtete es draußen vor dem Stall, wie die anderen Rentiere mit dem Weihnachtsmann zu Trainingsflügen aufbrachen.

„Du musst auf jeden Fall noch größer werden, damit du stark genug bist, um den Weihnachtsmannschlitten zu ziehen",  meinte Jasse, das Schwein.

„Ich bin mir sicher, dass du eines Tages auf jeden Fall den Schlitten des Weihnachtsmanns ziehen wirst", schaute Nora, die Stallkatze, das kleine Rentier ermutigend an.

 

Eine Woche wies Stina das kleine Rentier in das Schlittenziehen ein, obwohl ihr Vater zunächst Einwände hatte.

„Der Bursche soll erst noch ein wenig wachsen und kräftiger werden. In einem Jahr können wir darüber nachdenken", war er der Meinung.

„Du scheinst ihm immer noch nicht seinen Fähigkeiten zu vertrauen. Ich beschäftige mich jedem Tag mit ihm und weiß, was in ihm steckt", gab sich Stina nicht zufrieden.

„Mach doch, was du meinst", grummelte ihr Vater in seinen Schnäuzer. "Doch wehe, du überfordertst das kleine Bürschchen."

"Mach dir keine Sorgen", versicherte sie ihm. "Ich weiß, was ich tue."

Stina war nun wild entschlossen das Training endlich zu beginnen. Am Anfang konnte das kleine Rentier es kaum glauben, das es vor einen Schlitten gespannt wurde. Zwar war dieser Schlitten nicht so groß wie der Weihnachtsmannschlitten, doch immerhin handelte es sich um einen richtigen Schlitten.

 

Nach ein paar anfänglichen Fehlern aufgrund der ganzen Aufregung, verstand das kleine Rentier wie das Schlittenziehen funktionierte. Mit jedem Training steigerte es sich und manövrierte den Schlitten geschickt zwischen den Bäumen hindurch. Es fing ihm sogar an Spaß zu machen, allerdings störten ihn die Zügel etwas, woran er sich dann doch rasch gewöhnte. An einem sonnigen klaren Tag wählte Stina eine Fahrstrecke durch den Wald mit hohen Fichten aus, die ein wenig anspruchsvoller war. Zu ihrem Erstaunen schlug sich das kleine Rentier wacker.

Nur einmal wäre das kleine Rentier fast auf dem glatten Untergrund in einer Kurve ausgerutscht, aber es schaffte gerade eben noch die Balance zu halten. Kurz darauf beschloss Stina eine Pause einzulegen und gab dem kleinen Rentier zur Belohnung einen rote Apfel.

„Ich habe schöne Idee für deinen Namen“, sagte Stina zu ihm. „Kalle passt wunderbar zu dir. Kalle klingt frech, intelligent und lustig.“

Das kleine Rentier freute sich riesig und wäre am liebsten vor Freude durch die Gegend gesprungen. Auf dem Rückweg war Kalle so glücklich, dass er den Schlitten noch schneller zog als zuvor.

 

„Ich habe jetzt auch einen Namen“, jubelte Kalle seinen neuen Freunden zu, als er in den warmen Stall schlüpfte.

„Das ist phänomenal“, freute sich Nora die Stallkatze mit ihm und sprang triumphierend auf seinen Rücken. „Freunde, das muss gefeiert werden!“

Kaum hatte sie zuende gesprochen, wurde die Stalltür aufgerissen. Stinas Vater kam mit einem großen Sack hinein und füllte die Heuraufe wieder auf. Außerdem hatte er ein paar Äpfel, Mohrrüben und hartes Schwarzbrot mitgebracht. Stina hatte ihm vorhin erzählt, dass das kleine Rentier große Fortschritte im Schlittenziehen gemacht hatte. Lächelnd streichelte Stinas Vater über die Nüstern des kleinen Rentiers.

"Aus dir wird eines Tages auf jeden Fall noch ein fleißiges Schlittenrentier", sagte er freundlich und steckte ihm eine Karotte zu. Der Festschmaus begann, als die Stalltiere wieder unter sich waren. Selbstverständlich teilte Kalle seine Belohnung mit seinen Freunden. Dann lauschten sie den Erzählungen der Stallkatze, denn Nora konnte hervorragend Geschichten erzählen.

 

Alle ihre Freunde scharrten sich um sie und Nora begann mit ihrer klaren Stimme zu erzählen,

Vor vielen Hunderten Jahren lebte ein alter Mann in einem mitteleuropäischen Land, er wohnte glücklich mit seinen Kindern und Enkeln in einem großen Haus. Sein Lieblingsenkel Jonathan war von dem liebenswerten Charakter und seiner Großzügigkeit begeistert. Einmal schenkte ihm sein Großvater zu Weihnachten ein wertvolles Fernglas, damit konnte er sogar die Milchstraße beobachten. Ein Jahr später fiel ihm auf, dass der Nordstern an Heiligabend besonders hell leuchtete. Jonathan fragte seinen Großvater, was es zu bedeuten hätte. Doch Großvater zuckte nur mit den Schultern und der Nordstern geriet in Vergessenheit. Zehn Jahre später als Jonathan 20 Jahre alt war, zog er als Tischlergeselle durch Europa. Er war bereits schon in Italien, in der Schweiz, in Deutschland und Polen gewesen, als er nach Lappland kam. Die karge Natur und die Nordlichter fesselten ihn sofort. Ab sofort lebte er in einem kleinen Dorf, in dem viele Wichtel wohnten und ihre fliegenden Rentiere züchteten. Jonathan war von ihnen sehr beeindruckt und fand viele neue Freunde. Dabei verliebte er sich in Winona, einer kleinen zierlichen Wichtelfrau mit langen dunklen Haaren.

Außerdem eröffnete er eine Tischlerei. An einem Heiligabend spazierte er mit Winona durch die Gassen des Dorfes und entdeckte den Nordstern über ihren Köpfen. Der Nordstern schien genau über ihren Köpfen zu sein und leuchtete noch viel intensiver. Jonathan musste an seinen Großvater denken, der seit einigen Jahren nicht mehr lebte. Großvater hatte allen immer etwas zu Weihnachten geschenkt, da es das Fest der Liebe war. Mit einem Geschenk konnte man Jemandem beweisen, dass man ihn wirklich gerne mag. Genau das wollte Jonathan nun auch tun, er wollte jedes Kind auf dieser Erde glücklich und ihm zu Weihnachten ein Geschenk machen. Von an stellte er über das ganze Jahr Spielzeug in seiner Werkstatt her, die Wichtel halfen ihm dabei. So wurden aus Holz, Leim und Farbe, zum Beispiel Schaukelpferde, Holzschwerter, Spielfiguren oder Skateboards. Im nächsten Jahr an Heiligabend belud er seinen Schlitten mit seinen vielen Säcken und dank der fliegenden Rentiere war es schnell unterwegs. So war Jonathan vor vielen Jahren der erste Weihnachtsmann überhaupt.“ 

 

Noras Freunde klatschen am Ende der Geschichte begeistert und riefen mehrstimmig: „Bravo Nora, du bist eine wahre Meisterin im Geschichtenerzählen.“

„Kannst du uns noch eine Geschichte erzählen, Nora?", bettelten die Lämmchen Leo und Emma.

"Morgen Abend gern, aber jetzt solltet ihr nun wirklich schlafen gehen", meinte die Stallkatze.

"Dass wir immer so früh schlafen gehen müssen, dabei sind wir doch noch gar nicht müde", nörgelte Leo und seine Schwester Emma nickte schmollend. Kalle konnte sich damit abfinden, dass nun Ruhe im Stall einkehrte. Er war nach einer anstrengenden Trainingsfahrt totmüde und wollte einfach nur noch die Augen schließen. Er kuschelte zwischen Matilda, der Ziege und Jesse, dem Schwein, ins Stroh. Dabei schlummerte er rasch ein und es dauerte nur wenige Minuten, bis er im Schlaf durch das Land der Träume galoppierte und dabei sogar fliegen konnte.

 

Mitten in der Nacht zog ein schwerer Schneesturm auf. Der Wind drückte gegen den Stall und heulte wie ein jähzorniger Werwolf. Kalle und seine Freunde waren froh, im warmen und gemütlichen Stall zu sein und kauerten sich in der Mitte zusammen. Die Stalllaterne flackerte leicht und spendete behagliches Licht. Immer wieder wachten Kalle und die anderen Tiere kurz durch den Lärm draußen auf. Zum Glück war es im Stall sehr behaglich, sodass sich die Stallbewohner in das Stroh kuschelten und wieder einschliefen. Der Schneesturm tobte während der ganzen Nacht und hatte sich am nächsten Tag noch nicht gelegt. Kein Mensch trat den ganzen Vormittag freiwillig aus der Haustür. Stina hatte es sich im Wohnzimmer gemütlich gemacht, eigentlich wollte sie mit Kalle Schlitten fahren, doch das Wetter machte ihr einen dicken Strich durch die Rechnung.

 

Stattdessen saß sie mit ihren Schulfreundinnen Katinka, Elviira und Siiri vor dem wärmenden Kaminfeuer in der Stube und strickte einen bunten Schal, welchen sie ihrer Großmutter zu Weihnachten schenken wollte. Stinas Mutter stellte den vier Mädchen selbstgebackene Pfeffernüsse und eine Kanne heißen Kakao hin. Während Stina und ihre Freundinnen sich leise unterhielten und dabei ihre Stricknadeln klapperten, spielte ihre Mutter ein bekanntes Weihnachtslied am Klavier.

"Und du trainierst wirklich ein Rentier und das ganz allein?", fragte Katinka sie plötzlich und legte ihren halbfertigen Topflappen auf den Sofatisch.

"Ja und jeden Tag klappt es immer besser", nickte Stina begeistert.

"Dann wird er eines einiges Tages auch den Schlitten vom Weihnachtsmann ziehen", meinte Siiri und schob sich noch einen Keks in den Mund.

Plötzlich stand Stina auf und schaute aus dem Fenster.

"Ich würde nur zu gerne wissen, wie Kalle und seine Freunde die Zeit verbringen", sagte sie zu ihren Freundinnen. "Nicht, dass ihm die ganze Zeit langweilig ist."

 

Im Stall war keine einzige Spur von Langweile zu sehen. Nora, die Stallkatze brachte von draußen einen roten Gummiball herein.

"Bereit für eine Partie Fußball?", rief sie übermütig.

"Au ja!", riefen sie beiden Schafskinder Emma und Leo. Rasch wurden zwei Teams gebildet und zwei Tore markiert. Jesse, das Schwein sowie Mikeal, der Esel, stellten sich zwischen die Pfosten. In null komma nichts flog der Ball hin her, sodass das Stroh im Eifer des Gefechts durch die Luft wirbelte und die Freunde vor Vergnügen juchzten.

"Toooor!", rief Jesse übermütig, als Leo, eines der Lämmchen, das 1:0 markierte. 

"Das lassen wir aber nicht auf uns sitzen", rief Nora, die Stallkatze, kämpferisch und nahm im nächsten Moment Matilda, der Ziege, den Ball ab. 

"Kalle, lauf dich frei!", rief die Stallkatze und passte den Ball zu ihm rüber.

"Ausgleich!", brüllte Mikael, der Esel, als Kalle den Ball zwischen den Beinen des gegnerischen Keepers im Tor versenkte. 

 

In den nächsten Tagen besserte sich das Wetter und Kalle konnte wieder das Schlittenziehen üben. Am dritten Tag wartete Stinas Vater mit einem hübschen roten Schlitten vor dem Stall.

„So, mein Junge, nun kannst du mir zeigen, was Stina dir beigebracht hat", begrüßte er Kalle und tätschelte seinen Kopf. Kalle war ganz nervös, als er vor den mächtigen Schlitten gespannt wurde.

"Gib dein Bestes, Kalle, du schaffst das!", raunte Stina ihm zu. Als Stina und ihr Vater auf dem Schlitten platz genommen hatten, nahm Kalle alle Kräfte zusammen und preschte los.

„Hey hey, nicht so eilig, sonst bist du gleich aus der Puste", mahnte Stinas Vater, worauf Kalle wieder sein Tempo drosselte und darauf achtete, dass der Schlitten sicher um die Kurven kam. Nach der Prüfungsfahrt war Stinas Vater sichtlich zufrieden.

"Du hast gute Arbeit geleistet, Stina", lobte er und fügte hinzu: „Und Kalle natürlich auch. Bald wird er reif für den Weihnachtsmannschlitten sein"

 

Am Nachmittag des darauffolgenden Tages kam Stina aufgeregt in den Stall gelaufen.

„Kalle, der Weihnachtsmann möchte mit uns einen Weihnachtsbaum fällen“, klang sie aufgeregt.  Als sie das kleine Rentier vor einen massiven Holzschlitten spannte, war sie immer noch ganz aus dem Häuschen und konnte nicht aufhören zu plaudern. Währenddessen gingen Kalle unzählige Bilder vom Weihnachtsmann durch den Kopf. Endlich kam der alte Herr mit der Zipfelmütze und dem roten Mantel. Schüchtern wich das kleine Rentier ein Stück zurück. Der Weihnachtsmann war sehr groß und schon alt. Er hatte rote Backen, einen weißen Rauschebart und himmelblaue Augen. Doch er war sehr sanftmütig, sodass Kalle schnell die anfängliche Angst vor ihm verlor.

 „Hallo Kalle, heute werde ich dich kennen lernen und dann werde ich sehen, wie gut du den Schlitten ziehst“, lachte der Weihnachtsmann freundlich und klopfte ihm auf die Schulter. Stina nahm Kalle an den Zügeln und schnalzte mit der Zunge. Kalle setzte sich in Bewegung und lief immer schneller. Bald flog der Schnee Stina und dem Weihnachtsmann um die Ohren. Den Beiden machte es nichts aus und sie lachten vor Vergnügen.

„Mensch, dein kleines Rentier hat wahnsinniges Talent und macht sich richtig gut“, meinte der Weihnachtsmann anerkennend. „Er wird bald mit meinen großen Weihnachtsmannschlitten ziehen können, aber noch ist das Kerlchen ein bisschen zu unerfahren.“

Kalle, Stina und der Weihnachtsmann suchten sich die schönste Tanne aus, fällten diese und fuhren heim, als es dunkel wurde.

 

Wenige Tage vor heilig Abend herrschte eine große Aufregung im Rentierstall, einige Rentiere waren erkrankt und immer mehr Rentiere steckten sich mit der heimtückischen Erkältung an. Stinas Vater war ratlos und wusste nicht, warum einige seiner Schützlinge keinen Appetit mehr hatten und müde im Stroh lagen. Mindestens 18 Rentiere mussten den großen Weihnachtsmannschlitten ziehen und nun waren über die Hälfte der Rentiere krank. Der Tierarzt wurde gerufen und gab den Tieren Medizin zum gesundwerden.

„Leider werden Ihre Tiere vor Heilig Abend nicht gesund werden“, sagte er. Nun stand der Weihnachtsmann vor einem großen Problem, da nur noch 17 Rentiere waren gesund, aber er brauchte mindestens 18 Rentiere. Stina hörte wie ihr Vater und der Weihnachtsmann im Wohnzimmer miteinander redeten. Kurzerhand öffnete sie die Wohnzimmertür und trat vor die beiden Männer.

 „Aber Kalle ist auch noch da“, sagte sie und die beiden Männer waren kurz ruhig.

„Kalle wird garantiert nicht genug Erfahrung haben, um den Schlitten zu ziehen“, erwiderte ihr Vater und legte einen skeptischen Gesichtsausdruck auf.

„Ich traue ihm es schon zu, denn er hat letztens mit mir und Stina meinen Weihnachtsbaum ausgesucht und außerdem ist er viel kräftiger geworden, seitdem er hier ist“, widersprach ihm der Weihnachtsmann. „Er hat sich wacker geschlagen. Ich spanne ihn lieber vor meinen Schlitten, als dass ich zuhause bleiben muss und alle Kinder weltweit enttäusche, schließlich ist es mein Job, dass ich alle Herrenkinder der Welt an Heilig Abend glücklich mache.“

 

Am Morgen des Heiligen Abends kam der Weihnachtsmann mit Stina und ihrem Vater in den Stall. Stina striegelte Kalles Fell, bis es glänzte und befestigte ein mit Glöckchen geschmücktes Geschirr an ihm. Kalle tänzelte vor Stolz leicht auf der Stelle hin und her. Stina hielt ihm einen Apfel hin, damit er wieder ruhig stehen blieb.

„Das wird heute dein Glückstag werden“, flüsterte sie ihm ins Ohr. „Ich werde den ganzen Abend an dich denken und dir die Daumen drücken. Das ist eine große Ehre für dich.“

Kalle winkte seinen Freunden zum Abschied zu als der Weihnachtsmann ihn nach draußen brachte.

„Kalle, viel Glück!“, riefen sie ihm hinterher. Kalle wurde auf dem Dorfplatz mit den anderen Rentieren vor den Schlitten gespannt. Kalle war mit Abstand der Kleinste.

„Du musst dich unbedingt an unsere Regeln halten. Du musst so schnell laufen wie wir und du darfst nicht zu viel zappeln, sonst wackelt der Schlitten und auf keinen Fall darfst du dich aus dem Geschirr befreien, wenn wir in der Luft sind, sonst stürzt du ab“, sagte Michel, das Rentier neben ihm.

„Ich werde auf euch hören“, versprach Kalle und wurde innerlich unruhig. Kurz vor Abfahrt versammelte sich das gesamte Dorf auf dem Marktplatz. Kalle blinzelte verstohlen zu Stina rüber, die neben ihren Freundinnen Lotta, Elviira und Katinka stand.

 

Der Weihnachtsmann setzte sich auf den Schlitten und läutete eine Glocke. Die Rentiere bewegten sich vorwärts und das ganze Dorf jubelte und klatschte.

„Kalle, Kalle, Kalle, Kalle!“, riefen Stina und ihre Freundinnen. Kalle achtete genau darauf mit seinen Kollegen Schritt zu halten und nicht aus der Reihe zu tanzen. Außerhalb des Dorfes läutete der Weihnachtsmann heftig mit seiner Glocke, die Rentiere galoppierten an und wurden immer schneller. Der feinpulverige Schnee wurde aufgewirbelt und bald merkte Kalle, dass sich seine Hufen vom Boden lösten. Bald flog der Weihnachtsmannschlitten dem funkelnden Nordstern entgegen, der nun seine ganze Eleganz ausstrahlte. Ein grünes Nordlicht flackerte am Horizont auf. Die Rentiere und der Schlitten glitten elegant am Himmel entlang. Kalle war begeistert, als er nach unten schaute. Der glitzernde Schnee, die schneebedeckten Tannen und hell erleuchtete Häuser hatten ihren unverwechselbaren Charme. Ein wenig später kamen nur noch schneebedeckte Berge, Hänge, Täler und Wälder. Kurz darauf kam die erste Hütte mit hell beleuchteten Fenstern in Sicht, bestimmt wohnte hier auch ein Kind. Der Weihnachtsmann gab das Signal, dass die Rentiere langsamer werden sollten und kurz darauf befand sich der Schlitten im Sinkflug. Mit höchster Präzision landete der Schlitten auf dem Dach der Blockhütte. Der Weihnachtsmann stieg mit seinem schweren Sack vom Schlitten ab und verschwand zu Kalles größtem Erstaunen tatsächlich durch den Kamin.

„Macht es dir immer noch Spaß?“, drehte sich Michel zu Kalle um. „Und wie! Ich könnte noch zu tausenden weiteren Häusern fliegen“, strahlte er über beide Backen.

„Keine Sorgen, wir werden noch ordentlich zu tun haben", zwinkerte ihm Michel zu.

 

Es dauerte mehrere Stunden, bis der Weihnachtsmann alle Geschenke ausgeliefert hatte. Kalle war nun ziemlich müde und vor allem hungrig, als sie am frühen Morgen des ersten Weihnachtstages wieder ihren Stall erreichten.

„Nun haben wir Rentiere erstmal Ferien", drehte sich Michel zu Kalle um, als Stina und ihr Vater das Futter in die Futterrinne kippten. Nachdem die Rentiere ihr Futter komplett verputzt hatten, schlichen sich Anton, die Stallratte und Nora, die Stallkatze in den Rentierstall.

„Wir wollten dir auch noch Frohe Weihnachten wünschen", sagte Nora, die Stallkatze, leise.

„Vielleicht magst du kurz zu uns rüber kommen und unserem kleinen Weihnachtsfest beiwohnen, Kalle", meinte Anton, die Stallratte.

„Danke für die Einladung! Ich werde einen Moment bei euch sein, aber später werde ich wieder hier sein. Denn nun ist mein Platz hier bei den anderen Rentier", erwiderte Kalle und folgte seinen Freunden in den benachbarten Stall.

"Hurra, nun bist du ein richtiges Rentier vom Weihnachtsmann!", wurde er jubelnd von den beiden Lämmern Leo und Emma begrüßt.

„Stina hat unseren Stall extra feierlich geschmückt und uns einige Leckereien vorbeigebracht", sagte Matilda, die Ziege feierlich und deutete auf einen kleine Tanne, die mit bunten Sternen und goldenen Kugeln geschmückt war. All seine Freunde gruppierten um Kalle herum, als er von Anton, der Stallratte, aufgefordert wurde von seinen Erlebnissen des vorigen Abends zu erzählen. Kaum war er mit seinen Erzählungen fertig, konnte er seine Augen nicht mehr offen halten und schlief zwischen seinen Freunden ein.

 

 

 

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 25.12.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für meine Familie, meine Freunde und natürlich an alle Leser, die Freude an meiner Weihnachtsgeschichte haben :)

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