Dieses Buch widme ich all meinen treuen Leser und Leserinnen sowie allen, die mich dazu inspiriert haben dieses Buch zu schreiben. Ebenfalls widme ich dieses Buch allen Bandenmädchen und denen, die es im Herzen sind.
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„Na, wie sehe ich aus?“, kam Annemieke aus der Kabine und drehte sich um ihre eigene Achse. „Schwarz! Ist das dein Ernst?“, machte Mathilda ein skeptisches Gesicht. „Warum nicht, sieht doch edel aus“, meinte ihre Schwester. „Meinst du wirklich? Ich bin der Meinung, dass dir andere Farben besser stehen“, sagte sie. Annemieke nahm sich diesmal ein leuchtend rotes Kleid von der Stange und verschwand wieder in der Umkleide. Mit einem Augenrollen blieb Mathilda zurück. Wofür brauchte ihre Schwester unbedingt jetzt ein Kleid und dazu noch ein Ballkleid? Es war bereits das dritte Kleid, welches Annemieke anprobierte. „Warum braucht ihr eigentlich so lange?“, tauchte ihre Mutter zwischen den Kleiderständern auf.
„Micky, will unbedingt ein Kleid nach dem anderen anprobieren“, stöhnte Mathilda und stellte ihre Einkaufstasche ab. „Habt ihr demnächst einen Ball oder so etwas in der Art?“, klang ihre Mutter überrascht. „In nächster Zeit nicht“, schüttelte sie den Kopf, „Vielleicht will sie nur Raffael beeindrucken“ „Tada, da bin ich wieder!“, kam Annemieke wieder zum Vorschein und machte eine Pirouette. „Viel besser, rot steht dir!“, war Mathilda viel überzeugter und zeigte mit dem Daumen nach oben. „Willst du das Kleid wirklich kaufen?“, wandte sich ihre Mutter an ihre Zwillingsschwester.
„Heute nicht, aber garantiert ein anderes Mal“, erwiderte Annemieke und strich sich eine helle Locke hinters Ohr. „Beeil dich, Papa wartet die ganze Zeit vor dem Laden!“ - „Ich finde, du solltest auch mal so ein Kleid tragen“, war Annemieke der Meinung, als sie auf der Rolltreppe standen. „Im Ernst? Was soll ich mit so einem extravaganten Kleid“, sah Mathilda sie ungläubig an. „Würde dir garantiert stehen“, nickte ihre Schwester bekräftigend, „Bestimmt ist Sven der gleichen Meinung“ „Aber er mag es gerade, dass ich mich nicht so wie eine Obertussi anziehe“, widersprach ihr Mathilda.
„Was hält ihr davon, wenn wir noch ins Cafe gehen?“, schlug ihr Vater vor. „Nur wenn es nicht zu lange dauert“, meinte Annemieke, „Wie ihr wisst, sind wir gleich noch mit Lotta verabredet“ Mathilda hatte nichts gegen einen heißen Kakao und ein leckeres Stück Kuchen einzuwenden. Ganz im Gegenteil hatte sie gerade wieder Appetit auf etwas Süßes. „Okay, dann lass uns zum Stadtcafe gehen?“, blies ihre Mutter zum Aufbruch. Gutgelaunt hakten sich die Zwillinge bei ihren Eltern unter. Im Stadtcafe gab es genau einen freien Tisch direkt am Fenster. „Freust du dich auf so auf die Party?“, flüsterte Mathilda Annemieke ins Ohr. „Na klar“, nickte sie. Damit ihre Eltern keinen Verdacht schöpfen konnten, verschwanden die beiden Schwestern kurz auf die Toilette.
„Wie haben Lotta und Fianna es sich eigentlich vorgestellt?“, sah Annemieke sie stirnrunzelnd an, „Es ist eine Oberstufenparty ab Klasse elf und ihr wisst, dass die Lehrer Wert drauf legen, dass keine jüngeren Schüler herein gelassen werden, auch keine Zehntklässler. Fianna hat doch versucht Karten zu bekommen und ihr wurden keine ausgehändigt“ „Ich weiß, dass unsere Lehrer Spielverderber sind“, murrte Mathilda, „Aber Fianna, Lotta und Jannis sind auf die Idee gekommen, dass wir durch den Hintereingang der Sporthalle rein kommen“ „Bist du dir ganz sicher, dass erstens dort kein Lehrer steht und zweiten, ob der Hintereingang offen ist?“, zweifelte Annemieke immer noch. „Hast du jemals erlebt, dass der Hintereingang abschlossen wurde?“, wisperte Mathilda. „Ich glaube nein“, erwiderte ihre Schwester. „Wird schon hinhauen!“, klang sie überzeugt und zog ihren Zwilling aus der Toilettenkabine.
Dass sie immer Annemiekes Sorgen und Zweifel begradigen musste! Dabei hatten Lotta und Fianna den Plan bereits Tage vorher durchdacht. Zweifelsfrei war Annemieke die Vernünftigere des Schwesternpaars, während Mathilda nur vor Abenteuerlust und Tatendrang strotzte. „Wo seid ihr so lange geblieben?“, wollten ihre Eltern wissen, als sie wieder zum Tisch zurückkehrten. „Auf der Toilette war eine große Schlange und eine Dame kam elendig lange nicht mehr vom Klo runter, sodass wir ziemlich lange anstehen mussten“, flunkerte Mathilda. Auf keinen Fall durften ihre Eltern davon mitkriegen, was sie für den heutigen Abend geplant hatten. Seit Mathilda vor neun Monaten von einem Baugerüst gestürzt war, sahen ihre Eltern es gar nicht gerne, dass ihre Töchter abends feiern gingen, geschweige denn Alkohol tranken. Im nächsten Moment kam ihr Apfelstrudel mit Vanillesoße und ihr Latte Chai. Annemieke hatte sich genau das Gleiche bestellt wie sie. „Lasst euch es schmecken!“, zwinkerte ihr Vater ihnen zu.
Eine Stunde später trafen sich die Schwestern mit Lotta und Fianna am Wohnwagen. Zwar würden die Zwillinge heute bei Lotta übernachten, doch da sie Lottas Mutter nur zu gut kannten, die ihrer Tochter nur ungern erlaubte, dass sie spätabends auf Partys ging, wollten sie sich im Wohnwagen umstylen. „Wie habt ihr eure Eltern ausgetrickst?“, wollte Fianna wissen. „Ich habe ihnen gesagt, dass wir heute einen gemütlichen Mädelsabend im Wohnwagen machen“, grinste Lotta. „Unsere Eltern wissen nur, dass wir heute bei dir übernachten“, warf Annemieke ein. „Ich habe meiner Mutter vorhin gesagt, dass ich ebenfalls bei Lotta schlafe, obwohl ich später zu Vivi gehen werde“, erzählte Fianna. Kaum war von Vivien die Rede, kaum sie zur Tür herein. „Wow, du bist ja aufgebrezelt!“, entfuhr es Lotta. „Klar, ich muss älter als fünfzehn aussehen“, nickte Vivien. „Was ist mit Emily und Aylin?“, wollte Mathilda wissen.
„Emily ist für ein Wochenende mit ihrem Freund nach Stuttgart gefahren und Aylin hat keine Lust“, wusste Fianna bescheid. „Eher erlauben es ihre Eltern nicht“, rollte Mathilda mit den Augen. Aylin hatte mit Abstand die strengsten Eltern. Ihr Vater verlangte, dass sie auch an den Wochenenden spätestens um neun Uhr zuhause war. Die Mädchen begannen sich umzuziehen. Mathilda hatte extra ihr neues schulterfreies T-Shirt in neonorange und eine hautenge Jeans im Wohnwagen deponiert, dazu würde sie flache Ballerinas tragen. Auf Heighheels könnte sie nicht Fahrrad fahren. „Lotta, könntest du mich schminken?“, klang sie fast schon verzweifelt. Mathilda hasste es, dass ihre Hand so zittern musste und sie sich mit dem Eyeliner fast ins Auge stach.
„Kleinen Moment, ich muss mich eben selber noch fertig machen“, meinte ihre Freundin. Mathilda war in Schminken und Styling ziemlich ungeübt. Morgens reichte ihr meistens eine Katzenwäsche mit Gesicht waschen und Haare kämmen. „Jetzt kann ich dich fertig schminken“, setzte sich Lotta gegenüber von ihr auf einen Stuhl. Ihre Freundin hatte eine viel ruhigere Hand und war im Styling viel erfahrener. Nicht umsonst war sie die Fashionexpertin der Bande. Zum Schluss betonten die fünf Freundinnen ihr Aussehen mit Glitzerarmreifen, Ketten und auffallenden Ohrringen. „Nun hält uns keiner mehr für Mittelstufenschülerinnen“, war Fianna zufrieden. „Allerdings“, nickte Mathilda bestätigend, die sich gerade wirklich erwachsen fühlte.
Schon vom Lehrerparkplatz konnte man die laute Musik aus der Turnhalle hören, als die Mädchen ihre Fahrräder abstellten. „Seid ihr auch so aufgeregt?“, flüsterte Vivien. „Ich schon“, nickte Annemieke und fragte leise, „Wo treffen wir uns mit Jannis, Lennart und Sven?“ „Am Hintereingang“, wisperte Fianna. „Meine Güte, ihr braucht doch nicht zu flüstern, hier sieht uns doch keiner“, meinte Mathilda. Die Freundinnen kannten einen Schleichweg, wie sie zum Hintereingang der Turnhalle gelangen konnten. Hinter der Turnhalle war es ziemlich duster, da dort keine Straßenlaterne schien. Mit jedem Geräusch aus dem Gebüsch zuckten die Mädchen zusammen. „Jetzt habt euch nicht so! Glaubt ihr immer noch an diese Mördergeschichten, in denen sich irgendwelche Spukgestalten von hinten anschleichen?“, konnte Mathilda eine kleine Spöttelei nicht verkneifen, als Annemieke und Vivien ängstlich zusammenrückten.
Im nächsten Moment sprang jemand aus dem Busch, der Mathilda an der Schulter umklammert festhielt. Sie schrie wie am Spieß und ruderte so heftig mit ihren Händen, dass sie dabei ihren goldenen Armreif ins Nirwana beförderte. „Meine Güte, Matti“, lachte es hinter ihr. Reflexartig drehte sich Mathilda um. „Sven, du Idiot!“, fauchte sie ihren Freund an. „Darf man seiner Freundin nicht einmal einen kleinen Scherz spielen?“, grinste er breit. „Wegen dir ist mein Armreif weg“, sah sie ihn immer noch finster an. „Ich hab ihn gefunden“, rief Lennart. „Danke!“, nickte ihm Mathilda zu. „Dann ist ja alles gut“, nahm Sven sie in den Arm und küsste sie auf den Mund. Mit einem Mal war Mathildas Ärger ganz verpufft, umso mehr freute sie sich auf die bevorstehende Party.
Zu acht schlichen die Jugendlichen durch den Fahrradkeller, bis Fianna an einer unscheinbaren Tür halt machte. Glücklicherweise hatte Jannis eine Taschenlampe am Handy, da die Freunde keinen Lichtschalter finden konnten. In Zeitlupentempo in Zeitlupentempo drückte Fianna die Klinke runter. Eine Treppe führte zu einer weiteren Tür, die sich ebenfalls ohne Probleme öffnen ließ. Dahinter kam ein langer dunkler Gang. „Immer der Musik nach“, wisperte Fianna. Hier war die Musik schon ziemlich laut. Auf Zehenspitzen huschten sie an den Umkleidekabinen vorbei. Der schmale Gang mündete in einen breiteren Gang, der direkt zur Turnhalle führte. Zwei angetrunkene junge Männer wankten ihnen entgegen. Sofort machten die Mädchen einen großen Bogen um sie.
„Hoffentlich sind nicht alle so angetrunken“, murmelte Vivien, der bei dem Gedanken ganz unwohl wurde. „Ach was!“, tippte sich Mathilda gegen die Stirn. In der Sporthalle war der Teufel los. Vorne waren eine Bühne und eine große Lichtorgel aufgebaut. Neben ihnen feuerte jemand eine große Ladung Konfetti in die Luft. „Hier steppt aber der Bär!“, bekam Lotta ganz große Augen. „Die Stimmung ist der Hammer!“, rief Annemieke begeistert, während sie sich den Weg durch die Menschenmenge bahnten. „Bleibt ihr hier? Wir holen für uns Getränke?“, brüllte Fianna gegen die wummernde Musik an. „Für mich nur eine Cola!“, erwiderte Mathilda in derselben Lautstärke. Fianna nahm Lotta an der Hand und verschwand mit ihr im Gewusel. Die Zwillinge und Vivien begannen im Beat der Musik mitzuwippen. Es dauerte nicht lange, bis ihre beiden Freundinnen mit fünf kleinen Colaflaschen wiederkamen.
„Wo habt ihr die Jungs gelassen?“, fragte Annemieke. „Die haben sich anscheinend mit ein paar Kumpels aus der Fußballmannschaft fest gequatscht und trinken Bier“, meinte Lotta. „Mal wieder typisch!“, verdrehte Mathilda die Augen, „Sven ist hier, damit er mit mir tanzt und nicht, dass er ein Bier nach dem anderen trinkt“ Mit einem Mal hatte ihre Laune einen Dämpfer bekommen. „Kommt Mädels, wir können auch ohne Jungs Spaß haben“, zehrte Lotta die Zwillinge weiter auf die Tanzfläche. Sie hatte Recht, auch ohne die drei Piranhas hatten die Mädchen ihren Spaß. Sie tanzten ausgelassen zur Musik und nippten immer wieder an ihrer Cola. Mathilda kam es merkwürdig vor, dass Sven und seine Kumpel auch nach fast einer Dreiviertelstunde nicht auftauchten. „Ich bring nur meine Flasche weg“, kehrte sie ihren Freundinnen den Rücken zu.
„Na Süße!“, stellte sich ihr ein Kerl mit dunklen halblangen Haaren und einer Sonnenbrille in den Weg. Bestimmt war er Italiener, Spanier oder Portugiese. Ohne zu antworten versuchte sie an ihm vorbei zu kommen. „Halt! Wo willst du hin?“, hielt er sie am Arm fest. „Was willst du eigentlich von mir?“, klang Mathilda angefressen. „Mit dir tanzen und danach gebe ich dir einen Drink aus“, lächelte der Typ verführerisch. „Lass mich vorbei!“, sagte sie bestimmt. „Ich bin Sandro und wer bist du?“, erwiderte er stattdessen. „Geht dich gar nichts an!“, fauchte sie. Sandro zehrte sie hinter sich her. „Jetzt werde ich dich meinen Freunden vorstellen“, lächelte er. Mitten im Getümmel winkte ihm ein großer stoppelbärtiger Kerl zu. „Wow, du hast aber eine Schicke angeschleppt!“, rief er bewundernd. „Was für ein flotter Feger!“, bemerkte ein kleiner Typ mit einem Kappy. „Und sie hat so tolle Kräusellocken“, streichelte ein Vierter über Mathildas Haare.
„Hey, das ist immer noch mein Mädchen!“, verwies Sandro seine Kumpel in die Schranken und entfernte sich mit Mathilda ein Stück von ihnen. „Was soll das? Wieso hältst du mich fest?“, rief sie wütend. Anstatt auf sie zu reagieren, drückte er sie fast an seinen kräftigen Oberkörper. „Du bist so sexy!“, hauchte er ihr ins Ohr. Mathilda wurde übel, als sie seine Alkoholfahne wahrnahm. Bestimmt hatte er nicht nur Bier intus, garantiert wurden auch härtere Alkoholika auf die Party geschmuggelt. Seine Hände strichen über ihren Rücken, bis sie ihren Hintern berührten. Mathilda hätte am liebsten laut geschrieen und ihn getreten, doch in diesem Moment drohte sie ohnmächtig zu werden.
Seine Lippen näherten sich unaufhaltsam ihren eigenen. Mathilda wich entsetzt zurück, doch Sandro hielt ihren Kopf fest und drückte ihr einen schmierigen Kuss auf ihre Lippe. „Wo sind nur meine Freundinnen, meine Schwester und Sven?“, dachte Mathilda verzweifelt. Gegen diesen Typen, der einen Kopf größer war als sie, hatte sie nicht einmal den Hauch einer Chance. „Warum bist du so verkrampft, Baby?“, versuchte Sandro sie aufzulockern. Während er mit einer Hand in ihren Ausschnitt fasste, küsste er sie noch mal und fing an zu stöhnen. Mathilda war kurz davor sich zu übergeben. Es war unmöglich sich aus den Fängen dieses Widerlings zu befreien.
„Pack meine Freundin nicht an, du Spasti!“, tauchte Sven von hinten auf. Mit voller Wucht schlug er Sandro ins Gesicht, sodass seine Sonnenbrille zu Boden fiel. „Was willst du eigentlich?“, hielt Sandro Sven an der Schulter fest. Bei der nächsten Gelegenheit gab Sven ihm so einen heftigen Stoß, dass er wie ein Kegel zu Boden fiel. Sven ließ nicht locker und setzte sich auf Sandros Oberkörper. „Wenn du noch einmal meine Freundin sexuell belästigst, dann bist du erledigt!“, brüllte Sven den Typen an und schlug ihn erneut. „Hör auf meinen Kumpel zu schlagen!“, eilte ein weiterer junger Mann herbei. Ein weiterer Kumpel von Sandro stürzte sich ins Getümmel und versuchte Sven wegzuzerren. Mathilda sah zu, dass sie Land gewann. Was dort vor sich ging, war ihr nicht geheuer. Wo waren nur ihre Schwester und ihre Freundinnen?
Als sie sich noch einmal umdrehte, war hinter ihrem Rücken eine richtige Schlägerei im Gange. „Matti!“, hörte sie jemanden laut rufen. Lotta und Annemieke winkten ihr zu. Mathilda fiel vor Erleichterung fast ein Stein vom Herzen. „Lass uns bloß raus hier!“, raunte Lotta. Inzwischen hatte die Prügelei größere Ausmaße angenommen. Vorher unbeteiligte junge Männer eilten von allen Seiten herbei und schrieen sich gegenseitig an. Mathilda spürte, wie sich Vivien an ihrem Arm festkrallte. Offenbar hatte ihre Freundin mehr Angst als sie. „Wir gehen raus, wie wir gekommen sind“, gab Fianna die Marschroute vor. Die fünf Freundinnen bahnten sich ihren Weg durch die aufgebrachte Menschenmenge. Mathilda hielt ihre freie Hand schützend vor ihr Gesicht, aus Angst doch noch einen Schlag abzubekommen.
Draußen an der frischen Nachtluft holten die Mädchen tief Luft. Zitternd ließ sich Mathilda in die Arme ihrer Schwester fallen. „Ich hatte gerade so eine panische Angst! Ich wurde von einem Kerl angerempelt und bin gegen eine Stellwand gestolpert. Dann war ich mittendrin, wo sich unzählige Jungs geprügelt haben...“, hauchte Vivien und fing leise an zu weinen. „Was ist nur um Himmels willen passiert?“, klang Annemieke geschockt. „Ich habe nur gesehen, dass unzählige Oberstufenschüler ohne Vorwarnung aufeinander losgegangen sind“, erwiderte Lotta. „Ich wurde von einem Typen bedrängt, der mich küssen wollte und mich überall angepackt hat“, sagte Mathilda mit bebender Stimme und verhaspelte sich bei jedem zweiten Wort. „Das ist ja widerwärtig!“, entfuhr es Fianna und ballte ihre rechte Hand zu einer Faust.
„Ich habe es aus der Ferne gesehen, aber ich konnte nichts machen. Ich hatte so ein Schiss, dass ich nichts machen konnte. Mathilda, es tut mir so leid, dass dir das passieren musste", sagte Vivien mit belegter Stimme. Wieder lief ihr eine Träne die Wange hinunter. Mathilda wollte gerade etwas erwidern, doch bekam anstatt eines Wortes oder eines Satzes nur einen abgehackten Laut aus sich heraus, der sich eher wie ein Krächzen anhörte. „Dir muss gar nichts leid tun, Vivien. Glaub mir, in diesem Durcheinander haben wir alle Angst bekommen", legte Annemieke ihrer Freundin die Hand auf den Unterarm. „Kommt Mädels, wir suchen eben eine freie Bank auf“, versuchte Lotta die Mädchen zu besänftigen und legte ihren Arm um die schluchzende Vivien. Mathilda hätte am liebsten auch geweint, doch nicht einmal die kleinste Träne bildete sich in ihren Augenwinkel. Nicht immer war sie zu geschockt, um hemmungslos loszuheulen.
„Erzähl, wie es passiert ist“, wandte sich Fianna an sie. „Als ich meine Colaflasche wegbringen wollte, kam ein Typ auf mich zu. Er ließ mich nicht durch und zehrte mich zu seinen Freunden, die mir über den Kopf streichelten. Anschließend entfernte sich der Kerl mit mir wieder ein Stückchen von ihnen. Dann zwang er mich zu küssen und fasste mich überall an. Da er viel größer und kräftiger war, hatte ich keine Chance mich zu wehren. Schließlich kam Sven und schubste ihn um. Daraufhin stürzten sich seine Kumpels auf Sven“, erzählte Mathilda. Ihre Gedanken waren so klar wie die kühle Nachtluft. „Das musst du der Polizei melden!“, sprang Lotta erbost auf, „Das ist ein sexueller Überfall“
„Nein, das werde ich nicht“, lehnte Mathilda rigoros ab, „Wenn unsere Eltern nur wüssten, dass wir auf dieser Party waren, würden sie uns den Hals umdrehen“ „Das wird doch eh nicht geheim bleiben, dass wir uns als Zehntklässler unerlaubt auf die Party geschlichen haben“, meinte Fianna. „Damit wird sie leider Recht haben“, seufzte Annemieke, „Bestimmt plappert irgendeiner unsere Namen aus“ „Na toll, somit sind wir geliefert und der Stress zuhause ist vorprogrammiert“, verbarg Mathilda stöhnend ihr Gesicht in ihren Händen. Ärger hatte sie nun genug und wenn ihre Eltern mitbekamen, dass sie auf dieser Oberstufenparty waren, gäbe es ganz sicher einen dicken Einlauf. „Lasst uns nach Hause fahren, ich könnte bereits im Stehen einschlafen“, beschloss Lotta gähnend.
In Lottas Zimmer richteten die Mädchen ein notdürftiges Schlaflager her. Gerade als Mathilda sich in ihren Schlafsack kuschelte, vibrierte ihr Handy. Nanu, wer schickte um diese Uhrzeit noch Nachrichten? Das konnten wahrscheinlich nur ihre Eltern sein. „Eine Nachricht von Sven“, leuchtete auf dem Display. „Warum hast du mich stehen gelassen und bist einfach so gegangen? Du hast mich mit diesen Typen alleine gelassen. Wäre ich nicht in die Bresche gesprungen, hätte dieses Arschloch dich garantiert vergewaltigt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie groß gerade eben der Ärger war, den wir abgekriegt haben. Unsere Lehrer drohten damit die Polizei zu holen, wenn die Schülersprecher nicht geschafft hätten die aufgebrachte Menge zu Ruhe zu bringen. Montag haben wir alle ein Gespräch beim Rektor und darüber hinaus wird für uns alle Konsequenzen haben“, schrieb ihr Freund.
Svens Vorwürfe ließen sie innerlich vor Wut schäumen. Wütend blinzelte Mathilda eine Träne weg. Andererseits besänftigte der Gedanke sie, dass Svens beherztes Eingreifen Schlimmeres verhinderte. Annemieke und Lotta schliefen bereits tief und fest, doch Mathilda lag immer noch grübelnd auf ihrer Luftmatratze und drehte sich unruhig von der einen Seite auf die andere. Warum waren sie nur zu dieser blöden Party gegangen? Stattdessen hätten sie genauso einen schönen Abend in ihrem Wohnwagen verbringen können. Dort wären sie vor solchen betrunkenen Idioten sicher gewesen.
Mathildas Lust zur Schule zu gehen, war unter den Nullpunkt gesunken. Grummelnd setzte sie sich mit ihrer Schwester an den Frühstückstisch. „Was ist los mit dir?“, sah ihre Mutter sie besorgt an, als sie lustlos in ihrem Kakao herumrührte und ihr Brötchen im Zeitlupentempo verdrückte. „Nichts, ich bin nur hundemüde“, antwortete sie ausweichend. In Wirklichkeit hatte sie Riesenangst davor diesem merkwürdigen Sandro noch mal zu begegnen. Hoffentlich hatte es sich nicht überall herumgesprochen, was ihr Samstag passiert war und jeder davon bescheid wüsste. Es wäre peinlich, wenn ihre Schulkameraden sie darauf ansprächen. Am Schlimmsten war dennoch, dass Sven sie seit dem Vorfall fast wie Luft behandelte. Warum nahm er ihr es immer noch übel, dass sie von dieser Party geflohen war?
Mit Grauen fiel Mathilda ein, dass heute der Valentinstag war. Für Sven hatte sie vor ein paar Tagen extra eine Packung Pralinen gekauft. Was wäre, wenn sie heute immer noch zerstritten wären und sie sich keines Blickes mehr würdigen würden? Annemieke hatte es umso einfacher, obwohl ihr Freund Raphael weit weg wohnte, lief ihre Beziehung wie am Schnürchen. Jeden Tag schickten sie sich Nachrichten und skypten mehrmals in der Woche. Gerade öffnete Annemieke mit einem Freudenschrei einen Briefumschlag, in dem ein Brief und ein Kettchen mit einem Medaillon lagen. Klappte man das Medaillon auf, kam ein kleines Foto von ihrer Schwester und ihrem Freund zum Vorschein. Die Kette hängte sie sich gleich um. Annemiekes Laune war auch noch während des gesamten Schulweges ungetrübt, während Mathilda sich am liebsten Regen aus Kübeln gewünscht hätte.
Ausgerechnet Katja, Anja und Neele waren die Ersten, die ihnen in der Pausenhalle begegnen mussten. „Hi, ich habe schon gehört, dass ihr auf der Party ward“, begann Anja. „Woher wisst ihr das denn?“, sah Annemieke sie ungläubig an. „Jolanda und Saskia waren dort auch und haben euch gesehen“, meinte Neele. „Stimmt es, dass du sexuell belästigt worden bist, Mathilda?“, wurde Katja neugierig. „Was geht dich das an?“, gab Mathilda bissig zurück. Offenbar wussten bereits einige ihrer Mitschüler davon, was sich auf dieser Party ereignet hatte. „Ich hätte gar nicht gedacht, dass ihr auf solche Partys geht“, plapperte Anja ungehemmt weiter. Annemieke, die offenbar genug hatte, hakte sich bei Mathilda ein und zog sie von den drei Zicken weg.
Vor dem Klassenzimmer warteten bereits die Piranhas. Als Sven Mathilda entdeckte, steuerte er direkt auf sie zu. „Alles Gute zum Valentinstag!“, wünschte er ihr und gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Er wirkte ganz und gar nicht verärgert und war wieder ganz der Alte. „Hier, ich habe etwas für dich“, lächelte sie erleichtert. „Lass uns die Geschenke in der Pause austauschen“, raunte er, „Da kommt schon Frau Zierske um die Ecke“ „Oh nein, sie hat die Arbeiten korrigiert“, stellte Fianna fest und erbleichte. „Bei mir wird das eh nichts geworden sein“, brummte Jannis. „Ich bin schon zufrieden, wenn ich eine Vier habe“, meinte Max. „Guten Morgen, liebe 10a“, ließ ihre Mathelehrerin den Stapel mit den Klassenarbeiten auf das Pult plumpsen. „Bevor ich anfange die Klassenarbeiten austeile, möchte ich folgende Schüler zum Lehrerzimmer bitten: Sven, Jannis, Lennart, Mathilda, Annemieke, Carlotta und Fianna“, fuhr sie fort. Ohne etwas zu sagen, standen die genannten Schüler auf und verließen den Raum. Die vier Freundinnen sahen sich unbehaglich an. „Wir werden den ganzen Ärger mitkriegen, schließlich haben wir die Schlägerei angezettelt“, meinte Sven und nahm Mathildas Hand, die sich mit einem Mal wohler in ihrer Haut fühlte. Herr Fiedler wartete bereits vor dem Schulleiterbüro. „Guten Morgen, folgt mir hinein“, begrüßte ihr Klassenlehrer sie kurz.
Noch nie hatten Mathilda und ihre Freundinnen in Herrn Vierhaus Büro platz nehmen müssen. Nur wer sehr großen Ärger gebaut hatte, wurde hierhin zitiert. Vivien saß bereits dort auf einem der Stühle und schien sehr erleichtert zu sein, als ihre Freundinnen sich neben sie setzten. Die Schüler nahmen an einem großen runden Tisch platz. Gegenüber den Zehntklässlern saßen Sandro und zwei seiner Kumpels. Im Gegensatz zu Samstag trug Sandro ganz normale Klamotten und hatte keine Sonnenbrille auf. Mathilda versuchte jeglichen Blickkontakt mit ihm zu vermeiden. „Guten Morgen, ich habe schon gehört, was Samstag passiert ist. Mag sich einer von euch freiwillig dazu äußern?“, begann Herr Vierhaus mit seiner kräftigen Stimme. „Als ich mit meinen Kumpels vom Bierstand zurückkam, sah ich, dass meine Freundin von einem großen schwarzhaarigen Typen belästigt worden ist. Ich konnte es nicht zulassen, dass Mathilda von ihm sexuell belästigt wurde, da sie meine Freundin ist und deshalb habe ich ihn zu Boden gestoßen“, begann Sven zu erzählen.
Während des gesamten Gespräches schaute Mathilda nach unten. Annemieke, die spürte, wie unwohl sie sich fühlte, hielt unter dem Tisch ihre Hand. „Was kannst du zu diesem Vorfall sagen?“, wandte sich der Schulleiter direkt an sie. „Ich wollte nur meine leere Colaflasche wegbringen, als dieser Typ vor mir auftauchte und…“ Weiter kam sie nicht, ihre Stimme geriet ins Schlingern, bis sie komplett versagte. „Daraufhin wurde Mathilda von ihm festgehalten und in die Richtung seiner Freunde gezerrt“, übernahm Annemieke, „Er küsste sie gegen ihren Willen auf den Mund und berührte sie an intimen Körperstellen. Obwohl sich meine Schwester wehrte, ließ er nicht locker und belästigte sie weiter“ Mathilda hätte Annemieke in diesem Moment um den Hals fallen können. Sie war nicht nur die beste Zwillingsschwester der Welt, sondern auch ihre beste Freundin. Annemiekes Bericht wirkte, als hätte sie es mit eigenen Augen gesehen.
Kurz darauf durften die fünf Mädchen das Schulleiterbüro verlassen. „Puh, wir sind mit einem blauen Augen davon gekommen“, atmete Lotta auf, „Zwar müssen wir diese Woche in den Pausen den Müll aufsammeln, aber wenigstens verzichtet Herr Fiedler darauf unsere Eltern zu informieren“ „Das hätte sicherlich noch extra Ärger gegeben, wenn das unsere Eltern erfahren hätten“, klang Annemieke erleichtert. Die Freundinnen beschlossen auf die Piranhas zu warten, die noch länger drin bleiben mussten. Die Zwillinge und ihre Freundinnen konnten damit leben, dass sie in den kommenden Pausen den Schulhof sauber halten mussten. Schließlich konnte es nicht ganz ohne Strafe bleiben, dass sie sich auf eine unerlaubte Party geschlichen hatten.
Die Tür des Büros schwang auf und drei Piranhas traten mit nichts sagenden Gesichtern auf den Flur hinaus. „Was habt ihr noch aufgedrückt bekommen?“, wurde Lotta neugierig. „Wir müssen bis zum Schuljahresende in der AG für sinnvolle Schulgestaltung teilnehmen“, stöhnte Jannis. „Aber es gibt Schlimmeres!“, war Sven der Meinung, „Wenigstens sind wir im Gegensatz zu Sandro nicht für ein paar Wochen vom Schulunterricht suspendiert worden“ „Außerdem ist diese AG nur einmal pro Woche“, fügte Lennart im pragmatischen Tonfall hinzu. Als sie wieder den Klassenraum betraten, war die zweite Stunde fast vorbei. Frau Zierske hatte ihnen die Arbeitshefte auf den Tisch gelegt. Auf drei schlugen die Zwillinge gleichzeitig ihre Hefte auf. „Eine glatte Drei“, murmelte Mathilda. Mit einer Drei konnte sie leben, schließlich war das Thema Kurvendiskussion alles andere als easy. „Ich habe eine Drei plus!“, wisperte Annemieke, die immer ein wenig besser war als sie.
In der Pause traten die fünf Roten Siebenerinnen und drei Piranhas zum ersten Mal zum Putzdienst an. Der Hausmeister stattete sie mit Greifzangen und großen Mülltüten aus. Zu Lottas und Fiannas Empörung bekamen sie hellgelbe Westen übergezogen. „Damit auch jeder sieht, dass wir die Putzis sind!“, fauchte Lotta, die sich am meisten zu schämen schien. Leider kamen in diesem Moment Jolanda und drei ihrer Freundinnen vorbei, die belustigt grinsten, als sie ihre Klassenkameraden in Hellgelb entdeckten. „Glotzt nicht so, ihr Glubschkühe! Seht zu, dass ihr verschwindet!“, zischte Mathilda in ihre Richtung. „Reg dich nicht so auf, Matti“, legte Sven seine Hand auf ihre Schulter.
Während Annemieke mit Lotta, Fianna und Vivien auf dem oberen Teil des Schulhofes den Müll aufsammelten, blieb Mathilda mit den Piranhas im unteren Bereich. „Was hältst du davon, wenn wir den heutigen Nachmittag in unserem Bandenquartier verbringen? Natürlich nur wir beide“, schlug Sven vor. „Finde ich gut“, nickte sie. „Dann können wir dort auch unsere Geschenke austauschen“, sagte er. Während sie mit ihren Greifzangen den Müll auf dem Gebüsch klaubten, kamen sie auf die französischen Gastschüler zu sprechen, die ab nächster Woche für sechs Wochen im Rahmen eines Austauschprogramms ihre Schule besuchen sollten. Fast hätte Mathilda die Franzosen vergessen, schließlich nahmen sie auch eine Gastschülerin auf. Ihre Schwester und sie hatten bereits mit ihrer Gastschülerin gemailt. Elodie hieß sie und war genauso alt wie die Zwillinge.
Am Nachmittag stellte Mathilda ihr Rad vor dem Bandenquartier der Piranhas ab. Im Gegensatz zu heute Morgen hatte sie richtig gute Laune. „Na, da bist du ja!“, kam ihr Freund aus dem Haus und umarmte sie. Sven nahm ihre Hand und führte sie in die Garage. „Das ist ja phänomenal!“, blieb ihr der Mund offen stehen. Ihr Freund hatte die Garage extra für einen gemütlichen Nachmittag hergerichtet. Selbst vor dem kleinen Fenster hing eine rote Gardine. „Was man nicht alles für seine Freundin tut!“, lächelte er und gab ihr einen Kuss, diesmal viel länger und ausgiebiger als in der Schule. Mathilda schmiegte sich an seinen athletischen Oberkörper und schloss ihre Augen.
„Ich nehme dir übrigens gar nichts mehr übel“, sagte er im nächsten Moment, „Ich habe darüber nachgedacht, ich kann verstehen, dass ihr die Flucht ergriffen habt. Diese Typen waren wirklich nicht ganz ohne“ Kurz darauf hielt er mit einer Hand ihre Augen zu und drückte ihr ein kleines Päckchen in die Hand, welches sie in Windeseile ausgepackt hatte. „Eine Schneekugel!“, freute sie sich und gab ihm ein Küsschen auf die Wange. Das Selfie hatten sie nicht vor all zu langer Zeit geknipst, als sie nebeneinander im Schnee lagen. Jetzt zierte es die Schneekugel. „Ich habe auch noch etwas für dich“, holte sie die Pralinen aus ihrer Handtasche.
„Danke, woher weißt du, dass ich ganz vernarrt in diese Pralinen bist“, bedankte er sich. „Zufall!“, grinste sie. In Wirklichkeit hatte sie sich von Jannis und Michael beraten lassen. Sven bat Mathilda sitzen zu bleiben und deckte währenddessen den Tisch. „Hast du dir so viel Mühe gemacht?“, staunte sie bei dem Blick auf die Kuchenplatte. „Mach dir keine falschen Hoffnungen, aber den Kuchen habe ich gerade vom Bäcker geholt“, meinte er. „Egal, wird trotzdem schmecken“, erwiderte sie lächelnd und nahm sich einen Baumkuchen mit weißer Schokolade. Ihr Freund goss beiden heißen Tee ein und gab ihr erneut einen Kuss.
Eng aneinander gekuschelt fütterten sie sich gegenseitig mit Kuchen. „Hast du mitbekommen, dass Jolanda und Saskia ein Ball-Komitee gegründet haben?“, schnitt er ein neues Thema an. „Nein, darüber haben sie in unserer Gegenwart kein Wort verloren“, schüttelte sie den Kopf. „Sie wollen unsere Schulleitung überreden einen Ball für die achte bis zehnte Klasse stattfinden zu lassen“, fuhr er fort. „Wurde ihr Vorschlag bereits angenommen?“, forschte sie nach. „Soweit ich weiß, war Herr Vierhaus von ihrer Idee sehr überzeugt“ „Ich kann aber nicht richtig tanzen“, murmelte Mathilda und malte sich dabei aus, wie sie über die Tanzfläche taumelte. „Bestimmt bekommen wir vorher noch ein paar Tanzstunden“, legte ihr Freund seinen Arm auf ihre Schulter. Noch immer machte sie nicht den Eindruck, als wäre sie gänzlich überzeugt.
„Nun komm schon!“, stupste er sie an, „Freust du dich nicht, dass wir beide zusammen auf einen Ball gehen können?“ „Doch, doch! So war das nicht gemeint“, stellte sie es richtig. Sven machte ein Lied auf seinem Handy an. „Darf ich meine Dame zum Tanz bitten?“, reichte er ihr die Hand. „Gewiss doch!“, erwiderte sie mit gespielter Höflichkeit und führte ihn zur Mitte des Piranha-Quartieres, wo sie genügend Platz zum Tanzen hatten. Aus anfangs zögerlichen Tanzschritten wurde ein wildes Rumhopsen. „Meine Güte, wie das aussieht?“, kriegte sich Mathilda vor Lachen kaum noch ein und sortierte ihre Haare. „Du bist doch meine Matti, genauso wie ich sie liebe!“, drückte er sie an sich. „Und du bist mein kleiner Piranha-Schlingel mit dem frechsten Grinsen auf dieser Welt!“, flüsterte sie ihm ins Ohr und küsste ihn.
„Gleich müssten sie angekommen“, warf Annemieke einen Blick auf ihre Uhr. Am Sonntagabend warteten unzählige Eltern, Schüler und Lehrer auf dem Lehrerparkplatz neben der Sporthalle, dass der Bus ihrer Partnerschule eintrudelte. Zu allem Überfluss fing es an zu gießen und zudem war es unangenehm kalt. Zum Glück hatte Mathilda an einen Regenschirm gedacht, den sie sich mit ihrer Schwester teilte. „Ich bin gespannt, wie Julien sein wird“, sagte Lotta neben ihnen. „Oh lala!“, formte Fianna ein Herz mit ihren Händen, worauf Lotta ihr nur kurz die Zunge rausstreckte. Mittlerweile war es ein ganzes Jahr her, dass sie sich von ihrem letzten Freund getrennt hatte. In der Dunkelheit tauchten Scheinwerfer auf. „Das sind sie!“, jubelte jemand in der Menschentraube. Mit quietschenden Bremsen kam der mittelgroße Reisebus zum stehen. Langsam öffnete sich die vordere Tür. Zwei Lehrer stiegen aus.
Frau Heinrich, die Französischlehrerin der zehnten Klasse trat hervor, um ihre französischen Kollegen zu begrüßen. Nachdem sie ein paar Worte auf Französisch gewechselt hatten, verließen die Schüler den Bus. „Julien, bist du es?“, rief Lotta einem dunkelhaarigen Jungen auf Französisch zu. Obwohl sie seit anderthalb Jahren im Französischkurs war, waren ihre Sprachkenntnisse schon ziemlich solide. „Ihr seid doch Annemieke und Mathilda ter Steegen?“, blieb ein Mädchen mit honigblonden schulterlangen Haaren vor ihr stehen. „Dann bist du Elodie“, gab ihr Annemieke die Hand. „Genau!“, nickte die junge Französin. „Ich bin Mathilda!“, stellte sich Mathilda vor, „Falls du mich von meiner Zwillingsschwester unterscheiden willst, ich bin diejenige mit den kürzeren Haaren und der dunkelblauen Jacke“ „Gut zu wissen! Ihr seht euch trotzdem sehr ähnlich“, lächelte Elodie und zog ihren Koffer hinter sich her. Hinten neben der alten Eiche warteten die Eltern der Zwillinge, die sich gerade eben mit Fiannas Mutter unterhielten.
Zuhause nahmen die Zwillinge vor, ihrem Gast das ganze Haus zu zeigen. „Wo werde ich schlafen?“, klang Elodie ganz neugierig. „Neben unserem Zimmer im Gästezimmer“, meinte Annemieke, die ihr eine ihrer Taschen abgenommen hatte. Bereits am Nachmittag hatten die Schwestern das Gästezimmer für ihren Gast hergerichtet, das Bett bezogen und durchgesaugt. „Könnt ihr mich kurz alleine lassen?“, bat Elodie, „Ich will mir nur kurz andere Sachen anziehen“ „Klar“, nickte Annemieke und ging mit Mathilda die Treppe ins Wohnzimmer herunter. Dort hatten ihre Eltern den Tisch für das Abendessen gedeckt. Aus der Küche drang ein köstlicher Geruch zu ihnen rüber. „Mama, gibt es frisches Baguette mit Tomate, Mozarella und Salami?“, lief Mathilda das Wasser im Mund zusammen. „Richtig erraten!“, nickte ihre Mutter grinsend und faltete eine Servierte. Annemieke holte pfeifend die Salatschüssel aus der Küche.
„Thunfischsalat mit Paprika! Das wird immer besser!“, freute sich Mathilda und stellte Gläser auf den Tisch. „Zu Ehre unseres Gastes köpfen wir eine Flasche Sekt!“, kam ihr Vater wieder. Gerade als sie sich an den Tisch setzten, kam Elodie in einer weißen Bluse und zurrecht gemachten herein. „Die Bluse steht dir!“, zeigte Mathilda mit dem Daumen nach oben. „Danke!“, lächelte Elodie und fügte nach kurzem Räuspern hinzu, „Ich habe noch ein paar Geschenke dabei“ Sie stellte eine Flasche Rotwein, einen kleinen Präsentkorb und eine Tafel Schokolade auf dem Couchtisch hinter dem Esstisch ab. „Vielen Dank!“, gab ihr die Mutter der Zwillinge ihr die Hand und fragte sie, wo sie am Tisch sitzen wollte. „Zwischen den Zwillingen“, erwiderte sie und ließ sich neben den Schwestern nieder. „Sie können wirklich sehr gut kochen“, lobte sie die Köchin. Auch Annemieke und Mathilda waren der Meinung, dass das Abendbrot nicht nur köstlich, sondern weltmeisterlich schmeckte. „Auf unseren Gast!“, hob ihr Vater sein Sektglas. Alle anderen taten es ihm nach und stießen klirrend an.
Am nächsten Morgen trafen sich der Französischkurs der zehnten Klasse und die Gastschüler am Stadtbrunnen. Heute sollte eine Rallye stattfinden, damit die Franzosen Freudenburg kennen lernen konnten. „Bildet Teams mit vier bis sechs Schülern“, ordnete Frau Heinrich an, die bereits die Bögen in der Hand hielt. „Machen wir zusammen?“, raunte Fianna den Zwillingen zu. „Klar doch!“, nickte Annemieke. „Und natürlich mit Elodie!“, wisperte Mathilda. „Dürfen Manon und Cecilia mit in unsere Gruppe?“, kam Elodie mit zwei ihrer Freundinnen im Schlepptau wieder. „Das geht klar“, war Fianna einverstanden, zumal Manon ihre Gastschülerin war. Geschlossen zeigten die sechs Mädchen auf.
„Wir sind eine Gruppe!“, rief Mathilda. Lotta wollte unbedingt mit Julien und seinen Kumpels zusammen bleiben. Als sich alle Gruppen gefunden hatten, teilten die Lehrer die Fragebögen aus. „Wann wurde die Martinuskirche erbaut?“, las Annemieke die erste Frage vor. „Ich glaube vor dreihundert oder vierhundert Jahren“, überlegte Fianna. „Da gibt es doch eine Tafel vor der Kirche, auf der das Jahr steht, wann die Kirche gebaut wurde“, fiel Mathilda ein. Die Mädchen liefen durch kleine Gässchen. Zwischendrin blieben Manon und Elodie stehen, um mit ihren Handys Fotos von den denkmalgeschützten Häusern zu machen. „C’est tres beau!“, schwärmte Elodie, die fast jedes Detail ablichten musste. Mathilda nervte es jetzt schon, dass sich die Französinnen durch jede Kleinigkeit ablenken ließen. Als sie sich noch Crepes kauften, musste sie sich arg beherrschen, um keinen bissigen Kommentar abzulassen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit waren die Mädchen bei der Hälfte des Fragebogens angekommen. „Ich habe keine Lust mehr“, maulte Fianna, der nach dem Trip durch den Stadtpark die Füße in ihren Stiefeln wehtaten. „Ich habe eine Idee“, raunte Mathilda und zückte ihr Smartphone. „Willst du dir die Lösungen im Internet raussuchen?“, zog ihre Schwester die Stirn kraus. „Klar, das geht doch viel schneller“, nickte sie. „Aber das ist doch geschummelt. Glaubt ihr, die Lehrer merken das nicht?“, hielt Annemieke immer noch dagegen. „Ist doch egal, dann haben wir die Lösungen und gut ist“, meinte Fianna. Die Gruppe ließ sich auf zwei Parkbänken nieder. Die Mädchen zückten ihre Handys und begannen die Lösungen der Fragen im Internet zu googeln. „Yeah, zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen“, tauschte Fianna mit den Zwillingen Highfives aus.
„Wir könnten doch noch einen Latte Macchiato trinken“, schlug Manon vor, während sie mithilfe ihres Taschenspiegels ihren Lidstrich nachzog. „Coole Idee!“, stimmte ihr Mathilda zu, „Zwei Straßen weiter ist ein tolles Straßencafe“ „Dann nichts wie hin!“, fingen Elodies grauen Augen an zu glänzen. Als die Mädchen das Cafe betraten, staunten sie nicht schlecht. Lotta und ihre Gruppe saß an einem Vierertisch. „Hey, kommt doch zu uns!“, winkte sie die Freundinnen zu sich rüber. „Dann müssen wir nur noch ein paar Tische zusammenschieben“, meinte Annemieke. Als sie drei Tische zusammen geschoben hatten, wollte Lotta ein Gruppen-Selfie mit ihrem Handy machen.
„Moment, erst muss ich mein Make-up überprüfen“, wurde sie prompt von Manon gebremst. „Wozu will sie dauernd ihr Aussehen überprüfen?“, wunderte sich Mathilda insgeheim. Manon sah mit ihren dunklen Kulleraugen, den halblangen dunkelbraunen Haaren und dem makellosen Gesicht immer gut aus. „Bitte alle lächeln!“, streckte Lotta ihren Arm aus. Es war schwierig zehn Leute gleichzeitig auf ein Bild zu bekommen. Mathildas Gesicht war nur zur Hälfte drauf. „Was kann ich für euch tun?“, tauchte ein Kellner an ihrem Tisch auf. Es dauerte fast fünf Minuten bis alle Bestellungen aufgenommen wurden. Die Zwillinge und ihre Freundinnen mussten für die Franzosen wiederholte Male dolmetschen.
„Wisst ihr, dass wir bald einen Frühlingsball haben?“, erzählte Lotta den Gastschülern. „Einen richtigen Ball mit Tanz und richtigen Kleidern?“, begannen Manons Augen an zu leuchten. „Ja, wir nehmen sogar Tanzstunden“, nickte Fianna. „Da werden wir auf jeden Fall dabei sein“, strahlte Cecilia. „Ein passendes Kleid hätte ich schon mal“, fügte Manon begeistert hinzu. „Typisch, dass das Modepüppchen immer ein Ballkleid dabei hat“, dachte Mathilda bei sich. „An welchem Tag ist der Tanzunterricht?“, fragte Elodie, die von den Franzosen das beste Deutsch sprach. „Jeden Freitag von acht bis halb zehn“, erwiderte Lotta. „Da wird Sebastien sicherlich auch mitmachen“, freute sich Cecilia. „Ich werde meinen Freund erstmal überreden müssen“, meinte Elodie. Nur Manon erwiderte nichts, stattdessen knabberte sie verlegen an ihrer Unterlippe herum.
Im nächsten Moment kamen die Kellner mit den bestellten Getränken. Mathilda freute sich auf ihre heiße Schokolade mit einem Schuss Mandelsirup. Das war genau das richtige bei diesem kühlen Wetter. Kurz darauf enterten Frau Heinrich und ihre beiden französischen Kollegen das Cafe. „Seid ihr jetzt schon fertig?“, sah Frau Heinrich ihre Schüler überrascht an. „Klar, das ging sehr schnell“, nickte Lotta, „Wir haben uns auch schließlich sehr beeilt“ „Okay, aber in einer Stunde treffen wir uns wieder am Stadtbrunnen“, erwiderte ihre Französischlehrerin und verzog sich an das andere Ende des Cafes. Als sie außer Sichtweite waren, konnte sich Lotta ein Grinsen nicht länger verkneifen. „Wir haben alle Lösungen gegoogelt“, flüsterte sie ihren Freundinnen zu. „Du kleiner Schlingel!“, puffte Fianna sie in die Seite. „Genauso haben wir es auch gemacht“, gab Annemieke zu.
Elodie lebte sich in den nächsten Tagen gut ein und fühlte sich zwischen den Zwillingsschwestern pudelwohl. Die Schwestern nahmen ihre Gastschülerin mit zum Hockeytraining und sogar mit zum Bandenquartier. „Was haltet ihr davon, wenn wir heute Nachmittag zum Wohnwagen fahren, dort die Beete anlegen und danach Tee trinken?“, schlug Annemieke vor, als sie ihre Hausaufgaben machten. „Habt ihr einen Wohnwagen?“, fielen Elodie vor Staunen fast die Augen aus dem Kopf. „Das ist unser Bandenquartier“, nickte Mathilda stolz. „Ihr seid eine Bande?“, erwiderte sie noch überraschter. „Ja, aber nicht so eine Bande, wie du sie vielleicht aus Krimis kennst“, versuchte Annemieke es ihr verständlich zu machen, „Wir sind eine Bande, die aus acht Mädchen besteht, die wir vor vier Jahren auf einer Klassenfahrt gegründet haben. Meist treffen wir uns zum Teetrinken im Wohnwagen, gehen jeden Freitag zur Reitstunde und unternehmen schöne Sachen zusammen“ „Nicht nur das!“, unterbrach Mathilda ihre Schwester, „Wir mussten uns schon einige Male gegenüber anderen Banden behaupten, ganz besonders gegenüber ein paar frechen Jungs aus unserer Klasse, die sich die Piranhas nennen“ „Habt ihr mit ihnen immer noch Ärger?“, wollte Elodie ungläubig wissen. „Nein, momentan haben wir mit Bandenkriegen und anderen Auseinandersetzungen nichts mehr am Hut“, konnte Annemieke sie beruhigen. Während die Zwillinge über ihren Physik- und Mathehausaufgaben büffelten, arbeitete Elodie an ihrem Tagebuch weiter, welches sie auf Deutsch führen sollte.
Um den Kopf von den ganzen Schularbeiten frei zu bekommen, war der Schrebergarten mit dem Wohnwagen der beste Ort, den man sich vorstellen konnte. Bevor sich die Mädchen an die Arbeit machten, schauten sie bei Hanni und Nanni nach dem Rechten. „Kann ich die Kaninchen hochheben?“, fragte die kleine Französin. „Lieber nicht“, schüttelte Mathilda den Kopf, „Gegenüber Fremden sind sie nicht sonderlich zutraulich und hauen schnell ab“ „Aber vorsichtig streicheln kannst du sie, Elodie“, fügte Annemieke hinzu. Nachdem die Bandenmaskottchen mit frischem Heu, Wasser und Futter versorgt worden waren, holten die Mädchen das Arbeitsgerät aus dem Schuppen. Da der Frühling in den Startlöchern stand, wollten sie die ersten Gemüsebeete anlegen.
Dazu musste erstmal der Boden mit einer Harke aufgelockert und alte Wurzeln entfernt werden. Gerade als die Mädchen in ihre Arbeit versunken waren, kamen Emily und Aylin vorbei. „Hi, säht ihr das erste Gemüse aus?“, blieb Emily vor den Zwillingen stehen. „Sieht so aus“, nickte Mathilda. „Habt ihr noch Platz für meine Tomatensamen?“, raschelte Aylin mit einer kleinen Tüte. „Klar doch, her damit!“, meinte Annemieke, die gerade den harten Boden auflockerte. „Ich sehe, ihr habt jemand Neues dabei“, warf Emily einen Blick auf Elodie. „Das ist unsere Gastschülerin Elodie Bardour von unserer Partnerschule aus Marseille“, stellte Mathilda sie vor. „Hallo Elodie, ich bin Emily, eine Freundin von den Zwillingen“, gab Emily der kleinen Französin die Hand. „Hi, ich bin Aylin, ebenfalls eine Freundin“, lächelte Aylin und strich eine schwarze Locke hinters Ohr. „Schön euch kennen zu lernen“, freute sich Elodie.
„Willst du uns zur Reitstunde begleiten?“, fragte Annemieke, als sie ihren Reitrucksack packte. „Gerne, meine Freundinnen wollten auch kommen und außerdem wollte ich selber auf mal gerne auf einem Pferd sitzen“, klang Elodie begeistert. „Bestimmt erlaubt Rachel, dass wir euch nach der Stunde eine Runde durch die Halle führen“, erwiderte Mathilda. Im nächsten Moment klingelte ihr Handy. „Hi, habt ihr an den Kuchen gedacht?“, meldete sich Aylins Stimme. „Wieso Kuchen?“, war sie total verwirrt. „Für das Bandentreffen!“, antwortete Aylin und klang so, als hätte sie das Selbstverständlichste der Welt gesagt. „Fianna, Lotta, Micky und ich sind doch nachher bei der Tanzstunde, daher kommen wir nicht“, erwiderte sie.
„Danke, dass wir das auch mal erfahren. Dann machen Vivi, Emily und ich es uns alleine im Wohnwagen gemütlich“, machte Aylin einen verärgerten Eindruck und legte kurzerhand auf. Mit betretender Miene drehte sich Mathilda wieder zu ihrer Schwester und Elodie um. Jetzt noch ein Streit mit Aylin, das wäre das Letzte, was sie gerade bräuchte. „Was war denn los?“, erkundigte sich Annemieke. „Aylin ist sauer, dass wir wegen der Tanzstunde nicht zum Bandentreffen kommen“, murmelte sie. „Ach du schreck, es kann sein, dass wir unseren Freundinnen, die nicht in unsere Klasse gehen, davon nichts erzählt haben“, entfuhr es ihrer Zwillingsschwester. „Es ist schon zwanzig nach drei“, erinnerte Elodie sie. „Kommt, wir müssen los!“, drängte Mathilda. Da sie ihre Pferde vor dem Reiten putzen und satteln mussten, kamen sie immer eine halbe Stunde vor dem Beginn der Reitstunde.
Als die Zwillinge ihre Pferde gesattelt hatten, waren die anderen Reitschülerinnen bereits am Warmreiten. Elodie, die hinter der Bande saß, winkte den Schwestern zu, als sie die Halle betraten. Neben ihr saßen Manon, Cecilia und Sofia. „Ihr seid heute aber reichlich spät dran“, begrüßte Rachel die beiden Schwestern. „Heute Springen wir wohl wieder“, meinte Annemieke als sie sich auf Xavers Rücken schwang. In der Mitte der Halle standen ein paar niedrige Hindernisse. Für Emily und Lotta, die in der Talentförderung waren, wäre das vermutliche eine babyleichte Aufgabe. Nur wegen ihrer Freundinnen ritten sie in der Freitagnachmittaggruppe mit. Mathilda hatte heute den Norwegerwallach Falk zugeteilt bekommen, der noch ziemlich neu war. „Antraben und einmal bitte über die Stangen“, ordnete Rachel an.
Lotta, die die Abteilung anführte, ritt zuerst. Dann folgten Fianna und Emily, bei denen es auch ziemlich einfach aussah. Als Mathilda an der Reihe war, wich Falk nach zwei Stangen nach rechts aus. „Du kleiner Faulpelz!“, schimpfte sie. Generell spürte sie gerade, dass sie nicht zu hundert Prozent bei der Sache war. Sie musste zu sehr an die bevorstehende Tanzstunde denken. Einerseits die Vorfreude mit Sven über das Parkett zu schweben, andererseits die Angst sich vor allen zu blamieren. „Mathilda, träumst du eigentlich?“, riss Rachels Stimme sie aus den Gedanken. „Oh sorry!“, stammelte sie. „Einmal bitte durch den Parcour!“, zeigte die Reitlehrerin auf die Hindernisse. Mathilda trieb Falk aus dem Schritt zunächst in den Trab und hinter der zweiten Ecke in den Galopp. Obwohl die Hürde nicht besonders hoch war, streifte Falk die Stange mit seinem Hinterhuf, sodass sie bedrohlich ins Wackeln geriet.
„Das wird nichts“, war sie sich im Klaren. Beim zweiten Sprung wäre sie fast aus dem Sattel katapultiert worden, wenn sie sich nicht reflexartig am Sattelknauf festgeklammert hätte. Das letzte Hindernis ließ ihr Pferd ganz aus. Am Ende musste sie sich eine Menge Tipps und Verbesserungsvorschläge von Rachel anhören. Mathilda reihte sich hinter Vivien ein und guckte in die Richtung der Tribüne, auf der die vier Französinnen saßen und sich unterhielten. Auf gar keinen Fall wollte Mathilda sehen, wie ihre Freundinnen und ihre Schwester den Parcour absolvierten. Garantiert würden sie es eh alle besser machen als sie. Zum Glück saßen nur Elodie und ihre Freundinnen auf der Bank und nicht Sven. Gerade als sie an ihren Freund dachte, fiel ihr ein, dass er heute in der Schule nach einem sehr gut riechenden Parfüm roch.
„Schwesterchen, bist du gerade total vernebelt?“, kicherte Annemieke, die von hinten an sie heran geritten kam. „Sei einfach still!“, fauchte sie als Antwort. Ihr fiel fast ein Stein vom Herzen, als Rachel die Reitstunde beendete. Mathilda winkte Elodie und ihre Freundinnen zu sich in die Halle. Elodie ließ sich von Annemieke führen, Fianna half Sofia in den Sattel und Lotta ließ Cecilia auf Sunshine reiten. Nur Manon blieb unschlüssig vor Mathilda und Falk stehen. „Willst du reiten oder nicht?“, fragte sie die dunkelhaarige Französin. „Eigentlich schon, aber ich wusste nicht, dass ein Pferd so groß sein kann“, erwiderte Manon mit einem leicht ängstlichen Blick. Mathilda holte die Aufsteighilfe herbei, die eigentlich für die Reitanfänger gedacht war. Als Manon auf dem Podest stand, verschwanden ihre Ängste und sie kletterte auf Falks Rücken.
Zuhause drehten sich Mathildas Gedanken darum, was sie sich anziehen sollte. Auf keinen Fall konnte sie sich mit ihrem Stallpulli, an dem einige Pferdehaare klebten, in der Tanzschule blicken lassen. Ratlos blieb sie vor ihrem Schrank stehen. „Zieh dich bloß nicht zu dick an, beim Tanzen wird dir warm“, riet ihr Annemieke. „Wie wäre es damit?“, hielt ihr Elodie ein hellblaues Rüschenhemd vor die Nase. „Nicht schlecht“, fand sie. „Dazu musst du nur noch ein einfarbiges Top anziehen“, sagte die Französin. Mathilda kramte ein dunkelblaues Tanktop aus der Schubblade. „Passt super!“, zeigte Annemieke mit dem Damen nach oben, während sie sich für ein bunt bemustertes halblanges Kleid mit schwarzen Leggins entschied. Elodie bot an, die Zwillinge zu schminken. „Nein danke, das mache ich schon selber“, lehnte Annemieke ab.
Mathilda nahm das Angebot dankend an. Elodie schien sehr geübt im Schminken zu sein und brauchte nicht lange. Das Ergebnis war umwerfend. Mathildas Augen wirkten deutlich größer und runder als zuvor. „Sven wird dich knutschen“, grinste Annemieke. Zum Schluss banden sich die Mädchen ihre Haare zu einem Knoten zusammen und wählten als Schmuck einfache Ohrstecker und ein Silberarmband. Unten klingelte es an der Haustür. Das musste Sven sein. In der Schule hatten sie abgesprochen, dass seine Mutter sie zur Tanzschule bringt und sie nachher abholt. „Hallo, meine Schöne!“, gab Sven Mathilda einen Begrüßungskuss, als sie die Tür öffnete. Hastig zogen die Mädchen ihre Mäntel über und schlüpften in ihre Ballerinas. Heute war die erste offizielle Tanzstunde, zwar hatte ihr Jahrgang an zwei Schnupperstunden teilgenommen, aber heute war das erste richtige Mal. „Kommt!“, winkte Sven die drei Mädchen zum Kleinbus seiner Mutter. „Wie das aussieht?“, kicherte Annemieke plötzlich, „Sven mit drei Mädels!“ „Er ist immer noch meiner“, puffte Mathilda sie in die Seite. Auf der Rückbank begannen sich die Zwillinge aus Spaß zu zanken.
„Macht ihr das öfter?“, sah Elodie belustigt zu. „Na klar!“, nickten die Schwestern synchron. Um zur Tanzschule zu gelangen, musste Svens Mutter durch die ganze Stadt fahren. Auf den Straßen war ernorm viel los. Vor jeder Ampel mussten sie warten. „Es kann doch nicht sein, dass jetzt Feierabendverkehr ist“, murmelte Svens Mutter, als sie für ein paar Minuten im Stau stehen blieb. Der Grund wieso es weder vorwärts noch rückwärts ging, war ein schwerer Unfall auf der Kreuzung vor ihnen. „Verdammt, was mache ich jetzt?“, schimpfte Svens Mutter, „Ich komme an den ganzen Einsatzfahrzeugen nicht mehr vorbei“ „Mama, lass uns hier aussteigen“, bat Sven, „Den halben Kilometer können wir auch laufen“ „Oje, die Tanzstunde fängt in fünf Minuten an“, wurde Annemieke unruhig. „Dann joggen wir halt“, klang Sven pragmatisch. „Haha, in unseren Schuhen könnte das schwierig werden“, verdrehte Mathilda die Augen. Während Sven und Mathilda Hand in Hand vorweg stürmten, folgten ihnen Annemieke und Elodie untergehakt. Noch bevor sie die Tanzschule erreichten, waren sie puterrot im Gesicht.
Die Tanzstunde hatte zum Glück noch nicht angefangen. Ungefähr achtzig Jugendliche warteten im Foyer. Nachdem die Zwillinge und Elodie ihre Jacken aufgehängt hatten, suchten sie ihre Freundinnen. „Ich dachte, ihr kommt nicht mehr“, wurden sie von Lotta begrüßt, die neben Julien stand. „Ist das dein Tanzpartner?“, fragte Annemieke. „Wir haben uns schon als Tanzpaar eingetragen“, nickte ihre Freundin. Die Tür vom Tanzstudio ging auf. „Wir gehören zur Gruppe B“, wusste Fianna bescheid. „Und zum Glück sind wir zusammengeblieben“, freute sich Lotta. Mathilda war mehr als glücklich darüber, dass Katja, Anja und die Zicken aus der Nachbarklasse in der Parallelgruppe waren. Untergehakt betraten die Freundinnen einen abgedunkelten Raum mit einem hellbraunen Parkettboden. „Guten Tag, unsere Namen sind Nadine und Elena“, meldete sich eine der beiden Tanzlehrerinnen zu Wort, die in der Mitte des Kreises standen und ein Head-Set trugen. „Wie man sieht, sind wir Schwestern“, fuhr die Zweite fort, „Natürlich könnt ihr uns duzen und mit Vornamen ansprechen. „Bitte bildet einen Innen- und einen Außenkreis, wir wollen jetzt mit dem Aufwärmen beginnen“, übernahm Nadine wieder.
Der DJ drehte die Musik auf. Die Tanzlehrerinnen gaben die Tanzschritte und die Moves vor. Trotzdem sah es leichter aus, als es war. Mathilda musste sehr aufpassen, um Elodie und Sven nicht aus Versehen auf die Füße zu treten. „Jetzt sucht einen Partner, immer Junge Mädchen!“, beendete Elena die Aufwärmphase. Sven schlang reservierend seine Arme um seine Freundin. Annemieke, die keinen Jungen zum Tanzen gefunden hatte, durfte eine Runde mit Nadine tanzen, die sie nach vorne holte, um mit ihr den Discofox zu demonstrieren. „Good Luck, Schwesterherz!“, raunte Mathilda ihr zu. Annemieke wurde knallrot im Gesicht, als sie von allen Seiten angestarrt wurde. Ihre Schwester war talentierter als sie gedacht hatte und konnte den Tanz bereits nach wenigen Wiederholungen. Nun waren die übrigen Tanzschüler an der Reihe.
„Vor, rück, rück, vor, links, rechts, Drehung“, folgte Mathilda der Stimme der Tanzlehrerin. „Gleich habe ich einen Knoten in meinen Beinen“, dachte sie bei sich und musste sehr auf ihr Gleichgewicht achten. Als die Drehung kam, rutschte sie nach hinten weg. Warum mussten Ballerinas so eine glatte Sohle haben? Zum Glück fing Sven sie rechtzeitig auf. Allerdings hinkten sie ein bisschen hinter den anderen Tanzpaaren her. Mathilda wusste, dass sie keine geborene Tänzerin war. Im nächsten Moment stoppte die Musik. „Jetzt sucht sich jeder einen anderen Tanzpartner“, ordnete Elena an. „Warum das?“, stöhnte Mathilda, die davon wenig begeistert war. Zudem sah sie Sven ungern mit anderen Mädchen tanzen. „Wie wäre es mit uns beiden?“, blieb ein schlaksiger Kerl mit aschblonden Stoppelhaaren und einer schmalen Brille vor ihr stehen. „Gerne“, nickte sie. „Wie ist dein Name?“, wollte er wissen. „Mathilda und deiner?“, fragte sie zurück. „Björn, ich bin in deiner Parallelklasse“, antwortete er. Viel länger konnten sie sich nicht unterhalten, die Musik setzte ein. Björn war auch kein geborener Tänzer, aber auch kein Trampeltier. Als Mathilda kurz nach links schaute, wäre sie vor Neid fast erstarrt. Sven tanzte mit Manon, die zusammen sehr harmonisch wirkten. Warum bekam Sven es mit Manon hundertmal besser hin als mit ihr?
Tanzen war doch anstrengender als die Freundinnen gedacht hatten, am Ende der Stunde bildeten sich Schweißtropfen auf ihren Gesichtern. Immerhin hatten sie heute schon drei Tänze gelernt. „Weißt du eigentlich, dass ich seit kurzem in deiner Straße wohne? Ist nur ein paar Meter entfernt von euch“, klettete sich Björn an Mathilda dran, als sie zur Garderobe gehen wollte. „Kann sein, dass ich dich schon einmal gesehen habe“, erwiderte sie kurz angebunden. In Wirklichkeit war sie sich nicht sicher, ob sie ihn schon einmal in ihrer Straße gesehen hatte. Andererseits kam ihr sein Gesicht nicht ganz unbekannt vor. „Wollen wir unsere Nummern austauschen?“, blieb er an ihr dran. „Sorry, ich muss ganz schnell nach Hause“, schüttelte sie ihn ab. Was erlaubte er sich eigentlich? War es nicht offensichtlich genug, dass sie einen Freund hatte? Zumal Sven sie gerade zärtlich geküsst hatte.
Als die Nervensäge aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, atmete sie erleichtert auf. Endlich war sie diesen aufdringlichen Plagegeist los. Draußen vor der Tanzschule wartete sie auf ihre Freundinnen und Sven. Hoffentlich lief ihr Björn nicht mehr über den Weg. Als er pfeifend um die Ecke kam, versteckte sie sich kurz hinter einer Mülltonne. Erst als sie sich ganz sicher war, dass Björn nicht mehr in ihrer Nähe war, traute sie sich wieder hervor. „Matti, wo warst du eigentlich?“, lief Sven auf sie zu. „Ich habe nur hier draußen gewartet, weil mir drinnen zu warm wurde“, flunkerte sie und erzählte kein Wort von Björn. „Wo sind Micky und Elodie?“, wollte sie im Gegenzug wissen. „Sie sitzen bereits in unserem Auto“, meinte ihr Freund. „Okay“, nickte sie und nahm seine Hand.
„Was hältst du davon, wenn wir gleich noch eine Pizza essen?“, schlug er vor, kurz bevor sie ins Auto stiegen. „Na klar, ich bin dabei“, nahm sie das Angebot an. Nach anderthalb Stunden Tanzen hatte sie schon einen guten Appetit. „Wen habt ihr als Tanzpartner?“, wollte Elodie wissen. „Matti natürlich!“, meinte Sven sofort und griff nach Mathildas Hand. „Und was ist mit dir?“, erkundigte sich Elodie bei Annemieke. „Ich werde Raphael fragen“, strahlte sie. „Kann dein Bauernbub überhaupt tanzen?“, drehte sich Sven neckend zu ihr um. „Nenn ihn noch einmal Bauernbub und dann…“, erwiderte sie im gleichen Tonfall. „wird sie dich killen“, ergänzte Mathilda vorlaut. Insgeheim malte sie sich aus, wie sie mit Sven in einem ultraschicken Ballkleid über das Parkett schwebte. Neben ihr tanzten ihre Schwester und Raphael. Alle ihre Freundinnen und Kumpels umringten sie und machten Fotos. „Hallo Ballqueen, aufwachen! Oder willst du doch in deiner Kutsche einschlafen?“, holte Sven sie in die Realität zurück, als sie vor ihrem Haus standen. Manchmal konnte er wirklich charmant sein, das musste sie ihm lassen.
Eine halbe Stunde später saßen Mathilda und Sven in einem Pizzarestaurant, das ganz in der Nähe ihrer Schule war. „Weißt du, ich bin mehr als glücklich, dass wir nach all den Jahren zusammen gekommen sind. Ich fand dich schon von Anfang an toll“, dachte Sven halblaut nach, während er sanft ihre Hand streichelte. „Na klar, ich dich auch“, sagte sie leise und fügte hinzu, „Obwohl wir dir und den anderen Fischköppen in der sechsten und siebten Klasse am liebsten den Hals umgedreht hätten“ „Das hätten wir einige Male mit euch auch gemacht, besonders als ihr unser Bandenquartier mit pinker Farbe verunstaltet habt“, hielt er dagegen und murmelte leise, „Doch du warst immer die Mutigste und Abenteuerlustigste von deinen Freundinnen, das hat mir immer schon gefallen“
„Und du konntest schon immer deine Freunde noch besser anführen als Jannis“, schmunzelte sie. Unfreiwillig musste sie an den Moment zurückdenken, als er sie einmal in der sechsten Klasse geküsst hatte. Das war sogar noch bevor Kiki die Rote Sieben gegründet hatte. Damals hatte sie ihm aus Wut und Scham eine dicke Ohrfeige verpasst und hatte sich eine Zeit lang geschworen, nie wieder einen Jungen zu küssen. Inzwischen hatten sich die Zeiten geändert. Sowohl die Rote Sieben, als auch die Piranhas waren auf dem Weg erwachsen zu werden. „Pizza Amore“, kam die Bedienung mit einer großen lecker riechenden Partnerpizza an ihren Tisch. „Guten Appetit, Schatz!“, gab Sven ihr einen Kuss und schnitt die Pizza an. „Danke für den wunderschönen Abend zu zweit“, erwiderte sie den Kuss. Endlich war sie mit Sven alleine, ohne dass ihre Schwester und Elodie irgendwo herumlungerten.
Am Mittwoch stand ein Ausflug in den Kletterwald an. Mit von der Partie waren die Franzosen und die Schüler des Französischkurses. Für einen Tag im Vorfrühjahr war es bereits sehr warm und sonnig. Eltern und Lehrer organisierten Fahrgemeinschaften. „Darf ich bei euch mitfahren?“, fragte Fianna die Zwillinge auf dem Lehrerparkplatz. „Gerne“, nickte Annemieke, „Elodie wollte sowieso mit ihren Freundinnen mitfahren“ Als Mathilda ihren Namen hörte, begannen ihre Augen automatisch den Parkplatz nach ihr abzusuchen. Schließlich entdeckte sie Elodie zusammen mit Manon, Sofia und Sven. Die Vier schienen sich angeregt zu unterhalten. Mathilda wurde anders, als sie ihren Freund mit den drei Französinnen sah.
„Dein Freund scheint sich wohl blendend mit ihnen zu verstehen“, sah Annemieke amüsiert dabei zu, wie die Mädchen versuchten Sven einen französischen Kinderreim beizubringen und zwischendrin in schallendes Gelächter ausbrachen. „Ja, natürlich sehe ich das“, brummte sie launisch, „Oder glaubst du, dass ich Tomaten auf den Augen und Bohnen in den Ohren habe?“ „Mach dir nichts draus, sie haben nur ein wenig Spaß zusammen“, legte ihr Fianna die Hand auf die Schulter. „Vielleicht reagiere ich auch ein bisschen über“, seufzte Mathilda und versuchte alle ihre Zweifel abzuschütteln. „Komm Schwesterherz, wir werden einen wunderschönen Tag im Kletterwald haben“, hakte sich Annemieke bei ihr unter. „Der Ansicht bin ich auch“, pflichtete ihr Fianna bei, „Seht nur, wie die Sonne strahlt“ „Wo ist eigentlich Lotta?“, fragte Annemieke plötzlich. „Drüben bei Julien“, deutete Mathilda in ihre Richtung. In dem Moment als die drei Freundinnen zu Lotta rüberschauten, gaben Julien und sie sich einen Kuss. „Offenbar hat es sie richtig erwischt“, stellte Fianna fest.
Während der Fahrt redeten die Mädchen darüber, wer mit wem in eine Gruppe ging. Wie letztens im Unterricht besprochen, sollten Dreierteams gebildet werden. „Micky, wir müssen unbedingt mit Sven in eine Gruppe“, stupste Mathilda ihre Schwester an. „Was ist mit mir?“, sah Fianna die Zwillinge betreten an. „Frag doch Lotta und Julien“, wiegelte Mathilda sie ab, worauf Fianna leicht schmollend die Mundwinkel nach unten zog. „Jetzt macht doch nicht so ein Theater darum!“, versuchte Annemieke die Wogen zu glätten, „Die Gruppen werden wir eh erst gleich einteilen“ Kurz darauf bogen sie auf einen Parkplatz ein, auf dem bereits mehrere ihrer Mitschüler warteten. Hastig schnappte Mathilda sich ihren Rucksack und lief los, um Sven zu suchen.
Am Ende des Parkplatzes entdeckte sie ihn mit Elodie und Manon auf einer Bank. Er saß grinsend zwischen ihnen. „Falls du mich fragen willst, ob wir ein Team bilden“, begann er, „Aber ich mache heute mal mit Manon und Elo zusammen“ „Danke, dass du mich abservierst, ohne mich begrüßt zu haben“, fauchte Mathilda und drehte ihm entschlossen den Rücken zu. „Hey, so war das nicht gemeint“, eilte ihr Sven hinterher. „Lass mich in Ruhe!“, blaffte sie. „Hey, was ist mit dir los?“, kam Annemieke herbei geeilt, die sich Sorgen zu machen schien, dass Mathilda richtig am Kochen war. „Sven macht mit den beiden Kühen“, brachte sie mit gepresster Stimme hervor. „Lass ihn doch, er will doch auch mal neue Leute kennen lernen“, versuchte Annemieke sie zu besänftigen und nahm sie kurz in den Arm. „Mit wem machen wir jetzt?“, brummte Mathilda. „Keine Ahnung, nur wir sind noch übrig“, zuckte ihre Schwester mit den Achseln. Fianna hatte es doch vorgezogen mit Lotta und Julien ein Team zu bilden.
Dass die Zwillinge bis zum Schluss übrig blieben, gab es nur ganz selten. Gerade fühlte es sich für Mathilda wie eine persönliche Niederlage an. „Wärt ihr bereit Björn bei euch aufzunehmen?“, kam Frau Heinreich mit dem einzigen Schüler auf sie zu, der noch keine Gruppe hatte. „Von mir aus kann er mit uns machen“, zeigte sich Annemieke aufgeschlossen. Mathilda stöhnte innerlich. Nicht schon wieder dieser Björn! Hoffentlich fragte er sie heute nicht aus. Schweigend ging das Dreierteam zur Hütte, wo sie ihre Kletterausrüstung bekamen. Die Guides erklärten ihnen die wichtigsten Verhaltensregeln und zeigten ihnen, wie man sich mit den Karabinerhaken richtig in die Stahlseilsicherung einhängte.
„Jeder von euch ist für die eigene Sicherheit verantwortlich“, gab ihnen ein Klettertrainer auf den Weg, „Trotzdem solltet ihr auch ein Auge auf eure Kameraden haben, dass sie keine Fehler machen. Deshalb werden überall im Park Sicherheitsdialoge geführt. Niemals dürft ihr beide Karabiner gleichzeitig ausgeklinkt haben. Zudem werden die Karabiner entgegengesetzt eingehängt, damit ihr nicht aus Versehen alle beide auf einmal öffnet“ Nachdem jeder den leichtesten Parcour durchlaufen war, der an maximal zwei Meter hoch war, konnten sich die Schüler ihre Kletterrouten selbst aussuchen und verteilten sich auf die Stationen.
„Ich bin dafür, dass wir mit einer leichten Route anfangen“, war Annemieke der Meinung, worauf Björn ihr mit einem Nicken zustimmte. „Nicht da, wo Sven ist“, entschied Mathilda rigoros dagegen. „Meine Güte, Sven ist doch dein Freund. Was hast du plötzlich gegen ihn?“, legte ihre Zwillingsschwester ihr die Hände auf die Schulter. „Ist dir blindes Huhn noch gar nicht aufgefallen, dass sich Sven nur noch mit diesen französischen Zicken amüsiert und mich dafür stehen lässt? Immer redest du alles schön!“, fuhr Mathilda sie zickig von der Seite an. „Tue ich gar nicht! Außerdem sollst du nicht so gemein über unsere französischen Freunde reden!“, schoss Annemieke im gleichen Tonfall zurück. „Von wegen, du würdest nicht alles schön reden? Das machst du ununterbrochen! Ich habe langsam das Gefühl, dass du auf der Seite von Elodie, Manon und Sven stehst!“, brauste Mathilda auf und verpasste ihr einen heftigen Stoß, dass sie nach hinten stolperte und fast hinfiel.
Annemieke drehte sich mit hängenden Schultern von ihr weg und ging alleine auf den Startpunkt einer Kletterroute zu. „Ich glaube, es sollte nicht Sinn der Sache sein, dass wir uns im Streit trennen. Sollten wir nicht gemeinsam Spaß haben?“, mischte sich Björn ein. Jetzt begriff Mathilda, was sie getan hatte. Sie hatte ihre eigene Schwester verletzt, wofür sie sich umso mehr schämte. Ihr eigener Zwilling war sonst die Person in ihrem Leben, der sie am besten vertrauen konnte und immer für sie da war. „Micky, das habe ich nicht so gemeint, es tut mir Leid, dass ich so fies zu dir war“, lief sie ihr hinterher. „Schon gut, ich habe auch keine Lust mehr auf Streit“, zwang sich ihre Schwester zu einem Lächeln. Im nächsten Moment lagen sich die Schwestern in den Armen. „Schön, dass es dich gibt“, flüsterte sie Annemieke ins Ohr. „Aber ohne dich wäre ich genauso aufgeschmissen“, erwiderte ihr Zwilling. „Wie wäre es, wenn wir mal zum Klettern kommen?“, tauchte Björn vor ihnen auf.
„Natürlich“, nickte Annemieke, „Wir lassen uns heute von niemanden mehr den Spaß verderben“ „Ganz genau!“, strahlte Mathilda abenteuerlustig, die sich als Erste in die Sicherung einhängte und auf die erste Plattform kletterte. Ein paar Meter vor ihnen waren Sven und seine beiden Französinnen. Als sie zu dritt auf einer Plattform ein Selfie knipsten, platzte sich innerlich vor Eifersucht. Doch gegenüber Björn und ihrer Schwester ließ sie sich nichts anmerken. Über Kunststofflianen, Hängebrücken, Autoreifen, Seilbahnen und Spinnennetze gelangten sie von einer Plattform zur nächsten. Das Highlight war ein Trampolin zwischen den Bäumen. „Was hält ihr davon, wenn wir den Abenteuerparcour klettern?“, schlug Björn vor. „Klingt gut“, fand Annemieke.
Mathilda hätte im nächsten Moment ausrasten können. Zwischen den Bäumen entdeckte sie Sven, der seinen Arm um Manon gelegt hatte und sich mit ihr ablichten ließ. Offenbar hatten sie viel Spaß. „Ignoriere diesen Blödmann!“, sagte Mathildas innere Stimme. Ausgerechnet Katja war diejenige, die ihr hinterher lief und sie am Ärmel festhielt. „Ich will dir eins sagen“, wisperte sie, „Sven und Manon harmonieren sehr gut zusammen und wie ich erfahren habe, steht er auf ihre ihr schönes Gesicht und ihre dunklen Haare“ „Woher willst du das wissen?“, sah Mathilda sie groß an. „Ich habe eben mitgehört und wollte dich informieren, dass dein Freund dabei ist fremd zu gehen“, erwiderte Katja. Wortlos drehte sich Mathilda um und ließ sie stehen.
Am Nachmittag ging Mathilda einkaufen. Obst, Milch, Käse und Kaffee sollte sie besorgen. Nachdenklich blieb sie in der Kosmetikabteilung stehen. Drüben stand ein ganzes Regal mit Haarfarben. Sollte sie es wagen oder nicht? Mit beherzten Schritten hielt sie darauf zu. Katjas Worte hatten ihr doch ein wenig zu denken gegeben. Vielleicht stand Sven wirklich mehr auf dunkle Haare als auf ihr helles Blond. Bevor sie weiter nachdachte, griff sie eine Packung. „Dunkles Schokobraun“, konnte sie entziffern. „Also gut, ich probiere es mal!“, dachte sie zufrieden und ging zur Kasse. Zuhause ging sie als erstes ins Bad, schloss die Tür hinter sich ab und zog einen Bademantel an. Summend machte sie sich ans Werk, massierte die Farbe in ihre Haare und ließ sie anschließend zwanzig Minuten einwirken. Danach wusch sie die überschüssige Farbe unter der Dusche aus.
Als sie sich zum ersten Mal im Spiegel betrachtete, bekam sie einen kleinen Schreck. Es sah so ungewohnt aus, dass sie auf einmal dunkle, fast schwarze Haare hatte. Als sie ihre Haare föhnte, glättete und zu einem Seitenscheitel kämmte, konnten sie sich mit ihrem neuen Look anfreunden. Geglättet hingen ihr ihre Haare fast bis zu ihrer Schulter herunter. Kurzerhand machte sie mit ihrem Handy ein Selfie und schickte es an Kiki. „Oh mein Gott, Matti, ist das dein Ernst?“, antwortete ihre beste Freundin kurz darauf. „Ich wollte nur mal was neues ausprobieren“, schrieb sie zurück. „Ich finde es nicht schlecht, aber deine Naturhaarfarbe steht dir hundertmal besser“, meinte Kiki, die von Natur aus eine ehrliche Haut war.
Einen Moment später begegnete Mathilda ihrer Mutter und Annemieke auf der Treppe. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“, blieb ihrer Zwillingsschwester der Mund offen stehen. „Ich dachte, du wolltest dir deine Haare niemals färben“, meinte ihre Mutter. „Einmal ist immer das erste Mal“, sagte Mathilda. „Es sieht ganz okay aus, aber ich weiß nicht, es passt nicht ganz zu dir“, war Annemieke der gleichen Meinung wie Kiki. „Ich will dir mal was sagen“, zog Mathilda sie in ihr Zimmer. Annemieke erzählte ihr die Begegnung mit Katja, was sie über Sven und Manon erfahren hatte.
„So eine blöde Pute, sie erzählt mal garantiert wieder Mist“, ärgerte sich ihre Schwester und fügte hinzu, „Und dann färbst du noch deine Haare dunkel, weil sie behauptet, dass Sven angeblich auf braune bis schwarze Haare steht. Ich dachte, er mag deine kurzen hellblonden Locken“ „Ich weiß, wir sind Zwillinge und dazu noch eineiige“, seufzte sie, „Nimmst du mir übel, dass wir jetzt unterschiedliche Haarfarben haben?“ „Ach was!“, lachte Annemieke, „Ich hatte doch auch schon einmal rote Haare. Erinnerst du dich noch?“ „Na klar, das sah echt komisch aus“, nickte Mathilda. „Ich färbe mir sie auch nie wieder so, keine Sorge“, versicherte sie ihr. Im nächsten Moment zwitscherte Mathildas Handy. „Hi Matti, es tut mir Leid, dass ich dich vorhin im Kletterpark stehen gelassen habe. Damit du es nicht falsch verstehst, Manon und ich sind bloß gute Freunde“, schrieb Sven.
Mathilda konnte nicht länger sauer auf ihren Freund sein. Sven kam vorbei und brachte Schokolade und Weingummi mit. „Ich mag deine neue Frisur, obwohl ich dich mit blonden Haaren auch sehr mag“, sagte er zu ihrer neuen Frisur. Während sie im Garten auf dem Apfelbaum saßen und sich gegenseitig mit Naschkram fütterten, konnte Mathilda es nicht unterlassen ihn wegen der einen Sache anzusprechen. „Stimmt es, dass du Manon sehr hübsch findest?“, fragte sie vorsichtig. „Manon ist ein hübsches Mädchen und eine gute Kumpeline, aber du bist immer noch meine Freundin und das auch mit der neuen Haarfarbe. Das ist immer noch ein Unterschied“, meinte Sven. Um all ihre Zweifel zu vertreiben, küsste er sie lange und zärtlich auf ihre Lippen.
„Du Kusskönig!“, lachte sie und küsste ihm im Gegenzug auf die Wange. „Soll ich ein Foto machen?“, tauchte Annemieke mit ihrem Handy unter dem Apfelbaum auf. Grinsend ließen sich die Beiden von ihr ablichten. „Ich schicke das Bild an unsere Freundinnen, wenn ich darf“, rief Annemieke, die wieder ins Haus verschwand. „Klaro, mach das!“, gab Mathilda ihr okay. Im nächsten Moment vibrierte ihr Handy, welches sie aus ihrer Hosentasche zog. Annemieke hatte das Bild bereits in den Roten-Sieben-Chat gepostet. „Ihr seid so ein süßes Paar!“, kommentierte Kiki. „Matti + Sven = Ein Herz und eine Seele“, schrieb Aylin drunter. „Sieht echt fesch aus!“, fand Sven, als sie ihm das Foto zeigte. Endlich war Mathildas kleine perfekte Welt wieder heile.
Zwei Wochen bevor der Ball stattfinden sollte, gingen die Zwillinge mit Lotta, Fianna, Elodie und Emily in die Stadt. „Mission Ballkleid“ stand ganz weit oben auf ihrer To-Do-Liste. Obendrein wollte sich Lotta mit Schminke und Hautcremes eindecken. Die Zwillinge hatten jeweils 200€ von ihren Eltern mitgegeben bekommen. Das musste für ein Kleid, Schuhe und Schmuck reichen. „Mein Kleid gibt es noch!“, war Annemieke außer sich vor Freude, als sie das feuerrote Ballkleid auf der Stange entdeckte. Mathilda, die vor wenigen Wochen schon einmal in diesem Laden gewesen war, hatte sich zuvor noch gar nicht umgeschaut. „Seht mal her, steht mir das?“, tänzelte Fianna in einem königsblauen trägerlosen Kleid aus der Kabine. „Bombe!“, kommentierte Lotta mit dem Daumen nach oben. „Was ist mit dir, Matti? Noch nicht fündig geworden?“, stupste Emily Mathilda an. „Hm, ich könnte mal das grüne Kleid anprobieren, aber ob es zu mir passt?“, überlegte sie.
„Klar, da du jetzt dunkle Haare hast, steht es dir bestimmt“, klang Emily überzeugt. Mathilda nahm das smaragdgrüne Kleid mit den Spagettiträgern von der Stange und verzog sich in eine leere Umkleidekabine. Als sie sich damit im Spiegel sah, jubelte sie innerlich vor Freude. „Matti, bleib mal stehen!“, forderte Lotta sie auf, als sie vor ihre Freundinnen trat und machte ein Foto. „Tres belle!“, machte Elodie ihr ein Kompliment. „Dazu noch silberner oder grüner Schmuck, sowie die passenden Schuhe und dein Look ist perfekt“, riet Fianna. „Sven wird vor Frühlingsgefühlen explodieren!“, prophezeite Lotta, „Matti, die Nymphe der Frühlingsnacht“ „Beziehungsweise des Frühlingsballs“, korrigierte Emily sie. „Hey Mädels, ich habe tolle Neuigkeiten!“, hielt Fianna ihr Handy hoch. „Welche denn?“, fragten ihre Freundinnen sie mehrstimmig. „Tessa kommt uns in den Osterferien wieder besuchen“ „Yeah!“, gab ihr Lotta einen Highfive. Die Zwillinge und Emily ließen sich von ihrer Freude anstecken und kurz darauf klatschten sich die Mädchen gegenseitig ab.
Jedes Mädchen hatte sein Kleid gefunden. Lotta entschied sich für ein schwarzweißes Zebrakleid, während Elodie sich unsterblich ein dunkelblaues Kleid mit weißen Punkten verliebte. Danach waren die Schuhe an der Reihe. In der Einkaufspassage hatte ein neues Schuhcenter eröffnet, auf das die Freundinnen zusteuerten. „Auf diesen Stelzen kann ich nicht laufen“, zog Annemieke die schwarzen Heighheels schnell wieder aus. Bis auf Lotta, die auf hohe Absätze bestand, wählten die anderen Mädchen flache Tanzschuhe oder Ballerinas. Annemieke und Emily konnten Mathilda dazu überreden ein Paar weißer Ballerinas mit schwarzer Schleife mitzunehmen. „Huhu, wie wäre es damit?“, hob Fianna ihren Fuß mit einer goldenen Sandale. „Todschick!“, kommentierte Lotta trocken, sodass die Mädchen in ein schallendes Gelächter ausbrachen. „Dann lieber doch nicht“, gluckste Fianna und packte die Sandalen zurück in die Schachtel.
„Ich finde sie schön, aber sie passen leider nicht zu meinem Kleid“, sagte Elodie und probierte dunkelblaue Riemchensandalen an, die einen kleinen Absatz hatten. „Wunderbar!“, fand Lotta. Als die Mädchen ihre Schuhe bezahlt hatten, zählten die Zwillinge ihr Geld. „Ich habe noch 50 Euro“, sagte Annemieke. „Und ich immerhin 61“, schmunzelte Mathilda, die noch mehr eingespart hatte als ihre Schwester. „Das müsste noch für Schmuck vollkommen ausreichen“, murmelte sie und steckte ihr Portemonnaie in ihre Handtasche. „Euch beiden würden bestimmt Ohrringe und eine Halskette stehen“, schaltete sich Elodie in ihr Gespräch ein. „Ich brauche auch noch die passenden Ohrringe“, meldete sich Lotta zu Wort. „Gibt es zu deinem Kleid überhaupt passende Ohrringe?“, sah Fianna sie zweifelnd an. „Na klar, entweder in Silbern, Weiß oder Schwarz“, nickte Lotta.
Mit vollen Einkaufstaschen zogen die Mädchen die Fußgängerzone entlang. „Langsam habe ich echt Hunger“, knurrte Emily der Magen. „Ich auch“, nickte Fianna. „Was hält ihr davon, wenn wir ein Eis essen?“, schlug Lotta vor. „Eis? Ist es dafür nicht ein bisschen kalt?“, klang Annemieke nicht sehr überzeugt. Obwohl heute ein schöner Märztag war, war es noch ziemlich frisch. „Ich habe eine andere Idee“, meldete sich Emily zu Wort, „Neben dem Theater hat ein neues Cafe eröffnet. Dort gibt es leckere Waffeln, die man sich mit Obst, einer Kugel Eis und Süßigkeiten belegen lassen kann. Außerdem haben sie gute Milchshakes im Angebot“ „Das klingt fantastisch!“, jubelte Fianna. „Yeah, das gibt die volle Dröhnung!“, freute sich Mathilda. „Genau, Dauershoppen macht hungrig!“, pflichtete ihr ihre Zwillingsschwester bei. „Auf zum Cafe!“, blies Mathilda zum Aufbruch. „Waffeln nehmt euch in Acht, wir kommen!“, flachste Emily und hängte sich gutgelaunt bei den Zwillingen ein.
Obwohl das Cafe gut besucht war, fanden die Mädchen einen großen Tisch hinter einem beleuchteten Springbrunnen. Sofort kam eine junge Kellnerin und nahm die Wünsche auf. „Wenn man uns gleichzeitig bedienen will, muss man mit fünf Mann wiederkommen“, grinste Lotta. „Aber das volle Programm haben wir uns verdient“, lehnte sich Fianna zurück. Mathilda knipste aus Langweile ein paar Selfies mit ihren Freundinnen, die sie an Kiki und Sven sendete. „Neid, ich will auch dabei sein!“, antwortete Kiki nach wenigen Sekunden. „Echt schade, dass wir so selten etwas zusammen unternehmen können“, antwortete Mathilda mit großem Bedauern. Wieso musste ihre beste Freundin letztes Schuljahr nur nach Mainz ziehen? Es war schon fast zwei Monate her, dass Kiki das letzte Mal in Freudenburg zu Besuch war. Zwar sendeten sie sich jeden Tag Sprachnachrichten und chatteten, aber das war kein Vergleich dazu voreinander stehen und richtig miteinander zu reden.
Emily sollte Recht behalten. Die Waffel war die leckerste, die Mathilda je in ihrem Leben gegessen hatte. „Ich kann mir glatt eine zweite bestellen“, sagte sie mit halbvollem Mund, „Sieben Euro habe ich noch“ „Du Vielfraß, denk an deine Figur!“, tadelte Fianna sie lachend. „Das habe ich mir in Nullkomma nichts abgearbeitet“, konterte sie und musste an ihr anstrengendes Hockeytraining denken. „Seht mal, Manon hat mir ein Foto gesendet“, hielt Elodie den Mädchen ihr Handy hin. „Darf ich auch mal sehen?“, beugte sich Mathilda über Fiannas Schulter. „Das ist ja Sven“, stellte sie fest. „Manon und Julie sehen sich gerade ein Spiel von Svens Mannschaft an und gerade hat er ein Tor geschossen“, meinte Elodie. Wieso sah sich ausgerechnet Manon ein Spiel von Sven an? Mit einem Mal blieb Mathilda die Waffel im Hals stecken und die Lust auf eine zweite Waffel verflog in Sekundenschnelle.
„Was ist mit dir los, Matti?“, wunderte sich Lotta. „Nichts“, erwiderte sie ausweichend. „Was ist daran so schlimm, dass Manon sich ein Fußballspiel von Sven anschaut“, wunderte sich auch Fianna. „Weil er mein Freund ist und sie ihm schon seit Wochen schöne Augen macht. Ist euch nicht entgangen, wie gut sie sich verstehen?“, zischte sie. „Nun reg dich nicht so auf!“, streichelte ihr Emily über den Rücken. Eigentlich hatte ihre Freundin Recht, dass sie gerade überreagierte. Gab es ein Heilmittel gegen ihre stets aufflammende Eifersucht? „Habt ihr eigentlich schon die Einladungen verteilt?“, wechselte Annemieke das Gesprächsthema. „Na klar, selbst Aylin und Vivi wollen kommen“, nickte Lotta.
„Das freut mich, Tessa wird leider nicht dabei sein, da sie ein paar Tage später kommt“, meinte Fianna. „Kiki kommt auch“, warf Mathilda ein, „Und ratet mal, mit wem sie tanzen wird?“ „Bestimmt mit ihrem Freund“, antwortete Emily sofort. Mathilda schüttelte den Kopf und sagte, „Nein, Lennart hatte sie gefragt, ob sie mit ihm zum Ball geht“ „Wie bitte?“, horchte Emily auf, „Seit wann ist er an Kiki interessiert?“ „Nur zu eurer Information Kiki hat letztens mit ihrem Freund Schluss gemacht“, brachte Mathilda ihre Freundinnen auf den neusten Stand. „Davon hat sie mir nichts gesagt“, klang Lotta leicht erschüttert. „War auch erst vorgestern“, erwiderte sie. „Mit wem gehst du auf den Ball?“, stupste Annemieke Emily an. „Mit Manuel natürlich“, erwiderte ihre beste Freundin.
Die Tage zogen ins Land. Mittlerweile hatten die Zwillinge das Gefühl, dass Elodie zu ihrer Familie gehörte. In den letzten zehn Tagen vor dem Frühlingsball fanden gleich an drei Tagen Tanzstunden statt, weshalb die Zwillinge das Hockeytraining sausen ließen. Mathilda war froh, dass fast alle Tänze mit Sven fast reibungslos liefen. Manon hatte zum Glück Finn als festen Tanzpartner abbekommen, sodass sie ihr Sven nicht mehr streitig machen konnte. Genau eine Woche vor dem Ball fanden Mathilda und Elodie eine sehr traurige Annemieke im Wohnzimmer vor. „Was ist los?“, legte Elodie ihr die Hände auf die Knie. „Raphael hat mich vorhin angerufen, er kann nicht zum Ball kommen. Sein Opa ist vorgestern gestorben und soll genau einen Tag nach unserem Frühlingsball beerdigt werden“, war Annemieke den Tränen nahe.
„Das ist großer Mist“, nahm Mathilda sie in den Arm, „Ich kann mir vorstellen, dass du dich schon sehr darauf gefreut hast und das deine gesamte Vorfreude zunichte gemacht worden ist, ist einfach nur jammerschade“ „Und ich weiß nicht, mit wem ich überhaupt tanzen soll“, fuhr Annemieke seufzend fort. „Ich habe mitgekriegt, dass Michael Interesse hätte dir auf den Ball zu gehen“, sagte Mathilda. „Hahaha, dann könnten wir uns gleich zur Wahl des trotteligsten Paares aufstellen lassen“, funkelte ihre Schwester sie wütend an. Mathilda wusste, dass Michael schon länger auf ihre Zwillingsschwester stand, aber Annemieke erwiderte seine Gefühle nicht. „Und soweit ich weiß, hat Björn auch keine Tanzpartnerin“, fuhr Mathilda fort. „Ich könnte ihn mal fragen“, murmelte Annemieke, die immer noch sehr geknickt wirkte. „Besser ihn, als gar keinen Tanzpartner“, meinte Elodie. Obwohl Mathilda Björn anfangs als lästiges Anhängsel empfand, war er durchaus nett und voll in Ordnung. Ab und zu begegneten sie ihm auf der Straße und wechselten ein paar Worte mit ihm.
Den ganzen Nachmittag lang besserte sich Annemiekes Laune nicht. „Komm mit!“, zog Mathilda Elodie mit sich in die Küche, „Wir müssen Micky aufmuntern und da hätte ich schon eine Idee“ Aus der hintersten Ecke holte sie eine Poffertjespfanne hervor. „Was ist das denn?“, machte Elodie große Augen. „Damit kann man Poffertjes machen“, sagte sie und musste ihrer Gastschülerin erklären, dass Poffertjes kleine Pfannkuchen aus den Niederlanden waren. „Seid ihr aus den Niederlanden?“, wunderte sich Elodie. „Nein, aber unser Vater kommt da her“, murmelte sie und schlug ein niederländisches Kochbuch von ihren Großeltern auf. Obwohl sie noch bis vor ein paar Jahren fließend Niederländisch sprach, waren ihre Sprachkenntnisse inzwischen leicht eingerostet, sodass sie sogar einmal ihre Wörterbuch-App ihres Handys zu Hilfe nehmen musste. Früher hatten die Piranhas und andere Mitschüler die Zwillinge als Kaasköppe bezeichnet und sie belächelt, sobald sie etwas auf Niederländisch redeten. Irgendwann legte Mathilda ihren Tick ab zwischendurch niederländisch zu sprechen, da sie es irgendwann selber albern fand.
Überrascht sah Annemieke von ihrem Handy auf, als Mathilda und Elodie die Poffertjes mit der Vanillesoße und den Himbeeren hineintrugen. „Habt ihr im Ernst Poffertjes gemacht? Das ist ja fein, die habe ich so lange nicht mehr gegessen“, schlug Annemiekes Herz beim Anblick der goldbraunen Poffertjes höher. „Wir wollten dich nur ein bisschen überraschen“, lächelte Elodie. „Das ist euch wirklich gut gelungen“, lachte Annemieke aus vollem Herzen und war wieder die Alte. Mit Rosenlimonade stießen sie auf den geretteten Nachmittag an. Hungrig machten sich die Mädchen über die kleinen Pfannkuchen her. „Uff, das ist so viel, das schaffen wir gar nicht“, stopfte Mathilda sich den nächsten Poffertjes rein, obwohl sie schon satt war.
„Dann lassen wir eben etwas für unsere Eltern übrig“, meinte ihre Schwester. „Übrigens Raffi kommt mich erst im Mai besuchen, was noch einige Wochen hin ist“, teilte Annemieke ihnen mit. „Das freut mich für dich“, setzte sich Mathilda neben sie auf die Couch, „Garantiert können wir vier etwas zusammen unternehmen, also: Sven, Raffi, du und ich“ „Ja, wir können ins Kino gehen“, leuchteten die Augen ihrer Schwester. Ihre Lieblingsserie hatte angefangen, daher machten es sich die Mädchen bequem. Mathilda und Elodie tauschten sich siegesgewisse Blicke aus, sie hatten es geschafft, dass Annemieke wieder lachen konnte und nicht mehr all zu sehr an die große Enttäuschung denken musste. Fröhlich stießen sie auf einen gemütlichen Abend an.
Total nervös saß Mathilda im Auto und betrachtete ihr Gesicht im Handspiegel, den sie aus ihrem Handtäschchen herausgeholt hatte. Waren der rote Lippenstift und die herunterhängenden Ohrringe mit den vielen grünen Perlen zu viel des Guten? „Das geht schon!“, versicherte ihr Annemieke. „Tu es la princesse de Sven“, meinte Elodie. Obwohl ihre Eltern heute woanders eingeladen waren, brachten sie ihre Töchter und Elodie zur Schule. In der großen Aula sollte der Ball stattfinden. Auf dem Lehrerparkplatz herrschte viel Trubel. „Viel Spaß!“, wünschte ihnen ihr Vater. „Habt einen guten Tanz und schaut nicht zu tief ins Glas“, gab ihnen ihre Mutter auf den Weg und gab ihren Töchtern einen Abschiedskuss. Von Elodie verabschiedete sie sich mit einer Umarmung.
„Hallihallo!“, winkten ihnen Emily, Kiki und Fianna zu. „Kikiii!“, jubelte Mathilda und eilte mit schnellen Schritten auf ihre Freundin zu. „Mattiii!“, rief Kiki. Die beiden Mädchen fielen sich um den Hals, als hätten sie sich Jahrzehnte nicht gesehen. Kiki trug auch ein dunkelgrünes Kleid, welches sie sogar geschneidert hatte. „Damit kannst du Ballkönigin werden!“, legte ihr Annemieke den Arm um die Schulter. „Nanu, habt ihr eine neue Freundin?“, wunderte sich Kiki. „Das Elodie, unsere Austauschschülerin aus Frankreich“, stellte Mathilda sie vor. „Hi, ich bin Manuel, der Freundin von Emily“, trat ein großer hübscher Junge mit dunkelblonden Haaren in den Kreis, der allen die Hand gab. „Wo sind eigentlich die Jungs?“, fragte sich Fianna, die mit Pierre tanzte. „Bis jetzt habe ich noch keine Spur von ihnen gesehen“, zuckte Annemieke mit den Achseln. „Hallo Mädels!“, eilten Aylin und Vivien auf sie zu. „Hey, schön dass ihr uns gefunden habt!“, freute sich Kiki und umarmte sie. Nun fehlte nur noch Lotta. Gut gelaunt hakten sich die Zwillinge bei Kiki unter und überquerten die Straße.
„Guten Abend, meine Dame!“, reichte Sven Mathilda in der Pausenhalle eine Rose und küsste sie kurz auf ihre Lippen. „Du hast ja Lippenstift drauf“, stellte er fest. „Elodie hat mich dazu überredet“, schmunzelte sie und griff vor lauter Aufregung nach seiner Hand. Mit seiner freien Hand steckte er ihr ein weißes Blümchen in ihre Haare. In Zweierreihen stellten sich die Tanzpaare vor dem Eingang der Aula auf. Nervös fummelte Mathilda an ihrem Pandora-Armband herum, bis Sven sie zärtlich auf die Wange küsste. Als von drinnen Musik ertönte, ging es los. Ein Paar nach dem anderen zog in den ummodellierten Ballsaal ein, der mit vielen bunten Blumen geschmückt war. Außen standen Tische, auf den Gläser, Getränke und Essen standen. Auf der Bühne spielten ein ganzes Orchester und eine Bigband.
„Einmal stehen bleiben!“, grinsend blieb Lottas Mutter vor ihnen stehen, die Fotografin war und anscheinend dienstlich hier war. Mathilda setzte ihr nettestes Lächeln auf, obwohl die Frau nicht sonderlich gut leiden konnte. Bestimmt war Lotta auch nicht sonderlich angetan, dass sie hier nun auch noch mit ihrer Mutter konfrontiert war. Nachdem sie die Ansprache des Schulleiters und einiger Vertreter des Schulfördervereins über sich ergehen ließen, legte das Orchester los. Den Wiener Walzer beherrschten Sven und Mathilda aus dem FF, erst heute Vormittag hatten sie die Tänze im Wohnzimmer geübt. Neben ihnen tanzten Kiki und Lennart, die sich verliebt in die Augen schauten. Immer wieder nahmen Kiki und Mathilda Blickkontakt auf und strahlten sich an. „Das wird bestimmt der schönste Abend seit langem!“, platzten in Mathilda eine Ladung Schmetterlinge. Ihr Traum mit Sven über das Parkett zu schweben, erfüllte sich in diesem Moment. Zudem war Kiki wieder da und nachher würde es noch leckeres Essen geben.
Der Discofox und der Chacha gingen ihnen noch leichter von der Hand als der Walzer. Von mal zu mal fühlte sich Mathilda freier und leichter, als würde sie wie eine kleine Elfe davon fliegen. Mit seinen klaren hellblauen Augen, seiner erwachsenen Stimme, seinem athletischen Körper und den hellblonden Haare, war er einfach der schönste Junge auf dieser Welt. Bevor sie weiter ins Schwärmen geriet, wurde der nächste Tanz angekündigt. Mathilda liebte lebhaftere Tänze, weshalb sie besonders den französischen Bauerntanz toll fand. Hüpfend und drehend bewegten sie sich über das Parkett. Beinahe wären sie einmal mit Annemieke und Björn kollidiert, wenn sie nicht rechtzeitig zur Seite gehüpft wären. „Es ist der schönste Abend meines Lebens!“, strahlte Mathilda in einer kurzen Pause, bevor es mit dem nächsten Tanz weiter ging. Während des Lassotanzes fühlte sie sich glücklich, dass sie nur Ballerinas und keine Heighheels trug. Zum Schluss wurde ein ruhiger Walzer getanzt. Glücklich, aber auch etwas erschöpft ließ sie sich in Svens Arme fallen. Gleich würde das Büfett eröffnet werden und im Anschluss stieg noch eine große Party.
Am Büfett trafen sich die Roten Siebenerinnen wieder. „Wisst ihr was, meine Mutter betrinkt sich jetzt schon! Sie ist nur am rumgackern und redet Bockmist. Wenn noch mehr Schüler wüssten, dass sie meine Mutter ist, wäre ich blamiert“, ereiferte sich Lotta, die total geladen zu sein schien. „Oh du Arme, ich kann mir vorstellen, dass du das nicht lustig findest“, richtete sich Fianna mitleidsvoll an sie. „Schlimmer, sie flirtet mit Herrn Kempf“, zitterte Lottas Stimme vor Wut. „Ach du heilige Scheiße!“, entfuhr es Emily. Herr Kempf war der junge Physiklehrer der 10a, erst letztes Jahr beendete er sein Referendariat. „Deine Mutter muss fünfzehn bis zwanzig Jahre älter sein als er“, überlegte Mathilda. „Das ist es doch!“, traten Lotta Tränen in die Augen, „Wenn Papa davon erfährt, ist bei uns zuhause die Hölle los! Bestimmt sind hier Leute anwesend, die das in der ganzen Stadt rum erzählen“ „Mach dir nicht so viele Gedanken, Lotta! Damit verdirbst du dir nur den Abend“, drückte Kiki ihre Hand. „Wenn das meine Mutter wäre, der würde ich den Hals umdrehen“, meinte Annemieke.
„Kommt Mädels, lasst uns etwas essen! Mein Magen hängt in der Kniekehle“, drängte Vivien. „Außerdem soll Schluss mit der schlechten Laune sein“, fand Aylin, „Denkt daran, die große Party haben wir noch vor uns“ Lottas Mundwinkel hingen immer noch nach unten. Die Zwillinge stupsten sich gegenseitig an. Gleichzeitig fingen sie an zu grinsen, rollten mit den Augen, blinzelten und zogen die verrücktestes Fratzen. Ihre Freundinnen wurden von ihrer Albernheit angesteckt und schnitten ebenfalls die lustigsten Grimassen. Siegesgewiss grinsten sich die Schwestern an, wieder hatte ihr Gute-Laune-Trick gewirkt.
Mit gutem Appetit bedienten sich die Freundinnen am Büfett. In der Pausenhalle waren viele Tische aufgebaut. „Mist, alle schon besetzt!“, kam Fianna enttäuscht wieder. „Dann setzen wir uns halt auf die Treppe“, meinte Kiki. Auf der breiten Treppe, die in den ersten Stock führte, fanden alle Bandenmädchen platz. Zufrieden saß Mathilda zwischen Kiki und Emily. „Wisst ihr, es ist schön, dass wir alle wieder zusammen sind“, fand Kiki und richtete ihre Hochsteckfrisur. „Dito, da kann ich mich anschließen“, freute sich Fianna. „Auf die Rote Sieben!“, hob Mathilda ihre Limonadenflasche und stieß mit ihren Bandenfreundinnen an. „Lasst uns besaufen, Schwestern!“, gickerte Fianna und mimte eine Betrunkene. „Vor allem lassen wir es uns schmecken!“, biss Annemieke von ihren Pizzabrötchen ab.
Laute Musik lockte die Roten Siebenerinnen zurück in den Ballsaal. Inzwischen sorgte ein DJ für gute Stimmung. Die Aula war abdunkelt. Unzählige bunte Lichter leuchteten und blinkten um die Wette. „Let’s get the party started!“, jubelte Fianna und nahm Mathildas Hand. „Na, was läuft bei euch?“, kam ihnen Michael mit Jannis, Max und Ömer entgegen. „Feeeiiiieeern!“, erwiderten die Mädchen aus einem Munde. „Wo habt ihr Sven und Lennart gelassen?“, wollte Mathilda wissen. „Die hängen mit den Franzosen rum“, erwiderte Jannis und deutete in die entsprechende Richtung. Mathilda entdeckte Elodie zwischen Manon und einer anderen Freundin, dessen Namen sie bereits vergessen hatte. „Lasst uns noch ein paar Fotos machen“, holte Lotta ihr Smartphone aus ihrem Handtäschchen.
„Lotta, du wirst später auch Fotografin werden und in die Fußstapfen deiner Mutter treten“, spielte Mathilda auf ihren Fototick an. „Was haltet ihr davon, wenn ich euch fotografiere?“, bot Michael an. „Cool, das wäre nett“, bedankte sich Lotta. „Genau, das wird das neue Bandenfoto“, rief Kiki begeistert. „Sagt alle cheese!“, grinste Jannis. „Und jetzt mal sexy!“, feixte Ömer. „Und albern!“, rief Michael. „Zum Schluss noch einmal schmollen“, ordnete Max an. „Die Fotos sind cool geworden“, freute sich Emily. „Besonders die, auf denen wir verrückt schauen“, lachte Kiki. „Es wäre mal an der Zeit im Wohnwagen aktuelle Bilder aufzuhängen“, war Annemieke der Meinung, „Die letzten stammen immer noch von unserer Alpenfahrt“ „Gar nicht wahr!“, unterbrach Aylin sie, „Die letzten Bilder stammen noch von unserer Weihnachtsfeier, wo Matti eine brennende Kerze fielen ließ und fast den Weihnachtsbaum in Brand steckte“ „Pah, jetzt reib mir das auch noch extra unter die Nase“, gab Mathilda ihr einen leichten Rippenstoß.
Ausgelassen hielten sich die Freundinnen an den Händen und tanzten, was das Zeug hielt. „Die Musik ist heute spitze!“, brüllte Lotta gegen die Lautstärke an. Auf ihren dünnen Absätzen geriet Aylin mehrmals gefährlich ins Wanken, wenn Kiki und Vivien sie nicht rechtzeitig aufgefangen hätten, wäre sie sicher gestürzt. Einen Moment später verabschiedete sich Emily, die mit Manuel tanzte. „Sieht echt aus, als hätten sie schon ein paar Tanzkurse hinter sich“, sah Annemieke ihnen beeindruckt zu. „Ich werde jetzt mit Julien das Tanzbein schwingen“, drehte sich Lotta zu ihrem Gastschüler um. „Fehlt nur, dass Kiki jetzt von Lennart abgeschleppt wird“, dachte Mathilda bei sich und hielt die Hand ihrer besten Freundin umso fester. „Ist was mit dir?“, wunderte sich Kiki. Mathilda zog sie kurz mit nach draußen. In der Pausenhalle war kaum noch eine Menschenseele unterwegs. Die beiden Freundinnen setzten sich auf eine der leeren Bänke. „Ich frage mich, wo Sven bleibt. Ich habe ihn seit einer Stunde nicht mehr gesehen“, seufzte Mathilda.
„Hat er versprochen, dass ihr nachher noch mal zusammen tanzen werdet?“, wollte Kiki wissen. „Eigentlich schon“, nickte sie und fügte hinzu, „Ich bin am überlegen, ob ich ihn suchen soll“ „Ach was, seine Kumpels und er werden garantiert auf der Tanzfläche sein“, schüttelte ihre Freundin den Kopf. „Wo ward ihr?“, kamen ihre Freundinnen auf sie zu, als sie wieder im Saal waren. „Nur ein kurzes Gespräch unter uns beiden“, tat Kiki unwichtig. „Wisst ihr was, gerade wurden wir von Lottas Mutter belästigt“, erzählte Fianna und sah sie belustigt an. „Ihr müsst euch vorstellen, sie war schon ziemlich voll“, fuhr Annemieke fort, „Sie hat unsere Füße fotografiert, unsere Rücken, die Lautsprecheranlage, die Spotlights, den Boden und den Hintern unseres Erdkundelehrers“ Zeitgleich bekamen Kiki und Mathilda einen Lachkoller. „Das dürfen wir auf keinen Fall Lotta erzählt, sonst springt sie vor Scham aus dem Fenster“, kicherte Mathilda und einen Moment später hielten sich ihre Freundinnen die Bäuche. „Oh man, selten so gelacht“, wischte sich Vivien die Lachtränen weg. Beschwingt wippten die Mädchen zu einem Nummer-Eins-Hit aus dem letzten Monat mit.
„Ich gehe mir kurz eine Cola holen“, verabschiedete sich Mathilda kurz von ihren Freundinnen. Es war gar nicht so einfach durch das Gewühl von gefühlten 500 Menschen zu kommen. „Pass doch auf, wo du hintrittst und halt deine Augen offen!“, wies sie einen Achtklässler zurecht, der ihr auf den Fuß trat. Mitten im Getümmel entdeckte sie Elodies Blondschopf. „Hi, macht es dir Spaß?“, tippte sie ihrer französischen Freundin von hinten auf die Schulter. „Na klar, es ist ziemlich cool hier, die Musik ist toll und die Stimmung auch“, nickte Elodie, „Schön, dass wir daran teilnehmen konnten“ „Bist du alleine hier?“, wollte Mathilda wissen. „Ich warte auf meine Freunde, aber sie kommen seit längerem nicht wieder“, zuckte die Französin mit der Schulter.
„Wollen wir uns eben auch etwas zu trinken holen?“, fragte Mathilda. „Gerne, langsam kriege ich echt Durst“, nickte Elodie. Eingehängt bahnten sich die beiden Mädchen ihren Weg durch die Schülermassen. Lachend stießen sie an, als sie ihre Colaflaschen in den Händen hielten. Heute war echt ein super Abend, den sie nie vergessen würde! „Weißt du, wo Sven sein könnte?“, fragte sie Elodie nach einer Weile. „Ich glaube, er ist in Richtung Bühne gegangen“, erwiderte die Französin. „War außer ihm noch jemand dabei?“, hakte sie nach. „Manon, Julie und ein paar unserer Jungs“, erwiderte Elodie. Mathilda ließ Elodie stehen und drängelte sich an einigen Erwachsenen vorbei.
Vor der Bühne wurde sehr ausgiebig und wild getanzt. Einige Jungen hoben ihre Tanzpartnerinnen hoch und wirbelten sie durch die Luft, wobei sie laut juchzten. Mathilda drang immer weiter bis zur Bühne durch. Hier musste Sven irgendwo sein, sei denn der Erdboden hatte ihn verschluckt. Tatsache, da war er auch! Doch war das Mädchen neben ihm. Erst als Mathilda genauer hinschaute, erkannte sie Manon. Was wollte sie wieder von ihm? War sie ihm die letzten Wochen nicht zu sehr auf die Pelle gerückt? Ein neuer Song mit kräftigem Beat dröhnte aus den Lautsprechern. Manon warf sich in seine Arme und Sven hob sie hoch. Mathilda traute ihren Augen nicht. Was tat er da? War er vielleicht schon angetrunken? Er als Zehntklässler durfte im Gegensatz zu den Acht- und Neuntklässlern Bier trinken. Aber von Bier wurde man bekanntlich nicht sehr schnell besoffen und härtere Spirituosen waren auf dieser Veranstaltung Fehlanzeige.
Wie besessen hafteten sich Mathildas Augen an das tanzende Pärchen. Manons Hände glitten an seinem Rücken herunter, während er sanft ihren Hintern streichelte. Ihre Gesichter näherten sich unaufhaltsam und kurz darauf küssten sie sich auf den Mund. Mathilda schrie innerlich auf, aber sie war noch viel zu geschockt, um wegzurennen. Am liebsten hätte sie sich auf sie gestürzt und beide angeschrieen, doch ihre Arme, ihre Beine und ihr Mund versagten den Dienst. Wieder taten Sven und Manon es, sie kuschelten sich eng aneinander und gaben sich viel leidenschaftlichere Küsse. Mathilda brach der kalte Schweiß aus und ihr Herz begann höllisch zu rasen. „Ich muss hier raus, ich muss hier raus!“, rief ihre innere Stimme verzweifelt. Ihre Beine wollten immer noch der Stelle stehen bleiben und ihre Augen klebten förmlich an dem verbotenen Paar. Innerhalb eines kurzen Augenblickes hatte sich der Ballsaal in ihre persönliche Hölle verwandelt.
Nach der Schockstarre nahm Mathilda ihre Beine in die Hand und suchte den nächsten Seitenausgang. Hier drinnen würde sie keine weitere Minute mehr überleben. Ohne Rücksicht auf Verluste schob sie sich an den Menschen vorbei. „Sei doch gefällig vorsichtiger!“, wurde sie von einer jüngeren Schülerin angemault, die sie fast über den Haufen rannte. Wortlos nahm Mathilda ihre Strickjacke vom Haken und zog sie sich über. Draußen war es bereits dunkel und ziemlich kühl. Durch die frische Luft kam sie wieder ein wenig zur Besinnung. „Ich will nach Hause!“, rief ihr Innerstes. Ihr Zuhause lag gut vier Kilometer entfernt, aber der Wohnwagen war gar nicht so weit weg. Ihr Bandenquartier war so etwas wie ein zweites Zuhause. Sie musste nur durch den Stadtpark laufen und dann wäre sie fast schon da.
Ein Windstoß löste eine Haarsträhne aus ihrer Haarklammer. Es war wirklich ziemlich kalt, doch in diesem Moment war es ihr egal. Ihre Füße liefen von alleine und wurden immer schneller, als wollten sie sich ihrem Puls anpassen. Ihr Herz schlug ihr immer noch gegen die Brust und drohte bei der nächsten Gelegenheit herausspringen. Die kalte Luft brannte bereits in ihren Lungen. Trotzdem hielt sie nichts ab in der Dunkelheit, wie eine Irre durch den Stadtpark zu hetzen. An der Straße raste ein vollbesetztes Cabrio an ihr vorbei. Die jungen Männer pfiffen ihr hinterher. Mathilda registrierte trotzdem kaum etwas davon. Die Schrebergartenanlage war um diese Uhrzeit nur schlecht beleuchtet. Kurz vor ihrem Schrebergarten stolperte sie über eine aus dem Boden ragende Wurzel und fiel hin. Mit einem aufgeschlagenen Knie blieb sie einen Moment liegen. Ein blutendes Knie war noch ein geringeres Übel, als dieser Herzschmerz und diese derbe Enttäuschung. Eine Träne lief ihr über die Wange. „Er ist so ein Mistkerl!“, hauchte sie und begann kurz darauf wie ein kleines Kind zu weinen.
Ihre Hand zitterte, als sie Schlüssel aus ihrer Handtasche holte und das Gartentor aufschloss. Im Wohnwagen verzog sie sich in den Schlafraum und warf sich heulend auf eine der Schlafkojen. Mit beiden Armen umklammerte sie ein Kuschelkissen, welches Aylins einst selber genäht hatte. Wie konnte er nur? „Er hat mich betrogen, er hat mich betrogen, er hat mich betrogen!“, jagte es ihr wie ein Stromschlag durch den Kopf. Jeder Gedanke daran war eine Qual. Tränen liefen ihr unaufhörlich über das Gesicht. Dann fiel ihr ein, dass sie noch seine Blume im Haar trug. Rasend vor Wut zerfetzte sie Svens Blume und warf die kümmerlichen Überreste in den Mülleimer. „Ich hasse ihn und diese bescheuerte Manon noch mehr!“, heulte sie laut auf und wieder schossen Sturzbäche aus ihren Augen. Ein kurzer Blick in den Spiegel verriet ihr, wie sie aussah. Verschmiertes Make-up, zottelige Haare und rote aufgequollene Augen: so hätte sie als Monster zur Halloween-Gruselparade gehen können. Im nächsten Moment fand sie in ihrer Handtasche die kleine Schneekugel, die ihr Sven zum Valentinstag schenkte. Ohne nachzudenken öffnete sie das Fenster und beförderte sie im hohen Bogen in den Nachbargarten. Mit einem Schrecken musste sie feststellen, dass sie im Garten des Griesgrams gelandet war.
Was konnte besser sein, als tierischer Trost. Während Mathilda Hanni und Nanni streichelte, weinte sie immer noch. Kurzerhand beschloss sie Nanni mit in den Wohnwagen zu nehmen. „Wie konnte er mir das nur antun…“, heulte sie und der Rest ging in ein unverständliches Gejaule über. Fast elf Monate hatte ihre Beziehung gehalten. Zu ihrem ersten Jahrestag im Mai hatten sie geplant ein Wochenende in Hamburg bei Svens Tante zu verbringen. Nun war alles dahin! Aus dem zuerst wunderschönen Abend war ein reiner Alptraum geworden. Nanni begann ihr die Tränen aus dem Gesicht zu lecken. Mathilda beruhigte sich langsam wieder. Erschrocken fiel ihr ein, dass sie über eine Stunde nicht an ihr Handy gegangen war. Über 100 neue Nachrichten und 15 entgangene Anrufe, wovon fünf von ihrer Schwester, drei von ihrer Mutter, drei von Sven und zwei von Kiki waren. Wieder klingelte ihr Handy. „Hey Matti, endlich gehst du mal an dein Handy“, meldete sich Annemieke, „Wo steckst du, wir suchen dich schon die ganze Zeit. Mama hätte gerade schon fast die Polizei gerufen“ „Ich bin im Wohnwagen“, schniefte Mathilda.
„Wir kommen gleich und holen dich ab“, legte ihre Schwester wieder auf. Annemieke klang ziemlich aufgewühlt und überschlug sich fast, während sie sprach. Mathilda empfand plötzlich große Reue, dass sie sich aus dem Staub gemacht hatte, ohne bescheid zu sagen, bestimmte hatte sie ihren Freundinnen den Abend vermieste. Bei diesem Gedanken begannen wieder die Tränen zu kullern. „Ich bin mal wieder schuld, dass ich alles versaut habe“, schluchzte sie in Nannis Fell, „Meine Freundinnen hätten wenigstens noch einen schönen Ball haben können, wenn sie sich hätten wegen mir keine Sorgen machen müssen“ Ihre Eltern und Annemieke ließen nicht lange auf sich warten, sogar Elodie war mitgekommen. Wortlos ließ sich Mathilda in die Arme ihre Zwillingsschwester fallen und wurde von dem nächsten Weinkrampf geschüttelt. „Ich weiß, was passiert ist“, sagte Annemieke ruhig. „Es tut mir so leid, dass dir das passieren musste“, streichelte Elodie über Mathildas Rücken.
„Wir haben Sven und Manon deswegen gehörig zur Rede gestellt“, fuhr Annemieke fort. „Ich glaube, wir setzen uns einen Moment hin und trinken einen beruhigenden Tee. Matti braucht erstmal ein bisschen Ruhe“, ordnete ihre Mutter an. „Ich kann das eben machen“, sprang Annemieke auf. Während sie mit dem Wasserkocher zugange war, übernahmen ihre Eltern das Trösten, die Mathilda in den Arm nahmen. „Versuche den Idioten zu vergessen“, meinte ihre Mutter, „Du hast du so viele Freunde und uns, die dich so lieben, wie du bist“ „Tee ist fertig!“, rief Annemieke aus dem Wohnraum. Zu fünft setzten sie sich an den Tisch. Der Baldriantee bewirkte Wunder, plötzlich fühlte sich Mathilda viel entspannter und musste nicht mehr weinen. „Ich werde auf den Typ einen Scheiß geben“, nahm sie sich vor. „Richtig so!“, stimmten ihr ihre Schwester und Elodie zu.
Zuhause im Bett nahm Mathilda doch aus Versehen einen Anruf von Sven an. „Hey sorry, der Abend sollte nicht so laufen“, meldete er sich mit kiloweise Reue in seiner Stimme. „Lass mich in Ruhe, du Idiot! Du hast mir den ganzen Abend versaut und jetzt will ich nichts mehr von dir hören! Es ist aus und vorbei!“, schrie sie in ihr Telefon, sodass Annemieke erschrocken ihr Buch fallen ließ. Wütend machte Mathilda ihr Handy ganz aus. Nachdem die Zwillinge das Licht gelöscht hatte, fand Mathilda keine Ruhe. „Darf ich zu dir kommen?“, murmelte sie. „Gerne!“, gähnte ihr Zwilling. „Ich kann nicht schlafen, mir geistert das noch zu sehr durch den Kopf“, flüsterte sie. „Kann ich vorstellen, das ist ziemlich mies von Sven gewesen“, seufzte Annemieke, „Ihr ward so ein tolles Paar und dann das!“
„Ich weiß, ich werde die schöne Zeit mit ihm vermissen. Aber ich kann ihm nicht mehr vertrauen. Es war nicht das erste Mal, dass er sich an sie rangeschmissen hat oder umgekehrt. Das Vertrauen ist zertrümmert“, geriet Mathildas Stimme wieder ins Weinerliche. Als die schönen Momente mit ihm wieder hochkamen, darunter wie sie ihren Spaß auf Corinnas Poolparty hatten und wie leidenschaftlich er sich nach dem Dachsturz um sie gekümmert hatte, kamen ihr wieder die Tränen. Ihre Schwester nahm sie wortlos in die Arme. Nichts würde mehr so sein, wie es war! Das Kapitel „Mathilda und Sven“ war komplett abgeschlossen. Es würde schwer werden darüber hinweg zu kommen, aber unmöglich war es nicht. Immerhin hatte sie ihre Familie und ihre Bandenschwestern, auf die sie immer zählen konnte.
Am nächsten Morgen war Mathilda wie gerädert, keine Sekunde lang hatte sie in dieser Nacht geschlafen und musste stattdessen immer wieder weinen. Am Vormittag setzte sich teilnahmslos im Wohnzimmer vor den Fernseher. Es kam irgendeine Talkshow, die sie nicht weiter interessierte. Neben ihr standen Schokoriegel, Chips, Cola und Weingummi. Süßes und Salziges taten gut gegen Liebeskummer. Eigentlich hatte sie vorgenommen sich gesünder zu ernähren und dadurch ein paar Kilo abzuspecken. Diäten, Fitnessprogramme und anderer Mist in dieser Richtung rutschten ihr gerade den Buckel runter. Nur Süßkram konnte im Moment ihre verletzte Seele trösten. Im nächsten Moment kam wieder Werbung, ein junges Pärchen saß auf einem Kirschbaum und fütterte sich gegenseitig mit Pralinen.
Hatte sie das mit Sven vor nicht all zu langer Zeit auch gemacht? Rasende Wut stieg in ihr auf. Leider hatte sie nichts mehr, was sie zerdeppern konnte. Noch in der letzten Nacht mussten zwei Bilderrahmen mit Fotos von Sven und ihr daran glauben, die sie wutentbrannt auf dem Boden zerschmettern ließ. „Ganz ruhig Matti, zähl bis zehn, bevor du wieder an die Decke gehst“, wiederholte ihre innere Stimme wie ein Mantra. Wie konnte sie nur diesen verdammten Liebeskummer überwinden? Wäre sie Annemieke gewesen, hätte sie gemalt oder geschrieben. Aber sie selbst war alles andere kreativ und einfallsreich. Gedankenverloren kritzelte sie mit dem Kuli zerbrochene Herzen auf einen Notizzettel und da war auch schon die Idee. Ein Kuchen in Form eines zerbrochenen Herzens. Das war es, mit neuem Elan stand sie auf und ging in die Küche. Im Schrank fand sie eine Backmischung, die noch niemand angerührt hatte.
Während sie alle Zutaten zusammenrührte und zudem Himbeeren, die sie im Kühlschrank fand, zu dem Teig gab, enterten Annemieke und Elodie die Küche. „Was machst du da?“, fragte ihre Schwester überrascht. „Ich backe einen Kuchen. Wieso?“, schaute sie kurz auf. „Mhmm, das sieht lecker aus“, fand Elodie. „Ich muss mich auch irgendwie ablenken“, meinte Mathilda dazu. „Kann ich verstehen“, sagte ihre Schwester, „An deiner Stelle würde ich auch am Rad drehen, wenn mein Freund so etwas mit mir getan hätte“ „Können wir helfen?“, bot Elodie an. „Nein, ich komme alleine zurrecht“, erwiderte Mathilda. Als die beiden Mädchen gegangen waren, hatte sie endlich wieder ihre Ruhe. Nichts desto weniger Trotz fuhren ihre Gedanken Karussell. Dass mit einem Schlag vorbei war, konnte sie noch nicht so recht glauben.
Wieso musste sich diese blöde Manon in ihre Beziehung drängen und alles kaputt machen? „Warum bäckst du ausgerechnet jetzt einen Kuchen, Matti?“, hörte sie die Stimme ihrer Mutter, „Eigentlich wollte ich gerade den Nudelauflauf in den Ofen schieben“ „Kann der Auflauf nicht warten?“, murrte Mathilda, „In fünf Minuten ist mein Kuchen fertig“ „Na gut, dann warte ich eben“, meinte sie und setzte sich gegenüber ihrer Tochter hin. Als Mathilda den Kuchen aus dem Ofen holte, staunte ihre Mutter nicht schlecht. „Ein Kuchen in Herzform? Du hast die Form von Sven zu Weihnachten bekommen, deshalb wundert es mich, dass du sie jetzt noch verwendest“, zog sie die Augenbrauen hoch. „Es soll auch ein zerbrochenes Herz werden“, erwiderte Mathilda. „Soll ich dabei helfen?“, bot ihre Mutter an, „Ich kann hervorragende Muster schneiden“ „Dann zerschneidest du den Kuchen in Zickzackform“, ordnete Mathilda an. Der Kuchen musste noch einige Minuten abkühlen, bevor sie sich ans Werk machen konnten. Während sie den Kuchen zerschnitten, zogen sie über Sven her. „Es wundert mich, weshalb du dem ollen Fischkopp kein richtiges Parfüm geschenkt hast? Bestimmt roch er die ganze Zeit nach Fisch“, lästerte ihre Mutter.
„Das frage ich mich auch“, musste sie plötzlich grinsen, obwohl es in Wahrheit nicht stimmte, dass Sven nach Fisch roch. „Sei froh, dass du ihn los bist“, fuhr ihre Mutter fort, „So ein Verhalten zeigt, dass er kein Gentleman ist. Warte lieber auf den richtigen Prinzen, aber nicht jeder Prinz erkennst du sofort. So war das bei eurem Vater und mir auch. Anfangs waren wir lange befreundet, bis wir eines Abends eine Fahrradtour unternahmen und uns abends zum ersten Mal in einem Biergarten einen Kuss gaben“ „Ich wusste gar nicht, dass ihr anfangs nur gute Freunde ward“, war Mathilda ganz baff. Insgeheim war sie mehr als froh, dass zwischen ihren Eltern die Chemie wieder stimmte. Vor knapp einem halben Jahr hatten sie sich um ein Haar getrennt, nachdem sie sich häufiger gefetzt hatten. Mit Grauen dachte Mathilda an diese schwere Zeit zurück. Ihre Schwester und sie hatten ernste Bedenken, dass es zur Scheidung hätte kommen können. Nicht selten hatte sie sich unter der Decke heimlich in den Schlaf geweint, damit Annemieke nichts davon mitbekam. Zum Glück hatten sich ihr Vater und ihre Mutter wieder zusammengerauft und einen Neustart gewagt.
Noch vor dem Mittagessen war ihr kleines Meisterwerk fertig. Vor ihnen stand ein zerbrochener Herzkuchen mit Schokoladenüberzug, den sie mit ein bisschen rotem Zuckerguss bepinselt hatten. Rot war die Farbe des Blutes und gerade spürte Mathilda, wie ihr Herz immer noch blutete. Daher passte die Farbe. „Meine Schwester ist doch manchmal ein Genie“, strahlte Annemieke und legte ihr den Arm um die Schulter. „Aber nur aus der Verzweiflung heraus“, sah Mathilda sie ernst an. Während des Mittagessens steigerte sich ihre Laune. Obwohl sie keinen großen Appetit mehr hatte, nachdem sie sich vorhin mit Süßigkeiten voll gestopft hatte, konnte sie ganz normal mit ihrer Familie reden. „Und wir haben uns eine Überraschung überlegt“, flüsterte Elodie. „Psst!“, legte Annemieke ihren Zeigerfinger auf den Mund.
Kurz nach dem Mittagessen klingelte es an der Tür. „Na, wie geht es unserer Liebeskranken?“, trat Kiki mit Emily in den Flur. Die beiden Freundinnen umarmten Elodie und die Zwillinge. „Ein klitzekleines bisschen besser“, brachte Mathilda ein schmales Lächeln über die Lippen. Dass zwei ihrer besten Freundinnen gekommen waren, brachte ihr Herz zum höher schlagen. „Gleich machen wir eine Fahrradtour ins Grüne“, strahlte ihr Zwilling. „Also war das die Überraschung?“, schlussfolgerte Mathilda, worauf Annemieke und Elodie gleichzeitig nickten. „Darf ich wissen, wohin es geht?“, fragte sie beim Schuhanziehen.
„Geheim, geheim!“, tat Kiki geheimnisvoll. Mathilda ließ sich gerne überraschen und nahm besonders in diesem Moment jede Ablenkung dankbar an. Gut gelaunt schwangen sich die fünf Freundinnen auf ihre Fahrräder. Heute war wunderbares Wetter. Die Sonne strahlte, die Vögel zwitscherten, in den Vorgärten grünte es und an den Wegrändern blühten unzählige Blumen. Kiki stimmte ein Lied an und kurz darauf sangen die anderen Mädchen lauthals mit. Abwechselnd begannen die Freundinnen neue Lieder anzustimmen. Besonders lustig wurde es, als Elodie auf Französisch sang und die anderen Mädchen versuchten es nachzuahmen. Mit einem Schlag fühlte sich Mathilda federleicht und hyperglücklich. Sven und Manon konnten ihr gestohlen bleiben. Stattdessen hatte sie ihre Schwester und ihre Freundinnen, die sie niemals hingen ließen. Kiki fuhr vor und bog in ein Wäldchen ab.
Wo wollte sie hin? „Ich habe ein schönes Plätzchen ausfindig machen können“, rief sie. Neugierig folgten die anderen ihr. Im Gegensatz auf dem Feldweg in der Sonne war es unter den Nadelbäumen ziemlich dunkel. Bald mussten sie absteigen, da der Weg von lauter Wurzeln übersäht war, die es aus dem Erdboden ragten. Eine kleine Lichtung, die mit Gras übersäht war, kam zum Vorschein. Ein kleiner klarer Bach gluckerte und schlängelte sich hinter den Bäumen entlang. „Ich habe die perfekte Picknickwiese gefunden“, strahlte Kiki über beide Backen. „Ein magischer Ort“, war Emily begeistert. „Für unsere Freundschaft“, fügte Annemieke hinzu. Mit einer großen Portion guter Laune breiteten die Mädchen eine große Picknickdecke aus und holten ihre Sachen raus. Kiki und Emily hatten einen tollen Obstsalat mit Vanillesoße zubereitet. Manon holte Mathildas Lieblingsschokolade aus ihrer Tasche. Zu guter letzt stellte Annemieke sechs Flaschen Limonade zum Kühlen in den Bach.
„Dein Kuchen ist echt ein Hit, Matti“, fand Emily, „Viel zu schade um gegessen zu werden“ Kiki machte noch schnell ein Foto, welches sie an die übrigen Bandenfreundinnen schickte. „Hier, ich wollte dir noch etwas geben“, zog Kiki ein Geschenk aus dem Rucksack. „Daran haben wir bis heute Vormittag fieberhaft gearbeitet“, fügte Emily hinzu. „Soll das ein Geschenk gegen Liebeskummer sein?“, fing Mathilda an zu lächeln. „Nicht direkt, ich wollte dir dieses Geschenk unbedingt machen, um dich als beste Freundin zu würdigen“, versuchte Kiki zu erklären, „Ich habe ein paar Schuldgefühle entwickelt, da ich mich in letzter Zeit nicht viel um unsere Freundschaft gekümmert habe. Stattdessen habe ich die ganze Zeit mit Lynn, Caro und Saskia aus meiner Klasse herumgehangen und hatte deswegen wenig Zeit für euch“ „Kein Ding“, erwiderte Mathilda, die dabei war das Geschenk auszupacken. Ein rotes Fotoalbum kam zum Vorschein. Neugierig begann sie darin herumzublättern. „Wow, Kiki, du bist großartig!“, hauchte sie und fiel ihr um den Hals.
In Erinnerungen schwelgend schauten sie sich die Fotos aus sechs Jahren Freundschaft an. „Das war während der Lesenacht vor dem Nikolaustag in der vierten Klasse“, erinnerte sich Kiki. „Stimmt, damals sind wir um Mitternacht mit Isabelle und Patricia in der Schule herumgeschlichen, um Geister zu jagen“, nickte Mathilda. Genau zu diesem Zeitpunkt begann ihre Freundschaft, zuvor hatte sie sich ständig mit Kiki gefetzt, weil die Zwillinge sich sehr gut mit Isabelle verstanden hatten und Kiki hatte Bedenken, dass sie ihr ihre beste Freundin streitig machten. „Und das ist unsere erste Reitstunde“, zeigte Annemieke auf das nächste Bild. „Wir mussten unsere Eltern gefühlte Jahre überreden, bis wir sie überzeugt haben, dass Reiten doch nicht lebensgefährlich ist“, sagte Mathilda dazu. Bereits in der Grundschule wollte sie unbedingt Reiten lernen, aber ihre Eltern meldeten sie erst zur Reitstunde an, als ihre Schwester und sie zehn Jahre alt waren. „Das war unsere Bandengründung während der unvergesslichen Klassenfahrt in den bayrischen Wald“, blätterte Kiki um. „Ich staune immer wieder aufs Neue, was wir bereits zusammen erlebt haben“, meinte Annemieke und ihr Blick fiel auf ein Foto, das die Bande während ihrer Reiterferien auf Henriettes Hof zeigte.
Beim Betrachten des Albums hätten die Mädchen fast vergessen, dass ein Picknick vor ihrer Nase stand. „Langsam kriege ich Appetit“, warf Elodie einen begehrlichen Blick auf die Leckereien. „Lasst uns reinhauen, Mädels!“, schnappte sich Emily eine Gabel. Mit gutem Appetit schafften die Freundinnen fast alles zu verputzen, was sie mitgebracht hatten. Mit vollen Bäuchen räkelten sie sich im Gras und ließen sich die Sonne auf den Pelz brennen. In Gedanken versunken lagen Kiki und Mathilda Kopf an Kopf und dösten immer wieder ein. Nicht einmal das Summen einer Hummel, die um ihre Köpfe schwirrte, störte sie. Das Rascheln der Bäume machte alle umso schläfriger. Elodie schlief mit ihrer Sonnenbrille auf der Nase ein. Als sie wieder aufwachte, hatte sie einen kleinen Sonnenbrand im Gesicht. „Oh mein Gott, wie siehst du denn aus, Elo?“, konnte sich Annemieke ein Kichern nicht verkneifen, als die Französin ihre Sonnenbrille kurz abnahm. „Oh neeeiiin!“, schrie sie auf, als sie ihr Aussehen mittels eines Taschenspiegels kontrollierte. „Macht nichts, das geht bald wieder vorbei“, konnte Mathilda sie beruhigen, obwohl sie auch grinsen musste.
„Kiki, können wir gleich ein bisschen im Wohnwagen quatschen?“, fragte Mathilda, als sie aufbrachen. „Na klar gerne!“, nickte ihre Freundin. „Warum fahrt ihr denn in eine andere Richtung?“, wunderte sich Annemieke, als Kiki und ihre Schwester an der großen Weggabelung nach links abbogen. „Matti und ich fahren noch mal kurz zum Wohnwagen“, erwiderte Kiki. „Elo und ich fahren schon mal zurück, wir müssen Elos Sachen zusammenpacken“, rief ihnen Annemieke hinterher. Ohne viel zu reden radelten Kiki und Mathilda den Waldweg entlang. Sie kannten eine Abkürzung, wie es am schnellsten zum Wohnwagen ging. Dort angekommen, machten es sich die beiden Freundinnen auf zwei Gartenstühlen unter dem Sonnenschirm bequem. Noch immer war das Wetter ausgezeichnet und für einen Herztag ziemlich warm. Kiki und Mathilda stellten ihre Stühle so nah zusammen, wie es nur ging. Schwermütig ließ Mathilda ihren Blick schweifen und starrte die dunkelgrünen Tannen an, die hinter ihrem Wohnwagen wuchsen.
„Ist alles in Ordnung bei dir?“, berührte Kiki sie am Arm. Mathilda schwieg und presste die Lippen aufeinander. Ohne Vorwarnung wurde sie nun von den Erlebnissen des gestrigen Abends eingeholt. Eine Träne lief über ihre Wange. Schnell wischte sie über das Gesicht und versuchte tief ein- und auszuatmen, was sich eher ein schwaches Schluchzen anhörte. „Matti, nun sag es mir doch, was dir auf der Seele brennt“, sagte Kiki sanft. „Ich kann einfach nicht aufhören daran zu denken“, rief sie mit belegter Stimme und war wütend auf sich selbst, dass sie wieder so nah am Wasser gebaut hatte. Hastig sprang sie auf und rannte hinter das Gerätehaus. Ohne ein Geräusch zu machen weinte sie vor sich hin und hielt sich die Hände vor das Gesicht. „Ach da bist du“, tauchte Kiki auf. „Ich kann einfach nicht anders“, sagte Mathilda mit zittriger Stimme. „Wein ruhig, du wirst merken, dass es dir gut tut!“, drückte Kiki sie fest an sich. „Ich bin zu einer richtigen Heulsuse geworden!“, ärgerte sich Mathilda, „Warum kann ich Sven nicht einfach verbannen? Ich will nie wieder an ihn denken! Ich hasse ihn und Manon noch viel mehr! Wieso falle ich immer wieder in diese Gedanken zurück?“
„Du brauchst dich doch nicht zu rechtfertigen. Das ist normal, Mathilda! Die Wunde ist noch sehr frisch und reißt anfangs immer wieder auf“, tröstete Kiki sie. Die beiden Mädchen nahmen wieder auf den Gartenstühlen platz und tranken einen frisch gekochten Kamillentee, der Mathildas aufgewühlten Nerven beruhigen sollte. „Weißt du was, als ich mich letztens von meinem alten Freund getrennt habe, habe ich auch knapp eine Woche lang jeden Abend geweint“, erzählte Kiki, „Liebeskummer ist etwas Normales und deswegen brauchst du dich nicht schämen. Es ist besser deine Gefühle herauszulassen, als sie in dir aufstauen zu lassen, sodass sie dich umso schlimmer belasten. Was Sven mit dir gemacht, ist unter allerste Schubblade. An der deiner Stelle hätte ich auch geheult, wie ein Schlosshund“ Es war wie Balsam für die Seele mit der besten Freundin im Schrebergarten zu sitzen und mit ihr zu quatschen. Mathilda hatte das Gefühl, dass sie Kiki ihre inneren Gedanken und Gefühle anvertrauen konnte.
Am nächsten Vormittag hieß es Abschied nehmen. Als der Vater der Zwillinge seinen Wagen an einer Seitenstraße abstellte, war schon die Hölle los. Pünktlich um zwölf trafen sich die Gastschüler, sowie die Gastfamilien am Lehrerparkplatz. Die Lehrer der französischen Schule verteilten Blumensträuße an die Gasteltern. Sechs schöne, aber auch turbulente und teils dramatische Wochen waren im Flug vergangen. Elodie musste sogar etwas weinen, als sie und die Zwillinge sich minutenlang in den Armen lagen. „Wir werden skypen und außerdem kommen wir im Juni zu euch nach Marseille“, tröstete Annemieke sie und reichte ihr ein Taschentuch. „Denk daran, was für schöne und unvergessliche Tage wir zusammen hatten“, stupste Mathilda ihre französische Freundin aufmunternd an. In ihr kam etwas Wehmut auf, in den letzten Wochen hatten sie Elodie sehr lieb gewonnen und ohne sie wäre es wieder etwas leerer in ihrem Haus. Neben ihnen vergoss Lotta einen Kübel Tränen, während Julien sie immer wieder zärtlich küsste und ihr über den Kopf streichelte.
„Sie hat Amor ganz besonders erwischt“, dachte Mathilda bei sich. Während ihre Liebe den Schüleraustausch nicht überlebt hatte, fand Lotta ihre neue Liebe. Obwohl sie sich für ihre Freundin freute, musste sich eingestehen, dass sie doch ein wenig neidisch war. Mathildas Blick wanderte zu Manon und Sven, die eng umschlungen beieinander standen. Eigentlich wollte sie nicht hinschauen, aber gerade ging es nicht anders. Was würden sie im nächsten Moment machen. Als Manon ihm einen zärtlichen Kuss gab, war Mathilda klar, dass es keine kleine Affäre war. Der verdrängte Schmerz, dass Sven ein anderes Mädchen liebte, kam mit voller Macht in ihr hoch. „Nicht heulen! Nicht heulen!“, befahl ihre innere Stimme, als ihre Augen anfingen feucht zu werden. „Du willst doch nicht dem Idioten eine Träne hinterher weinen!“, nahm Annemieke ihre Hand. „Das tue ich auch nicht. Sven kann mir danach weiterhin gestohlen bleiben!“, raunzte sie und setzte eine trotzige Miene auf.
Manon heulte wie ein Schlosshund, als die Trennung nahte und sie als Letzte in den Reisebus stieg. Mathilda spürte in diesem Moment einen Hauch von Genugtuung, endlich würde das verbotene Paar auseinander gerissen werden. Trotzdem hatte sie die Schnauze voll von Sven. Der Busfahrer schloss die Heckklappe und ging als letzter Mann an Bord. Der Motor wurde gestartet und der Bus setzte sich in Bewegung. Elodie, die neben Cecilia saß, winkte ihnen hinterher, bis ihr fast die Hand abfiel. Die Zwillinge, die mit Lotta und Fianna zusammen standen, winkten ebenfalls. Mit einem Taschentuch wischte sich Lotta über ihre feuchten Augen, tröstend legte Annemieke einen Arm um sie. „Es ging viel zu schnell vorbei“, sprach Fianna den Gedanken aus, den sie alle hatten. „Bis auf die Tatsache, dass ich Manon nicht mehr sehen muss“, fiel ihr Mathilda ins Wort.
Kaum waren die Franzosen fort, steuerte Sven auf die Zwillinge zu. „Hi“, sagte er und lächelte freundlich. Mathilda versteckte sich hinter ihrer Schwester. Dass Sven sich wieder aufdrängte, war ihr unangenehm. Bevor Sven ihr zu nah kommen konnte, tauchte Fianna aus ihrer Deckung. „Jetzt lass Mathilda gepflegt in Ruhe, du blöder Fischkopp!“, fauchte sie, „Sie will mit dir nichts mehr zu tun haben“ „Darf ich nicht einmal nett „Hallo“ sagen und ein paar Worte mit euch reden“, erwiderte er empört. „Du hast meiner Schwester das Herz gebrochen und hast dafür gesorgt, dass sie sich die Seele aus dem Leib geheult hat, weil du sie mit Manon betrogen hast. Also verschwinde auf der Stelle, sonst machen wir Rollmops aus dir!“, baute sich Annemieke vor ihm auf.
„Mach die Fliege, du Rollmops!“, feuerte Fianna hinterher. Beleidigt trollte sich Sven wieder. Mathilda hätte Fianna und ihre Schwester knutschen können, die ihr den Kerl erfolgreich vom Leib gehalten hatte. „Es ist mal wieder typisch“, sagte Lotta mit belegter Stimme, „Kaum ist Manon wieder weg, macht er Matti wieder schöne Augen“ „Er kann bleiben, wo der Pfeffer wächst“, zischte Mathilda und kickte einen Kieselstein weg. Nachdem sie sich von ihren beiden Freundinnen verabschiedet hatten, machten sich die Zwillinge mit ihren Eltern auf den Weg zu ihrem Auto. Auf der ganzen Rückfahrt wurde kaum gesprochen. Stattdessen ließen die Zwillinge die letzten sechs Wochen Revue passieren.
„Kennen wir die nicht?“, stürmte Annemieke auf Tessa zu, als sie mit Mathilda durch das Tor des Schrebergartens ging. „Hallo, ihr beide“, erdrückte Tessa sie beinahe. „Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“, bemerkte Mathilda ihre hellblauen und violetten Strähnen, die aus ihrem dunkelblonden Haaren hervorstachen. „Ein wenig Tapetenwechsel musste her“, lachte Tessa. Allgemein hatte sie sich verändert und trug viel schwarz. „Wo hast du den neuen Style her?“, wollte Annemieke wissen. „Von meinem Freund, er ist selbst auch ein Emo und ich quasi halb“, erwiderte sie. Hinter dem Wohnwagen entdeckten sie Fianna mit einer Sonnenbrille auf der Nase, die sich auf einer Picknickdecke in der Sonne aalte. „Kommt mit drauf, hier ist platz für alle“, gähnte sie und drehte sich wieder auf die Seite.
Dicht aneinander gedrängt, passten sie auf die Decke. Ein paar geschäftige Bienen summten ihnen um die Nase und über ihnen raschelten die Bäume. Die starke Frühlingssonne machte die Mädchen schläfrig, sodass sie nacheinander einnickten. „Hey, ihr Faulpelze!“, rief jemand und ein Wasserstrahl traf Mathilda mitten im Gesicht. „Was soll das?“, empörte sich Annemieke, die auch nass wurde. „Ran an die Arbeit, im Garten gibt es noch genug zu tun!“, thronte Kiki mit einer Wasserpistole über ihnen. Lotta und Emily zielten ebenfalls mit ihren Wasserpistolen nach ihnen. „Angriff!“, riefen Aylin und Vivien, die mit einer kleinen Wanne voll Wasserbomben aus dem Wohnwagen rannten. Da keine von ihnen besonders zielsicher war, trafen sie den alten Apfelbaum oder den Wohnwagen. Nur Tessa bekam einen Volltreffer an den Hinterkopf. „Oh je, jetzt auch noch das!“, stöhnte Tessa. „Lass uns ihnen die Waffen entreißen und sie doppelt nass machen!“, war Fianna als Erste auf den Beinen.
Lachend und juchzend jagten sich die Roten Siebenerinnen gegenseitig durch den Garten. Mathilda eroberte in Sekundenschnelle die Wanne mit den Wasserbomben und machte Jagd auf Kiki, wegen der ihr T-Shirt klitschnass war. Annemieke und Fianna konnten Lotta und Emily die Wasserpistolen entwenden. Fianna brachte den Höhepunkt der Wasserschlacht, indem sie den Wasserschlauch einsetzte. „Stopp Carrot! Lass das!“, kreischte Lotta. Ihr blondes Haar klebte in ihrem Gesicht und ihr weißes T-Shirt war fast durchsichtig, sodass jeder ihren gestreiften BH sehen konnte. „Deine Schuld, Lotta, du hast angefangen“, entgegnete ihr Fianna grinsend. „Mädels, es reicht, langsam ist gut“, japste Annemieke, die Emily und Aylin drei Runden um den Wohnwagen gejagt hatte. Mathilda spürte ein Stechen in den Seiten, nachdem sie sich minutenlang mit Kiki und Vivien auf dem Rasen gekabbelt hatte.
„Was haltet ihr von einer Stärkung?“, fragte Emily in die Runde, nachdem sie alle Bandenmädchen wieder aufgerappelt hatten. „Die ist herzlich Willkommen“, lachte Aylin und verschwand zum Tischdecken im Wohnwagen. Knapp zehn Minuten später saßen die anderen Mädchen drinnen am Tisch und hatten sich in Decken und Handtücher gewickelt. Niemand war trocken geblieben. Heute hatte Mathilda ihr Poffertjeseisen mitgenommen, während ihre Schwester zwei Schüsseln voller Teig zubereitet hatte. Abwechselnd buken die Freundinnen die kleinen Pfannkuchen. Mit Vanillesoße, frischen Beeren und Puderzucker waren sie ein echter Hit. „Wir hätten genauso gut eine Armee damit versorgen können“, grinste Annemieke als am Ende noch Teig übrig blieb, obwohl die Mädchen trotz ihres ungeheuren Appetits nicht alles verdrücken konnten. „Eigentlich wollten wir doch im Garten arbeiten“, schaute Kiki nach draußen. „Egal, das können wir auch in den nächsten Tagen machen, wir haben Ferien“, lehnte sich Mathilda zurück.
Gerade als die Mädchen sich lebhaft unterhielten, klopfte es an der Wohnwagentür. „Wer ist das?“, raunte Aylin. „Hoffentlich keiner der Piranhas und schon gar nicht Sven“, wurde Mathilda zwischen Kiki und Fianna einen gefühlten Meter kleiner. „Wer hat vergessen das Tor abzuschließen?“, zischte Fianna. „Wir schließen doch nie ab, wenn wir hier sind“, erinnerte Emily sie. Wieder pochte es. „Na gut, ich sehe nach“, stand Mathilda auf. Auf dem Tritt stand ausgerechnet der alte Griesgram. „Ich habe etwas gefunden, was entweder zu dir oder deiner Schwester gehört. Ich wollte es gerne an die Besitzerin zurückgeben, obwohl ich mir es nicht erklären kann, wie es in meinen Garten kam“, hielt er ihr die kleine Schneekugel in die Hand, die ausgerechnet Sven ihr vor fast zwei Monaten geschenkt hatte. „Ehm…Vielen Dank!“, stammelte sie und lief puterrot an. „Gern geschehen“, erwiderte der Griesgram und
machte kehrt. Peinlich berührt schloss Mathilda wieder die Tür und setzte sich an den Tisch. „Was ist los, Matti?“, sah Vivien sie besorgt an. Wortlos stellte sie die Schneekugel auf den Tisch. „Hat der Griesgram sie etwa in seinem Garten gefunden?“, fragte Aylin. „Leider ja“, seufzte Mathilda und wäre am liebsten so tief im Boden versunken, dass sie in Australien hätte aus der Erde krabbeln können. „Nur wie ist deine Schneekugel in seinem Garten gelandet?“, hakte Lotta zu ihrem Unbehagen nach. „Ich habe sie vor Wut aus dem Fenster geschleudert, als Sven mich mit dieser blöden Manon betrogen hat“, gestand sie offen. „Oh man, Matti“, schlug sich Fianna vor den Kopf, „Du weißt doch, dass vermisste Gegenstände oftmals ihren Weg zurück zum Besitzer finden“ „Komm wir vergraben deine Schneekugel hinter dem Komposthaufen“, flüsterte Kiki Mathilda ins Ohr. Gesagt getan! Die beiden Freundinnen schlichen in den Garten und machten sich mit Schaufeln ans Werk.
Einen Tag vor Ostern verabredeten sich die Freundinnen zu einem Ausritt in den Wald. Glücklicherweise erteilte ihnen Rachel ihnen die Erlaubnis, nachdem Emily sie überzeugen konnte, dass sie alle lang genug Reiterfahrung hatte und auf sich Acht geben würden. Ein wunderschöner Nachmittag bei Sonnenschein, lauwarmen Temperaturen und vor allem mit den besten Freundinnen stand ihnen bevor. In Mathildas Augen waren jegliche Ablenkung und die Freundschaft zu den anderen Mädchen die beste Medizin gegen Liebeskummer. Während sie Falks sandfarbenes Fell striegelte, war ihr davon nichts anzusehen, dass sie während des Vormittags einen Liebeskummerblues schob. „Wohin wollt ihr ausreiten?“, tauchte Sarah mit ihren Freundinnen auf. „Als ob ihr es wissen müsstet“, wiegelte Emily ihre jüngere Cousine ab. Kim und Anna-Lena kicherten als Vivien kurz darauf aufschrie.
„Was ist los, Vivi?“, fragte Kiki besorgt. „Man hat mir einen großen Regenwurm in den Putzkoffer gelegt, den ich gerade berührt habe“, rümpfte sie angewidert ihre Nase. „Immer eure billigen Scherze!“, wandte sich Lotta an die jüngeren Mädchen. „Seht mal her, was ich da habe“, kam ein fünftes Mädchen den Stallgang entlang gelaufen, welches die Roten Siebenerinnen nicht kannten. „Im Stall wird nicht gerannt“, wies Tessa sie zurecht. Grinsend öffnete das Mädchen mit den blonden Locken die Hand. Ein Frosch hüpfte auf Aylins Schuh. „Igitt, weg damit!“, quietschte sie und kickte ihn im hohen Bogen von sich weg. „Jetzt raus mit euch, ihr Unruhestifterinnen! Ihr macht uns gleich noch die Pferde verrückt“, schimpfte Emily. „Immer diese kleinen Kröten“, bemerkte Kiki kopfschüttelnd, „Sie verhalten sich wie Kindergartenkinder, obwohl sie mindestens elf oder zwölf sein müssten“
„Auf einen tollen Nachmittag!“, strahlte Fianna übermütig und schwang sich auf Carusos Rücken. In Zweier- und Dreierreihen ritten sie vom Hof. „Ich habe eine tolle Route ausfindig machen können“, ritt Emily auf Jazz an der Spitze der Gruppe. „Hier waren wir schon einmal“, erkannte Mathilda den Reitpfad wieder. „Stimmt, hier waren wir schon einmal vor drei Jahren als wir die betrunkenen Piranhas am letzten Abend unseres Westerncamps aus dem Wald geholt haben“, erinnerte sich Lotta. „Oh Gott, erinnere uns nicht mehr daran“, stöhnte Emily. „Apropos Piranhas“, schnappte Fianna das Gesprächsthema auf, „Mir juckt es in den Fingern ihnen einen kleinen Streich zu spielen“ „Sind wir dafür nicht ein bisschen zu alt?“, räusperte sich Emily. „Ach was, ein kleiner Streich geht immer“, grinste Mathilda. Gerade jetzt hatte sie große Lust Sven eins auszuwischen.
Heute Morgen hatte er sie mit drei neuen Nachrichten bombardiert. Egal wie sehr sie ihn manchmal vermisste, vergeben konnte sie ihm immer noch nicht. Durch Lotta erfuhr sie, dass er immer noch täglich mit Manon skypte und ihr Postkarten schickte. Nur mit Mühe schaffte sie es diese Gedanken beiseite zu schieben. Jetzt stand der Spaß am Ausritt deutlich im Vordergrund. „Seht ihr das auch?“, linste Vivien durch die Baumwipfel. „Was siehst du denn?“, drehte sich Annemieke zu ihr um. „Dahinten ziehen dunkle Wolken auf“, wusste Lotta wovon sie sprach. Merkwürdigerweise hatten selbst die meisten Vögel mit einem Mal ihren Gesang eingestellt. „Dann lass uns schleunigst zurück“, trieb Aylin Snowflake vorwärts. „Gegen eine Dusche ist nichts einzuwenden, gerade mir sowieso warm“, meinte Tessa. „Tja, das ist halt der April, der macht was er will“, seufzte Kiki. Obwohl die Freundinnen einen Teil der Strecke trabten und zügig vorankamen, holte die Regenfront sie in der Nähe des Baches ein. Ein kurzer, aber heftiger Schauer mit Hagel ging auf die Reiterinnen nieder. Den Pferden konnte ihr nasses Fell nichts ausmachen, während die durchnässten Mädchen zu frösteln begannen.
Am nächsten Tag war Ostern. Abends trafen sich die Mädchen am Osterfeuer auf Rachels Hof. „Haben eure Eltern euch die Ostereier auch auf den Tisch gestellt?“, fragte Lotta. „Na klar, wer von uns sucht denn noch im Garten“, lachte Fianna. Annemieke, Kiki und Aylin liefen los, um Getränke zu besorgen. Da am Getränkestand großer Andrang herrschte, kamen sie nach einer Viertelstunde wieder. „Frohe Ostern!“, hielt Kiki ihre Colaflasche hoch. Fröhlich stießen die Bandenmädchen mit Limonade an und wärmten sich an dem Feuer auf, das gut fünf Meter in den Nachthimmel züngelte. „Frohe Ostern, Mädels!“, winkte ihnen Jannis zu, der mit seinen Kumpels im Gepäck auf die Bandengirls zukam. Mathilda erkannte Svens blonden Haarschopf schon von weitem. Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Schnell weg hier!“, raunte ihre innere Stimme.
„Wo willst du hin, Matti?“, stolperte ihr Kiki hinterher. „Weg von Sven“, murmelte sie und schob sich an einer Gruppe Männer vorbei. „Du scheinst immer noch nicht darüber hinweg zu sein“, nahm ihre beste Freundin ihre Hand. „Wenn ich ehrlich bin, wird mein Herz Jahrzehnte brauchen, bis es wieder zusammengewachsen ist“, stockte ihre Stimme. Obwohl die Trennung zwei Wochen her war, fühlte es sich erst wie gestern an. Ihre Sehnsucht holte sie mit einem Mal wieder ein, dazu der aufgestaute Kummer. „Ich kann ihm noch nicht einmal in die Augen schauen“, schniefte sie. Kiki nahm sie in den Arm. Zum Glück konnte niemand sehen, dass Mathilda beinahe weinte, da sie ihr Gesicht an Kikis Schulter verbarg. Generell kam es momentan öfter vor, dass sie nah am Wasser gebaut hatte, was früher eher selten der Fall war. Offenbar gehörte das Sensiblerwerden zum Erwachsenwerden dazu. „Morgen verpassen wir Sven einen richtigen Korb!“, flüsterte Kiki ihr ins Ohr. „Wie meinst du das?“, stutzte sie. „Naja, wir stellen ihm ein Korb mit ein paar ekligen Sachen zusammen und stellen ihn vor seine Haustür“, erwiderte ihre Freundin. „Klingt lustig!“, musste Mathilda mit einem Mal grinsen.
Am nächsten Nachmittag trafen sich Mathilda, Emily und Kiki bei Fianna, die einen alten Bastkorb im Keller gefunden hatte. Annemieke, der es nicht so gut ging, war zuhause geblieben. „Seht mal, was ich hier habe“, hielt Emily den Freundinnen eine Plastiktüte unter die Nase. „Bah, halt mir die Tüte noch näher an meine Nase“, wich Fianna zurück. „ich würde mal sagen, das sind Pferdeäpfel mit 1a Qualität“, kicherte Tessa, „Würzig riechen tun sie schon mal“ Kiki schnupperte an der Tüte und rümpfte anschließend ihre Nase, worauf die Mädchen einen Lachflash bekamen. „Jetzt müssen wir nur noch den Korb bestücken“, frohlockte Mathilda, die ein wenig pinkes Toilettenpapier aus ihrer Jackentasche fischte. Zuerst kamen die Pferdeäpfel in den Korb, dazu das Klopapier und darüber ein paar zerrissene Herzen und eine zerfledderte Rose.
„Jetzt bekommt der Liebeskiller seinen Korb“, rieb sich Kiki die Hände. Mit Schadenfreude im Gepäck stiegen die Freundinnen auf ihre Fahrräder. Sven wohnte nur ein paar Minuten von ihr entfernt. Auf dem Weg kamen sie an Kikis alter Wohnung vorbei. „Wer als erstes am Ziel ist!“, stachelte Fianna die Freundinnen zu einem Wettrennen an. „Hey, das ist unfair, ich habe den Korb auf meinem Gepäckträger“, beschwerte sich Mathilda. Während Fianna, Tessa und Kiki um die Spitze kämpften, blieb Emily aus Solidarität hinten. Vor einem Bäcker, der ganz in der Nähe war, stellten sie ihre Fahrräder ab und liefen die letzten Meter bis vor Svens Haus. Fianna schlich voran, um sicherzustellen, dass keiner anwesend war, der sie sehen konnte. „Die Luft ist rein! Kommt Mädels!“, flüsterte sie und im Gänsemarsch schlichen ihr die Freundinnen hinterher. „Wir können den Korb auch vor dem Piranhaquartier abstellen“, wisperte Emily.
„Nein, wir stellen ihn vor die Haustier“, entschied Mathilda, „Es soll ein Korb speziell für Sven sein und nicht für alle Fischköppe“ „Soll ich klingeln?“, grinste Fianna, sodass sich ihre Sommersprossen kräuselten. „Bist du bescheuert?“, schüttelte Mathilda sie an der Schulter. Nachdem sie den Korb abgestellt hatten, schlichen sie auf Zehenspitzen davon und harrten hinter einer großen Hecke aus. Trotzdem konnte Fianna nicht widerstehen, kichernd huschte sie zum Haus zurück und klingelte. Fianna konnte sich gerade noch rechtzeitig hinter der Hecke wegducken, als Sven die Haustür öffnete. Verdutzt warf er einen Blick auf den Korb vor seinen Füßen. Erst nach einem Moment schüttete er den Inhalt ins nächstgelegene Blumenbeet und feuerte den Korb in die Hecke. Offenbar hatte er verstanden, wen wem er stammte. Obwohl Mathilda das Herz bis zum Hals schlug, musste sie ihre Hand auf dem Mund pressen, um nicht laut loszukichern. Endlich drehte sich Sven auf dem Absatz um und schloss die Tür hinter sich. „Komm lass uns gehen!“, tickte Kiki Fianna an. Mathilda konnte sich nicht länger beherrschen und prustete los, sodass sie sich an Emilys Schulter festhalten musste.
Zu fünft hockten sie bei Fianna auf der Terrasse und tranken gekühlten Eistee. „Habt ihr seinen herrlichen Blick gesehen“, kicherte Mathilda wieder los, „Er hat dreingeschaut, wie ein Ölgötze“ „Bis er gecheckt hat, dass der Korb wahrscheinlich von dir oder vielmehr von uns allen stammt“ „Das war aber auch gerecht“, fand Emily, „Sven war noch nie einer Freundin gegenüber treu, weder zu Matti noch zu Aylin. Selbst Tessa hatte er vor zweieinhalb Jahren Hoffnung gemacht und hat sich nach ein paar Wochen bei ihr nicht mehr gemeldet“ „Kann es sein, dass Piranhas generell nicht in der Lage sind Beziehungen zu führen?“, warf Fianna ein. „Scheinbar nicht“, schüttelte Kiki den Kopf und fügte bejahend hinzu, „Aber in letzter Zeit habe ich mich öfter mit Lennart getroffen“
„Uuuuh!“, machte Mathilda und formte ein Herz mit ihren Händen. „Da läuft was zwischen euch“, stupste Emily Kiki an. „Naja, es kommt langsam in die Gänge“, murmelte sie und steckte sich ein Gänseblümchen in ihre schwarzen Haare, die in der Sonne funkelten. „Also sag doch, dass ihr zusammen seid“, sah Fianna sie an. „Ganz noch nicht, aber vielleicht schon bald“, sagte Kiki, die an ihrem Eistee nippte. „Hey Mädels, ich habe die Fotos schon in den Chat gestellt“, hielt Emily den Freundinnen ihr Handy hin. Selbstverständlich war Lotta die Erste, die den Post mit einem Lachsmiley kommentierte. Wieder prusteten sie los, sodass sich Emily am Eistee verschluckte und Tessa ihr auf den Rücken klopfen musste.
Leider vergingen die Ferien viel zu schnell. Zwar war inzwischen etwas Gras über Mathildas Liebeskummerwunde gewachsen, trotzdem spürte sie die Nabe immer noch. Als sie morgens vor dem Klassenraum auf Herrn Fiedler warteten, kam Sven schnurstracks auf sie zu. „Ich weiß, dass der Korb von dir kommt, Mathilda“, senkte er seinen Blick. Dies tat er nur, wenn er äußerst wütend oder gekränkt war. „Das war nur gerechtfertigt!“, fauchte sie ihn an, „Hab weiterhin viel Spaß mit Manon!“ „Ich bin doch gar nicht mit ihr zusammen“, sah er sie verdutzt an. „Sag mal, machst du eine Ausbildung zum Märchenerzähler?“, runzelte sie die Stirn. „Falls du es noch nicht weißt, Manon hat seit kurzem wieder einen Freund“, sagte Sven verärgert. „Und warum hat mir Lotta erzählt, dass du mit ihr skypst?“, hielt Mathilda ihm vor, „Außerdem knutscht du wieder mit ihr rum, wenn wir bald in Frankreich sind“
„Sag mal, wie bist du denn drauf?“, wurde Sven wütend, „Aus meiner lebensfrohen und lustigen Freundin ist eine wahre Zimtzicke geworden“ „Haha von wegen Freundin, ich wünschte du wärst nie mein Freund gewesen!“, zitterte ihre Stimme vor Wut. Kommentarlos schubste er sie nach hinten, sodass mit ihren Hinterkopf gegen einen Kleiderhaken prallte. Unsanft landete sie auf dem Fußboden. „Das ist deine gerechte Strafe!“, trat er ihr noch einmal gegen das Fußgelenk, sodass Mathilda aufjaulte. „Spinnst du, Sven!“, packte Michael ihn am Arm und zog ihn weg. „Du entschuldigst dich sofort bei meiner Schwester!“, baute sich Annemieke vor ihm auf. „Ganz ehrlich, Mathilda hat das bekommen, was sie verdient hat, wenn sie mich dauernd beleidigt“, schrie Sven fast. „Pass bloß auf, dass du keinen Ärger von Herrn Fiedler bekommst“, wies Lotta ihn zurrecht, „Gerade kommt er um die Ecke“
Annemieke und Freya halfen ihr auf. Mit schmerzverzehrtem Gesicht hielt Mathilda sich ihren Kopf. Verdammt tat das weh! Wenn sie gerade nicht so sauer wäre, hätte sie heulen können. „Alles in Ordnung?“, legte ihr Fianna den Arm um die Schulter. „Was ist los, Mathilda?“, blieb ihr Klassenlehrer vor ihr stehen. „Sven hat sie gegen die Wand geschubst, sodass sie mit dem Kopf gegen einen Haken gefallen ist“, kam ihr Freya zuvor. „Hast du dich ernsthaft verletzt?“, machte Herr Fiedler ein besorgtes Gesicht, „Sollen wir dich ins Krankenhaus bringen?“ „Ach was, so schlimm ist es auch nicht“, biss Mathilda ihre Zähne zusammen, obwohl ihr Kopf mächtig brummte und ihr leicht duselig war. „Wir bringen sie zum Krankenzimmer“, beschloss Annemieke, die zusammen mit Lotta ihre Schwester unterhakte. „Das geht auf keine Kuhhaut!“, ärgerte sich Lotta, „Das war gefährliche Körperverletzung, du hättest dich noch schlimmer verletzen können“ „Ich habe gehört, dass jemand gestorben ist, nachdem er auf den Hinterkopf gefallen ist“, erzählte Annemieke.
„Blödsinn, ich werde nicht sterben“, knurrte Mathilda. „Ach Gott, was ist dir passiert?“, öffnete Schwester Hildegard, die die Schulkrankenschwester war, die Tür zum Krankenzimmer. In ihrem schwarzen Gewand und dem Kopf sah sie fast so aus wie ein Pinguin. Trotzdem war sie bei den Schülern wegen ihrer Gutmütigkeit sehr beliebt. „Was ist dir passiert, Kindchen?“, legte ihr die Schwester die Hand auf die Schulter. „Ich bin gegen mit dem Kopf gegen einen Kleiderhaken geprallt“, traten ihr Tränen in die Augen. „Nicht weinen, gleich wird alles gut, ich habe ein Kühlkissen für deinen Kopf“, tätschelte sie ihre Schulter. „Ich weine doch gar nicht“, dachte Mathilda bei sich, „Außerdem bin ich sechzehn und nicht erst sechs Jahre alt. Man kann mich auch wie einen Erwachsenen behandeln“ Annemieke und Lotta verabschiedeten sich und verließen das Zimmerchen.
Obwohl die Kopfschmerzen durch eine Tablette und das Kühlkissen nach einer Weile weggingen, blieb immer noch die pure Enttäuschung, wie Sven ihr sowas antun konnte. Seit der Grundschule wurde sie nicht mehr körperlich von Klassenkameraden angegriffen. Zumal Sven fast ein Jahr lang ihr fester Freund war und sie auch zuvor befreundet gewesen waren. Die Zeiten als zwischen den Roten Siebenerinnen und den Piranhas Bandenkrieg herrschte, waren längst vorbei. Am Ende der siebten Klasse hatten sie ihre letzte ernstzunehmende Auseinandersetzung mit den Jungs gehabt. Seither vertrugen sie sich mit den Jungs und es hatte sich zwischen ihnen so etwas wie eine Freundschaft zwischen ihnen gebildet. Mathilda und Sven standen sich schon seit längerem sehr nahe. Nach dieser Attacke war auch das allerletzte Band zwischen ihnen zerrissen. Seine Entschuldigungen konnte er sich sonst wo hin stopfen, wenn er sich überhaupt dafür entschuldigte. Als die Krankenschwester am Schreibtisch beschäftigt war, schrieb sie eine kurze Nachricht an Kiki. „Oha, das geht gar nicht! Hoffentlich wird Sven zum Rektor bestellt. Ich hätte nicht gedacht, dass er so ein Arschloch ist. Ich kann mir denken, wie es dir geht. Fühl dich geknuddelt von mir, Matti! Deine beste Freundin Kiki! HDDGL!“, antwortete ihre Freundin nach fünf Minuten.
In der dritten Stunde fühlte sich Mathilda soweit hergestellt, dass sie am Physikunterricht teilnehmen konnte. Nachdem Herr Kempf die Klasse begrüßt hatte, teilte er die Arbeitshefte aus. Oh je, jetzt auch noch das! Mathilda wusste, dass ihre Klausur nicht besonders gut gewesen sein konnte. „Ne Vier!“, öffnete Fianna neben ihr das Heft. Mit zittrigen Fingern blätterte Mathilda die Seiten durch und entdeckte eine große rote Fünf am Ende. „Es gibt großen Nachholbedarf bei einigen“, verkündete der junge Physiklehrer, als er den Notenspiegel anschrieb. Seufzend sank Mathilda in sich zusammen, das war es wohl mit einer Zwei auf dem Zeugnis. Ihre letzten beiden Arbeiten waren glatte Zweien gewesen, doch dieser Ausrutscher ruinierte ihre Endnote. Annemieke hatte mit einer Drei noch wahnsinnig viel Glück gehabt und Lotta hatte mit einer Zwei Plus die zweitbeste Arbeit nach Finn wiederbekommen. Wie aus dem Nichts stand Herr Fiedler im Physiksaal. „Michael, kannst du deine Sachen packen und mit nach draußen kommen“, forderte er den Jungen auf.
„Was hat Michi nur verbrochen?“, flüsterte Fianna ihren Freundinnen zu, worauf sie nichtswissend mit den Achseln zuckten. „Was wollen Sie von mir?“, blieb Michael verdattert vor seinem Platz stehen. „Ich habe eine Nachricht für dich“, fuhr der Klassenlehrer fort und machte ein ernstes Gesicht. Als die Tür geschlossen wurde, brachen wilde Spekulationen los. „Ruhe bitte, ich weiß, dass ihr wegen Michael aufgebracht seid, aber können wir die letzte halbe Stunde vom Unterricht nutzen?“, musste Herr Kempf die Klasse beruhigen. An Unterricht war für die vier Bandenmädchen nicht mehr zu denken. „Michael kann doch nicht einfach so aus dem Unterricht geholt worden sein?“, wisperte Lotta. „Hat er sich etwas zu schulden kommen lassen?“, raunte Fianna. „Wohl kaum, sonst hätte Herr Fiedler ihm nicht gesagt, dass er eine Nachricht für ihn hätte“, murmelte Mathilda. „Ich sehe, dass ihr tuschelt“, warf Herr Kempf ihnen einen strengen Blick zu, „Mathilda, gerade du solltest jetzt aufpassen, dass du die Besprechung der Klausur mitbekommst, sonst sieht es bei der nächsten Arbeit nicht besser aus“ Sehr nett, dass er es vor der ganzen Klasse kundtun musste, dass sie nicht besonders gut abgeschnitten hatte!
Nach der Schule kamen Jannis, Lennart und Ömer auf die Bandenmädchen zu. „Ich habe eine SMS von Michi bekommen“, musste Jannis schlucken, „Seine Oma ist vorhin gestorben“ „Wohl nicht Josephine?“, blieb Lotta der Mund offen stehen. „Leider doch“, nickte Lennart betrübt. „Was hatte sie bloß?“, zitterte Annemiekes Stimme. „Einen Schlaganfall“, erwiderte Jannis knapp, „Man hat sie zu spät aufgefunden, sodass sie kurz nach der Einlieferung ins Krankenhaus gestorben ist“ Mathilda konnte ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Weinend klammerte sie sich an der Schulter ihrer Schwester. Dieser Tag war an Schrecklichkeit nicht zu überbieten. Erst dass Sven ihr wehgetan hatte, dann die Fünf in Physik und jetzt war noch Josephine gestorben.
Jetzt fing Fianna an zu schniefen und wischte sich mit einem Taschentuch ihre Augen trocken. „Ich habe eine Bitte an euch oder viel mehr Michi“, begann Ömer, „Er möchte, dass alle Streitereien vergessen werden, insbesondere zwischen Sven und Mathilda“ Mathilda versagte die Stimme, als sie antworten wollte und nickte stattdessen. „Wir müssen Josephine ehren und immer an sie denken“, schluchzte Fianna auf. „Das werden wir auf jeden Fall“, versicherte ihr Annemieke, die ihr über den Rücken streichelte. Schweigend gingen die Schüler in alle Himmelsrichtungen auseinander. Mathilda fühlte sich auf dem ganzen Heimweg elend und stocherte zuhause lustlos in ihrem Mittagessen herum. Annemieke ging es nicht anders, als sie ein Foto von Josephine in ihrem Album anschaute, überkamen sie all ihre Gefühle und wurde von einem Weinkrampf geschüttelt, sodass Mathilda sie kaum trösten konnte.
Spontan trafen sich die Mädchen am späten Nachmittag am Wohnwagen, um sich gegenseitig Trost zu spenden. In ihrem Bandenquartier herrschte Weltuntergangsstimmung. Teils weinend, teils apathisch saßen die Mädchen um den Tisch herum. Die mitgebrachten Kekse wurden kaum angerührt, lediglich wurde nur ein bisschen Tee getrunken. Emily heulte sich knapp zwei Stunden lang die Augen aus dem Kopf und konnte durch niemanden getröstet werden, egal wie sehr Annemieke und Lotta sich darum bemühten. „Sie hat immer so leckere Kuchen gebacken, die besten Marmeladen und Puddings gekocht und sich um unsere Kaninchen gekümmert, wenn wir verreist waren“, liefen Aylin die Tränen über die Wangen. Annemieke, der ebenfalls feuchte Augen hatte, schloss sie in ihre Arme. Mathilda starrte währenddessen ununterbrochen an die Wohnwagendecke mit den goldenen Sternen, die sie vor fast vier Jahren mit Kiki bemalt hatte. Lotta holte ein blaues Plakat aus der Schubblade, welches noch nicht beschrieben war aus der Schubblade. „Was willst du damit machen?“, fragte Annemieke.
„Ein Erinnerungsplakat gestalten“, überlegte Lotta, „Ich muss etwas tun, sonst halte ich es hier nicht mehr aus“ „Aber wir haben keine Fotos“, wandte Fianna ein. „Egal, die können wir sicherlich zuhause ausdrucken“, murmelte Lotta, während sie gedankenverloren mit dem Edding herumspielte. „Moment mal, wir können das Plakat schon mal anfangen, wenn wir zuerst die Felder markieren, wo wir später die Bilder hinkleben“, wandte Vivien ein. Ohne viel zu reden, begannen die Freundinnen das Plakat zu bemalen. Mathilda malte eine untergehende Sonne über dem Meer neben die Blumenwiese ihrer Schwester. „Hey, ich will euch eine Sprachnachricht von Kiki abspielen“, hielt Lotta plötzlich inne. „Hi Mädels, leider kann ich gerade nicht bei euch sein. Josephines Tod hat mich richtig schockiert und ich bin gerade ziemlich traurig deswegen. Ich fühle bestimmt das Gleiche wie ihr im Moment. An diesem Wochenende kann ich spontan doch kommen, da Papa erst übernächstes Wochenende mit mir ins Disneyland fahren will. Macht’s gut, meine Bandenschwestern! Hab euch ganz doll und vermisse euch gerade immens, eure Kiki“, drang Kikis vertraute Stimme aus Lottas Handy.
Nach der Biostunde hatten sie noch zwei Stunden Musik. Mathilda hasste lange Schultage, an denen sie bis drei Uhr in der Schule waren. Zudem hatte sie nachher gegen Abend anderthalb Stunden Hockeytraining und musste noch für einen Test lernen. Heute Abend würde sie garantiert todmüde ins Bett fallen. In der Pausenhalle hakte sich Mathilda bei ihrer Schwester unter. „Hey, ich muss euch noch etwas sagen“, hechtete ihnen Michael hinterher. „Was denn?“, drehte sich Annemieke überrascht zu ihm um. „Ihr seid Samstag bei der Trauerfeier in der Friedhofskapelle eingeladen“, erwiderte er. „Wirklich?“, zog Mathilda die Augenbrauen hoch. „Na klar, meine Oma mochte euch Bandengirls echt total gerne und hätte es von Herzen gewollt, dass ihr sie auf ihrer letzten Reise begleitet“ „Aber Samstag haben wir ein wichtiges Hockeyspiel“, platzte es aus Annemieke heraus. „Aber doch erst abends, du Schaf!“, gab Mathilda ihr einen sanften Stoß zwischen die Rippen. „Na klar, die Trauerfeier ist vormittags um elf Uhr. Treffen tun wir uns eine Viertelstunde vorher auf dem Parkplatz“, fuhr Michael fort, „Könnt ihr eure Freundinnen darüber in Kenntnis setzen?“
„Aber sicher“, nickten die Zwillinge synchron. „Wartet mal kurz und kommt mal kurz her“, winkte Mathilda Lotta und Fianna zu sich rüber. „Was gibt es Neues?“, blieb Fianna stehen. „Ihr müsst schon zu uns kommen, wenn ihr es wissen wollt“, beharrte Annemieke. Die Zwillinge teilten ihnen mit, was Michael ihnen gerade gesagt hatte. „Wir werden auf jeden Fall dabei sein“, versicherte ihnen Lotta, „Ich weiß schon genau, was ich anziehen werde“ „Was denn?“, sah Fianna sie groß an. „Ich habe noch einen Anzug von der Beerdigung meines Opas und dazu trage ich dunkelblaue Lackschuhe und eine helle Bluse“ „Lotta, du wandelnder Kleiderschrank, du hast einfach alles!“, stieß Mathilda sie belustigt an. „Ich weiß, ich kann euch auch noch Blusen und ein Jackett verleihen, falls ihr Bedarf habt“, meinte ihre Freundin. Im Musikunterricht bekam Mathilda nicht einmal die Hälfte mit. In Gedanken versunken starrte sie aus dem Fenster, während draußen ein heftiger Wolkenbruch niederging. „Was wäre, wenn unsere Großeltern sterben?“, ging ihr durch den Kopf. Allein der Gedanke genügte, dass ihr fast Tränen in die Augen traten. Zum Glück lebten alle ihre Großeltern noch und waren gut noch gesund.
Drei Tage später trafen sich die Roten Siebenerinnen auf dem Parkplatz vor der Friedhofskapelle. Alle trugen schlichte und dunkle Kleidung, Kiki hatte sogar ein selbst genähtes schwarzes Kleid an. Ihr schwarzes Haar wurde von einer dunkelblauen Schleife zusammen gehalten. „Ich hätte sie noch einmal so gerne gesehen, bevor sie gestorben ist. Ich habe sie mindestens ein halbes Jahr nicht mehr gesehen“, schniefte Kiki und fuhr sich mit der Hand über ihre Augen. Schweigend legte ihr Mathilda den Arm um die Schulter. Eine Kirchenglocke begann zu bimmeln. Einige von Josephines Angehörigen machten sich bereits auf dem Weg in die Kapelle. Die Bandenmädchen schlossen sich ihnen an. Mathilda nahm Kikis Hand, während Annemieke mit Emily Hand in Hand ging.
Zwischen den Trauergästen erkannten sie die Piranhas in schwarzen Anzügen. Viel artiger und gesitteter sahen sie aus als sonst. Anstatt eines Sarges stand eine grüne Urne mit gelben Blumen geschmückt vor dem Altar. Rund herum standen unzählige Kerzen und Blumensträuße. Aber auch kleinere Gartenwerkzeuge lagen rund um die Urne herum verstreut, da Josephine Zeit ihres Lebens eine Vollblutgärtnerin war. Auch das von der Roten Sieben gestaltete Plakat fanden sie neben einem schwarzweißen Porträt von Josephine wieder. „Es ist wunderschön geworden, da habt ihr euch richtig viel Mühe gegeben“, hauchte Kiki während die Bandenmädchen eine Weile vor der Urne inne hielten. Schweigend nahmen sich die Freundinnen an den Händen und ließen sich zwei Reihen vor den Piranhas nieder.
Eine Orgelmusik ertönte, Kränze und Schleifen wurden vor der Urne niedergelegt und der Pastor ging zu seinem Rednerpult. Vereinzelt drang ein Schniefen aus den anderen Reihen zu ihnen rüber. Mathilda hatte schwer mit den Tränen zu kämpfen, als sie sich Josephine mit ihren lebhaften blauen Augen und ihrer munteren Lebensart ins Gedächtnis rief. Wie oft sie früher bei ihrer Schrebergartennachbarin auf eine kalte Limo oder auf ein Stück Kuchen eingeladen waren oder auf ihre Kaninchen aufgepasst, wenn die Roten Siebenerinnen verreist waren. Josephine liebte es ihre Freude am Leben zu teilen und ihre Mitmenschen glücklich zu machen. Nun waren die Bandenmädchen hier um von ihrer alten Freundin Abschied zu nehmen. Gerade mal vierundachtzig Jahre war sie alt geworden. Neben Mathilda weinten Emily und Kiki ununterbrochen leise vor sich hin. Annemieke betupfte sich die Augen mit einem weißen Stofftaschentuch die Augen und Vivien vergrub ihr Gesicht an Fiannas Schulter.
„Liebe Angehörigen, Freunde und Weggefährten von Josephine Hedwig Vilnius“, begrüßte der Pastor die Trauergemeinde, „Heute sind wir zusammen gekommen, um von einem liebenswerten und lebensfrohen Menschen Abschied zu nehmen, den wir bis zuletzt lieben und zu schätzen gelernt hatten. Josephine war eine leidenschaftliche Gärtnerin, Biologie gehörte in der Schule zu ihren Lieblingsfächern und ihr eigener Schrebergarten erfüllte ihren Traum von Freiheit und Unbeschwertheit. Über Jahrzehnte schaffte sie sich dort ein kleines Paradies auf Erden. Hier fühlten sich nicht nur sie und ihre Enkelkinder wohl, immer wieder lud sie ein paar junge Mädchen ein, die heute auch anwesend sind“ Mathilda wusste genau, wer gemeint war. Einen Moment lang lenkte sie einen Blick auf ihre Freundinnen, die entweder mit versteinerten Mienen oder mit tränenüberströmten Gesichtern in ihrer Bankreihe saßen.
Wieder wurden ihre Augen feucht. Schon die ganze Zeit war ihr zum Weinen zumute. Trotzdem schluckte sie mit aller Macht die Tränen herunter. Ein Lied wurde angestimmt, da ihre Kehle wie zugeschnürt war, brachte Mathilda keinen Ton aus sich heraus. Stattdessen hielt sie Kikis Hand fest, die sie während des gesamten Trauergottesdienstes nicht mehr los ließ. Dass ihre beste Freundin neben ihr saß, machte die Situation immerhin ein bisschen erträglicher. Michaels Mutter und drei weitere Angehörige kamen zum Rednerpult und hielten kurze Ansprachen. Im Anschluss daran wurde das nächste Lied gesungen. Von den Roten Siebenerinnen war Aylin mit ihrer glockenhellen Stimme heraus zu hören. Seit vier Jahren sang sie im Schulchor.
Am Ende des Gottesdienstes spielte die Orgel. Gesittet verließen die Mädchen die Kapelle und folgten Michaels Familie und dem Pastor zum Grab. Draußen war es stark bewölkt. Passend zu der Stimmung begann es aus den bleigrauen Wolken zu regnen. Tropfen für Tropfen fiel auf die ausgedörrte Erde. Vor einem ausgehobenen Grab blieben sie stehen. Die Urne wurde in die Grube hinab gelassen. Jeder Anwesende durfte eine Rose ins Grab werfen und die Urne mit einer Schippe Erde bedecken. „Ich hasse Abschiede“, rieb sich Vivien ihre verquollenen Augen. „Ich hoffe Josephines Garten wird nicht für immer leer bleiben“, seufzte Annemieke traurig. „Dafür sorgen wir schon“, tauchte Jannis hinter ihr auch. „Falls ihr es noch nicht wusstet, wir ziehen um“, sagte Jannis, „Wir werden Nachbarn. Unser neues Bandenquartier wird ihr Schrebergarten sein“ „Oh was für ein Zufall!“, platzte es aus Fianna heraus, „Da haben wir unsere Gelegenheitsrivalen und Manchmalfeinde direkt um die Ecke“
„Dann können wir doch mal bandenübergreifende Grillabende planen und Gartenpartys feiern“, frohlockte Michael. „Das wäre doch mal“, klang Mathilda ganz angetan und hatte im Hinterkopf, dass man den Jungs mal wieder den einen oder anderen Streich spielen könnte. „Zumindest seid ihr liebenswerte Nachbarn mit denen wir auch unseren Spaß haben werden“, war Lotta der Meinung. Als sich Mathilda kurz umdrehte entdeckte sie Kiki und Lennart, die vor Josephines Grab Händchen hielten. Offenbar hatte es doch zwischen ihnen gefunkt, wie sie vermutet hatte. Mathilda gönnte es ihrer besten Freundin, aber hoffentlich meinte Lennart es ernst mit ihr. Vielleicht würde sie öfter nach Freudenburg kommen, wenn sie mit Lennart zusammen war. „Mathilda, ich will kurz mit dir sprechen“, berührte Sven sie seicht an der Schulter. „Okay“, nickte sie nur. „Kommst du einmal kurz mit, ich will mit dir unter vier Augen sprechen“, sagte er. „Meinetwegen“, murmelte sie und ging mit ihm hinter eine Hecke.
„Ich muss mich erstmal für mein beschissenes Verhalten am Montag entschuldigen“, holte er tief Luft, „Ich hätte dich niemals verletzen wollen, wirklich nicht. Es war eine spontane Kurzschlussreaktion, dass ich so ausgeflippt bin und ich habe Tage lang überlegt, wie ich mich anständig bei dir entschuldigen kann. Ich mag dich echt gerne und es tat richtig weh, dich zu verlieren. Würdest du mir verzeihen?“ Mathilda musste schlucken und sagte dann, „Ich verzeihe dir, aber für eine Beziehung reicht es erstmal nicht“ „Das kann ich verstehen, ich war derjenige, der den Mist verzapft hat. Ich verspreche dir, ich werde dich nie wieder derart verletzen“, sah Sven schuldbewusst drein und fügte hinzu, „Können wir wenigstens wieder Kumpels sein? Mit dir kann man unglaublich viel Spaß haben“ „Das müsste drin sein“, nickte sie zaghaft. Auf der Beerdigung hatte sie keine Lust gehabt einen weiteren Streit mit ihm über den Zaun zu brechen, obwohl sie immer noch ein wenig sauer auf ihn war. Immerhin haben sie sich jetzt ausgesprochen. Erleichtert ging sie zu ihren Freundinnen zurück.
Nach dem Beerdigungsgottesdienst fuhren sie zum Wohnwagen. „Ich habe noch etwas von Josephine, was sie mir vor ein paar Jahren mal geschenkt hat“, hielt Emily ein kleines Büchlein hoch. „Ist das ein Kochbuch?“, bekam Fianna vor Neugierde ganz große Augen. „Unter anderem stehen auch ein paar ihrer Rezepte drin, aber auch ein paar hilfreiche Tipps für den Garten und wie man Kleidungsstücke näht“, erwiderte Emily. „Au fein, wir können noch nach ihrem Tod etwas von ihr lernen“, freute sich Kiki. „Ich habe eine Überraschung vorbereitet“, fuhr Emily fort und machte eine kurze Pause, um ihre Freundinnen auf die Folter zu spannen. „Nun sag schon!“, wurde Lotta ungeduldig. „Ich habe alle Zutaten für einen Vanillepudding mit Himbeersoße“, öffnete Emily die Tür des kleinen Kühlschrankes.
„Hurra!“, riefen die Zwillinge, die sich einen Highfive nach dem anderen gaben. Während Aylin eine Kanne heißen Tee kochte, rührten Annemieke, Emily und Mathilda die Zutaten für den Pudding zusammen. Die anderen Mädchen deckten den Tisch. Als der Pudding auf der Herdplatte vor sich hin köchelte, breitete sich im Wohnwagen ein süßlicher Geruch aus. Genauso hatte es gerochen, wenn Josephine die Mädchen auf eine Schale Pudding eingeladen hatte. „Pudding ist fertig!“, stellte Emily den Topf auf den Tisch. „Lass uns eine Schale für Josephine mitessen!“, nahm sich Fianna zuerst einen Klacks. „Der Pudding schmeckt, als hätte sie ihn für uns gekocht“, war Kiki vom Geschmack begeistert. Dem konnten sich ihre Freundinnen anschließen, der Pudding war einfach himmlisch.
Hi, hier ist Matti again! So endlich habe ich mal Zeit gefunden ein bisschen zu schreiben. Josephines Beerdigung ist inzwischen zwei Wochen her. Stattdessen gibt es weitere Neuigkeiten. Emily hat einen Ausbildungsplatz in Kaiserslautern gefunden und wird nach den Sommerferien mit ihrem Freund in eine Wohnung ziehen. Lotta wird für ein Jahr als Austauschschülerin für ein Jahr in die USA gehen. Langsam habe ich das Gefühl, dass die halbe Bande auseinander zieht. Wenigstens haben wir die Piranhas als Schrebergartennachbarn. Ich muss schon sagen, dass sie sich toll um Josephines Garten kümmern. Anfangs haben Emily, Micky, Lotta und ich ihnen dabei geholfen Blumen- und Gemüsebeete anzulegen.
Am letzten Wochenende gab es die erste gemeinsame Gartenparty zu der uns die Jungen eingeladen haben. Sogar Raphael war da, der es nach gefühlten hundert Jahren geschafft hatte meine Schwester wieder zu besuchen. Da das Wetter gut war, konnten wir draußen sitzen. Biertische und Sonnentische haben sie extra aufgestellt. Sven und Michael haben sich den ganzen Abend am Grill abgewechselt. Jannis hatte seine Freundin Ramona aus der neunten Klasse mitgebracht. Kiki und Lennart haben geknutscht, was das Zeug hielt. Ich hatte doch Recht, dass sie zusammen kommen werden. Immerhin gab es zwischen der Roten Sieben und den Piranhas wieder eine Beziehung.
Nächste Woche geht es für uns für ein paar Wochen nach Frankreich. Micky und ich werden zusammen bei Elodie wohnen. Wie sehr ich unsere französische Freundin schon vermisse! Am meisten mag ich ihren lustigen Akzent. Auch auf die anderen Franzosen freue ich mich, die ich als sehr nett in Erinnerung habe. Nur auf Manon freue ich mich natürlich nicht besonders, da sie es mir gründlich mit Sven verdorben hatte. Eigentlich habe ich noch eine Rechnung offen mit ihr, aber was soll’s, auf Rache bin ich eh nicht aus und irgendwie finde ich sowas kindisch. Obwohl ich lange wütend auf Sven war, habe ich mich mittlerweile wieder mit ihm vertragen und wir können wieder einigermaßen normal miteinander reden. Erst letzte Woche habe ich mit ihm eine Radtour zum Fluss gemacht. Es gab nichts Besseres als einen Kumpel, mit dem man seinen Spaß haben und herum albern konnte.
So, ich geh gleich ins Bad, um mich bettfertig zu machen. Morgen muss ich wieder früh aufstehen. Also von daher, Adieu!
Liebenskummer! Die ersten Tage und Wochen nach der Trennung waren schon sehr hart für mich. Immerhin geht es mir jetzt besser, da meine Bandenfreundinnen immer für da sind.
Zutatenliste
So geht’s
Die Vanilleschote längs aufschlitzen, das Vanillemark auskratzen und in 350ml des Milch-Sahne-Gemisches geben, das nun mit der ausgekratzten Vanilleschote auf dem Herd aufgekocht wird. Jetzt die restlichen 150ml des Milch-Sahne-Gemisches mit den Eigelben, dem Zucker und der Speisestärke verrühren. Nun kommt diese Mischung zum kochenden Milch-Sahne-Vanille-Gemisch und wird mit heftigen Schlagen des Schneebesens untergerührt, sodass keine Klumpen entstehen. Nun lasst ihr den Pudding 1-2 Minuten köcheln, stellt die Temperatur des Herds runter und rührt währenddessen immer weiter. Ihr füllt nun den Pudding in eine Form/Schüssel und lasst ihn im Kühlschrank oder auf der Terrasse abkühlen, bis er eine festere Konsistenz hat. Den Pudding könnt ihr gut mit passierten Früchten genießen. Besonders passierte Mangos, Erdbeeren und Himbeeren schmecken wunderbar dazu.
Euch viel Spaß beim Kochen und lasst euch den himmlischen Pudding schmecken!
Tag der Veröffentlichung: 27.09.2015
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Ich widme dieses Buch meiner besten Freundin Anna, , meiner Freundin Lenny, meinem Schatz und Betty J. Viktoria, meiner treusten Leserin