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1. Kapitel

 „Sag mal, freust du dich auch schon auf das neue Schuljahr?“, stieß mich Rosy an, als wir auf der Veranda saßen, nachdem wir unsere Koffer gepackt hatten. „Schon“, nickte ich und fügte nachdenklich hinzu, „Leider wird es unser letztes Jahr sein“ „Auch wenn es das letzte Jahr ist, trotzdem werden wir gute Freundinnen bleiben. Zumindest Greta, Oli, Sandrina, du und ich“, schwor sich Rosy und goss uns beiden Grapefruitlimonade ein. „Mal sehen, ob dieses Jahr genauso turbulent wird, wie die letzten Jahre“, fügte ich in Gedanken versunken hinzu. In St. Malory herrschte immer viel Trubel und es war immer etwas los. Zwischendrin gab es jedoch ruhigere Zeiten, in denen es nicht so hektisch war. „Oh ja, seitdem wir dieses Internat besuchen, haben wir schon viel erlebt“, nickte meine Freundin bestätigend. Angeregt begannen wir uns über all die Erlebnisse aus den letzten drei Jahren zu unterhalten. Von meiner gescheiterten Beziehung mit Fintan bis hin zu diversen Streichen und dem Stallbrand im Frühjahr.

 

„Na, was macht ihr noch hier draußen?“, gesellte sich Jim, Rosys 13-jähriger Bruder zu uns. Weil er relativ klein und schmächtig war, wirkte er noch recht kindlich. „Ach, wir reden nur ein bisschen über unsere Schulzeit“, schmunzelte seine Schwester, „Und was machst du?“ „Ich wollte nur nach Jeannie gucken“, meinte Jim. Jeannie war unsere Katze, die uns vor wenigen Monaten zugelaufen war und auf dem Dachboden des Pferdestalls vier Junge zur Welt gebracht hatte. Seitdem sorgte Jim dafür, dass es der Katzenfamilie gut ging. Der Junge stapfte barfuss über den Rasen davon, nun waren Rosy und ich wieder alleine. Für einen kurzen Augenblick schwiegen wir uns an und lauschten dem Zirpen der Grillen. Dies würde vermutlich eine der letzten lauschigen Sommerabende sein, an dem wir auf der Terrasse sitzen konnten.

 

„Weißt du, was ich über die letzten Jahre vermisst habe?“, begann Rosy unvermittelt. „Nein, was denn?“, sah ich überrascht zu ihr auf. „Du wirst mich für verrückt erklären, wenn ich dir es so offen sagen würde“, druckste sie herum. „Komm schon, ich bin doch eine deiner besten Freundinnen“, versuchte ich ihr das Geheimnis zu entlocken. „Dir ist sicherlich aufgefallen, dass ich noch nie einen Freund hatte oder?“, fuhr meine Freundin fort, „Sandrina, Oli, Greta und du, ihr habt oder hattet alle schon einen festen Freund“ „Ja und was soll daran so besonders sein?“, stutzte ich. Einen Moment lang stand ich auf dem Schlauch, worauf Rosy hinaus wollte. Litt sie inzwischen darunter, dass sie noch keine Beziehung hatte? Wohl kaum oder sie ließ es sich nicht anmerken. Sonst war nie die Rede davon, dass die Beziehung mit einem Jungen vermisste.

 

„Ich kann es wirklich niemanden erzählen“, ließ sie den Blick sinken, „Ich bin anders gestrickt als ihr und wenn das raus kommt, will im Internat niemand mit mir etwas zu tun haben“ Ich grübelte einen Augenblick lang, bis mir langsam bewusst wurde, was sie mir sagen wollte, aber aus irgendeinem Grund nicht konnte. „Meinst du damit, dass du eher auf dein eigenes Geschlecht stehst?“, drückte ich es vorsichtig aus. „Du hast es gesagt“, sagte Rosy ertappt und sah mich einen Moment lang ganz scheu an. Fast wirkte sie beschämt. „Hey, du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen“, rückte ich näher an sie heran. „Ich kann und will es nicht wahrhaben“, hauchte sie und knetete ihre Finger. „Es ist doch gar nicht schlimm als Frau auf andere Frauen zu stehen“, redete ich ihr gut zu. „Für mich schon“, traten ihr Tränen in die Augen, „Stell dir vor, wie unsere Mitschüler darauf reagieren würden. Garantiert machen sie einen Bogen um „Die Lesbe“ und fangen mich an aus ihrer Gemeinschaft auszuschließen“

 

„Ach was, dann hast du immer noch uns“, nahm ich sie in den Arm, „Wir lassen dich nicht im Stich. Uns ist es egal, wie du liebst. Hauptsache du bleibst so wie du bist“ „Dann ist okay. Versprichst du mir, dass es unter uns bleibt? Ich will nicht, dass es unsere Mitschüler erfahren“, wisperte sie und zwang sich zu einem seichten Lächeln. „Klar, das bleibt unter uns“, versicherte ich ihr. „Wie läuft es momentan zwischen dir und Freddy?“, wechselte meine Freundin das Thema. „Naja, irgendwie ist es abgeflaut“, gab ich zu, „In den Ferien hatten wir nicht sonderlich viel Kontakt. Vielleicht ändert sich das, wenn wir wieder zur Schule gehen“ „Außerdem ist Fintan wieder da“, meinte Rosy, „Hoffentlich bleiben diesmal diese unsäglichen Hahnenkämpfe aus“ „Das hoffe ich auch“, nickte ich und musste an die Zeit zurückdenken, in der sich Fintan ständig mit Lucien in die Haare gekriegt hatte. Nur ungern dachte ich an das Gefühlschaos vor fast anderthalb Jahren zurück. Ich konnte mich für keinen der beiden Jungen entscheiden und stand letztendlich ohne Freund da. Gut, dass es Freddy gab. Wegen ihm konnte ich das Trauma abschütteln und gut verarbeiten.

 

Am nächsten Tag war es zunächst sehr nebelig, bis gegen Mittag die Sonne durch die Wolkendecke brach. „Emily, willst du heute fahren?“, drückte mir Dad den Autoschlüssel in die Hand. „Wenn du willst“, nickte ich. Erst seit anderthalb Wochen hatte ich meinen Führerschein. Am Steuer fühlte man sich um einiges erwachsener als auf dem Beifahrersitz oder auf der Rückbank. „Müssen wir uns vor der Fahrt noch bekreuzigen?“, scherzte Dad lachend. „Emily wird ihren Job bestimmt gut machen“, klang Jane zuversichtlich, die neben Rosy auf der Rückbank saß. „Ich kann euch sagen, dass Emily eine gute Autofahrerin ist“, beruhigte Rosy die beiden Erwachsenen, „Ich war schon einige Male mit ihr unterwegs und wir kamen immer heile an“ Erst vorgestern war ich mit meiner Freundin zum Shoppen in die nächste Stadt gefahren. Selbstbewusst startete ich den Motor und rollte vom Hof.

 

„Saint Malory, wir kommen!“, dachte ich siegesgewiss. Ich öffnete das Fenster einen kleinen Spalt. Der Fahrtwind löste eine Strähne meiner rotblonden Haare aus dem Zopf, die um meine Nase flatterte. Es fühlte sich an wie Freiheit! Endlich war ich erwachsen und würde schon in einem Jahr Studieren oder eine Ausbildung anfangen. „Auf wen freust du dich am meisten?“, wollte Rosy wissen. „Schwierige Frage“, brummte ich. Eigentlich freute ich mich auf jeden. Ich mochte unsere Lehrer, die Mitschüler, die Pferde und all die anderen Mitarbeiter. Auf wen ich nach wie vor gut verzichten konnte, waren Arabella und ihr Anhang. Durch ihr oberflächiges und arrogantes Gehabe machten sie sich nicht sonderlich beliebt. „Vorsichtig, fahr nicht zu dicht auf den LKW auf!“, mahnte mich Dad plötzlich. „Tue ich doch gar nicht. Ich habe immer noch genug Abstand und jetzt tue doch nicht so, als wärst du mein Fahrlehrer“, reagierte ich leicht genervt. Da ich nicht stundenlang hinter einem ultralahmen Laster her schleichen wollte, setzte ich den Blinker und überholte.

 

„Du hast es aber eilig nach St. Malory zu kommen“, meinte Rosy, die von meinem Überholmanöver beeindruckt zu sein schien. „Klar, ich will sehen, wie es Donny geht“, nickte ich. Mein Pferd hatten wir schon drei Tage vorher in den Anhänger verfrachtet und nach St. Malory gebracht. Aufgrund der Eingewöhnungszeit, die er jedes Mal in einer neuen Umgebung brauchte, brachten wir Donny immer ein paar Tage früher. Rosy und ich wollten allerdings noch den Resturlaub zuhause genießen, anstatt im Internat zu hocken. Schließlich würden unsere ganzen Freunde erst heute kommen. Von Oli wusste ich, dass sie bereits gestern angekommen war und Alex, der aus Deutschland kam, war noch einen Tag früher angekommen. „Da wären wir!“, strahlte ich, als die ersten Koppeln in Sicht kamen. Neugierig reckte Rosy ihren Kopf aus dem Fenster. „Ich sehe noch kein Pferd, das ich kenne“, sagte sie. „Vielleicht stehen sie auch im Stall“, murmelte ich und konzentrierte mich weiter auf die geschwungene Straße, die auf unser Internat zuführte. Ich fühlte mich wie eine Heimkehrerin. Hier war mein zweites Zuhause zwischen all meinen Freunden und den ganzen Pferden.

 

Kaum waren wir aus dem Auto gestiegen, liefen drei Mädchen auf uns zu. „Das sind Oli, Greta und Fiona“, wisperte Rosy aufgeregt. Es gab ein großes Hallo. „Hallo, ihr beiden, es ist so schön, dass wir wieder zusammen sind“, fiel uns Oli überschwänglich um den Hals. „Warst du das am Steuer oder habe ich mich geirrt?“, lachte Greta. „Das war ich tatsächlich“, nickte ich. „Glückwunsch, dann hast du doch deinen Führerschein bestanden“, gratulierte mir Fiona. Bereits beim ersten Betrachten fiel mir auf, dass sie viel schlanker war als vor den Ferien. „Hast du abgenommen?“, fragte ich sie. „Ich habe fast jeden Tag Sport getrieben, war schwimmen, joggen und reiten. Zudem habe ich auf Süßigkeiten und Fastfood verzichtet. Insgesamt habe ich sechs Kilo runter“ „Steht dir aber!“, machte Oli ihr ein Kompliment.

 

„Wo hast du deine Ferien verbracht?“, wollte Rosy mit einem Blick auf Olis braungebrannter Haut wissen. „Ich war die ganze Zeit in unserem Ferienhaus an der Ostsee“, berichtete Oli, „Ob ihr es glauben wollt oder nicht. Fast jeden Tag schien die Sonne und es war ziemlich warm. Meine Brüder und ich waren fast jeden Tag schwimmen“ „Sieht man“, nickte Greta, die mit ihrer blassen Haut nicht mithalten konnte. „Was hält ihr davon, wenn wir nach den Pferden gucken?“, schlug Rosy vor. „Gerne“, pflichteten wir ihr mehrstimmig bei. Bereits als wir auf dem Stallgang standen, begrüßten uns unsere vierbeinigen Freunde. „Donnie, ich habe dich gefühlte Jahre nicht mehr gesehen“, schlang ich meine Arme um den kräftigen Fuchswallach. Freudig berührte er mit seinen Nüstern mein Gesicht, sodass es kitzelte und ich kurz lachen musste. „Wolltet ihr euch gar nicht von uns verabschieden“, tauchte Dad mit Jane hinter uns auf. „Doch natürlich“, drehte sich Rosy zu ihrer Mutter um. „Was haltet ihr davon, wenn ihr erstmal euer Gepäck ins Haus bringt?“, schlug Dad vor. „Keine schlechte Idee“, stimmte ich ihm zu.

 

Um die Pferde konnten wir uns später noch kümmern. Im Foyer des Wohnhauses drängten sich unzählige Schüler um das schwarze Brett, auf dem die Zimmeraufteilung bekannt gegeben wurde. „Ich bin diesmal mit Rosy und Rachel auf einem Zimmer gelandet“, meinte Oli zufrieden und gab Rosy einen Highfive. „Ihr Glücklichen!“, murrte ich. „Keine Bange, wir teilen uns ein Zimmer, genauso wie letztes Jahr“, stupste mich Fiona an. „Nur wir beide?“, hakte ich nach. „Nur wir beide, wir sind in eines der wenigen Zweibettzimmer gekommen“, nickte meine Freundin. Dad half uns das schwere Gepäck nach oben zu tragen. „Hier rein!“, winkte Fiona mich zu einer halbgeöffneten Tür rüber.

 

Das Zimmer war kleiner als die Zimmer, die ich zuvor bewohnt hatte. Trotzdem war es gemütlich. Mit einem Seufzer ließ ich mich aufs Bett fallen. „Ich werde mich wieder auf dem Weg machen“, tauchte Dad unter dem Türrahmen auf. Hinter ihm stand Jane. Zum Abschied nahm ich beide in den Arm. „Wollen wir die anderen Schüler suchen gehen? Deine Sachen einräumen kannst du noch später“, blies Fiona zum Aufbruch. Auf dem Flur warteten bereits Greta, Oli und Rosy auf uns. „Wer ist eigentlich dieser Fintan?“, wollte Fiona unbedingt wissen, „Ich habe schon so viel von ihm gehört“ „Wir stellen ihn dir nachher vor“, meinte Greta. „Vorhin habe ich ihn einmal kurz gesehen“, sagte Oli, „Er war auf dem Weg in den Stall“

 

Zu fünft untergehakt schlenderten wir über das Internatsgelände. „Oje, dahinten stehen Arabella und die anderen Zicken“, wisperte Oli, „Die führen sich mal wieder auf, als wären sie bei einer Modenschau“ „Was anderes sind wir von ihnen auch nicht gewöhnt“, murmelte Greta unbeeindruckt. „Hallo Mädels, hattet ihr schöne Ferien?“, hielt Alex auf uns zu, der Lars und Patrick im Schlepptau hatte. Als Greta ihren Freund sah, konnte sie sich nicht mehr halten und flog Lars um den Hals. Oli verdrehte leicht die Augen. Wahrscheinlich war sie doch noch nicht ganz darüber weg, dass ihre Freundin mit ihrem Ex zusammen war. „Wo ist Freddy?“, wollte ich wissen. „Das wissen wir nicht“, zuckte Lars mit den Achseln, „Wir haben ihn noch nicht gesehen“

 

„Treffen wir uns nachher im Gemeinschaftsraum?“, fragte Alex, bevor sich unsere Wege trennten. „Klar, spätestens beim Abendbrot“, nickte Oli. Greta schloss sich den Jungs an, also waren wir nur noch zu viert. „Wusstet ihr, dass der neue Tennisplatz eingeweiht worden ist?“, wechselte Fiona das Gesprächsthema. Oli, Rosy und ich schüttelten die Köpfe. „Los, dann zeig ich ihn euch“, beschleunigte Fiona ihre Schritte. „Endlich ein neuer Tennisplatz, der alte war wirklich ein Kartoffelacker“, klang auch Oli begeistert. Schon von weitem konnten wir hören, wie die Bälle hin und her geschlagen wurden. Auf jeden Fall wurde dort gespielt. Mein Blick fiel auf einen athletischen jungen Mann, der ein weißes Shirt trug und dessen Haare in der Sonne goldig glänzten. „Das ist Fintan!“, wisperte ich aufgeregt und spürte, wie mein Puls sich erhöhte. Ach, du meine Güte! Er war zurück und ich hätte es ganz vergessen. Mehr als dreizehn Monate hatte ich ihn nicht mehr gesehen. Gegenüber von ihm standen ein Mädchen und ein Junge. Beide hatten dunkles Haar. Fintan spielte alleine gegen sie. Es sah sehr anstrengend aus, schließlich ließen seine beiden Gegner ihn über den ganzen Platz flitzen.

 

Einen Moment überlegte ich, ob ich auf das Spielfeld huschen sollte. Doch ich beschloss mit meinen Freundinnen abzuwarten, bis sie das Spiel von selbst beendeten. Nebeneinander ließen wir uns auf einem Grassteifen neben dem Platz nieder. „Finn ist wirklich ein begabter Tennisspieler“, stellte Oli begeistert fest, „Dann würde ich auch mal gerne gegen ihn antreten“ „Bist du wirklich so gut im Tennis?“, sah ich meine Freundin überrascht an. „In den Ferien habe ich fast täglich gegen meine Brüder und meine Cousins gespielt. Anfangs habe ich mir eine Klatsche nach der anderen eingehandelt, doch zum Schluss war ich richtig gut“, schwang ein gewisser Stolz in ihrer Stimme mit. Fintan und co beendeten ihr Match und nahmen einen großen Schluck aus ihren Wasserflaschen. „Ich möchte nur zu gerne wissen, wer die beiden Dunkelhaarigen sind“, murmelte ich. „Ich auch“, flüsterte Oli neben mir. „Wer ist noch mal Fintan?“, fragte Fiona leise. „Der mit dem weißen Shirt“, erwiderte Rosy. „Er sieht auf jeden Fall schon mal gut aus“, fand Fiona, wofür ich ihr fast einen vernichtenden Blick zu warf.

 

„Hey Fintan!“, rief Oli laut, die von uns den meisten Mumm. „Hi!“, drehte er sich lächelnd zu uns um. „Schön, dass du wieder da bist“, fiel ihm Oli um den Hals. „Lange nicht mehr gesehen, was?“, nahm er auch mich und Rosy in den Arm. „Ich bin Fiona“, gab ihm Fiona die Hand. „Ich bin Fintan, aber ich glaube, ich brauch mich nicht mehr vorstellen, du wirst mich bereits aus Erzählungen kennen“, erwiderte er freundlich. „Wer waren gerade deine Gegenspieler?“, wollte Rosy wissen. „Das sind Marek und Karolina, meine Cousins“, stellte Fintan sie vor, „Sie sind Zwillinge und sind fast zwei Jahre jünger als ich“ „Aus welchem Land kommen sie?“, wurde Fiona stutzig als sie die Vornamen hörte. „Aus Schottland, aber ihre Mutter ist Tschechin“, klärte uns Fintan auf.

 

„In welche Klasse werden sie gehen?“, fragte ich. „Eine Klasse unter uns“, meinte er. „Wo seid ihr nur die ganze Zeit geblieben? Gleich soll es Abendessen geben“, tauchte Shane mit Freddy auf. „Wir haben uns nur ein kleines Match gegönnt“, meinte Fintan, „Bei dem Platz konnten wir nicht widerstehen“ „Hallo Freddy!“, umarmte ich meinen Freund. „Hi!“, erwiderte er kurz. Shane gab seinem alten Kumpel Fintan einen Highfive. „Na, bist du gut über den großen Teich gekommen?“, grinste Shane breit. „Klar, sieht man doch“, nickte Fintan. „Stimmt es, dass du für die Nationalmannschaft der U21 nominiert worden bist?“, wollte Oli wissen. „Ich durfte bereits mehrmals mittrainieren“, erzählte er, „Leider konnte ich letztens wegen einer blöden Oberschenkelverhärtung nicht bei einem Freundschaftsspiel gegen Armenien spielen“ „Ach das wird schon, bald wirst du erneut nominiert“, machte ich meinem Kumpel Mut.

 

„Denk schon“, war Fintan zuversichtlich. Während wir uns fröhlich unterhielten und zwischendurch scherzten, hielt Freddy Abstand und betrachtete uns kritisch aus seinen eisblauen Augen. Ich wollte ihn fragen, was los war, aber ich traute mich nicht. Irgendwie wirkte er sehr abweisend, was zuvor nicht seine Art war. „Wollen wir gehen?“, flüsterte er mir ins Ohr. „Meinetwegen“, murmelte ich und nahm seine Hand. Auf einer Parkbank ließen wir uns nieder. „Was war denn gerade los?“, fragte ich ihn leicht verunsichert. „War dieser Tennisspieler nicht Fintan, den alle so toll finden?“, war ihm anzumerken, dass er nicht besonders begeistert zu sein schien. Ich nickte und fügte hinzu, „Er ist lediglich ein guter Kumpel von mir“ „Sieht man!“, verdrehte er leicht die Augen. „Hast du etwas gegen ihn?“, konfrontierte ich ihn.

 

„Ich weiß nicht“, seufzte er, „Mir ist nur aufgefallen, dass du ihn die ganze Zeit ziemlich verliebt angeglotzt hast“ „Ich bin aber lange nicht mehr zusammen“, sagte ich mit fester Stimme und fügte überzeugend hinzu, „Du bist mein Freund und ich liebe nur dich!“ Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und wir küssten uns kurz. Endlich schien er wieder der Alte zu sein. „Ich weiß nicht, inwiefern ich Fintan mögen werden, aber das stellt sich erst mit der Zeit raus“, meinte er. Da es inzwischen Abendbrotzeit war, machten wir uns auf dem Weg zum Gemeinschaftsraum. Dort trafen wir unsere Freunde wieder. Fintan wurde von seinen alten Kumpels Alex, Lars, Tiago und Patrick umringt. Als Freddy ihn sah, machte er einen großen Bogen im ihn. Er zog mich zu einem Tisch, an dem bereits Kevin und Mike saßen. Obwohl ich sein Verhalten etwas merkwürdig fand, beschloss ich Freddy nicht darauf anzusprechen.

 

„Irgendwie war Freddy merkwürdig drauf“, sagte ich abends zu Fiona, als wir in unseren Betten lagen. „Das ist mir auch aufgefallen“, pflichtete meine Zimmergenossin mir bei. „Anscheinend hat er etwas gegen Fintan, obwohl er gegenüber Freddy nicht unfreundlich war“, seufzte ich. „Wahrscheinlich hat Freddy Bedenken, dass ihm Fintan seine Freunde und halt auch dich streitig macht“, vermutete Fiona. Ich hatte keine Lust, dass sich die gleiche Geschichte wie vor anderthalb Jahren wiederholte und diesmal mit Freddy anstatt mit Lucien. „Bloß keine Hahnenkämpfe!“, sagte ich, während mein Blick an der Decke hängen blieb. „Ach was, darauf lässt sich Freddy garantiert nicht ein. Er ist doch sonst immer ein zurückhaltender Kerl“, meinte sie. „Vielleicht wird Freddy die nächsten Tage auch ein wenig offener“, hoffte ich. „Mach dir keine Sorgen, das wird sich schon einrenken“, hielt meine Zimmergenossin dagegen. Auch als wir das Licht löschten, konnte ich eine Weile nicht einschlafen und wälzte mich unruhig hin und her. Wie sich Freddy und Fintan in Zukunft vertragen würden? Wie würde sich Fintans Rückkehr auf die Beziehung mit Freddy auswirken? Fragen über Fragen und keine von ihnen konnte beantwortet werden. Erst die Zeit würde Aufklärung bringen. Am meisten hoffte ich, dass Freddy mich nicht dauernd versuchte mich von meiner Clique abzukanzeln, nur weil er seine Eifersucht nicht in den Griff bekam.

2. Kapitel

 

„Komm, Emily, hier sind noch zwei Plätze frei!“, zog mich Freddy mit sich. „Ist das dein Ernst, dass du direkt vor dem Lehrerpult sitzen möchtest?“, runzelte ich die Stirn. „Wieso? Wenigstens haben wir die Reihe für uns ganz alleine“, meinte mein Freund nur. Eigentlich hätte ich gern mit Rosy, Oli und Sandrina in einer Reihe gesessen, doch gerade hatte sich Stefanie neben Rosy niedergelassen und alle anderen Plätze waren ebenfalls in Beschlag genommen. So blieb uns nichts anderes übrig als die Plätze in der ersten Reihe einzunehmen. Neben mir blieben noch zwei weitere Plätze frei. Die Tür ging auf und Miss Greene kam herein. Sie hatte zwei Mädchen im Schlepptau, die fast identisch aussahen. Das waren garantiert eineeige Zwillinge. Beide waren gleich groß und hatten hellblonde Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte.

 

„Ich wünsche euch einen guten Morgen“, begrüßte uns unsere Klassenlehrerin, „und möchte euch zwei neue Mitschülerinnen vorstellen. Das sind Joan und Nelly Stevenson. Eineiige Zwillinge, wie man unschwer erkennen kann“ „Hi, ich bin Joan und neben mir ist meine Zwillingsschwester Nelly. Wir kommen eigentlich aus Australien, da unsere Eltern als Schauspieler ständig unterwegs sind, wechseln wir ebenfalls sehr oft die Internate. Momentan sind unsere Eltern für einige Monate aufgrund der Filmarbeiten ihres neuen Films in Irland und Großbritannien“, trat die Mutigere der Schwestern hervor. „Ihr könnt euch setzen, die Schulbücher bekommt ihr am Ende des Tages“, lächelte Miss Greene den Zwillingen zu, die sich neben uns in die Reihe setzten. „Hi, wie ist dein Name?“, fragte mich eine der Zwillinge. „Emily Dean“, antwortete ich knapp, denn Miss Greene fuhr mit wichtigen Informationen über das kommende Schuljahr fort.

 

In der kommenden Pause beschlossen Rosy, Oli und ich den neuen Mitschülerinnen das Internatsgelände zu zeigen. „Wow, das ist aber groß!“, staunte Joan, die im Gegensatz zu ihrer Schwester hellgrüne Ohrstecker trug, weswegen ich sie notdürftig auseinander halten konnte. „Wo sind die Pferde?“, wollte Nelly wissen. „Zeigen wir euch nachher“, meinte Oli, „Heute Nachmittag stehen wieder die ersten Trainingseinheiten an“ „Für welche Disziplin habt ihr euch entschieden?“, fragte Rosy. „Dressur natürlich“, strahlte Joan über beide Wangen. „Du und Dressur?“, lachte Oli, die es nicht ganz glauben konnte. Joan wirkte unserer Meinung nach viel zu flippig dafür. „Oh ja, Joan ist darin die Allerbeste!“, schwärmte Nelly, „Ich bin zwar auch darin gut, aber sie ist immer einen Tacken besser“ „Los Mädels, wenn wir weiterhin so trödeln, schaffen wir gar nichts mehr“, drängte Oli, „Wenigstens den Pool will ich ihnen gezeigt haben“

 

„Cool, ihr habt einen Pool!“, machte Nelly vor Begeisterung einen Hüpfer. „Juhu, bestimmt wird es supergeile Poolpartys geben!“, fiel Joan ihrer Schwester um den Hals. „Prima, morgen wäre die Erste“, lächelte Oli, „Dann werdet ihr genau in eurem Element sein“ „Zuhause in Sydney haben wir auf der Terrasse einen riesigen Pool“, erzählte Joan und breitete ihre Arme aus, um die Ausmaße zu demonstrieren. „Leider sind wir nur so selten zuhause“, meinte Nelly. „Jedes Mal wenn wir nach Hause kommen laden wir an die zwanzig Freunde ein und chillen am Pool“, übernahm Joan. „Dann müssen wir wohl auch mal bei euch am Pool feiern“, klang Oli enthusiastisch. „Ist das nicht ein wenig weit weg?“, warf ich ein. „Gerade das ist es ja“, seufzte Nelly, „Ständig sind wir hin und her gerissen. Mittlerweile verteilen sich unsere Freunde über den ganzen Erdball und manchmal weiß ich auch nicht ganz genau, wo wir hingehören“ Die Schwestern sahen sich ungläubig an, als sie vor dem Schwimmbecken stehen blieben. „Ich habe mir euren Pool irgendwie anders vorgestellt“, sprach Joan ihren Gedanken offen aus. „Wie denn?“, hakte Rosy nach. „Naja, so wie unseren, der einen Wasserfall und eine Rutsche hat“, erwiderte sie. „Falls ihr wisst, dass ist eigentlich nur ein Sportbecken. In den Sommermonaten findet hier der Schwimmunterricht statt oder es trainiert die Schwimmmannschaft“, klärte Oli Joan auf. „Trotzdem finde ich es toll, dass euer Internat so etwas hat“, war Nelly angetan.

 

„Genau“, nickte Joan, „Unser letztes Internat war so eine dämliche Klosterschule mit lauter Nonnen, da gab es nicht so ein tolles Schwimmbad“ „Da haben wir es keine drei Monaten ausgehalten“, sprach Nelly weiter, „Selbst unsere Lehrerinnen liefen rum wie die Pinguine“ Die Vorstellung an Pinguine, die vor der Klasse standen und unterrichteten, löste bei mir und Oli einen heftigen Kicheranfall aus. „Hoffentlich hackt man uns nicht den Kopf ab, wenn man vor dem Essen nicht betet“, sagte Joan. „Ach was, auf sowas legt man hier keinen Wert“, meinte Rosy. „Gut, das klingt schon mal positiv“, klang Nelly erleichtert. „Wie wir diese Schwestern gehasst haben, dauernd musste man sich an ihre übertrieben strengen Regeln halten, sonst bekam man gleich eine Woche Ausgehverbot“, zog Joan vom Leder.

 

Während die Jungs um Fintan und co sich um die Getränke kümmern wollten, beschlossen wir Mädels die Snacks zu besorgen. Besonders die Zwillinge waren Feuer und Flamme. Sie wollten mit Greta, Oli und mir in die Stadt fahren, um einen Kuchen und Süßigkeiten zu besorgen. „Zum Glück haben wir große Körbe an unseren Fahrrädern“, strahlte Joan. „Da wird eine Menge reinpassen“, fügte Nelly hinzu. „Glaubt ihr, dass wir so viel brauchen?“, sah uns Rosy an, die kurzerhand beschlossen hat mitzukommen. „Aber hallo!“, fiel ihr Greta ins Wort, „Wir als ältester Jahrgang sind für die Planung verantwortlich. Die ganze Schule wird anwesend sein“ „Die ganze Schule“, bekamen Nelly und Joan ganz große Augen. „Aber so viele sind das nun auch nicht“, beruhigte Oli sie, „Wir sind insgesamt nur knapp über hundert“ Zu sechst machten wir uns vom Acker. „Wie weit ist es bis zum Dorf?“, wollte Nelly wissen. „Knapp zwei Kilometer“, drehte ich mich zu ihnen um. Bis nach Riverview war es tatsächlich nicht weit. Vor dem nächsten größeren Supermarkt machten wir halt.

 

„Hi, was macht ihr denn hier?“, kamen uns Shane und Ivan auf dem Parkplatz entgegen. „Einkaufen! Wieso?“, erwiderte ich überrascht. „Wir auch“, nickte Ivan, „Nun müssen wir die Kisten nur noch zum Auto bringen“ „Was? Ihr seid mit dem Auto da?“, sah Oli sie ungläubig an. Als Schüler von St. Malory war es nicht erlaubt während der Schulzeit ein Auto mit sich zu führen und auf dem Internatsgelände stehen zu haben, somit waren lediglich Fahrräder erlaubt. „Ein Kumpel von Fintan hat sich bereit erklärt uns zu fahren“, meinte Shane. „Und wo habt ihr sie gelassen?“, wollte Greta wissen. „Die stehen mit mehreren Kisten Bier und Limonade an der Kasse“, antwortete Ivan. Wir verabschiedeten uns von den Jungs und enterten den Laden. Sofort stürmten Greta und Oli die Süßwarenabteilung. „Lasst uns den Laden leer kaufen!“, grinste Nelly und warf zwei Tüten Schokolinsen in den Einkaufswagen. „Auf jeden Fall brauchen wir ordentlich Chips und Nachos“, bestimmte Oli. „Gummibärchen und Lakritz dürfen wir auch nicht vergessen!“, warf ich ein.

 

„Wenn das so weitergeht, machen wir hier wirklich Kahlschlag“, lachte Rosy, die sich am meisten zurückhielt. „So, das müsste endgültig reichen“, schob ich den Wagen in Richtung Kasse, nachdem meine Freundinnen zahlreiche Tüten mit Süßkram und Knabberzeug in den Wagen warfen. „Bestimmt besorgen Jenny und Lucy auch etwas“, meinte Greta. „Davon ist auszugehen“, murmelte Oli. „Haben wir eigentlich genug Geld mit?“, zweifelte Rosy, die selbst nur zehn Euro dabei hatte. „Aber sicher“, beruhigten die Zwillinge sie, „Unsere Eltern haben uns ein Startkapital von über hundert Euro mitgegeben“ „Das beruhigt uns schon mal“, erwiderte ich erleichtert. „Bestimmt reicht das Geld noch für zwei Kugeln Eis pro Person. Was haltet ihr davon bei Sandrinas Eisdiele vorbei zu fahren?“, schlug Oli vor. „Oh ja, auf ein Eis hätten wir wohl auch Lust“, klang Nelly begeistert. „Vielleicht sehen wir auch Sandrina“, freute sich Joan, „Ich kenne sie erst seit zwei Tagen, aber sie ist richtig nett“

 

Die Party am Pool fand jedes Jahr traditionell am ersten Samstag des neuen Schuljahres statt. Während meine Klassenkameraden die Party vorbereiteten, überredete mich Freddy zu einem Ausritt. Donnie war mehr als begeistert, dass ich ihn bewegte. Freddy hatte sich für Shamprock entschieden, mit dem er mittlerweile super klar kam. „Ich muss dir etwas gestehen“, begann er, während wir die Weidezäune im Schritttempo entlang ritten. „Was denn?“, hakte ich nach. „Ich bin eifersüchtig auf Fintan“, gab er zu. „Wieso denn das?“, stutzte ich. „Er scheint überall gefragt zu sein. Sowohl in der Klasse, als auch im Fußballteam. Bei meinen Kumpels komme ich mir teilweise schon halb abgeschrieben vor. Ganz schlimm ist es bei Alex und Shane, die beide eng mit Fintan befreundet sein zu scheinen“, sprach mein Freund seinen Gedanken aus. „Es ist so, dass Fintan schon zwei Jahre vor dir in der Klasse war und letztes Jahr für ein Schuljahr in die USA gegangen ist. Klar kennen ihn die anderen Mitschüler gut und einige sind sehr gut mit ihm befreundet. Ich weiß, dass Fintan sehr präsent ist, aber das heißt lange noch nicht, dass du bei den anderen abgeschrieben bist“, versuchte ich ihm zu erklären.

 

„Am meisten mach mich es neidisch, dass ihr beiden euch so gut versteht“, meinte er. „Wir waren auch mal eine Zeit lang zusammen und nach der Trennung waren wir immer noch befreundet“, sagte ich. Langsam nervte es, dass Freddy wieder hunderte Bedenken hatte, dass ich Fintan mehr liebte als ihn. Zugeben hatte ich bereits wieder Gefühle für Fintan entwickelt, aber Freddy war derzeit immer noch mein Freund. „Was hältst du davon, wenn wir uns einen schönen Abend zu zweit machen?“, fragte er, als wir unsere Pferde auf einer freien Wiese grasen ließen. „Heute Abend ist doch die Fete“, erinnerte ich ihn. „Hm, ich weiß nicht, ob ich darauf Lust habe“, murmelte er. „Komm, sei kein Spielverderber!“, versuchte ich ihn zu überzeugen. Ich konnte es nicht zulassen, dass er sich die ganze Zeit immer mehr zurückzog. „Na gut, ich gehe schon auf diese Party“, gab sich mein Freund geschlagen. „Das wird bestimmt lustig werden mit all den anderen“, freute ich mich.

 

Dadurch dass wir unsere Pferde auf die Wiese bringen und uns umziehen mussten, kamen wir etwas zu spät. Die Party war schon voll im Gange, als Freddy und ich kamen. Hand in Hand bahnten wir uns unseren Weg durch die Schülermassen. Die Musik, die im Hintergrund lief, ließ meine Laune noch weiter steigen. Schnell holten wir uns ein Bier, bevor wir uns auf die Suche nach unseren Klassenkameraden machten. „Hallo, hier sind wir!“, winkte uns Oli zu sich rüber. Meine Freundinnen hatten zwei Liegen komplett für sich reserviert. Lucy und Greta rückten auf, sodass Freddy und ich uns auch noch hinsetzen konnten. „Wart ihr gerade noch ausreiten?“, erkundigte sich Jenny. „Ja und das sogar zwei Stunden“, nickte ich. „Wollt ihr noch Knabberzeug haben?“, reichte uns Joan eine Schale voller Erdnussflips und Kartoffelchips.

 

„Vielen Dank, gerade könnte ich gut was essen“, bedankte sich Freddy und stellte die Schüssel auf seinen Knien ab. „Wie war der Ausritt?“, erkundigte sich Joan neugierig. „Voll entspannend“, erwiderte ich. „Vor allem unsere Pferde haben nicht nur ein Mal gemuckt“ „Na, wie läuft es bei euch?“, schaute uns Fintan belustigt über die Schulter. „Setz dich ruhig zu uns, wir gehen noch mit Shane und co einen trinken“, meinte Joan und half ihrer Zwillingsschwester Nelly auf. Da die Schwestern ihre Plätze räumten, konnte sich Fintan gegenüber von uns breit machen. „Wo hast du all deine anderen Kumpels gelassen, Finn?“, wollte Oli wissen. „Die haben sich verzogen und rauchen Shisha“, erwiderte er, „Aber ich hatte keine große Lust“ „Oh oh, dabei dürfen sie sich aber nicht erwischen lassen“, zog Rosy ihre Stirn kraus.

 

„Wollt ihr auch ein Bierchen trinken?“, bot Fintan mir und Freddy an. Erst jetzt fiel mir auf, dass er in ein Sixpack Bier entführt hatte. „Gib schon her!“, nickte Freddy. „Oli, Greta und Rosy, wollt ihr auch?“, fragte Fintan in die Richtung meiner Freundinnen, bis auf Rosy nahmen sie die Einladung an. Während wir uns fröhlich unterhielten, fiel mir Freddys anteilnahmloses Verhalten auf. Nur auf Nachfrage antwortete er und sagte nicht mehr als drei Worte. Greta und Oli tauschten schon vielsagende Blicke aus. „Ich gehe schlafen, ich bin müde“, sagte Freddy, nachdem er sein Bier ausgetrunken hatte. „Wie bitte? Es ist erst halb zehn. Die richtige Party steht noch bevor und du willst dich jetzt schon aus dem Staub machen“, sah Fintan ihn ungläubig an.

 

„Merkwürdiger Vogel!“, meinte Greta nur, nachdem mein Freund seinen Rückzug antrat. „Was um Himmels Willen mit Freddy los? Er kam mir gerade nicht sonderlich gut gelaunt entgegen und wollte stante pede auf sein Zimmer. "Obwohl ich einer seiner besten Kumpel bin, konnte ich ihn nicht mehr aufhalten“, setzte sich Alex zu uns. „Keine Ahnung, er scheint nicht besonders aufgeschlossen zu sein“, zuckte Fintan mit den Achseln. „Er ist eigentlich ein feiner Kerl“, begann Oli, „Aber seitdem wir wieder aus den Ferien zurück sind, verhält er sich nur noch komisch und kapselte sich von allen ab“ „Mir schwant etwas“, mischte sich Rosy ein, „Vielleicht ist er eifersüchtig“ „Auf wen denn bitteschön? Ich bin doch gar nicht mit Emily zusammen“, zog Fintan die Augenbrauen hoch. „Gerade auf dich, Fintan“, fuhr Rosy fort, „Freddy sieht doch, dass du dich gut mit uns verstehst, besonders mit Emily“ „Kunststück, wir kennen uns auch mehr als drei Jahre und waren sogar länger zusammen“, erwiderte er.

 

„Trotzdem sollen wir mit Freddy nicht so hart ins Gericht gehen“, schaltete sich Lucy ein, die nur mit halbem Ohr zugehört hatte. „Er wird sich garantiert schon fangen“, meinte ihre Cousine Jenny. „Sollten wir nicht mal das Thema wechseln?“, warf Oli ein, der es mit der Freddy-Diskussion zu viel wurde. „Genau Freunde, lasst uns noch einen trinken und die Bar stürmen!“, stand Alex auf. „Guter Vorschlag, Bro!“, klopfte ihm Fintan lachend auf die Schulter. „Habt ihr dagegen, wenn ich zu Karolina gehe?“, sah Rosy uns fragend an. „Mach ruhig“, nickte ich. „Was will sie von der Cousine?“, wollte Oli von Fintan wissen. „Keine Ahnung, vielleicht verstehen sie sich nur gut“, meinte er. Gut gelaunt bahnten wir uns den Weg durch die Schülermassen und klatschten einige Kameraden ab, die uns entgegen kamen und leicht angeschickert wirkten. 

 

Wieder teilte Fintan kräftig Drinks in alle Himmelsrichtungen aus. Irgendwie wirkte er übermütig wie lange nicht mehr. Dass in meinem Cocktail Alkohol drin war, schmeckte ich sofort, aber trotzdem konnte ich ihn noch trinken. „Lasst uns tanzen, die Musik ist gerade der Oberhammer!“, jubelte Oli und hakte sich bei Jenny unter, die neben ihr stand. „Los auf, die Tanzfläche mit euch!“, holte Alex mich und Lucy hinterher. Zuvor hatten wir voller Belustigung angesehen, wie unsere Freunde rumhotteten und immer wieder lachend versuchten ihr Gleichgewicht wieder zu finden.  Gickernd klammerte sich Greta an Fintans Arm fest. Ein Glück, dass Lars nicht dabei war, er hätte Fintan sicherlich die Freundschaft gekündigt, wenn er das gesehen hätte.

 

„Los, ein wenig Schwung verträgst du auch!“, zog mich Jenny in den Tanzkreis rein, sodass ich zwischen ihr und Fintan stand. „Komm, wir machen das Parkett unsicher!“, forderte ich mich kurz darauf auf. Er nahm mir das Glas aus der Hand und brachte es zur Bar zurück. Es war gefühlte Jahre her, dass ich zuletzt mit ihm getanzt habe. Laut lachend wirbelten wir umher und plötzlich fühlte ich mich um zwei Jahre zurück versetzt. In mir kribbelte es wie verrückt. Wie ich Fintan vermisst hatte, als er in Amerika war! Schon wieder spürte ich den Drang mit ihm zusammen zu sein. Nur was würde Freddy davon halten? Er war mein Freund und ich konnte ihn nicht einfach so verlassen. Das würde ihm einen weiteren Stich versetzten, wobei er jetzt schon nicht glücklich zu sein schien.

 

3. Kapitel

Am späten Abend klopfte es an der Tür. „Meine Güte, wer checkt nicht, dass um diese Zeit Bettruhe ist?“, zog Fiona nörgelnd ihre Bettdecke über den Kopf. Auf Zehenspitzen und ohne Licht zu machen, schlich ich zur Tür. Ich staunte nicht schlecht, als ich vor der Tür Fintan in T-Shirt und Shorts entdeckte. „Darf ich kurz herein kommen?“, fragte er mit matter Stimme. Sofort spürte ich, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung sein konnte. „Komm rein“, nickte ich. Schweigend setzte er sich auf einen Hocker neben meinem Bett. „Du kannst dich schon auf mein Bett setzen“, machte ich Platz. „Müsst ihr unbedingt hier reden?“, gähnte Fiona.

 

„Es ist wichtig“, beharrte Fintan und fuhr mit schwerer Stimme fort, „Du kennst doch sicherlich noch Marc, mit dem wir im ersten Schuljahr in eine Klasse gingen. Nachdem er wegen der Hochzeit seiner Schwester ein paar Tage Auszeit nahm, wollte er mit dem Auto hier her fahren. Leider fuhr er zu schnell um die Kurve, verlor auf der regennassen Fahrbahn die Kontrolle über den Wagen und prallte gegen einen Baum. Er war sofort tot und seinen Dad brachten sie mit lebensgefährlichen Verletzungen in ein Krankenhaus“ Weiter kam er nicht, ihm versagte die Stimme. Im Schein des Mondes erkannte ich, dass Tränen in seinen Augen glitzerten, die er mühsam wegblinzeln musste. „Mein Beileid, das ist wirklich schlimm“, setzte sich Fiona in ihrem Bett auf. „Er war ein alter Kumpel von mir. Da ich in Amerika war, habe ich ihn ein ganzes Jahr nicht mehr gesehen“, war Fintan den Tränen nahe. Wortlos umarmte ich ihn und schmiegte mich an seinen Oberkörper. Ich war diejenige, die richtig anfing zu weinen, als ich realisierte, dass Marc nie mehr zurückkommen würde. Obwohl ich mit Marc nicht viel zu tun hatte, weil er eine Klasse zurückversetzt wurde, schmerzte es sehr, dass er mit einem Mal aus dem Leben gerissen wurde. Sanft streichelte mir Fintan über den Rücken und tröstete mich.

 

Wieder klopfte es an der Tür. Diesmal standen Rosy, Greta, Oli, Lars und Patrick im Flur. „Ach, hier ist Fintan“, streckte Lars seinen Kopf hinein. Seine Brillengläser glänzten im Mondlicht. „Haben wir jetzt eine Vollversammlung?“, knipste Fiona das Licht an. Erst jetzt erkannte ich die verweinten Gesichter von Oli, Greta und Rosy. Offenbar wussten sie von der schlimmen Nachricht bescheid. „Warum musste er so früh sterben?“, schluchzte Rosy auf. Darauf wusste niemand eine passende Antwort. „Marc darf nicht vergessen werden, er war immer ein lustiger Vogel und beinahe jeder kam mit ihm aus“, brach Lars das Schweigen. „Wir müssen Marc beim nächsten Spiel würdigen“, fasste Patrick einen Entschluss. „Am besten laufen wir mit Trauerflor auf“, warf Lars ein. „Wann ist das nächste Spiel?“, erkundigte sich Fiona. „Übermorgen, also am Sonntag“, antwortete Lars.

 

„Lasst uns doch alle anwesend sein und einen großen Banner hochheben, auf dem Marcs Name geschrieben steht“, schlug Greta vor. „Habt ihr schon eine konkrete Idee?“, hakte Patrick nach. „Ich hätte noch ein altes Laken, das bereits ein Loch hat“, meldete sich Fiona zu Wort. „Prima, das nehmen wir“, sagte Oli sofort. Die Planung, wie wir unseren ehemaligen Klassenkameraden würdigen konnten, half uns über den ersten Schock hinweg. Trotzdem kamen Patrick die Tränen, da er bis zuletzt sehr eng mit Marc befreundet war. „Ich werde ihn niemals vergessen, er ist und bleibt einer meiner besten Kumpels, die ich in meinem Leben bisher hatte“, versagte ihm die Stimme. Fintan, Lars und ich tauschten ratlose Blicke aus. Wie konnten wir Patrick am besten trösten, der gerade am Boden zerstört war. Nachdem wir eine Weile vor uns hin geschwiegen hatten, verabschiedeten sich unsere Freunde wieder. Obwohl Fiona um Mitternacht das Licht löschte, fand ich nur sehr schlecht in den Schlaf.

 

Ich konnte mich so oft drehen, wie ich wollte, doch davon wurde ich kein bisschen müder. Nicht einmal bis hundert zählen brachte etwas. Fiona atmete bereits friedlich, während ich an die Decke starrte. Mit einem Mal kamen alle Erinnerungen hoch, die ich seit Jahren versuchte zu verdrängen. Meine Mutter, wie sie vom Pferd fiel und ins Krankenhaus eingeliefert werden musste. Knapp zwei Stunden später lebte sie nicht mehr. Seither vermisse ich sie schmerzhaft und würde alles Erdenkliche geben, damit ich sie wieder sah. Mit ihr hatte ich vor vier Jahren meine engste Anvertraute und wichtigste Beraterin verloren. Wieder spürte ich die Tränen in meinen Augen brennen. Wie ich es hasste! Den ganzen Abend war mir zum Heulen zumute. Egal, Fiona schlief und niemand würde es sehen. Während die Gedanken mich überrannten, liefen mir die Tränen in Strömen die Wangen herunter. Obwohl ich froh war, dass Dad und Jane seit knapp neun Monaten ein Paar waren, konnte Jane meine Mutter nicht ersetzen.

 

„Hi, willst du gleich einen Ausritt mit mir machen?“, schrieb mir Fintan um kurz nach Sieben, als ich einen Blick auf mein Handy warf. Da ich sowieso nicht mehr schlafen konnte, schrieb ich ihm zurück, dass ich gerne mitkäme. In Rekordzeit schälte ich mich aus meinem Nachthemd und suchte meine karierte Reithose. Nachdem ich komplett angezogen war, schlich ich mich durch das Treppenhaus und achtete darauf keinen Mucks zu machen. Meine Schulkameraden waren nicht besonders begeistert, wenn man sie an einem Samstagmorgen in aller Herrgottsfrühe weckte. „Emily“, wisperte es hinter mir. Es war Fintan, der auf der Stufe hinter mir stand. Er trug ein weißes kurzärmeliges Polohemd und sah genauso müde und zerstrubbelt aus, wie ich. Dunkle Ringe unter seinen Augen ließen erahnen, dass er auch kaum geschlafen hatte. „Ich habe nicht einmal eine Minute das Auge zugekriegt, während Shane und Ivan schliefen wie die Toten“, meinte er, als wir in Richtung Stall trotteten. Es war noch sehr früh am Morgen. Überall lag der Tau auf dem Rasen und die ersten Sonnenstrahlen kitzelten uns auf der Nase. Ohne viel zu reden, striegelten wir unsere Pferde und kratzten ihnen die Hufe aus. Donnie schien zu spüren, dass mit mir etwas nicht stimmte und versuchte mich aufzuheitern, indem er mich immer wieder mit seinen Nüstern anstupste.

 

„Hey, lass das, das kitzelt!“, lachte ich kurz auf. „Ich bin dafür, dass wir heute mal den Sattel weglassen“, entschied Fintan. Dem konnte ich mich nur anschließen. Ohne Sattel zu reiten war etwas Besonderes, gleichzeitig erforderte es mehr Geschick. Die Hufe klapperten gleichmäßig auf dem Asphaltweg, als wir vom Internatsgelände ritten. „Eigentlich ist das Wetter viel zu schön“, dachte ich insgeheim. Nach drei regnerischen Tagen zeigte sich die Sonne wieder zum ersten Mal. Bestimmt war dies einer der letzten lauwarmen Spätsommertage. „Oh verdammt, wir haben unsere Reithelme vergessen“, fiel Fintan ein, als wir an den Weidezäunen entlang ritten. „Egal, wir reiten eh nur Schritt“, entgegnete ich ihm. „Das darf aber nur keiner von den Reitlehrern sehen“, erwiderte er. „Sie werden aber um diese Uhrzeit nicht auf den Beinen sein“, murmelte ich. Wir kamen auf Marc und das morgige Fußballspiel zu sprechen. „Wir werden unseren Trainer überzeugen, dass wir mit Trauerflor auflaufen werden“, meinte Fintan. „Gegen wen spielt ihr überhaupt?“, wollte ich wissen. „Gegen die Trinity Highschool aus Dublin“, erwiderte er, „Ich denke mal, dass wir sie packen, es ist unser erstes Heimspiel“ Wie ich von ihm erfuhr, sollte Marc ursprünglich in der Startelf spielen. Stattdessen sollte Freddy seinen Platz auf der linken Außenverteidigerposition übernehmen. 

 

Am nächsten Tag war der Andrang groß. Die kleine Sitztribüne war schon voll, als wir am Sportplatz ankamen. Rings um das Spielfeld herum standen hunderte Menschen. Anstatt unseren Schlachtruf anzustimmen, verhielten sie sich diesmal ruhiger. Oli trug unseren Banner unter dem Arm, den wir gestern Nachmittag in Teamarbeit fertig gestellt hatten. Aus der Ferne winkte uns Priscilla zu, die mit ihren Freundinnen ein paar Plakate mit Marcs Namen in die Höhe hielten. Zuvor war sie zusammen zwei Jahre mit Marc in eine Klasse gegangen. „Ihr habt vielleicht einen riesigen Banner!“, staunte Dylan, eine von Priscillas Freundinnen.

 

„Den haben wir in Gemeinschaftsarbeit angefertigt“, erzählte Greta den Drittklässerinnen stolz. Rosy zog es zu Karolina. Zu zweit setzten sie sich ein Stückchen abseits von uns hin und hielten sich an den Händen. „Was läuft zwischen den Beiden?“, machte Oli ein skeptisches Gesicht. „Lass sie doch, sie sind doch nur sehr gut befreundet“, lenkte Lucy ein. „Das sieht für mich nach Zuneigung aus“, platzte es aus Jenny heraus. „Und was soll daran schlimm sein?“, konfrontierte ich sie sofort. „Eigentlich nichts, aber ich wusste nicht, dass Rosy…“, sprach sie ihren Gedanken nicht weiter aus. „Gegen Lesben habe ich nichts“, sagte Joan, sodass es die Schüler neben uns hören. „Nun sei doch mal ruhig!“, fuhr ihr Sandrina über den Mund, „Wer hat behauptet, dass Rosy lesbisch ist?“ „Keiner“, mischte sich Nelly ein. „Können wir mal das Thema wechseln?“, bat Fiona, die unsere Aufmerksamkeit auf den Platz lenkte.

 

Fintan führte unsere Mannschaft als Kapitän auf den Platz. Wie erwartet trugen beiden Mannschaften Trauerflor. Unser Schulleiter betrat mit einem Mikrofon den Platz. „Liebe Mitschüler, Eltern, Angehörige und Freunde von St. Malory, heute ist ein schwieriger Tag für uns. Vor gerade einmal zwei Tagen haben wir einen netten, lebensfrohen und zuverlässigen Kameraden bei einem Autounfall verloren. Dieser Verlust ist für uns alle ein großer Schmerz und noch immer können wir nicht fassen, dass einer von uns fehlt. Trotzdem finde ich es sehr ehrenwürdig, dass ihr heute für euren toten Freund antreten wollt. Marc hätte es nicht anders gewollt“, hielt Mr. Scott seine Rede. Dann überreichte er das Mikrofon an Fintan. „Es ist ein schwerer Moment für uns, nicht nur für seine Familie und seine Freunde, sondern für ganz St. Malory. Aus heiterem Himmel haben wir einen guten Freund verloren, den wir heute besonders würdigen wollen. Zwar hat es uns viel Kraft gekostet, uns zusammen zu raufen und uns auf das Spiel vorzubereiten. Trotzdem wollen wir für Marc spielen, kämpfen und Tore schießen“, sprach er laut und deutlich ins Mikro, bevor er es an den Kapitän der anderen Mannschaft weiterreichte.

 

Nach den Ansprachen folgte eine Schweigeminute. Anschließend nahmen die Mannschaften Aufstellung. Die Trinity Highschool führte den Anstoß zügig aus und spielte sofort einen gefährlichen Angriff, sodass Freddy in aller größter Not klären musste. „Bitte kein Gegentor!“, bangte Greta neben mir. Endlich befand sich unsere Mannschaft im Vorwärtsgang. Tiago spielte einen Ball auf Sam aus der zweiten Klasse, der drei Gegenspieler stehen ließ und in die Mitte flankte. Shane erwischte den Ball mit dem Kopf und köpfte wenige Zentimeter über die Latte. Ein Raunen ging durch die Menschenmenge. Die nächste gute Gelegenheit gehörte Fintan. Aus der Distanz nahm er Maß und verfehlte das Tor um wenige Zentimeter. Im Gegenzug kam ein Konter der Gegner aus dem Nichts. Unser Torwart war gegen zwei Stürmer chancenlos. Das 0:1! Mist!

 

„St. Malory, St. Malory, St. Malory!“, stimmten einige Zuschauer den Schlachtruf an. „Lasst euch nicht hängen, Jungs! Ihr seid das bessere Team!“, rief Oli den Spielern zu. Nach der ersten Hälfte begannen unsere Jungs mehr Druck zu machen. Besonders Fintan glänzte in seiner Rolle als Ballverteiler und laufstärkster Spieler auf dem Platz. Kaum führte er eine Ecke aus, war sie maßgeschneidert für Shane, der den Ball in die Maschen nickte. Ausgleich! Jetzt ging noch mehr. Wie entfesselt stürmten unsere Spieler auf das Tor zu. Nur wenige Zentimeter oder ein gegnerischer Fuß verhinderten einen Torerfolg. Marek, der jüngere Cousin von Fintan wurde für Tiago eingewechselt und kam gleich den Ball zugespielt. „Das ist aber vielleicht ein Wirbelwind!“, meinte Greta beeindruckt. Marek verfehlte das Tor nur um Haaresbreite und erntete aufmunternde Schulterklopfer seiner Kameraden.

 

„St. Malory vor, noch ein Tor!“, riefen wir im Chor. Ein Pfiff ertönte und der Schiedsrichter zeigte auf den Boden. Schnell rappelte sich Fintan wieder auf und nahm ein paar Schritte Anlauf. Sein Freistoß landete direkt vor Mareks Füßen. Sein Cousin fackelte nicht lange und schob das Spielgerät in die linke Ecke des Tores. Jubelnd sprangen die Zuschauer auf. Der Torschütze wurde von seinen Mannschaftskollegen fast erdrückt. Wenige Minuten wurde das Match abgepfiffen. Selig lagen sich unsere Spieler in den Armen, aber neigten nicht zu großen Jubelausbrüchen. „Gewonnen für Marc!“, lautete Olis kurzes Resume. Nach dem Sieg hatten Fintan, Alex und Lars sogar Tränen in den Augen. Als unsere Jungs an uns vorbei kamen, hielten wir den Banner noch höher. „Marc wir werden dich nie vergessen!“, rief Patrick.

 

4. Kapitel

Aus der Puste und mit hochrotem Kopf schälte ich mich aus meinem nass geschwitzten Trikot. Das erste Hockeyspiel der Saison ging mit 1:3 verloren. Die Mädchen der Chestnut-School waren einfach zu stark gewesen. Ausgerechnet ein gravierender Patzer von mir hatte zu dem zweiten Gegentor geführt. „Kommt Mädels, lasst euren Kopf nicht hängen“, meinte unsere Spielführerin Shirley. Während wir duschten und uns umzogen, steckten Oli, Greta und Jenny ihre Köpfe zusammen. Worüber tuschelten sie da nur? Immer wieder fielen ihre Blicke auf Rosy und Karolina. Eng umschlungen saßen sie nebeneinander und streichelten sich gegenseitig über den Rücken. „Das kann doch nicht wahr sein!“, zischelte Greta. „Aha! Jetzt weiß ich, wieso sie noch nie einen Freund hatte“, wisperte Oli. „Sieht irgendwie abartig aus“, fand Jenny.

 

„Geht ihr nachher noch mit zu den Pferden?“, stand Rosy auf und steuerte auf die drei Freundinnen zu. Während Jenny und Greta taten, als hätten sie Rosy nicht gehört, sagte Oli, „Tut mir leid, ich bin schon auf eine Runde Billard verabredet“ Mit enttäuschter Miene ging Rosy zurück zu Karolina, die ihr etwas Aufmunterndes ins Ohr flüsterte. „Was sagst du eigentlich zu Rosy und Karolina?“, flüsterte mir Oli ins Ohr. „Was soll ich schon darüber denken?“, tat ich gleichgültig. „Sieh nur, wie verliebt sie sich die ganze Zeit anstarren“, raunte meine Freundin und klang beinahe gehässig. „Ich kann da gar nicht hinschauen, fehlt nur noch, dass sie sich vor unseren Augen küssen“, verdrehte Greta die Augen. „Außerdem habe ich noch nie ein Mädchen gekannt, das ein anderes Mädchen liebt“, gab Jenny ihren Senf dazu. „Woher wollt ihr wissen, dass sie sich lieben? In meinen Augen sind sie nur sehr gut befreundet“, erwiderte ich genervt und ließ sie stehen.

 

Gleich nach dem Abendessen bahnte sich der nächste Ärger an. „Willst du noch eigentlich etwas von mir oder hängst du nur an Fintans Arschbacken?“, kam Freddy verärgert auf mich zu. „Hör zu, er ist nur ein sehr guter Kumpel von mir“, reagierte ich gereizt. „Falls du mich fragen willst, ob wir den Abend zusammen verbringen, ich bin mit Shane und co auf eine Partie Billard verabredet“, warf er mir an den Kopf. Abrupt drehte ich mich um und ließ meinen Freund stehen, der sich in der letzten Zeit immer mehr zu einem Miesepeter entwickelt hatte. Ich setzte mich zu Rosy, die sehr unglücklich zu sein schien. „Was bedrückt dich eigentlich?“, sprach ich sie an. „Das kann ich dir nur unter vier Augen sagen“, erwiderte sie nach einem Moment. „Wir können in den Stall gehen“, zog ich sie hoch. „Meinetwegen“, nickte sie matt.

 

Da es draußen am regnen war, hatten wir es eilig in den trockenen Stall zu kommen. Glücklicherweise waren wir alleine. Nur vereinzelt war ein Schnauben zu hören, doch unsere vierbeinigen Freunde würden keine Geheimnisse ausplaudern und ihnen war es egal, welche sexuelle Neigung wir hatten. „Ich habe dir schon mal erzählt, dass ich anders ticke als ihr“, begann meine Freundin, „Jungs fand ich noch nie so interessant wie ihr. Anfangs habe ich versucht euch darüber hinweg zu täuschen, aber jetzt kann ich es nicht mehr geheim halten. Ich habe mich schon am ersten Tag in Karolina verliebt und sie mag mich offenbar auch sehr gerne. Zwischen uns passt es einfach. Wir sind wie Ying und Yang. Seitdem wir unsere Liebe immer mehr publik machen, desto mehr scheinen mich unsere Freundinnen zu meiden. Oli, Greta und Jenny behandeln mich nur noch wie Luft und tuscheln hinter meinem Rücken. Lucy und Fiona gehen langsam auch auf Distanz. Nur Sandrina und du, euch scheint es nichts auszumachen, dass ich mich ein Mädchen verliebt habe“

 

„Ich war anfangs auch ein wenig geschockt, als du mir es erzählt hast“, antwortete ich nachdenklich, „Aber mir ist es egal, ob du einen Jungen oder ein Mädchen liebst. Das macht dich zu keinem besseren oder schlechteren Menschen. Du bist genauso eine tolle Freundin wie vorher und das wirst du immer für mich sein“ „Danke!“, hauchte Rosy und war mit einem Mal den Tränen nahe. „Mach dir nichts aus den Leuten, die die ganze Zeit nur intolerant sind“, fuhr ich fort, „Es ist deine Entscheidung, wie du dein Leben lebst“ „Ich will mich nicht mehr verbiegen und mein falsches Ich zeigen“, sagte Rosy trotzig, „Ich will die wahre Rosy sein, so wie ihre Freunde sie akzeptieren sollen“

 

„Wie hast du Karolina näher kennen gelernt?“, wollte ich wissen. „Wir sind zusammen in der Arbeitsgemeinschaft, dessen Ziel es ist, unser Internat zu verschönern“, erzählte sie, „Momentan bauen wir den alten Speicher neben dem Schulgebäude zu einem schuleignen Partyraum um, den man sich mieten kann“ „Das klingt toll“, nickte ich, „Dann brauchen wir unsere Geburtstage nicht mehr im Gemeinschaftsraum zu feiern“ „Das Beste ist, unser Förderverein spendiert uns sogar eine eigene Bar“, fuhr Rosy fort, „Und eine vernünftige Anlage kriegen wir auch“ „Wann soll der Partyraum fertig sein?“, fragte ich. „In etwa um Weihnachten rum“, meinte sie.

 

Am nächsten Morgen kam Sandrina wutentbrannt auf uns zu. „Wer auch immer diese Zettel aufgehängt hat, dem drehe ich den Hals um!“, schimpfte sie wie ein Rohrspatz. „Was ist denn los?“, fragte ich sie besorgt. „Diese ganzen homophoben Beschimpfungen“, schnaubte sie und zeigte mir ein paar der Zettelchen, die sie eingesammelt hatte. „Rosy+Karo = Katastrophe“, konnte ich auf einen Zettel lesen. Das war dennoch eine der harmloseren Beleidigungen. „Wir wollen hier keine Homos mehr sehen! St. Malory nur ohne Lesben und Schwuchteln!“, war deutlich schlimmer. „Lass das bloß Rosy nicht sehen“, sagte ich. „Sie hat es eh schon mitbekommen“, meinte sie, „Vorhin als sie mir entgegenkam, sah sie ziemlich geschockt aus“ „Das kann ich mir vorstellen“, nickte ich, „Wer macht so etwas?“

 

Rosy saß bereits auf ihrem Platz und rührte sich nicht, als ich mich ihr mit Sandrina näherte. „Nimm dir diesen Blödsinn nicht zu Herzen“, legte ihr Sandrina die Hand auf die Schulter, „Jemand, der solche Äußerungen macht, disqualifiziert sich selber“ Kaum klappte Miss Greene die Tafel auf, kam der nächste dumme Spruch zum Vorschein. „Hätte Gott gewollt, dass die Menschheit aus Schwulen und Lesben besteht, hätte er die Menschen vornherein wieder abgeschafft“, hatte dort eine Person hin gekrackelt. „Wer hat das zu verantworten?“, rief Miss Greene in die Klasse, die sichtlich schockiert war. Eine gähnende Stille machte sich im Klassenraum breit. Keiner wollte es gewesen sein. Noch schlimmer war, dass Oli nicht Partei ergriff. Stattdessen flachste sie mit Joan und Nelly.

 

„Seid ruhig, das ist in keinster Weise witzig!“, zischte ich ihre Richtung. „Richtig Emily, du sagst es!“, sagte unsere Klassenlehrerin. „Miss Greene, ich habe noch mehr von diesen Zetteln mit homophoben Äußerungen gefunden“, meldete sich Sandrina, die Miss Greene alle Zettel aushändigte. „Ich bin sehr schockiert und verärgert, wie tief das Niveau in unseren Reihen gesunken ist“, hielt sie uns einen Vortrag, „Ihr seid keine Grundschüler mehr, solche Beleidigungen sind bei uns fehl am Platze und wer meint, dass Homosexuelle hier nicht willkommen sind, kann sich gleich eine andere Schule suchen. Wir sind und bleiben ein weltoffenes Internat und bei uns ist jeder willkommen, egal aus welchem Land er kommt, welcher Religion er angehört und welcher sexuelle Neigung er hat“

 

„Damit eins klar ist, ich habe mit den Schmähungen nichts zu tun“, kam Oli in der Pause auf mich und Rosy zu. „Haben wir dich etwa in Verdacht, Oli?“, runzelte Rosy die Stirn. „Ich muss dir etwas sagen, Rosy“, holte Oli tief Luft, „Ich schäme mich für mein Verhalten während der letzten Tage. Ich habe mich dir gegenüber nicht fair verhalten. Ich finde es persönlich ganz und gar nicht in Ordnung, dass man dich anonym beschimpft und es Leute gibt, die versuchen dir den Ruf zu verderben“ „Keine Sorge, ich nehme es dir nicht krumm“, beruhigte Rosy sie. „Uh, da ist ja die kleine Lesbe“, kam ein fremder Junge an uns vorbei. Er war bestimmt nicht älter als sechzehn und war einer der Erstklässler. Zwei seiner Kumpel lachten hämisch.

 

„Geht’s noch?“, fauchte ich in seine Richtung. „Entschuldige dich bei ihr!“, forderte Oli, die sich ihm in den Weg stellte. „Jetzt weiß es eh die ganze Schule“, erwiderte der Wicht frech. „Wenn du weiterhin so unverschämt bist, können wir uns bei deinem Klassenlehrer beschweren“, drohte ich ihm. „Mir doch egal, du kennst mich doch nicht“, sagte er mir grinsend ins Gesicht. „Hey Ian, ich kenne deinen Namen und wenn du weiter so provozierst, dann kann ich unseren Trainer davon in Kenntnis setzen und du kannst beim nächsten Spiel auf Bank schmoren“, tauchte Fintan hinter uns auf. Der jüngere Schüler verstumme und sah zu, dass er Land gewann. Mit Fintan, der inzwischen Schulkapitän der Fußballmannschaft war, wollte er es sich nicht verscherzen.

 

Am nächsten Abend klopfte Rosy in Tränen aufgelöst an die Tür. „Komm rein! Was ist los?“, öffnete Fiona die Tür und bat sie rein. Wie ein geprügelter Hund hockte sie sich auf mein Bett. „Nun erzähl, was dich bedrückt“, sagte ich mit engelsanfter Stimme. „Niemand gönnt mir, dass ich Karolina liebe“, schluchzte sie los. „Oh Gott, wer hackt schon wieder auf dir herum?“, nahm ich sie in den Arm und gab ihr ein Taschentuch. „Erst machen Arabella, Stella, Samantha und ein paar Zicken abartige Bemerkungen darüber, dass ich nun mal auf Mädchen stehe und tun so, als ob sie in mich verliebt seien. Das Schlimmste ist, dass Marek im Gemeinschaftsraum auf mich zukam und mich zur Rede stellt, dass ich die Finger von seiner Schwester lassen soll. Ansonsten würde er mich mit seinen Freunden verprügeln“, heulte sie sich an meiner Schulter aus. „Das gibt es doch gar nicht. Das ist schon eine ziemlich üble Drohung! Am besten gehst damit zu Miss Greene, so etwas geht überhaupt nicht“, setzte sich Fiona zu uns, „Er kann doch nicht bestimmen, wen seine Schwester liebt“

 

„Ich habe so eine Angst, dass die Beziehung zwischen mir und Karolina ruiniert ist“, wischte sich Rosy über die Augen. „Lass dir das nicht bieten, Rosy!“, legte Fiona ihr die Hand auf die Schulter, „Niemand kann dir verbieten, dass du mit Karolina zusammen bist“ „Ich weiß noch nicht einmal, ob sie noch mit mir zusammen sein will, nachdem die ganze Schule davon weiß und sie sich genauso fiese Sprüche anhören muss. Wir werden hier kein Bein mehr an die Erde kriegen. Wenn Karo mich verlässt, gehe ich freiwillig. Den Liebeskummer könnte ich nicht mehr ertragen“, schniefte sie. „Wer hat denn gesagt, dass sie dich verlässt?“, redete ich auf sie ein. Oh je, das konnte noch heiter werden! Erst war ich diejenige, die mit Freddy immer öfter in Streit geriet und jetzt noch die Hetzjagd auf Rosy und Karolina. Liebe war kompliziert, sogar noch komplizierter als Mathematik und Physik zusammen. Aber es hatte hier schon wesentlich schlimmere Krisen gegeben, die wir gemeinsam überwunden hatten und gleichzeitig unsere Freundschaft festigte.

 

Wieder klopfte jemand an der Tür. „Hi, ist Rosy bei euch? Ich habe sie schon überall gesucht“, stand Karolina im Flur. „Ja, komm ruhig rein“, nickte ich. „Ich habe mich eben mit meinem Bruder gefetzt, er meinte, dass unsere Beziehung den Ruf der Familie Bentley schädige“, legte sie empört los, als sie sich neben Rosy gesetzt hatte. „Heißt das, dass du…“, stammelte Rosy. „Quatsch, ich lasse mich nicht unterkriegen. Mein Bruder hat bei meinem Liebesleben nicht mitzureden und alle anderen, die mich wegen meiner Homosexualität meiden, die können mich mal. Immerhin habe ich mit Priscilla, Dylan, Jennifer und Lindsey einige gute Freundinnen, die zu mir stehen und meine Neigung akzeptieren“, streckte Karolina selbstbewusst ihre Brust raus.

 

Vor unseren Augen gaben sich die Beiden ein Küsschen. Ich musste mir schon innerlich eingestehen, dass es etwas merkwürdig aussah, wenn sich zwei Mädchen küssten, da ich es zum ersten Mal sah. Aber an den Anblick würde ich mich wohl gewöhnen können, da das in meinen Augen nichts Schlimmes war. Auf keinen Fall wollte ich zu diesem intoleranten Mob gehören, der einer meiner besten Freundinnen das Leben zur Hölle machte. „Wenn ich lesbisch wäre, würde ich auch auf Karolina stehen“, flüsterte mir Fiona ins Ohr, „Sieh dir nur ihre langen seidigen dunkelbraunen Haare und ihre dunkelbraunen Augen an, wie von einer Elfe“ „Du bist und bleibst meine Freundin, egal was der Rest von uns denkt“, schloss Karolina Rosy in ihre Arme und küsste sie erneut. „Und jedem, der dagegen ist, dem bieten wir ordentlich Paroli“, fügte ich kämpferisch hinzu. „Lasst euch nicht unterkriegen, ihr Zwei!“, zwinkerte ihnen Fiona zu.

 

 

5. Kapitel

Direkt nach dem Springtraining fuhr ich mit Greta nach Riverview. Wir mussten einige Mappen und noch andere Schulmaterialien besorgen. Joan und Nelly, die wir am Fahrradschuppen trafen, schlossen sich spontan an. Die Besorgungen zu erledigen dauerte nicht all zu lange. „Wir könnten noch ein Eis essen?“, kam Joan die Idee. „Klar, warum nicht?“, nickte Greta, „Wenn wir schon einmal hier sind, müssen wir es auch ausnutzen“ „Prima, dann lass uns Sandrinas Eisdiele ansteuern“, freute ich mich und hatte richtig Lust auf etwas Süßes. Zwar hatte ich nur noch knapp fünf Euro im Portemonnaie, aber für einen kleinen Eisbecher reichte es alle mal. Zu unserer Enttäuschung konnten wir unsere Freundin im Eislokal nicht ausfindig machen. Ab und zu bediente sie die Leute, um ihr Taschengeld aufzubessern.

 

„Mir geht gerade etwas durch den Kopf“, murmelte Nelly. „Und zwar haben wir am letzten Septemberwochenende Geburtstag“, führte ihre Schwester den Satz fort. „Wir werden zwanzig und das muss groß gefeiert werden“, schloss Joan den Satz vollständig ab. „Habt ihr schon eine konkrete Idee?“, forschte Greta nach. „Noch nicht direkt“, dachte Nelly halblaut nach, „Leider wird der Partyraum erst um Weihnachten herum fertig“ „Das ist für unseren Geburtstag viel zu spät“, schüttelte Joan ihren Kopf. „Wir haben doch noch unseren Gemeinschaftsraum“, schaltete ich mich ein. „Wenn wir dort jeden Geburtstag und jedes Anliegen feiern, wird es auch irgendwann langweilig“, seufzte Nelly. „Etwas einzigartiges und unvergessliches muss her“, funkelten Joans blaugrauen Augen. „Aber es darf es noch nicht gegeben haben“, beharrte Nelly, „Wir wollen die Urheberinnen sein“

 

„Hey, ich hab’s!“, kam Greta der nächste Geistesblitz. „Lass mal hören!“, sagten die Zwillinge aus einem Munde. „Ist euch aufgefallen, dass um die kleine Turnhalle herum ein Baugerüst steht?“, fuhr sie fort. „Welche Turnhalle meinst du?“, wollte ich wissen. „Neben dem Fußballplatz, falls es dir noch nicht aufgefallen ist, du Blitzmerker“, erwiderte Greta. „Das ist es!“, gaben sich die Schwestern einen Highfive. „Bravo, Greta, du hast bessere Ideen als wir Beide zusammen“, klatschte Joan sie ab. „Nur leider ist es nun Gretas Erfindung“, meinte Nelly. „Wen wollt ihr alles einladen?“, sah ich die Zwillinge neugierig an. „Eigentlich die ganze Klasse“, erwiderte Joan, „Ich finde jeden sehr nett“ „Was ist mit mir?“, zog Greta eine Schnute. „Dich laden wir natürlich auch ein und deine beiden Freundinnen kannst du gerne mitbringen“, nickte Nelly. „Du meinst wohl Jenny und Lucy“, sagte ich. „Klar, genau die“, bejahte Joan, „Lars, Patrick und Tiago dürfen auch gerne kommen“ „Dann ist es deine Aufgabe ihnen bescheid sagen, Greta“, wandte sich Nelly an sie, „Und sag das niemanden weiter, der von der Party nichts wissen soll“ „Ist schon klar, wer will schon mit Arabella, Samantha und co feiern?“, verdrehte Greta leicht die Augen.

 

„Eigentlich müssten wir Karolina auch einladen?“, überlegte Nelly. „Wieso das?“, runzelte Joan die Stirn. „Sie ist doch Rosys Freundin“ – „Okay, dann laden wir sich eben auch ein“

Innerhalb der Klasse sorgte die Party auf dem Turnhallendach für ordentlichen Gesprächsstoff. „Ich glaube mir ist das zu riskant“, war Sandrina der Meinung, „Nichts gegen euch, Joan und Nelly, solltet ihr auf dem Turnhallendach feiern, dann bleibe ich zuhause“ „Meine Güte, Sandrina, was ist gegen ein bisschen Spaß einzuwenden?“, sah Oli sie genervt an. „Bis zu einem gewissen Grad kann ich sie verstehen“, mischte sich Rosy ein. „Mir ist es auch viel zu gefährlich“, meinte Matthew. „Wer nicht kommen mag, der muss nicht kommen“, konnte Joan ihre Enttäuschung schlecht verbergen. „Genau, es sollen nur Leute kommen, die Spaß am Feiern haben“, pflichtete ihr „Ich bin dabei!“, rief Shane herein. „Wir auch!“, zeigten Tom, Fintan, Ivan und Alex geschlossen auf.

 

„Dann lass uns wenigstens Bier holen“, klatschte Jacob in die Hände. „Schnaps und Barcardi gehen immer“, grölte Emil. „Sei doch nicht so laut, das hat bestimmt der ganze Flur gehört, du Idiot“, raunte Alex. Aufgeregt begannen die Jungs zu tuscheln, welche Spirituosen sie noch besorgen konnten. „Ich glaube, ich bleibe doch lieber weg“, entschied Darcy, „Betrunken auf einem Dach, das geht nicht gut“ „Viel gefährlicher ist es, dass es dunkel ist und wir nicht sehen, wo wir hintreten“, meinte ihre Freundin Rachel. „Wie gesagt, auf Spaßbremsen können wir gerne verzichten“, warf Nelly ihr einen giftigen Blick zu. „Sei doch nicht gleich so eingeschnappt“, versuchte Stefanie sie zu beschwichtigen, „Es geht doch nur um unsere Sicherheit“ „Gegen Gefahren im Dunkeln lässt sich etwas machen“, schnippte Oli und zauberte eine kleine Taschenlampe aus ihrer Hosentasche, die an ihrem Schlüsselbund befestigt war.

 

„Ich weiß nicht so recht, ob ich an dieser Party teilnehmen soll“, sagte Freddy nachdenklich, als wir uns nach einer Joggingeinheit auf eine Parkbank setzten. „Komm schon, das wird schon lustig“, stieß ich ihn sanft in die Rippen. „Ihr seid hoffentlich bewusst, dass das kein ungefährliches Unterfangen ist“, runzelte er die Stirn. „Natürlich wissen wir das“, nickte ich. „Ich mache mir vor allem Sorgen, weil Fintan, Lars und die anderen Blödköppe Alkohol besorgen wollen und dann kann man nur bis drei zählen und einer von uns segelt vom Dach“ „Quatsch, so unvorsichtig werden wir nun auch nicht sein und ich denke, dass es höchstens nur Bier gibt“, schüttelte ich abrupt den Kopf. „Emily, du bist manchmal echt leichtgläubig“, fuhr Freddy mich an, „Erinnerst du dich, was Emil und Jacob gesagt haben?“ „Ich denke nicht, dass sie sich mit dem harten Zeug eindecken werden“, hielt ich dagegen. Obwohl ich Freddys Meinung schlichtweg abstritt, gaben mir seine Worte zu denken. Beim Abendbrot setzte ich mich mit Shane, Alex, Oli, Freddy und den Zwillingen an einen Tisch. „Ich muss euch etwas sagen“, tickte ich Nelly an. „Worum geht es?“, sah sie von ihrem Teller auf.

 

„Wegen der Party“, räusperte ich mich kurz. „Gibt es wieder irgendwelche Zweifel? Wir brauchen niemanden, der uns die Party verderben will“, fuhr Joan schnippisch dazwischen. „Jetzt lass Emily doch mal ausreden“, haute Freddy auf den Tisch. „Ich will euch nur davor warnen, dass irgendjemand härteren Alkohol mitbringt, sodass wir besoffen auf dem Dach herum torkeln“, fuhr ich fort. „Ach was, das haben wir doch gar nicht vor“, meinte Nelly, die kurz davor war einen Lachflash zu kriegen. „Emmi, keine Sorge, wir haben alles unter Kontrolle. Du brauchst keine Bedenken zu haben“, legte mir Joan die Hand auf die Schulter. „Außerdem werden wir nicht zulassen, dass unser Geburtstag zu einem Besäufnis verkommt“, sprach Nelly weiter. „Wir werden eine tolle Sause haben, auch ohne die ganzen Muffel“, freute sich ihre Schwester, „Obendrein wollen unsere beiden Lesben auch nicht dabei sein“ „Tja, ihr Pech, wenn sie kein Spaß am Feiern haben“, bemerkte Nelly in einem zickigen Tonfall. Wie sprachen die Zwillinge nur von Rosy und Karolina? Es schockierte mich schon ein wenig, wie abfällig die Schwestern hinter ihrem Rücken über sie redeten.

 

Der Freitag, an dem die besagte Party stattfinden sollte, rückte immer näher. Selbstverständlich halfen wir den Zwillingen die Party vorzubereiten und kamen mit zum Einkaufen. „Ich komme doch heute Abend zur Party“, entschied Freddy als wir uns am Freitagmorgen nach dem Frühstück vor dem Naturwissenschaftssaal trafen. „Super, Freddy!“, gab ihm Oli einen Highfive. „Ich will mir den Fun nicht entgehen lassen“, meinte er nur. „Beste Entscheidung!“, zeigte Fintan mit dem Daumen nach oben. „Die Party wird St. Malory niemals vergessen!“, ballte Joan die Faust.

 

Nur Fiona wusste noch nicht so recht, ob sie sich trauen wollte, im Dunkeln auf das Dach zu klettern. Wie sie uns vor kurzem gestanden hatte, litt sie unter Höhenangst. Rosy und Sandrina hatten vornherein abgesagt, genauso wie Darcy und ihre Freundinnen. „Psst, Mr. Collins kommt!“, legte Shane den Zeigefinger auf die Lippen. Sofort verstummte alles um uns herum, als unser korpulenter Chemielehrer  mit zwei schweren Taschen auf dem Flur auftauchte. „Au backe, es gibt den Test zurück“, erbleichte Nelly. „So schlimm war der Test aber nicht“, meinte Rosy. „Du hast immer gut reden, du schreibst meistens die besten Noten“, rollte Joan mit den Augen. Ich wusste, dass die Schwestern nicht gerade die Fleißigsten waren. Ihre Nachmittage verbrachten sie am liebsten auf dem Tennisplatz, am Pool, in der Reithalle oder in der Stadt.

 

Fiona kam doch mit, obwohl sie sich gefühlte hundertmal umentschied und beunruhigt im Zimmer auf und ab tigerte. Dafür sagte Tom kurzfristig ab, da er sich mit einer Migräne lieber ins Bett legen wollte. Zwei Stunden nach dem Abendbrot marschierten wir los. Jeder trug einen Rucksack, in dem Getränke oder kleine Snacks verstaut waren. Sogar mit dem Wetter hatten wir richtig Glück, keine Wolke war am Himmel zu sehen und im Osten ging ein runder goldoranger Vollmond auf. „Das wird eine geile Vollmondparty werden“, freute sich Nelly, die sich bei mir und Oli unterhakte. „Sogar das Wetter will mit uns feiern und der Mond springt freiwillig für die Partybeleuchtung ein“, flachste Greta hinter uns. Obwohl es etwas kühl und windig war, hatte ich im Gespür, dass es heute eine coole Party werden würde.

 

Am Gerüst der alten Turnhalle herrschte bereits Trubel. Vor uns kletterten Alex und Shane auf das Dach hinauf. „Was habt ihr mit dem Baugerüst gemacht?“, wunderte sich Lucy. „Wir haben nur ein paar Seile und Bretter befestigt, damit ihr besser hinauf kommt“, antwortete Joan. „Und zudem hat Sicherheit höchste Priorität“, warf Nelly ein. „Kommt Mädels!“, spornte ich meine Freundinnen an, die vor der kleinen Rampe stehen blieben. Oli machte den Anfang, schließlich folgte ich und nacheinander kamen unsere Freundinnen hinterher. Das Flachdach zu erklimmen war ein Kinderspiel, nur Fiona musste wegen ihrer Höhenangst immer wieder mit sich kämpfen. Oben auf dem Dach probierte Lars seinen Ghettoblaster aus. Lautstarke Housemusik zerriss die Nacht. „Mach die Musik leiser, du Schaf, das kann man bis ins Nachbardorf hören!“, zischte Fintan. „Oh bitte, lass es keinen Lehrer gehört haben“, wurde Fiona neben mir wieder ängstlich. „Ach was, mach dir deswegen keine Gedanken, unsere Lehrer werden davon nichts mitbekommen haben“, legte ihr Greta den Arm um ihre Schulter.

 

Zum Glück gab es genug Bretter und andere Baumaterialien, sodass wir uns gemütlich im Halbkreis hinsetzen konnten. Alex und Jacob begannen die ersten Bierflaschen auszuteilen. Jenny und Lucy zündeten ein paar Windlichter an. „Wie im Traum!“, schwärmte Oli, „Diesen Abend werden wir auf keinen Fall vergessen“ „Immerhin haben wir eine grandiose Aussicht“, fand Jenny. „Das wird sicherlich die Party mit dem besten Ausblick sein“, grinste Oli. „Bitte einmal lächeln!“, bat Freddy, der uns mit seinem Handy fotografieren wollte. Oli, Greta, Lucy, Jenny und ich rückten enger zusammen, sodass wir auf das Bild passten. „Oh Gott, sehe ich schrecklich aus!“, rief Greta schockiert. „Du siehst nie und nimmer schrecklich aus, Schatz!“, zog Lars sie zu sich hin. Das Internat lag nur dreihundert Meter entfernt von uns weg. Anhand einiger beleuchteter Fenster der Wohnblocks war zu sehen, dass die meisten noch wach waren. Etwas schade war es schon, dass Rosy, Karolina und Sandrina nicht kommen wollte. Gerade wo es so schön war.

 

Gut gelaunt stopften wir uns mit Chips, Nachos, Salamiwürstchen, Salzcrackern, Muffins und Süßigkeiten voll, bis wir fast platzten. Ich holte den Kuchen heraus, den Rosy mir extra mitgegeben hatte. Greta steckte die Wunderkerzen auf den Geburtstagskuchen und zündete sie an. „Happy Birthday to you, Happy Birthday to you, Happy Birthday liebe Zwillinge, Happy Birthday to you!”, stimmten wir aus vollem Halse an. „Uff, ich kann meine Diät von vorne beginnen“, stöhnte Greta. „Was für eine Diät?“, sah Oli sie ungläubig an. „Ist noch niemanden aufgefallen, dass ich während der Sommerferien drei Kilo zugenommen habe?“, erwiderte Greta. „Mir ehrlich gesagt nicht“, gestand Fiona offen. „Jetzt im Ernst? Diskutiert ihr über irgendwelche Gewichtsprobleme?“, drehte sich Nelly in unsere Richtung, „Wir sind auf einem Sportinternat, bei dem vielem Training verbrennen wir unsere heutige Kalorienzufuhr in null komm nichts“ „Lassen wir es uns schmecken! Heute wird nicht gefastet!“, ließ ihre Zwillingsschwester eine handvoll Gummibärchen in ihrem Mund verschwinden.

 

Je weiter der Abend verstrich, desto munterer wurde die Stimmung auf dem Dach. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, wie Lars, Fintan, Alex und drei oder vier weitere Jungs eine Flasche mit Barcardi kreisen ließen. Je mehr sie intus hatten, desto mehr stieg der Lautstärkepegel. „Ist es ihr Ernst, dass sie sich hier betrinken?“, raunte mir Freddy zu, der abseits des Grüppchens saß. Zu allem Überfluss fingen die Jungs auch noch an zu rauchen. Wer hatte bloß die Zigaretten dabei? Im Normalfall bekannte sich keiner dazu, dass er rauchte, da dies auf einem Sportinternat äußerst verpönt war. „Wollt ihr euch nicht zu uns gesellen?“, winkte Shane uns zu sich rüber. „Gerne!“, nickte Oli, die neben Alex platz nahm. „Ihr scheint viel Spaß zu haben!“, stellte ich fest. „Jo, läuft bei uns!“, nickte Fintan und nahm einen Schluck von seinem Bier. „Was spielt ihr da?“, wollte Jenny wissen. „Stripppoker!“, antwortete Shane, der bereits seine Schuhe und seinen Pullover ausgezogen hatte. „Ihr könnt gerne mitmachen“, bot uns Ivan an. „Wir sehen gerne blanke Mädels“, grinste Emil dreckig. „Nein danke!“, lehnten Fiona und ich ab.

 

Oli, Greta, Jenny und die Zwillinge nahmen die Einladung gerne an. „Lass uns zu Freddy gehen, er langweilt sich alleine“, murmelte ich. „Ich weiß nicht, wie lange ich noch Lust habe, noch hier zu bleiben“, gähnte er. „Irgendwie blöd, dass mehr als die Hälfte von uns dieses blöde Strippoker spielt“, ärgerte sich Fiona. „Für die ziehe ich mich auch nicht freiwillig aus“, murmelte Lucy, die gerade nicht mehr richtig in Feierlaune war. Mit Pappbechern in der Hand sahen wir zu, wie die Spieler nach und nach sämtliche Kleiderstücke ablegen mussten. „Seht mal, Oli hat nur noch ihr Top an und Shane ist bereits oben ohne“, stupste ich Lucy amüsiert an. Bis auf Patrick, Lars und Jenny waren alle anderen mindestens halb ausgezogen. „Soll ich mal ein Foto machen?“, flüsterte mir Freddy ins Ohr. „Mach doch, wenn du meinst“, grinste ich. „Okay, nur den Blitz werden sie sicherlich bemerken“, gab er zu bedenken und steckte sein Handy wieder in seine Jackentasche.

 

„Meine Güte, mir wird es echt zu blöd. Die Jungs labern nur noch dummes Zeug und ganz besonders Tiago reißt die dümmsten Witze, die es auf dem Erdball nicht mehr gegeben hat“, gesellte sich Oli mit Jenny zu uns. „Ich sag doch die ganze Zeit, dass sie sich die Birne zuschütten“, grummelte Freddy. Gedankenverloren starrten wir den Mond an, der inzwischen ein ganzes Stück höher gewandert war und nicht mehr so groß war, wie vorhin. Ein lautes Lachen holte mich wieder in die Realität zurück. Fintan jagte Emil über das Dach. „Sag noch einmal, dass du auf Emily stehst!“, rief er ihm hinterher. „Ich glaube, die drehen heute noch komplett durch“, schlug sich Fiona vor die Stirn. „Ich zähle bis drei und bis dahin sind sie vom Dach gesprungen“, rollte Jenny mit den Augen. „Bitte nicht!“, konnte Lucy nicht länger hinsehen. „Langsam wird mir dieser Fintan immer unsympathischer“, war Freddy sichtlich angefressen und hielt mich fest.

 

„Kommt wieder vom Baum runter!“, hörte ich jemanden rufen. Nicht auch noch das! Im Kegel von Olis Taschenlampe konnten wir sehen, wie Lars und Tiago in den Ästen der alten Eiche herumturnten. Wie mochten sie nur dort herauf gekommen sein? Unruhig stand Fiona auf. „Ihr klettert da sofort wieder runter!“, rief sie bestimmt. „Jetzt reg dich doch nicht so auf, hier oben ist es echt gemütlich. Komm doch her, wenn du auch chillen möchtest“, entgegnete ihr Tiago gelassen. Langsam wurde mir auch mulmig. Die Eiche hatte bestimmt über hunderte Jahre auf dem Buckel und hatte nicht wenige morsche Äste. „Jetzt seid doch vernünftig, Jungs!“, bettelte nun auch Greta.

 

„Na gut, ich komme schon“, seufzte Tiago. Leichtfüßig wie eine Katze kletterte er auf das Dach zurück. Ein Wunder, wie er das geschafft hatte. Schließlich musste er bereits leicht angetrunken sein. Im nächsten Moment knackte es laut und ein gellender Schrei hallte durch die Nacht. Was war nur passiert? „Lars ist vom Baum gestürzt!“, schrie Lucy im nächsten Augenblick. „Ist das dein Ernst?“, überschlug sich Fintans Stimme vor Aufregung. „Ja, ein Ast ist abgebrochen und er konnte sich nicht mehr halten“, zitterte Lucy. „Lars, kannst du uns hören?“, formte Greta mit ihren Händen einen Schalltrichter. „Wir müssen runter und nachsehen“, beschloss Alex, der als erster vom Dach kletterte.

 

Mein Herz hämmerte mir gegen den Brustkorb. Was für ein Bild uns nur erwarten würde, wenn wir Lars vorfanden? Hoffentlich war er nicht schwer verletzt oder sogar tot. Mit Taschenlampen bahnten wir uns den Weg durch das Gestrüpp. „Wir haben ihn gefunden“, winkte Jacob uns zu sich rüber. Alex und Patrick knieten neben dem bewusstlosen Lars nieder und legten ihn vorsichtig in die stabile Seitenlage. Blut sickerte aus einer Wunde am Kopf. „Ich habe Taschentücher dabei“, drängte sich Fintan zwischen uns durch. Neben mir fing Greta leise an zu schluchzen. „Bitte sag was, Lars, bitte!“, flehte sie, als sie sich neben ihn auf den kalten Boden setzte. Lars hatte seine Augen geschlossen und schwieg. „Verdammt, wir müssen einen Krankenwagen rufen!“, fluchte Emil.

 

Oli hielt bereits ihr Handy ans Ohr und telefonierte einen Notarzt herbei. Wir hörten ein Auto auf der kleinen Zufahrtstraße näher kommen, das in der Nähe von uns am Koppelzaun anhielt. Eine Person stieg aus und näherte sich uns. „Wer ist das?“, zischte Joan. „Das kann unmöglich der Notarzt sein“, wisperte Fiona. Die Silhouette kam uns immer näher. „Das ist nur unser Trainer“, erkannte Fintan den Typen. „Darf ich fragen, was ihr hier tut?“, räusperte sich der Mann. „Einer unserer Kumpels ist vom Baum gestürzt“, antwortete Shane. „Wie habt ihr es geschafft auf die Eiche zu klettern?“, kratzte sich der Trainer der Schulmannschaft am Bart. Nun konnten wir nicht mehr länger mit der Wahrheit zögern. „Wir haben auf dem Dach eine Party veranstaltet und zwei von uns sind vom Dach aus auf die Eiche geklettert“, meldete sich Freddy zu Wort. „Alles klar“, nickte der Mann, „Habt ihr wenigstens schon einen Krankenwagen gerufen? Weiteres besprechen wir morgen“ Als nächstes beugte er sich zu Lars runter und prüfte, ob sein Puls in Ordnung war und ob er regelmäßig atmete.

 

Oli und ich fingen den Notarzt und die Sanitäter an der Straße ab. Eine Bahre wurde aus dem Krankenwagen geschoben. „Sie müssen uns noch ein Stück folgen“, ging Oli voran zur Unfallstelle und hielt einen Zweig zur Seite. Wir machten Platz, damit die Sanitäter in Ruhe arbeiten konnten und wir ihnen nicht im Weg standen. Ich konnte sehen, wie sie Lars eine Infusion legten und ihm eine Sauerstoffmaske aufsetzten. Anschließend wurde er abtransportiert und in den Krankenwagen geschoben. Schweigend blieben wir zurück. Lucy tröste Greta, die wie ein Schlosshund weinte. Auch Fiona und Nelly konnten ihre Tränen nicht länger zurückhalten. Oli ließ sich erschöpft in Alex Arme sinken. „Geht wieder ins Haus“, ordnete der Trainer der Fußballer an. Zitternd krallte ich mich an Freddys Arm fest. „Ganz ruhig, atme tief ein und wieder aus“, streichelte er mir zärtlich über den Rücken. Tränen stiegen mir in die Augen, aber ich war noch viel zu geschockt, um richtig in Tränen auszubrechen. Stattdessen verbarg ich mein Gesicht an seiner Schulter.

 

„Alles wird gut“, redete er mir gut zu. Ob es wirklich wieder gut wurde? Lars sah schwer verletzt aus. Bestimmt würde er einige Tage, sogar Wochen im Krankenhaus verbringen. Mir tat gerade am meisten Greta leid. An ihrer Stelle hätte ich genauso eine große Angst um ihren Freund. „Was für ein Reinfall!“, ärgerte sich Fintan. „Das ist eure Schuld, wenn ihr meint, euch betrinken zu müssen“, fuhr Freddy ihn von der Seite an. „Wer hat behauptet, dass Lars sturzbesoffen war?“, entgegnete ihm Fintan gereizt. „Ich habe doch gesehen, was ihr alles getrunken habt“, schnaubte Freddy, „Gerade du, Fintan, du hättest ebenfalls gut vom Dach stürzen können, als du dir die Verfolgungsjagd mit Emil geleistet hast“ „Musst du immer deine Klappe aufreißen, Fredderik? Kannst du deine dummen Kommentare nicht für dich behalten?“, wurde Fintan wütend. „Jetzt ist aber mal gut, Jungs! Könnt ihr euch aufhören zu zanken!“, ging ich dazwischen. Ich konnte es nicht länger ertragen, wie sie sich zofften. Ohne ein weiteres Wort zu wechseln gingen wir zu unserem Wohnhaus zurück. Der Abend war gelaufen. Aus einer anfangs lustigen Party wurde die Hölle auf Erden.

 

Im Foyer trafen wir Rosy und Karolina. „Was ist um Himmels Willen los?“, wollte Rosy wissen. Ihr war nicht entgangen, dass Freddy und ich total blass im Gesicht waren. „Lars ist vom Dach auf die Eiche geklettert und dabei in die Tiefe gestürzt“, erzählte mein Freund. „Ach du Schreck!“, entfuhr es Karolina, „Bestimmt hat er sich dabei verletzt“ „Er war bewusstlos und hat aus einer Wunde am Hinterkopf geblutet“ „Ich wusste, dass es kein gutes Ende haben wird“, schlug Rosy die Augen nieder, „Ich bin mir sicher, da war Alkohol im Spiel, sonst wäre der Unfall nicht passiert“ „Aber Lars machte noch nicht mal den Eindruck, als wäre er so betrunken gewesen“, widersprach ich ihr.

 

„Es war so, dass ein Ast abgebrochen ist, an dem er sich festhielt“, ergänzte Freddy. „Wie tief ist er ungefähr gefallen?“, fragte Rosy. „Ungefähr dreieinhalb bis fünf Meter“, schätzte er grob. Zu viert betraten wir den Gemeinschaftsraum. Um uns herum wurde nur über den Unfall geredet. „Der arme Lars, hoffentlich ist er nicht all zu schwer verletzt“, konnte man Stella ihre Betroffenheit ansehen. „Habt ihr Greta gesehen?“, wandte ich mich an Darcy und Rachel. „Bis gerade eben war sie hier“, erwiderte Rachel, „Dann ist sie alleine aus dem Zimmer gegangen“ Eigentlich wollte ich Greta ein bisschen Trost spenden, bestimmt war sie schon auf ihr Zimmer gegangen. Apropos Zimmer, das war ein gutes Stichwort. Es war kurz vor Mitternacht und jetzt kam die Müdigkeit mit aller Macht in mir hoch.

 

6. Kapitel

 

Am kommenden Morgen mussten wir um zehn Uhr bei Mr. Scott im Büro antanzen. Für knapp zwanzig Schüler reichte der Platz gerade eben aus. „Wie ich gestern von einem meiner Kollegen erfahren habe, weiß ich genau, was sich zugetragen hatte“, begann er und räusperte sich kurz, „Ist euch nicht klar, dass eure Party auf dem Turnhallendach hätte schlimmer ausgehen können, zumal Alkohol im Spiel war? Ihr habt mit eurem Leben gespielt und leider hat es Lars ziemlich übel erwischt. War euch im Vorfeld nicht bewusst, welchen Gefahren ihr euch aussetzt? So ein Verhalten ist in keiner Weise verantwortungsbewusst und zeugt nicht von Reife. Für die unteren Jahrgänge seid ihr kein gutes Vorbild“ Schweigend tauschten wir schuldbewusste Blicke aus. Was konnte man nur Gescheites sagen? Dieser Gedanke steckte gerade wohl in jedem Kopf derjenigen, die gerade anwesend waren.

 

„Es geht auf unsere Kappe. Ich gebe zu, dass wir uns verkehrt verhalten haben“, meldete sich Patrick zu Wort, der Klassensprecher in der Parallelklasse war. „Ich muss gestehen, dass ich als Erste diese Idee hatte“, zeigte Greta zaghaft auf. Immer wieder trafen unsere Blicke Joan und Nelly, die sich zwischen uns versteckten und kein Wort aus sich heraus bekamen. „Da ich dabei war, trage ich die Schuld auch und ich nehme dafür auch eine Strafe im Kauf“, meldete ich mich zu Wort, nachdem ich minutenlang mit mir gerungen habe. „Ich würde dennoch nur zu gerne wissen, wer der Drahtzieher dieser Party war“, sah uns unser Schulleiter eindringlich an, „Ihr braucht es mir nicht jetzt sagen, aber am besten ist es, dass sich diejenige oder diejenigen sich in den kommenden Tagen bei mir persönlich melden“ Betretendes Schweigen machte sich breit, sodass nur das Ticken der alten Standuhr zu hören war.

 

„Auch wenn ihr Reue zeigt und euch bereit zeigt, die Verantwortung für den Unfall zu übernehmen, wird euch eine Strafe nicht erspart bleiben. Jeder, der gerade anwesend ist, bekommt einen Tadel und einen Eintrag in die Schulakte. Darüber hinaus werdet ihr euch ein Projekt überlegen, wie ihr einer Organisation helfen könnt, die sich für arme Kinder in der dritten Welt einsetzt“, verkündete Mr. Scott das Strafmaß. Mir fiel ein zentnerschwerer Stein vom Herzen. Zwar klang ein Eintrag in die Schulakte nicht besonders verheißungsvoll, aber wenigstens wurden wir nicht vom Internat verwiesen. Während wir das Schulleiterbüro verließen, hatte ich für einen kleinen Augenblick Tränen in den Augen, die ich mir wegblinzeln musste. „Uff, da hatten wir ordentlich Glück im Unglück“, lautete Olis Statement als wir draußen im Park die Zeit bis zum Mittagessen rumkriegten. „Trotzdem dürfen wir uns rein gar nichts mehr zu Schulden kommen lassen“, war Greta immer noch sichtbar aufgebracht.

 

„Meine Güte, lass das doch nicht so nah an dich herankommen“, setzte sich Nelly neben sie. „Außerdem hätte man nicht den halben Jahrgang vom Internat werfen können“, meinte ihre Zwillingsschwester. „Trotzdem muss man bedenken, dass wir einen krassen Bockmist gebaut haben“, mischte sich Fintan ein, „Lars hat sich schwer verletzt und er hat Glück gehabt, dass er noch lebt. Bei der Höhe hätte er auch tot sein können“ „Da war dieser verdammte Alkohol schuld“, sagte Freddy hitzig. „Aber so viel haben nun auch nicht getrunken“, widersprach ihm Shane. „Wären wir nicht auf dem Dach herumgeturnt, würden wir nicht in dieser bescheuerten Situation sein“, regte sich Freddy weiter auf. „Das sagst gerade du, der ebenfalls dabei war“, sah Ivan ihn eindringlich an. „Warum habt ihr nicht bekannt, dass ihr die Party geplant und durchgeführt habt?“, sah Fiona die Zwillinge groß an. „Was hast du eigentlich? Mr. Scott weiß, dass wir dabei waren und wir bekommen die gleiche Strafe, wie ihr“, erwiderte Nelly pikiert. „Trotzdem hättet ihr wenigstens etwas dazu sagen können. Ihr ward eine der wenigen, die gerade nicht den Mund aufgekriegt haben“, war Oli der Meinung.

 

„Wollt ihr uns dazu kriegen, dass wir zugeben, dass wir die Drahtzieherinnen sind?“, sprang Joan auf. „Es wäre nur ehrlich uns gegenüber“, sagte Lucy ruhig. „Ihr seid alle dabei gewesen, ihr hättet genauso gut fernbleiben können“, ereiferte sich Joan, die puterrot anlief. „Meine Güte, stellt euch doch nicht gleich so an“, begann Jenny, „Was ist daran so schwer zu Mr. Scott zu gehen und ihm zu sagen, dass ihr die Dachparty ins Leben gerufen habt? Schließlich hat Greta gestanden, dass sie allgemein die Idee hatte, dass man auf dem Dach feiern könnte. Der Direx wird euch schon nicht den Kopf abreißen“ „Ich glaube es nicht!“, wurde Nelly wütend, „Ihr setzt uns ganz schön unter Druck und das obwohl ihr genauso schuldig seid!“ „und wir dachten, ihr seid unsere Freunde“, fügte Joan enttäuscht hinzu, „Es ist nicht fair, dass ihr uns den Unfall und die verkorkste Party allein uns in die Schuhe schiebt“ „Hör zu, so ist das nicht gemeint“, versuchte ich die Zwillinge zu beschwichtigen, „Nur ihr hättet euch vorhin bei Mr. Scott nicht so verstecken müssen, als wärt ihr nur Mitläuferinnen gewesen“ Joan begann vor unseren Augen zu heulen, während uns Nelly weiterhin finster anstarrte.

 

Der Vormittag gestaltete sich als grauer Herbsttag. Nach dem Springtraining verzog ich mich mit einem Roman in meinem Zimmer. Nach einer Weile legte ich mich das Buch zur Seite und machte mich auf meinem Bett lang. Irgendwie war es ein Tag zum Vergessen! Meine Laune war seit Lars Unfall im Keller. Durch Greta erfuhr ich, dass er sich bei dem Sturz das Schlüsselbein und den linken Arm brach und eine schwere Gehirnerschütterung erlitt. Wenigstens war er nicht lebensgefährlich verletzt, dennoch war der Unfall äußerst tragisch und unnötig. Gerade als meine Gedanken mich in eine andere Welt entführten, klopfte es an der Tür. Wer wollte ausgerechnet jetzt etwas von mir? Grummelnd stand ich auf und schleppte mich zur Tür. „Hast du Lust mit zum Spiel zu kommen?“, fragte mich Oli. „Spielen unsere Fußballer heute?“, war ich verwundert. „Guck doch mal aus dem Fenster!“, deutete meine Freundin nach draußen.

 

„Na gut, ich komme mit“, sagte ich und zog meine Chucks und meine Jacke an. Sich das Fußballspiel anzuschauen war immer noch die bessere Lösung, als alleine im Zimmer zu versauern. Als wir auf der kleinen Tribüne platz nahmen, war das Spiel bereits voll im Gange. Weder Fintan noch Tiago oder irgendein anderer Spieler aus unserem Jahrgang standen auf dem Platz. „Sind sie aus der Mannschaft geflogen?“, bekam ich einen Schock. Zu meiner Beruhigung entdeckte ich Fintan und Alex auf der Ersatzbank. An Fintans Stelle trug Brendan aus dem dritten Jahrgang die Kapitänsbinde. „Bei dem Spiel kann man müde werden“, gähnte Oli. Inzwischen war das 2:0 für die Gastmannschaft gefallen, nachdem einem unserer Verteidiger sein Gegenspieler davon gelaufen war und unser Keeper keine Chance mehr hatte.

 

Genauso wie der feine Nieselregen plätscherte das Spiel dahin, ohne dass unsere Mannschaft eine nennenswerte Chance verbuchen konnte. Mit dem Halbzeitpfiff trotteten die Spieler vom Platz. „Es sieht echt so aus, als sei keiner bis auf Freddy aus unserer Klasse aufgestellt“, stellte Oli fest. „Kein Wunder, schließlich hat ihr Trainer sie gestern angetrunken vorgefunden“, murmelte ich. Mitten in der zweiten Halbzeit wurden Fintan und Tiago doch noch eingewechselt, obwohl sie das Spiel nicht zum Besseren wendeten, stattdessen verloren sie öfter den Ball und konnten sich nicht behaupten.

 

Gelangweilt starrte ich auf mein Handy. „Sieh mal, es gibt Elfmeter für uns!“, zog mich Oli am Ärmel. Ein Spieler, den ich nicht kannte, nahm Anlauf und wartete auf den Pfiff. Sein strammer Schuss ging an den Pfosten, von dort prallte er ab und landete vor Fintans Füßen. Aus rund drei Meter Entfernung hatte er keine Probleme die Kugel hinter die Linie zu drücken. Immerhin stand es nur noch 1:2. Nichts desto weniger trotz ließen sich unsere Gegner sich die Butter vom Brot nehmen. Nach einem Konter stand es 1:3 und kurz vor Schluss fiel der vierte Gegentreffer. Nicht zu fassen! Unsere Spieler kamen keinen vernünftigen Spielzug hin. „Das war wohl nix!“, stöhnte Oli. „Quelle Katastrophe!“, ahmte ich die Stimme unserer Französischlehrerin nach.

 

„An was habt ihr gedacht, womit wir Geld sammeln können?“, fragte Alex in die Runde, der unsere Jahrgangsversammlung am Montag im Gemeinschaftsraum leitete. „Schuleigener Kiosk mit gesunden Snacks, Kutschenfahrten, Kunstausstellung, Teilnahme an einem Talentwettbewerb, Sponsorenlauf“, las Oli die Vorschläge vor, die sie sich auf einem Zettel notiert hatte. „Wie wäre es mit einem Schminkkurs, den wir anbieten könnten?“, rief Arabella herein. „Was für eine unrealistische Idee“, stieß Emil ihr sofort vor den Kopf, „Wer will sich schon freiwillig für Geld schminken lassen?“

 

„Ich bin für den Schulkiosk“, schnellte Gretas Hand nach oben. „Das klingt famos!“, nickte ich, „Am besten mit Obstsalat, Smoothies, belegten Sandwichs und co“ „Ist das nicht zu aufwendig?“, machte Fintan ein skeptisches Gesicht. „Ich finde die Idee schon ganz passend“, war Alex der Meinung, „Allerdings müssten wir die Sachen einkaufen“ „Das ist es doch!“, fiel ihm Fintan ins Wort, „Überleg doch mal, die nächsten Läden sind im Dorf und wir haben nur Fahrräder“ „Lass uns mit den Lehrer drüber sprechen“, mischte sich Tom ein. „Es wird doch bestimmt möglich sein, sich die Zutaten liefern zu lassen“ Im nächsten Moment betrat Mr. Scott mit Miss Greene, dem Klassenlehrer unserer Parallelklasse und Mr. Collins, der uns in Wirtschaft unterrichtete den Gemeinschaftsraum, den wir zu einem Podium ummodelliert hatten. Vorne neben dem Fenster nahmen die vier Lehrer Platz.

 

„Was habt ihr euch überlegt?“, begann Mr. Scott und räusperte sich kurz. „Wir wollen eine Schülerfirma gründen, die in der ersten großen Pause gesunde Snacks und Sandwichs verkauft“, meldete sich Alex zu Wort, der uns als Klassensprecher vertrat. „Wir haben es uns so vorgestellt, dass wir in der Pause die Sachen frisch zubereiten und parallel an einem Stand verkaufen“, fuhr Greta fort. „Die Idee an sich klingt ganz gut, ist die Mehrheit damit einverstanden?“, fragte uns Mr. Collins. Bis auf Arabella, Samantha und ein paar weitere Schüler hob die Mehrheit ihre Hände. Gretas Idee hatte gewonnen. „Wir brauchen eine Küche oder einen Platz, wo wir die Lebensmittel lagern und zubereiten können“, gab Rosy zu bedenken. „Im Schulgebäude gibt es eine Schulküche, die meist abgeschlossen ist. Ich kann euch den Schlüssel geben, sodass ihr dort jede Pause hinein könnt“, meinte unser Schulleiter.

 

Nach der Versammlung schlenderten uns Joan und Nelly Arm in Arm auf dem Flur entgegen. „Wo kommt ihr denn her?“, fragte Greta sie spitz. „Wir waren nur auf einem Ausritt“, erwiderte Joan und verstand offenbar nicht, wieso sie einige verärgerte Blicke von uns erntete. „Habt ihr nicht gewusst, dass gerade eine Jahrgangsversammlung war?“, sah Oli sie eindringlich an. „Das hat uns Alex vorhin mindestens dreimal gesagt“, fügte Rosy hinzu. „Ups, das haben wir ganz vergessen!“, ertappt schlug sich Nelly die Hand auf den Mund. „Jahrgangsversammlung heißt nicht umsonst, dass man anwesend zu sein hat“, sagte ich. „Hör auf uns zu belehren!“, zischte Joan genervt. „Emily sagt nur wie es ist“, sprang mir Freddy bei Seite.

 

„Außerdem was wurde schon Wichtiges besprochen?“, tat Nelly unwichtig. „Oh, da hast du jede Menge Wichtiges verpasst!“, funkelte Oli sie an, „Fragt die Lehrer, wenn ihr mehr wissen wollt, wir setzen euch garantiert nicht auf den neusten Stand“ „Was ist mit euch los?“, fauchte Nelly, „Schon seit zwei Tagen verhaltet ihr euch wie merkwürdige Zicken. Ich glaube langsam, dass es eine totale Fehlentscheidung ist, dass wir uns dieses popelige Internat in der irischen Einöde ausgesucht haben“ „Ihr seid nicht gezwungen St. Malory zu besuchen“, holte Sandrina tief Luft, „Von mir aus könnt ihr eure Eltern anbetteln, dass sie sich auf eine dieser Eliteschulen in Großbritannien anmelden“ „Außerdem, habt ihr gegenüber Mr. Scott nicht zugegeben, dass ihr die Party auf dem Dach geplant habt?“, trat Greta vor die Zwillinge. „Warum sollen wir die ganze Zeit die Schuld auf uns nehmen?“, erwiderte Joan zornig, „Ihr ward doch auch alle dabei“

 

In den kommenden Tagen fanden sich die Zwillinge vermehrt im Abseits wieder. Ich musste zugeben, dass ich ziemlich enttäuscht von ihnen war und sie nicht mehr als gute Freundinnen bezeichnen konnte. Ich hätte nie gedacht, dass sie so unehrlich sein konnten und sich aus allen Klassenangelegenheiten raus hielten. Am nächsten Montag waren Oli und ich ausgerechnet mit ihnen für die Verkaufsrunde unseres Kioskes eingesetzt. „Wo bleiben die verdammten Schwestern?“, drehte Oli sich zu mir um, als sie das Obst aus dem Kühlschrank holte. „Hi, habt ihr ein Problem?“, steckte Greta ihren Kopf zur Tür herein. Joan und Nelly kommen nicht“, antwortete ich. „Vielleicht sind sie nur auf Toilette“, meinte Lucy, die hinter Greta auftauchte. „Man kann doch nicht eine Viertelstunde auf dem Klo verbringen“, tippte sich Oli an die Stirn.

 

„Wir helfen euch gerne“, bot Jenny freundschaftlich an. „Vielen Dank, mit euch kommen wir viel schneller voran“, bedankte ich mich. Mit fünf Personen ging es deutlich schneller als nur zu zweit. Draußen warteten die ersten Kunden, die entweder getoastete Sandwichs oder Fruchtsmoothies orderten. Genauso gut gingen auch der exotische Obstsalat und die Möhrenwaffeln weg. Langsam machte die Arbeit immer mehr Spaß. „Ich wüsste, wie wir den Laden noch optimieren können“, dachte Oli nach, „In dem wir bunte Schilder und Tafeln gestalten“ „Nicht nur das, Preistabellen wären auch ganz sinnvoll“, meinte ich. „Oder eine Lichterkette, damit man uns ja nicht übersieht“, musste Jenny grinsen. Immer wieder hielt ich Ausschau nach den Zwillingen, die bis zum Klingeln nicht einmal an unserem Tisch vorbei kamen. „Mit ihnen werde ich noch ein Hühnchen zu rupfen haben“, dachte ich bei mir.

 

Nachmittags ging ich mit Donnie auf den Reitplatz. Nächste Woche fand wieder das alljährliche Schulturnier statt und momentan trainierte ich mit Donnie fast täglich. Gerade als ich die richtige Länge für die Steigbügel einstellen wollte, führte Joan Molly auf den Platz. Merkwürdiger war die Stute nicht gesattelt und trug immer noch ihr Halfter. Gerade als ich einen kleinen Moment nicht aufpasste, versetzte Nelly Donnie von hinten mit ihrer Reitgerte einen Hieb. Erschrocken riss mein Pferd den Kopf hoch und tänzelte auf der Stelle. „Ganz ruhig, mein Junge!“, redete ich besänftigend auf ihn ein. Im nächsten Moment ließ Joan Molly los und huschte mit ihrer Schwester davon. Genau das was passieren musste, traf ein. Die beiden Pferde mochten sich nicht sonderlich und begannen sich zu kabbeln.

 

Um die Pferde noch anzustacheln, ließ Nelly einen Luftballon platzen. „Ihr seid wohl vom wilden Affen gebissen worden!“, schrie ich die Zwillinge an, die sich kichernd aus dem Staub machten. Nun stand ich mit zwei kämpfenden Pferden mutterselenallein auf dem Reitplatz und niemand war da, der mir helfen konnte. Immer wieder versuchte sich Molly und Donnie sich zu treten und jagten hintereinander. Unmöglich konnte ich die Pferde alleine einfangen. Da mir mein eigenes Leben am wichtigsten war, kletterte ich schnell hinter den Zaun und sah mit klopfenden Herzen zu, wie Molly auf Donnie zuraste. Wie konnten Joan und Nelly nur so fies sein? Sie nahmen in Kauf, dass ich mich bei der Aktion hätte schwer verletzen können oder gar tot getrampelt hätte werden können. Diesen beiden Früchtchen musste ich meine Meinung geigen oder ich ging gleich zu unserem Schulleiter.

 

„Emily!“, hörte ich Fintans Stimme hinter mir. „Ach Fintan, du bist es!“, klang ich erleichtert. „Was ist nur mit den Pferden los?“, fragte er. „Joan und Nelly haben Molly auf Donnie losgelassen“, berichtete ich ihm mit Tränen in den Augen. „Moment mal, ich versuche Molly einzufangen“, kletterte er über den Zaun. „Bist du verrückt, du kannst in jedem Moment umgerannt werden?“, hielt ich ihm am Ärmel fest. Fintan sah selbst ein, dass es viel zu gefährlich war und kam zurück. „Wir müssen jemanden bescheid sagen“, drängte ich. „Für mich sieht es eher nach einem Spaßkampf an“, war er der Meinung, „Es sieht so aus, als ob sie gar nicht die Absicht hätten sich gegenseitig zu verletzen“ „Trotzdem mache ich mir Sorgen um Donnie, dass er sich verletzt“, war ich den Tränen nahe und bebte am ganzen Körper. Wir holten Jennifer, die sehr gut mit Pferden umgehen konnte und fast die Fähigkeiten einer Pferdeflüsterin hatte.

 

Als das Stallmädchen den Reitplatz betrat, waren die beiden Pferde viel ruhiger und hörten zu meiner Verwunderung auf ihre Befehle. Fintan und ich folgten ihr. „Ich hab sie!“, hielt Fintan Molly am Führstrick und zerrte sie vom Platz runter. Nun konnten Jennifer und ich ohne Probleme Donnie einfangen, der sich wieder beruhigt hatte. Spontan fielen Fintan und ich um den Hals. „Vielen Dank, dass du geholfen hast“, hauchte ich. „Kein Ding, schließlich war es echt gefährlich“, meinte er, „Joans und Nellys Verhalten ist hochgradig unverantwortlich und wir werden sie zur Rechenschaft ziehen. Wenn du magst, begleite ich dich zu Mr. Scott“ Nach dem Vorfall war ich am ganzen Leib derart zittrig, dass ich das Reiten für heute vergessen konnte. „Ich bringe ihn für dich in den Stall“, nahm er mir Donnie ab. Mit zwei Pferden verschwand Fintan in der Stallgasse. Merkwürdiger gingen sie ganz friedlich nebeneinander her, wobei sie sich vor wenigen Minuten noch gegenseitig über den Platz gejagt hatten und kaum zu bändigen waren.

 

Kurz vor dem Abendbrot wurden die Zwillinge im Gemeinschaftsraum von fast dem halben Jahrgang umringt und in die Mangel genommen. „Ich kann es nicht fassen, dass ihr Emily so derart in Gefahr bringen wolltet“, ereiferte sich Greta. „Wenn ihr meiner Freundin noch einmal so etwas antut, kriegt ihr es mit mir und meinen Kumpels zu tun!“, baute sich Freddy vor ihnen auf. „Wisst ihr was?“, wurde Nellys Stimme bedrohlich leise, „Es hat die Richtige von euch getroffen. Emily war anfangs unsere beste Freundin, bis sie den halben Jahrgang gegen uns aufhetzt hat und außerdem ist sie diejenige, die uns am meisten ausgrenzt“ Hatte ich richtig gehört? Sollte ich in deren Augen diejenige sein, die gegen sie hetzte? Was für ungeheuerliche Unterstellungen!

 

„Halt dein Mund, Nelly!“, fuhr Oli sie wütend an, „Für die Aktion mit den Pferden vorhin müsstet ihr eigentlich von der Schule fliegen“ „Wir haben nicht länger Lust dieses verdammte Internat mit den einfältigen Landeiern zu besuchen!“, explodierte Joan. „Dann ruft doch eure Eltern an, dass sie euch heute Abend noch abholen“, richtete sich Alex an sie. „Ich halte es nicht mehr aus, wenn ihr nur noch am schreien seid!“, schlug Rosy auf den Tisch. „Joan und Nelly, werdet doch endlich einmal erwachsen“, sah Fintan sie mit einem durchdringenden Blick an, „Denkt doch mal darüber nach, was Emily und Donnie hätte passieren können“ „Glaubt ihr, dass ihr so Freunde findet?“, meldete sich Jacob zu Wort. „Danke, dass ihr uns zur Zeit nur ausgrenzt!“, schluchzte Nelly los. „Daran seid ihr bis zu einem gewissen Grad selber schuld“, sagte Lucy. Ohne uns anzugucken standen die Schwestern auf und verließen den Raum.

7. Kapitel

Wie gewöhnlich fand in der letzten Woche vor den Herbstferien das Schulturnier statt. Da ich letztes Jahr daran nicht teilnehmen konnte, war die Vorfreude mindestens doppelt so hoch. Kurz nach dem Frühstück herrschte im Stall großes Treiben, wie in einem Bienenstock. Unzählige Schüler mit ihren Pferden gingen an Freddy, Sandrina und mir vorbei. Die ganze Unruhe um uns herum machte mich leicht nervös. Donnie wirkte dagegen fast wie ein Ruhepol, während ich seine Hufe auskratzte und sein Fell bürstete. „Wisst ihr, wie froh ich bin, dass Joan und Nelly, nicht am Turnier teilnehmen dürfen?“, eröffnete Sandrina das Gespräch. „Das ist nur ihre gerechte Strafe“, meinte ich dazu. „Du hättest dich dabei schwer verletzen können und sogar ums Leben kommen können“, begann sich Freddy aufzuregen.

 

„Die Zwillinge haben mittlerweile schon einiges auf dem Kerbblech, daher frage ich mich, wieso sie immer noch hier sind“, echauffierte sich Sandrina. „Wisst ihr was, dass ihr gerade über Nelly und Joan lästert, macht die Sache nicht besser“, drehte sich Arabella zu uns um. „Wir haben dich gar nicht nach deiner Meinung gefragt!“, fuhr ich sie an. „Außerdem haben sie sich selbst ins Abseits geschossen“, legte Freddy nach. „Eure Clique macht jeden fertig, der nicht in euer Schema passt“, wetterte meine Lieblingsfeindin los, „Die Schwestern sind nicht die ersten Opfer, die ihr von der Schule mobbt“ „Mobbing, das ich nicht lache!“, bekam ich fast einen Kicheranfall. „Wir werden gleich sehen, wer von uns das Rennen macht!“, sah Arabella auf mich herab. „Außerdem heißt das Springen“, korrigierte Sandrina sie. Eingeschnappt drehte sich Arabella um und ging mit erhobenem Haupt an uns vorbei zur Sattelkammer. „Meine Güte, dass diese Pute immer ihren Senf dazu geben muss“, rollte Sandrina genervt mit den Augen.

 

Als wir den Warmreiteplatz betraten, war das Turnier bereits im vollen Gang. Ich war einer der letzten Starterinnen und hatte daher Zeit, während Sandrina, Arabella und Freddy deutlich vor mir aufgerufen wurden. Fast jeder Reiter, den ich beobachtete, kassierte mindestens zwei bis vier Fehlerpunkte. „Donnie, wir müssen gleich ganz cool bleiben. Wir haben eine greifbare Chance ganz nach oben zu kommen“, flüsterte ich meinem Fuchswallach ins Ohr. „Na, bist du auch schon nervös“, ritt meine Cousine Priscilla an mich heran. „Hält sich in Grenzen“, erwiderte ich. „Ich habe mir vorgenommen unter die ersten Fünf zu kommen“, redete sie munter weiter, „Aber ich glaube nicht, dass ich den Titel vom letzten Jahr verteidigen kann“ „Das werden wir sehen“, erwiderte ich. Natürlich hatte ich auch ziemlich hohe Erwartungen an mich und Donnie gestellt. Endlich wollte ich wieder ein Turnier rocken und Höhenluft schnuppern. Kurz darauf wurde ich aufgerufen. „Viel Glück!“, wünschten mir die anderen Reiter, die sich noch warm ritten.

 

Vor mir ritt Amanda Stevenson aus dem zweiten Jahrgang, die gar keine gute Figur machte. Ich kam mit dem mitzählen der Fehler, die sie machte kaum hinterher. Am Ende war sie wegen Überschreitens der Zeit disqualifiziert. Schon mal eine Konkurrentin weniger, aber immerhin waren da noch mindestens fünf Reiter, die eine ernstzunehmende Konkurrenz für mich darstellten. Nach dem Startsignal trieb ich Donnie aus dem Schritt in einen anfangs sanften Galopp, den ich gezielt vor dem ersten Hindernis beschleunigte, aber trotzdem durfte ich nicht zu schnell werden. Jedes größere Abweichen der Schrittfolge konnte dazu führen, dass wir uns Fehlerpunkte einhandelten. Ich war so konzentriert, dass ich noch nicht einmal merkte, was um uns herum geschah. Gerade existierten nur Donnie, der Parcour und ich. Donnie schien seine sonstigen Trainingsleistungen deutlich zu übertrumpfen. Mit kräftigen Sprüngen setzte er über die Hindernisse, sodass ich Acht geben musste, dass ich im Sattel blieb. Nur einmal hörte ich eine Stange poltern, sonst blieb alles im grünen Bereich. „Emily Dean, vier Fehlerpunkte und 15:45 Sekunden“, wurde verkündete. Damit lag ich auf dem dritten Platz. „Super gemacht, Donnie!“, klopfte ich ihm auf die Kruppe. „Nicht schlecht, Emily!“, nahmen meine Freunde mich in Empfang.

 

Wir gönnten uns eine kleine Pause und ließen uns auf einem Heuballen neben dem Abreitplatz nieder, während die Stallhelfer unsere Pferde abnahmen. Freddy brachte uns drei Gläser Apfelsaftschorle mit. „Habt ihr schon gehört, wie es bei Rosy, Oli, Greta und co lief?“, fragte uns Sandrina. „Ne, aktuell habe ich noch nichts von den Vielseitigkeitsreitern gehört“, schüttelte ich den Kopf, „Aber ihr Wettbewerb wird erst ab Mittag ausgetragen und wird bis zum Abend andauern“ „Aber der Dressurwettbewerb müsste doch schon gewesen sein“, hakte meine Freundin nach. „Glaub schon“, nickte ich, „Wenn mich nicht alles täuscht, hat Samantha gewonnen. Genaueres werden wir später bei der Siegerehrung erfahren“ „Ich habe gerade eine Nachricht von Shane bekommen“, hielt uns Freddy sein Handy hin, „Fintan ist vor zwei Stunden beim Geländerennen vom Pferd gefallen“

 

„Oh je, hat er sich verletzt?“, bekam ich einen Schreck. „Er hat nur ein paar Prellungen und eine leichte Gehirnerschütterung erlitten, trotzdem checken sie ihn im Krankenhaus ordentlich durch“ „Oh man, da kann man ihm nur gute Besserung wünschen“, seufzte Sandrina. „Seht mal, Fintan hat ein Foto in den Gruppenchat gestellt. Offenbar hat er Lars einen Besuch abgestattet“, zeigte ich meinen Freunden das Selfie der Beiden. „Dann scheint es ihm nicht ganz so schlecht zu gehen“, war Sandrina sichtlich erleichtert. „Kommt, lass uns aufstehen! Die nächste Runde ruft!“, blies ich zum Aufbruch. „Hoffentlich kann ich nach meinem vermasselten ersten Ritt unter die Top Zehn kommen“, bangte Sandrina, die sich bei mir untergehakt hatte.

 

Beim zweiten Durchgang wusste ich, dass es nun drauf an kam. Bevor ich startete atmete ich mehrmals tief durch. Das würde meine letzte Chance sein diesen Wettbewerb zu gewinnen. Schließlich hatten meine Mutter, meine Tante und selbst meine Cousine es auch schon geschafft und ich wollte die Familienserie komplett machen. Bereits auf der Startlinie sprühte Donnie nur so vor Energie. Anscheinend wollte er den Sieg genauso wie ich. Wir hatten gute Vorraussetzungen, sofern wir konzentriert waren und uns nicht aus der Ruhe bringen ließen. Beim Start legte er los wie eine Rakete. Ich musste ihn vor dem ersten Hindernis zurücknehmen, damit er nicht aus dem Tritt kam und richtig absprang. Anders als beim ersten Mal schien er den Parcour besser zu kennen und wusste ganz genau, wie viel Kraft er bei den Sprüngen benötigte. Auch der kleine Hügel und der Wassergraben machten uns keine Probleme. Mit jedem geschafften Hindernis schwand meine Nervosität. Nun hatte ich das Gefühl, dass der Sieg zum Greifen nah war.

 

Endlich würde ich mal die Siegerin des Springwettbewerbes von St. Malory sein und endgültig in Moms Fußstapfen treten. Ich wünschte mir sehr, sie wäre hier und würde neben Dad auf der Tribüne sitzen. Doch garantiert schaute sie mir vom Himmel aus zu und fieberte mit mir und Donnie mit. Als ich noch ein Kind war, war sie meine Reitlehrerin und mein persönliches Idol, welches sie immer noch war. Nun tauchte das schwerste Hindernis vor uns auf, bei dem wir vorhin eine Stange gerissen hatten. Da wir in einer Kurve anreiten mussten, nahm ich ein wenig Tempo raus. Als er sich vom Boden abdrückte, stellte ich mich in die Steigbügel und lehnte mich nach vorne. Hoffentlich rappelte diesmal keine Stange. Vorsichtshalber guckte ich nach für einen kurzen Augenblick nach unten, um mir ganz sicher zu sein. Nur wenige Zentimeter Platz waren zwischen seinem rechten Hinterhuf und der obersten Stange, immerhin bewegte sich diesmal nichts. Hurra, gleich wären wir am Ziel und hatte das Schwerste ohne Fehlerpunkte hinter uns gelassen. Die letzten beiden Hecken übersprang Donnie ohne große Mühe.

 

„Wahnsinn, du bist die Siegerin!“, fiel mir Sandrina um den Hals. „Das muss gefeiert werden!“, gab mir Freddy ein Siegerküsschen und nahm mich auf die Schultern. Donnie wurde von einem Helfer in den Stall geführt und versorgt. Nachher zur Ehrenrunde musste er wieder fit sein. „Komm, wir suchen erstmal deinen Dad!“, sagte Freddy gutgelaunt. Ich thronte immer noch wie eine Schneekönigin auf seinen Schultern und strahlte mit der Sonne um die Wette, die hinter einer dicken Wolke hervorlugte. „Ich sehe ihn schon, aber wie kommen wir nur durch den Dschungel voller Menschen?“, zischte Sandrina. Bevor wir zu ihm durchdrangen, liefen uns noch Oli und Greta über dem Weg, die in einer Stunde beim Vielseitigkeitswettbewerb starteten. „Da ist ja die Siegerin! Glückwunsch, du warst unschlagbar!“, erdrückte mich Oli fast in ihrer Umarmung.

 

„Nun wollen wir sie zu ihrem Dad tragen“, rief Greta, die sich wegen meines Sieges genauso freute. Zu zweit trugen sie mich in Richtung der kleinen Tribüne. Freddy und Sandrina sorgten dafür, dass wir schneller vorankamen, indem sie uns den Weg frei hielten. „Hallo Mr. Dean!“, winkte Freddy meinem Dad zu, der uns sofort erkannte und zurückwinkte. Neben ihm stand keine andere Person als Jane, die sogar Jim mitgebracht hatte. „Lass dich drücken, meine kleine Siegerin!“, nahm Dad mich in Empfang. „Emily, du warst brillant!“, strahlten Janes blauen Augen. „Glückwunsch, du hast dir den Sieg echt verdient“, gab mir Jim die Hand und hielt mir einen Schokoriegel hin. „Danke, gerade habe ich einen guten Appetit!“, bedankte ich mich. „Wo hast du dein Pferd gelassen?“, erkundigte sich Jane. „Das wird gerade von ein paar Helfern versorgt“, antwortete ich. „Auf Emilys Sieg werden wir jetzt eine Kleinigkeit essen und trinken“, beschloss Dad, „Wenn ihr wollt, lade ich euch gerne ein“ „Nein danke, unser Wettbewerb fängt bald an“, lehnten Oli und Greta ab. „Viel Glück euch beiden!“, rief ich ihnen hinterher. „Danke!“, hörte ich Olis Stimme aus der Menschenmasse. Am Getränkestand orderte Dad sechsmal Limonade. „Auf deinen Sieg!“, hob Freddy sein Glas. „Auf Emily!“, antworteten die anderen im Chor.

 

Am späten Nachmittag als alle Sieger der einzelnen Wettbewerbe feststanden, fand die Siegerehrung statt. Ich saß wieder im Sattel, um gleich meine verdiente Ehrenrunde zu reiten. Zu meiner Freude hatte Rosy den Vielseitigkeitswettbewerb gewonnen und Alex den zweiten Platz gemacht. Rachel wurde im Dressurwettbewerb Zweite und Freddy wurde beim Springen sogar Dritter. Als die Musik loslegte, ging es los. Mit Schleife, Medaille und wehender Mähne legte Donnie ein beachtliches Tempo vor. Was für ein fantastisches Gefühl hier unter den Siegern zu sein! Mehr als drei Jahre hatte ich auf diesen Erfolg hingearbeitet und endlich konnte ich mich in die Familiendynastie einreihen, nachdem Mom, meine Tante und Priscilla es vor mir schon geschafft hatten. Oli, Greta, Fiona, Jenny und Lucy winkten mir und Rosy von der Tribüne aus zu. Abwechselnd riefen sie unsere Namen und applaudierten uns begeistert. „Ihr seid die Besten, ihr seid die Besten!“, sangen sie aus vollen Kehlen. Nachdem wir unsere Pferde zum Schritt durchpariert hatten, konnten wir näher an die Tribüne heran reiten und uns von unseren Freunden abklatschen lassen.

 

Gerade als ich Donnie in den Stall gebracht hatte, lief mir Fintan auf dem Hof entgegen. „Was machst du denn hier?“, entfuhr es mir entgeistert, „Bist du nicht im Krankenhaus?“ „Nein, jetzt nicht mehr“, schüttelte er den Kopf, „Der Arzt hat mich entlassen, weil die Verletzungen doch nicht so wild waren wie befürchtet“ „Geht es dir immerhin besser?“, erkundigte ich mich. Erst jetzt fiel mir auf, dass er keine äußeren Verletzungen hatte. „Meine Kopfschmerzen sind nicht mehr so stark wie vorhin, trotzdem habe ich eine blaue Hüfte und mehrere Prellungen erlitten, die doch nicht so schlimm sind. Eigentlich darf ich gar nicht hier sein, da ich eine strenge Bettruhe verordnet bekommen habe, aber ich wollte mir die Siegerehrung nicht entgehen lassen“, erzählte er und gratulierte mir anschließend zum Sieg. „Dann sieh zu, dass du wieder ins Bett kommst“, gab ich ihm auf den Weg, „Nicht, dass du noch Ärger mit der Hausmutter bekommst. Ich glaube sie sieht es gar nicht gerne, wenn du hier rumturnst“ „Was heißt rumturnen?“, lachte er kurz auf, „Noch schlage ich keine Purzelbäume oder mache Handstand“ „Denk an deine Gesundheit!“, sagte ich gespielt streng, worauf er sich trollte und in Richtung der Wohnblocks ging.

 

 

8. Kapitel

 

„Yeah, wir sind beide für ein dreiwöchiges Praktikum beim Theater angenommen worden!“, gab ich Lucy und Fiona einen Highfive, nachdem wir die Briefumschläge mit der Bestätigung geöffnet hatten. Zwei Wochen ohne Schule, tägliche Hausaufgaben und Klausuren waren fantastisch und dazu noch mit zwei Freundinnen. „Habt ihr schon gehört, dass Arabella und Lia-Mary auch ein Praktikum beim Theater machen?“, kam Greta auf Lucy, Fiona und mich zu. „Woher weißt du das denn?“, entfuhr es Lucy, die nicht sonderlich begeistert zu sein schien. „Oh je, haben sie sich im Ernst auch dort für ein Praktikum beworben?“, seufzte ich. „Hör doch mal hin, worüber sie sich am Nachbartisch unterhalten“, deutete Greta in ihre Richtung. „Mich stört es nicht weiter“, brummte Fiona. „Du kennst sie auch nicht so gut und musstest nicht mit ihnen ein Jahr in eine Klasse gehen“, rollte Lucy mit den Augen. Auch während des Abendessens war das bevorstehende Praktikum das Gesprächsthema Nummer Eins.

 

„Wohin verschlägt es euch?“, fragte Alex in die Runde. „In ein Architekturbüro“, meldete sich Shane zu Wort. „Ich werde bei einem Tierarzt sein“, war viel Begeisterung aus Rosys Stimme heraus zu hören. „Ich werde mein Praktikum beim Fotografen absolvieren“, sagte Freddy. „Oli und ich werden zwei Wochen lang auf dem Dubliner Flughafen sein“, erzählte Greta stolz. „Ich werde schon Freitag nach München fliegen“, schaltete sich Fintan ein, „Dort werde ich in einem Tierversuchslabor sein“ „Wie kommst du denn da hin?“, sah Lars ihn stirnrunzelnd an. „Das Labor gehört einem Bekannten meines Dads“, erwiderte Fintan, „Deshalb hatte ich recht gute Chancen dort einen Praktikumsplatz zu bekommen“ „Kannst du überhaupt Deutsch?“, runzelte Emil die Stirn. „Nur ein paar Worte und kurze Sätze, die Alex mir beigebracht hat, aber so weit ich weiß, können die auch fließend Englisch“, meinte Fintan. „Wo wirst du dann wohnen?“, fragte Oli. „Auch bei Dads Bekannten“, antwortete er.

 

Ab der nächsten Woche Montag mussten wir bereits um halb sechs aufstehen, da wir mit dem Bus in die nächstgelegene größere Stadt fahren mussten. Lucy, Fiona und warteten gemeinsam mit Arabella und Lia-Mary an der Bushaltestelle, die so taten, als würden sie uns nicht kennen und setzten sich im Bus an einen anderen Platz als wir. „Seid ihr auch schon gespannt, was uns gleich erwartet?“, eröffnete Fiona das Gespräch. „Auf jeden Fall bin ich schon sehr neugierig, wie es hinter den Kulissen aussieht“, nickte ich. „Immerhin haben wir keine Hausaufgaben, die wir erledigen müssen“, gähnte Lucy. „Der einzige Nachteil ist, dass wir in aller Herrgottsfrühe aufstehen müssen“, fand ich. Regentropfen klatschten gegen die Fensterscheiben und draußen war es noch dunkel. Was für ein ungemütliches Wetter! Obwohl wir beinahe am Ziel waren, waren an den vorigen Bushaltestellen kaum Personen zugestiegen. „Falls ihr wollt, wo wir hin müssen, ich habe ein Navi auf meinem Handy. Ihr könnt gerne mit uns zusammen gehen“, blieb Arabella beim Aussteigen vor uns stehen und hielt ihr nigelnagelneues silbernes IPhone in ihrer Hand.

 

„Okay, Dankeschön!“, nickte ich nur. „Haha, von wegen, dass wir ein Navi brauchen!“, kicherte Fiona leise, „Ich kann das Theater schon von hier aus sehen“ „Gut zu wissen, jetzt sehe ich es auch“, lachte ich kurz auf, wofür Arabella uns einen pikierten Blick zuwarf. „Was für ein Prunkbau!“, blieb Lucy stehen und machte erstmal ein paar Bilder mit ihrem Handy. „Hoffentlich ist es von innen genauso hübsch“, murmelte Fiona. „Hey, lasst uns zu dritt ein Selfie machen“, streckte ich meinen Arm aus. „Noch mal bitte, ich sehe mal wieder bescheuert aus. Immer müssen mir diese verdammten Locken ins Gesicht fallen“, rief Lucy. „Wann siehst du mal nicht bescheuert aus?“, ließ Lia-Mary vor uns einen bissigen Kommentar ab. „Wann du steigst du mal von deinem hohen Ross ab?“, konterte ich und machte ein weiteres Foto von uns. „Gut, dann schicke ich das unseren Freunden“, drückte ich auf Senden.

 

Im Foyer des Theaters kam eine mittelalte Frau, die etwas über vierzig sein musste, auf uns zu. „Guten Morgen, mein Name ist Maureen McMaidie und ich bin für die Betreuung des Praktikums zuständig“, begrüßte sie uns und schüttelte uns die Hand. „Ich bin sehr neugierig, was uns als erstes gezeigt wird“, wisperte Fiona in meine Richtung. „Zum Einstieg nehme ich euch mit auf eine Führung durch das Theater“, fuhr Miss McMaidie fort und ging die Treppe hoch. Arabella und Lia-Mary tuschelten die ganze Zeit. „Vielleicht schneidern wir uns eigene Ballkleider für den Weihnachtsball“, hoffte Lia-Mary. „Das wäre cool!“, nickte Arabella. „Ich habe schon einen Plan für ein Traumkleid“, schwärmte ihre Freundin weiterhin.

 

„Ich auch!“, strahlte Arabella, „Die Kleider, die man kaufen kann sind langweilig, ich habe schon über zwanzig Kleider. Die ziehe ich nicht mehr an, weil die aus der Mode gekommen sind. Ich will ein Kleid schneidern, dass es nur einmal gibt und das nur ich trage, damit ich einzigartig bin und bleibe“ „Ihr habt wohl den Sinn des Praktikums falsch verstanden“, räusperte sich Fiona. „Allerdings!“, bekräftigte ich, „Wir sind hier um die Berufe im Theater näher kennen zu lernen, aber nicht um eine eigene Modekollektion zu entwerfen. Dafür hättet ihr ein Praktikum bei einem Modedesigner machen müssen“ „Wer hat euch darum gebeten, dass ihr euren Senf dazu abgibt, ihr Rotschöpfe?“, drehte sich Arabella pikiert zu uns um. Anstatt zu antworten, mussten Fiona und ich grinsen, worauf die beiden Zicken ihre Schritte beschleunigten.

 

Als erstes zeigte uns Miss McMaidie den Zuschauerraum. „Ich liebe diesen Barockstil“, war Lucy sehr beeindruckt, als sie sich umschaute. Mir war das Theater ein bisschen zu prunkvoll und ich war der Meinung, dass eine schlichtere Ausstattung genügt hätte. „Was glaubt ihr, wie viele Zuschauer hier Platz finden?“, stellte die Theaterführerin eine Schätzfrage an uns. „2000 Zuschauer“, schätzte Lia-Mary. „2000 ist viel zu viel!“, widersprach ihr Fiona, „Hier sind höchstens 500 Plätze“ „Ich tippe mal 800 Menschen passen hier rein“, meldete sich Lucy zu Wort. „800 klingt schon mal sehr gut“, meinte Miss McMaidie, „Hier gibt es mit den Logenplätzen insgesamt 760 Plätze“ Nachdem wir uns ein bisschen umgeschaut hatten, ging es weiter. Miss McMaidie schloss eine Tür neben der Bühne auf, die hinter die Kulissen führte. „So viele Seile habe ich noch nie gesehen“, staunte Fiona und starrte an die Decke. „An den Seilen sind die Bühnenbilder befestigt, die hochgezogen und heruntergelassen werden können“, erklärte uns die Frau und hielt einen Vortrag über die Bühnen- und Beleuchtungstechnik.

 

Weiter ging es zu den Probenräumen. In einem Raum probten zwei Männer einen Degenkampf. „Das will ich auch können“, leuchteten Fionas Augen. „Sieht leichter aus, als es ist“, murmelte ich, „Bestimmt muss man lange üben, bis man das kann“ „Falls ich es euch nicht verraten haben, stehen jeden Nachmittag von zwei Uhr bis halb vier Workshops zu den Themen Schauspielerei, Tanz, Fechten und Clownerie auf dem Programm“, teilte uns Miss McMaidie mit. „Das wird bestimmt Spaß machen“, klang Lucy begeistert, während Arabella und Lia-Mary hinter dem Rücken der Theaterführerin die Gesichter verzogen. Als nächstes besichtigten wir die Werkstatt, wo die Bühnenbilder hergestellt wurden. Da dort mit einer Kreissäge gearbeitet wurden, war es so laut, dass wir unser eigenes Wort nicht mehr verstanden. In der Näherei war es deutlich ruhiger. Die Frauen, die dort arbeiteten, erzählten uns, dass jeder Darsteller genau vermessen wurde und jedes Kostüm maßgeschneidert angefertigt wurde. „Die Näherei war noch am interessantesten“, sagte Lia-Mary zu Arabella, nachdem wir wieder auf dem Flur waren. „Trotzdem möchte ich nicht stundenlang an einer Nähmaschine sitzen mir die Finger wund nähen“, murrte diese. Fast hätte ich Arabella gefragt, warum sie sich hier für ein Praktikum beworben hatte, wenn sie generell alles öde fand. Zum Glück konnte ich mir diese Frage verkneifen, weil ich nicht scharf darauf war mich mit meiner Lieblingsfeindin anzulegen.

 

Am Nachmittag hatten wir unseren ersten Workshop zum Thema Bühnentanz. „Hi Mädels, mein Name ist Elly und ich werde euch den Tanz näher bringen“, betrat eine junge grazile Frau mit blondem Pferdeschwanz den Raum. Zum Aufwärmen liefen wir durch den Raum, während Elly uns Kommandos zur rief. Als wir locker genug waren, dehnten wir uns an den Stangen. Elly machte jede Übung vor und war beweglich wie eine Katze. Bestimmt war sie eine gelernte Tänzerin. „Hat schon mal jemand gesagt, dass ich steif wie ein Stock bin“, ächzte Fiona neben mir. „Diese Ballettübungen sind nun mal verdammt schwer“, musste ich mir eingestehen. Lucy meisterte die Übungen ohne größere Schwierigkeiten. Am geschmeidigsten bewegte sich aber Arabella.

 

„Ich habe früher zehn Jahre Ballett gemacht“, erzählte sie uns. „Aha, kein Wunder, dass du so beweglich bist“, sagte ich nur. Als wir uns zur Musik bewegen sollten, begann der Workshop Spaß zu machen. Jeder bekam bunte Seidentücher, die man jonglieren mussten. Bis zum Ende der Zeit schafften wir es ein kleines Tanzstück einzustudieren. Immerhin mussten wir uns nur zur Musik bewegen und keine Tanzschritte beachten. Wieder konnte Arabella gut punkten, wie eine grazile Elfe schwebte sie über das Parkett und warf ihre langen seidigen hellblonden Haare in den Nacken. Fiona war das komplette Gegenstück. Mit der Eleganz eines Elefanten stolperte sie fast über ihre eigenen Füße und musste sich einmal an Lucys Schulter festhalten. Mich hätte es nicht gewundert, wenn Fiona mindestens einmal eine unsanfte Berührung mit dem Parkett gemacht hätte. „Wie fandet ihr den Tag?“, fragte uns Lucy, als wir zur Bushaltestelle liefen. „Es hat am Ende doch noch Spaß gemacht“, fand Arabella.

 

„Ich habe nicht gewusst, dass du so gut tanzen kannst“, sagte Lucy voller Bewunderung. „Doch, ich war jahrelang Primaballerina bei einer der angesagtesten Ballettschulen in ganz London und durfte vor großem Publikum tanzen. Dort hatte ich meine ganz persönliche Tanzlehrerin, die mir Extrastunden gegeben hat, da ich laut ihrer Meinung überdurchschnittlich talentiert war. Ich hatte sogar schon Auftritte in Moskau, Rom, Mailand, Madrid, Stockholm und New York“, erzählte Arabella mit stolzgeschwellter Brust, worauf ihre blaugrauen Augen zu glänzen anfingen. „Wie schön für dich!“, konnte ich Fiona leise murmeln hören, die überhaupt nicht auf solche Angebereien stand. Offenbar hatte Arabella ihren Kommentar nicht gehört, vermutlich hätte sie Fiona einen tödlichen Blick zugeworfen oder mit einer schnippischen Bemerkung gekontert. „Warum hast du mit dem Tanzen aufgehört?“, wollte ich wissen. „Als ich fast fünfzehn war, bekam ich Probleme mit dem Knie und hatte ständig Schmerzen, daher habe ich mich mehr auf das Reiten konzentriert“ Bevor wir unsere Unterhaltung fortsetzen konnten, hielt der Bus vor unserer Nase.

 

Abends unterhielten wir uns angeregt mit unseren Schulkameraden über unsere ersten Erfahrungen. „Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie viel Oli und ich auf dem Flughafen zu sehen bekommen haben“, erzählte Greta. „Wir durften sogar hinter die Kulissen der Gepäckabfertigung gucken und dann wurde wir noch zu einem Viertelstündigen Rundflug in einem kleinen Sportflugzeug mitgenommen“, fügte Oli begeistert hinzu. „Mein erster Tag beim Tierarzt begann traurig“, meinte Rosy, „Es musste eine Katze eingeschläfert werden, die so stark an Krebs erkrankt war, dass nichts mehr gemacht werden konnte“ „Wie war es sonst so?“, fragte Alex in die Runde, „Bei mir war der erste Tag bei der Polizei sehr spannend“ „Es war gar nicht so übel“, meldete sich Arabella zu Wort.

 

„Um genauer zu sein, es war phänomenal“, setzte ich obendrauf. „Wir dürfen jeden Tag an verschiedenen Workshops teilnehmen“, fügte Lucy hinzu. „Ach stimmt, ihr seid alle beim Theater“, sah Jenny uns an, „Ich bin genau im gleichen Architekturbüro wie Shane“ „Und wir hatten auch ne Menge Spaß, nicht wahr, Jenny?“, zwinkerte Shane ihr zu. „Aber klar doch!“, lachte sie kurz auf. „Fein, dass wir alle einen schönen ersten Tag gehabt haben“, war Lars zufrieden, „Inzwischen hat sich schon Fintan gemeldet. Sein erster Tag im Labor hat auch richtig Spaß gehabt und nun lässt er mit seiner Gastfamilie den Tag in einem bayrischen Bierhaus ausklingen“ Lars zeigte uns ein Foto auf seinem Handy, auf dem eine Maß Bier angebildet war. „Nicht dass er sich noch voll laufen lässt und durch die Gegend torkelt“, musste Freddy unwillkürlich grinsen.

 

9. Kapitel

 

Mist, wo waren meine Freundinnen? Waren Fiona und Lucy ohne mich zur Bushaltestelle gegangen. Oh nein, ich hatte mich zu lange mit der Dramaturgin unterhalten. „Wo seid ihr?“, schrieb ich Lucy an. „Wir sitzen schon im Bus. Wir haben erst auf dich gewartet, aber du bist nicht gekommen und deshalb sind wir ohne dich gefahren“, schrieb sie mir wenige Minuten später zurück. Na toll, was sollte ich noch so lange hier? Gerade als ich mich umdrehte, lief ein junger Mann an mir vorbei, ihm fiel ein Portemonnaie aus seiner Jackentasche. Er ging weiter und schien nichts davon gemerkt zu haben, dass ihm etwas fehlte. Mittlerweile war er schon draußen auf der Treppe. Ich hob das Portemonnaie auf und sprintete ihm hinterher. „Entschuldigen Sie, Sie haben ein Portemonnaie verloren!“, rief ich laut.

 

„Oh danke!“, drehte er sich um und ich schaute ihn das schönste Paar dunkelbraune Augen, das ich jemals gesehen hatte. Ich spürte, wie es in mir flatterte und kribbelte. Eine Hundertschaft Schmetterlinge führten einen gigantischen Tanz auf. „Bist du nicht eine der Praktikantinnen?“, wollte er wissen. „Ja“, nickte ich und traute mich zu fragen, „Sind Sie nicht einer der Schauspieler, den ich gerade während der Probe gesehen habe?“ „Genau, ich spiele auch bei diesem Stück mit“, bejahte er und meinte, „Aber mich musst du nicht Siezen oder mich gar mit Mister ansprechen, ich bin gerade mal 27 und für dich bin ich einfach Davie, okay?“ „Okay, ich bin übrigens Emily“, antwortete ich, ohne dass er mich nach meinem Namen gefragt hatte. „Wie gefällt dir das Praktikum hier?“, wollte Davie wissen. „Sehr gut, es macht mir jeden Tag aufs Neue viel Spaß, da wir jedes Mal in einen anderen Bereich hineinschnuppern können“, erwiderte ich.

 

„Hast du noch einen Moment Zeit?“, fragte er, nachdem wir richtig ins Gespräch gekommen waren. „Ja, warum nicht? Mein Bus kommt erst in zwei Stunden“, nickte ich und war etwas verunsichert, worauf er hinauswollte. „Wir können in meine Lieblingsteestube gehen und uns mit einem heißen Tee aufwärmen. Hier draußen im Nieselregen ist es doch ungemütlich. Drinnen im Warmen können wir uns viel besser unterhalten“, schlug er vor. „Aber ich habe gar nicht so viel Geld mit“, stammelte ich verlegen. „Kein Ding, du bist eingeladen!“, legte er mir die Hand auf die Schulter. „Danke!“, sagte ich voller Verlegenheit und wurde dabei fast so rot wie meine Haare.

 

Die Teestube war klein und gemütlich und hatte einen offenen Kamin, offenbar war es eine englische Teestube. Hier wurde zum Tee Scones mit Marmelade serviert, die ich noch aus meiner Kindheit kannte. Meine Mutter konnte sehr gut Scones backen und ich hatte das Rezept von ihr irgendwo aufbewahrt. Herzhaft biss ich in das süße Brötchen und konnte die Erinnerungen an Früher herausschmecken. Sobald es in der Küche nach frisch gebackenen Scones roch, war ich nicht mehr zu halten und eilte herbei. Ich verdrückte so viele davon, bis ich Bauchweh bekam. „Scheint dir zu schmecken“, lächelte mir Davie zu und machte einen sehr zufriedenen Eindruck. „Die sind sehr lecker, ich habe sie lange nicht mehr gegessen“, nickte ich. 

 

Wieder fiel ich bei dem Anblick seiner warmen dunklen Augen, schönes hübschen ovalen Gesichtes und seiner verwuscheltes schwarzes Haar fast in Ohnmacht. „Aus welchem Land kommst du eigentlich?“, fragte ich ihn zögerlich. „Meine Mama ist Brasilianerin und mein Daddy Ire“, antwortete und zwinkerte mir zu, „Du kannst mich gerne alles fragen, was du über mich wissen willst, Emily“ Wir unterhielten uns noch eine ganze Weile. Draußen wurde es schon dunkel und es regnete wesentlich stärker als vorhin. „Ich muss gleich zum Bus“, schaute ich auf meine Uhr. „Das schaffen wir schon“, beruhigte er mich. Er bezahlte und begleitete mich zu Bushaltestelle. „Sehen wir uns morgen wieder?“, fragte er mich. „Wenn du morgen Probe hast, dann schon“, nickte ich. „Klar, habe ich morgen Probe und um die gleiche Uhrzeit wie heute“, nickte er, „Also dann bis morgen und komm gut nach Hause!“

 

„Emily, könntest du dich beeilen!“, wurde Fiona langsam ungeduldig, als sie an der Garderobe wartete. „Geht schon mal vor bis zur Bushaltestelle, ich komme hinterher“, rief ich hinterher, während ich kurz auf Toilette ging. Hoffentlich traf ich Davie wieder, wie er es mir versprochen hatte. Als ich wieder kam, waren meine Freundinnen bereits gegangen und das Foyer war menschenleer. Wo blieb Davie? Voller Ungeduld streifte ich auf und ab. Hatte er heute doch keine Probe oder hatte er mir eine falsche Uhrzeit genannt? Die Minuten vergingen und er tauchte immer noch nicht auf. Gerade als ich die Hoffnung aufgegeben hatte, kam er beschwingt um die Ecke. Beinahe hätte ich ihn nicht wieder erkannt, da er eine dunkelblaue trendige Wollmütze trug, die seine Haare bedeckte.

 

„Hi Emily, ich wusste, dass du auf mich wartest“, umarmte er mich zur Begrüßung kurz, „Tut mir leid, dass es später wurde, als geplant, aber der Regisseur war unzufrieden und ließ uns eine Szene Dutzend Mal wiederholen“ „Hi Davie, wo wollen wir hin?“, lächelte ich schüchtern. „Sorry, dass ich heute nicht so viel Zeit für dich habe, Maus, aber ich muss in einer Stunde zur nächsten Probe. Momentan stehen zwei Premieren an“, erwiderte er. Trotzdem nahm er sich ein paar Minuten für mich, in denen wir uns intensiv unterhielten. Auf dem Weg zur Bushaltestelle schwebte ich auf Wolke Sieben. Ich bekam seinen athletisch schlanken Körper und sein hübsches Gesicht nicht mehr aus meinem Kopf, da konnten weder Freddy noch Fintan mithalten. Mich würde es nicht wundern, wenn ich des einen Nachts von Davie träumte.

 

In denen nächsten Tagen traf ich Davie jedes Mal nach den Workshops. Er bot mir an, mir eine kleine Statistenrolle in einem Stück zu besorgen, in dem er mitspielte. Obwohl ich erst Bedenken hatte, nahm ich sein Angebot an und nahm noch am selben Tag an der Probe teil und fuhr sogar am freien Samstag zum Theater. Meine Freundinnen hatten anfangs ziemlich argwöhnisch und auch etwas eifersüchtig reagiert, nachdem ich ihnen davon erzählt hatte. Fiona warf mir sogar vor, dass ich mich absichtlich an Davie ran warf. Mit der Zeit glätteten sich die Wogen und mein Freundeskreis fand sich damit ab, dass ich eine kleine Extrarolle ergattert habe. Ich traf mich weiterhin mit Davie und nahm an den Proben teil. Dreimal sollte das Stück aufgeführt werden und ich freute mich diebisch auf die Premiere. Besser konnte es nicht laufen.

 

Letztens hatte er mir zweimal ein Küsschen auf die Wange gegeben und mich wieder auf eine Tasse Tee in seiner Lieblingsteestube eingeladen. Jeden Nachmittag trafen wir uns im Foyer. Entweder gingen wir in unser Teestübchen, spazierten durch die Innenstadt oder kehrten bei Subway ein. An einem Nachmittag wartete ich vergeblich auf ihn. „Er liegt mit einer fiebrigen Erkältung“, teilte mir eine seiner Schauspielerkolleginnen mit. Na toll! Meine Laune sank auf den Nullpunkt. Umsonst hatte ich gewartet, nun waren meine Freundinnen mit dem Bus nach Hause gefahren und ich konnte mir hier alleine die Zeit totschlagen. „Hi Emily!“, kam Arabella lächelnd um die Ecke gehuscht. „Hi, was machst du hier?“, erschrak ich mich fast zu Tode. „Ich habe einen Schlüssel gesucht, der mir aus der Handtasche gefallen ist“, sagte sie. „Hast du ihn wieder gefunden?“, erkundigte ich mich.

 

„Zum Glück lag er unter der Geraderobe“, seufzte Arabella erleichtert. „Womit schlagen wir uns hier noch so lange die Zeit tot?“, murmelte ich gedankenverloren und mir war gar nicht wohl dabei, dass ich alleine mit ihr hier fest saß. „Komm mit, ich kenne eine Mall, die gar nicht so weit von hier weg ist“, zog sie mich am Ärmel mit nach draußen. Zielsicher führte sie uns zu einem modernen Einkaufszentrum mit hunderten Läden, Restaurants, einer Kletterhalle und einem Kino. „Hast du vor Shoppen zu gehen?“, runzelte ich die Stirn, denn ich hatte kaum Geld dabei und das wenige Geld was ich hatte, musste für die Busfahrt genügen. „Für ein neues T-Shirt reicht das Geld immer“, meinte sie achselzuckend, „Ansonsten bezahle ich eben mit Karte“ Gleich den ersten teuren Kleiderladen steuerte sie an und überredete mich ein paar Klamotten anzuprobieren.

 

Schon nach kurzer Zeit hielt Arabella zwei Einkaufstüten in der Hand. „Wenn du willst, kann ich dir auch ein Schnäppchen besorgen. Dir stünde dieses mintgrüne Sweatshirt bestimmt ziemlich gut“, meinte sie. „Das ist lieb von dir, aber du brauchst mir nichts kaufen. Im nächsten Monat bekomme ich wieder Geld von Dad und kann dann wieder shoppen gehen“, lehnte ich ab. Zum einen hatte ich bereits genug Klamotten und zum anderen wollte ich nicht als Almosenempfängerin dastehen. „Hast du eigentlich auch Hunger?“, fragte sie mich, während wir auf der Rolltreppe standen. „Gerade bekomme ich schon ein bisschen Appetit“, nickte ich. „Wollen wir ins Diners gehen und Pizza essen?“, schlug Arabella vor.

 

Dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Heute gab es ein King-Menü mit einem Salat, einer Pizza nach Wahl und einem Getränk zum Sonderpreis. Zu meiner Überraschung lud sie mich sogar ein, wofür ich mich vielfach bedankte und mir vor Verlegenheit die Röte ins Gesicht schoss. Mir fiel auf, dass sie seit dem Praktikum wie ausgewechselt war und keine zickigen Bemerkungen abließ. Vielleicht war Arabella doch nicht so schlimm, wie ich über die Jahre hinweg gedacht hatte. Kaum hatten wir uns an einen Tisch gesetzt und starrten einen Flachbildschirm an, auf dem ein MTV-Video lief, stupste sie mich an. „Triffst du dich öfter mit diesem Schauspieler mit den schwarzen Haaren und der olivfarbene Haut?“, wisperte sie. „Ja, wieso?“, gab ich etwas irritiert zurück.

 

„Es ist uns schon allen aufgefallen, dass du oft mit ihm abhängst und jetzt hat er eine Rolle für dich beschafft. Kannst du mir sagen wie er heißt und wo er herkommt? Denn er sieht so exotisch aus“ „Er heißt Davie und ist Halbbrasilianer“, erwiderte ich. „Ich finde er sieht ziemlich heiß aus“, fuhr Arabella fort. Mist, ich war nicht die Einzige, die auf ihn stand! „Was macht ihr eigentlich, wenn ihr euch trefft?“, forschte sie weiter nach und war ganz wild darauf jedes Detail zu erfahren. „Meistens reden wir nur über das bevorstehende Theaterstück“, antwortete ich knapp. Je länger sie versuchte alles über Davie heraus zu kitzeln, desto einsilbiger wurde ich. „Emily, tapp bloß nicht in eine Falle!“, riet mir meine innere Stimme. Irgendwann schnallte Arabella, dass aus mir nicht mehr heraus zu holen war und ließ mich in meine Pizza essen. Ab und zu führten wir nebenbei ein bisschen Smalltalk, wenigstens stellte sie jetzt keine Fragen mehr über Davie.

 

Drei Tage später lud mich Davie am Freitagabend zu einem Essen in ein richtiges Restaurant ein. Ich dankte ihm mehrfach für die Einladung und schenkte ihm im Gegenzug eine Schachtel Pralinen. „Komm, Süße, wir steuern das Steakhouse an“, nahm er mich bei der Hand. Hatte er mich Süße genannt? Zum einen klang es sehr schmeichelhaft und zum anderen war ich ziemlich erstaunt darüber. Ich hätte Samba tanzen können, dass ich an der Seite meines Schwarmes durch die schmalen Gassen ging. Uns machte es nicht wenig aus, dass es dunkel wurde und das Wetter schlechter wurde. Zu allem Überfluss entdeckte ich Arabella und Lia-Mary vor einem Schulladen. Beunruhigt zog ich Davie hinter eine Laterne.

 

„Hoffentlich haben die uns nicht gesehen“, flüsterte ich. „Hä, wen meinst du?“, wunderte er sich. „Dahinten sind zwei Mädchen aus meiner Schule, ich möchte nicht, dass sie uns zusammen hier sehen, sonst kommen sie noch auf falsche Gedanken“, raunte ich. „Was für falsche Gedanken bitteschön?“, zog er die Augenbrauen hoch. „Egal“, wiegelte ich ab. Gerade machte es keinen Sinn mit ihm darüber zu reden. Zum Glück stapften die beiden Blondinen mit ihren Einkaufstaschen davon. Was für ein Glück, dass Arabella und ihre Freundin uns nicht gesehen hatten. Wohlmöglich hätten sie uns angesprochen. Endlich waren wir da. Über der Eingangstür hing ein Stierkopf. Offenbar war dies ein spanisches oder ein portugiesisches Restaurant. „Ladys First“, hielt er mir wie ein Gentleman die Tür auf.

 

„Ich muss dir etwas offenbaren“, begann Davie und stützte sein Kinn auf seine Hand. Machte er die Kunstpause nur, um mich auf die Folter zu spannen? „Ich werde im Januar für zwei Jahre nach Rio an ein Theater gehen“, sagte er schließlich. „Ist das dein Ernst?“, klang ich geschockt. „Ja, ich wollte schon immer international Erfahrung sammeln“, nickte er, „Bereits meine Schauspielausbildung habe ich in London absolviert, aber ich wollte unbedingt hier hin zurück kehren, da Irland die Heimat meines Dads ist“ „Brasilien ist ein wenig weit weg“, murmelte ich und konnte immer noch nicht fassen, was er gerade gesagt hatte. „Emily, ich mag dich wirklich sehr gerne“, streichelte er mir zärtlich über den Handrücken, „Aber eine gemeinsame Zukunft mit uns beiden zusammen könnte sehr schwierig werden. Überleg mal, wir müssten um die halbe Welt reisen, um uns zu sehen und zudem habe ich viele Termine. Zumal ich jetzt eine Rolle bei einer brasilianischen TV-Serie ergattern konnte, das ist auch einer der Gründe, wieso ich nach Rio gehe“ Ohne dass ich es kontrollieren konnte, stiegen mir Tränen in die Augen.

 

Was für eine Enttäuschung! Kaum hatte ich mich unsterblich in ihn verliebt, stand unsere Trennung in wenigen Wochen bevor. „Nicht traurig sein, dass ich fortgehe, heißt noch lange nicht, dass wir uns nie wieder sehen. Natürlich komme ich ab und zu zurück, um meine Eltern zu besuchen“, drückte er meine Hand. Im nächsten Moment küsste er mich mitten auf den Mund, diesmal viel leidenschaftlicher als bei den Malen, als er mir zweimal einen Schmatzer auf die Wange drückte. Ich konnte nicht anders, als seinen Kuss zu erwidern und küsste ihn noch mal. Es war eine Mischung aus Liebe, Abenteuer und Zuneigung. Kein Vergleich zu Freddys Küssen, dem ich momentan eher selten einen Kuss gab. Kurz darauf kam unser Essen. Es wurde ein fantastischer Abend. Wir plauderten aus dem Nähkästchen, lachten viel und gönnten uns einen großen Dessertteller. Um halb Elf war es langsam Zeit für mich zu gehen. Freitags und samstags durften wir bis um elf Uhr fortbleiben, während wir in der Woche spätestens um halb zehn auf dem Internatsgelände sein mussten. „Ich rufe ein Taxi für dich, denn um diese Uhrzeit lasse ich Mädchen wie dich nicht alleine nach Hause fahren“, zückte Davie sein Handy.

 

Am nächsten Morgen erwartete mich eine sehr unangenehme Überraschung. „Emily, wir müssen unbedingt unter vier Augen reden“, nahm mich Freddy nach dem Frühstück beiseite. „Was ist denn los?“, sah ich ihn groß an. Kommentarlos zehrte er mich nach draußen und wir setzten uns in der kleinen Parkanlage neben dem großen Schulgebäude auf eine Bank. „Was kannst du dazu sagen?“, hielt er mir sein Handy unter die Nase. „Wer hat das Foto gemacht?“, verschlug es mir fast die Sprache. „Lia-Mary hat das Photo gepostet“, sagte er und fügte hinzu, „Kannst du mir mal verraten, mit wem du da im Restaurant warst?“ Nun durchbohrten mich seine eiskalten blauen Augen. „Mit Davie, einem guten Kumpel, den ich während des Praktikums kennen gelernt habe“, stammelte ich. „Sieht das nach einer banalen Freundschaft aus? Sag mal, willst du mich verarschen?“, zeigte er mir das nächste Foto, welches Lia-Mary in den Gruppenchat gestellt hatte. Sie musste das Foto durch das Fenster gemacht haben. Auf jeden Fall war zu sehen, wie Davie und ich uns küssten. Das verschlug mir endgültig die Sprache. Mit so einer Hinterhältigkeit hätte ich nicht gerechnet.

 

„Emily, ich bin sehr enttäuscht von dir. Nach einem Jahr Beziehung habe ich gedacht, dass du die Richtige für mich bist, aber dann kam das. Du hast mich ohne mein Wissen mit diesem Typen hintergegangen. Jetzt sehe ich keine Zukunft mehr mit uns beiden“, sagte er ruhig, aber bestimmt. „Ich sehe mit dir auch keine Zukunft mehr“, sprang ich verärgert auf, „Du hast ständig überreagiert, wenn ich mit den anderen Jungs aus der Klasse etwas zusammen gemacht habe und du bist der derjenige, der ständig miese Laune hat“ „Ich habe das Gefühl, dass dir nichts mehr an mir liegt“, verengten sich Freddys Augen zu schmalen Schlitzen, „Und das seit Beginn des Schuljahres als Fintan in unsere Klasse kam und du die erste Zeit ständig mit ihm unterwegs warst“ „Darf ich nicht mit meinen Kumpels rumhängen, ohne dass du den eifersüchtigen Macker gibst?“, schnauzte ich ihn an. „Emily, das war’s! Ich mache auf der Stelle Schluss und das kannst du nicht mehr rückgängig machen!“, schleuderte er mir die Worte wutentbrannt ins Gesicht und drehte sich auf der Stelle um. „Bleib doch wo der Pfeffer wächst!“, rief ich ihm wütend hinterher. Ich hätte platzen können, vor allem wegen Lia-Mary und Arabella, die mir schon länger nachspionieren mussten. Diese Giftschlangen, am liebsten hätte ich sie über dem offenen Feuer gegart und in tausend kleine Stücke zerhakt.

 

Wie konnte jemand nur so falsch sein? Ganz besonders Arabella, die fast zwei Wochen lang ihre Freundschaft vorgetäuscht hatte, um die perfekte Klatschstorry zu produzieren, um sich in ihrer Klasse wichtig zu machen. Garantiert hatte sie Lia-Mary dazu angestiftet die Bilder zu machen und überall im Netz zu verbreiten, damit sie sich selber die Hände nicht schmutzig machen musste. Ich könnte ihr den Hals umdrehen können. Wütend und verzweifelt zugleich stromerte ich wie ein Tiger durch die Parkanlage. Gerade war ich so enttäuscht und verzweifelt, dass ich einfach nur alleine sein wollte. Andererseits ärgerte ich mich sehr, dass ich Davie näher gekommen war, obwohl ich mit Freddy zusammen war. „Toll, das hast du dir selber eingebrockt“, schimpfte meine innere Stimme. Andererseits wäre der Skandal nicht aufgeflogen, wenn Arabella und Lia-Mary nicht alles daran gesetzt hätte, dass fast die gesamte Schule in Kenntnis gesetzt wurde.

 

Schwatzend kamen mir Oli, Greta und Rosy entgegen. Sie waren so tief in ihr Gespräch entwickelt, dass sie mich erst nicht bemerkten. Rosy stupste Greta an und wisperte etwas in ihre Richtung. „Was ist mit dir los? Du bist ganz bleich im Gesicht“, kam Oli auf mich zu. „Freddy und ich haben gerade eben Schluss gemacht“, hauchte ich. „Ich habe es schon mitbekommen, was da gelaufen ist“, sagte sie und nahm mich in den Arm. Ich verbarg mein Gesicht an ihrer Schulter, damit niemand sah, dass mir die Tränen kamen. „Was für eine hinterhältige Aktion von Lia-Mary und Arabella!“, schnaubte Greta, „Man muss ihnen mal eine richtige Lektion erteilen“ Rosy und Greta umarmten mich ebenfalls von links und rechts. Gerade hatte ich den Trost meiner besten Freundinnen bitter nötig und schätzte mich umso glücklicher, dass ich sie hatte.

 

„Ich weiß gar nicht, womit ich es verdient habe, dass man mich so fies verrät“, sagte ich mit erstickter Stimme. „Lia-Mary hat von Jenny, Lucy und mir ordentlich etwas zu hören bekommen“, machte Greta ein angesäuertes Gesicht. „Komm mit, eigentlich wollten wir uns mit den anderen Mädels treffen“, hakte sich Rosy bei mir unter, nachdem ich mir mit einem Taschentuch die Tränen weggewischt hatte. Unter einer Linde warteten bereits Jenny, Lucy und Fiona auf uns. „Was ist nur mit Emily passiert?“, rief Jenny geschockt, als sie mein verheultes Gesicht entdeckte. „Na was wohl, nach dem die Affäre mit dem Schauspieler von Lia-Mary kundgetan wurde, hat sich Freddy prompt von ihr getrennt“, erwiderte Oli.

 

„Solchen hinterhältigen Ziegen könnte ich alle Haare und Gliedmaßen ausreißen“, fauchte Fiona. „Es bringt nichts zurück zu schauen“, sah Rosy mich eindringlich an, „Du bist noch jung und wirst bald wieder einen netten charmanten Mann kennen lernen, in den du dich verliebst. Lass das Alte hinter dir und fange ein neues Kapitel an“ „Wenn das so einfach wäre“, klang ich bestürzt, „Ihr kennt mich doch, ich bin in Beziehungen der größte Tollpatsch und lasse mir viel zu schnell den Kopf von anderen Männern verdrehen, auch wenn ich bereits einen Freund habe“ „Mach dir deswegen keinen zu groß Kopf“, meinte Jenny. „Weißt du was, Emmi, du brauchst Jenny, Greta, Oli und mich“, nahm Lucy meine Hand. „Und natürlich auch noch Fiona, Sandrina und mich“, fügte Rosy hinzu.

 

Gerade war ich froh, dass ich meinen gesamten Mädchenclub hinter mir hatte. „Danke, dass es euch gibt“, murmelte ich ganz leise. „Gleichzeitig sind wir dankbar, dass es dich gibt“, schmunzelte Oli, „Ohne dich würde hier etwas fehlen“ „Oh Gott, habt ihr schon an das Leben nach der Schule gedacht?“, stupste Greta Jenny an, „Es sind nur noch sieben oder acht Monate und dann haben wir unseren Abschluss“ „Von mir aus könnten wir ruhig noch ein oder zwei Jahre hier zur Schule gehen“, war Fiona der Meinung, „Gerade fühle ich mich pudelwohl“ „Dem könnte ich nur zustimmen“, nickte Oli, „Nach dem Abschluss werde ich nach Schweden zurückkehren, um dort zu studieren und dann werden wir uns nur noch selten sehen“

 

Vor der Premiere des Theaterstückes traf ich mich häufiger mit Davie. Er zählte bereits jetzt schon den Countdown, wie viel Tage er noch er hier war. „Davie, nun lass das, das deprimiert mich“, stieß ich ihn nach einer Probe an. „Wenn du willst, lass ich es bleiben“, meinte er achselzuckend. „Versprichst du mir, dass wir in Kontakt bleiben werden?“, sah ich ihm in seine dunklen Augen, die vor Lebensenergie funkelten. „Aber hallo“, nickte er heftig und legte seinen Arm um mich, „Dich will ich auf keinen Fall aus den Augen verlieren“ An diesem Tag tauschten wir unsere Handynummern aus. Die Tage vergingen wie im Flug, das Praktikum näherte sich dem Ende und die Premiere rückte näher. Meine Freunde hatten sich bereits Karten besorgt, denn sie wollten unbedingt dabei sein, wenn ich auf der Bühne stand.

 

„Nicht dass aus Emily noch ein Schauspielstar wird“, flachste Oli. „Wohl eher weniger“, schüttelte ich lachend den Kopf, „Ich spiele nur eine Passantin beim Einkaufen und einmal sitze ich in einem Straßencafe und trinke einen Kaffee, mehr nicht“ Zum Glück musste ich keinen Text lernen, da es nur eine simple Statistenrolle war. Am Tag der Premiere war ich so nervös, dass ich fast keinen Bissen herunter bekam. Kurz nach dem Mittagessen machte ich mich fertig, man hatte extra ein Taxi für mich bestellt, da sonntags kaum Busse fuhren. „Toi toi toi! Viel Glück! Wir sind schon sehr gespannt dich auf der Bühne zu sehen“, rief mir Oli hinterher. „Wird schon schief gehen!“, klopfte mir Fiona kameradschaftlich auf die Schulter. „Bis heute Abend!“, winkte mir Jenny nach.

 

Das Taxi wartete bereits auf dem Parkplatz neben dem Sportplatz. Mit dem Taxi dauerte die Fahrt nur halb so lang als wenn ich mit dem Bus gefahren wäre. Nach nur einer halben Stunde traf ich zeitgleich mit Davie am Hintereingang des Theaters ein. „Na Schatz, wie geht es?“, umarmte er mich zur Begrüßung. „Gut und dir?“, erwiderte ich, „Trotzdem bin ich schon ein bisschen nervös“ „Klar, wir werden vor vollem Haus spielen“, nickte er. „Bist du auch aufgeregt?“, fragte ich. „Klar, Lampenfieber hat hier Jeder“, bejahte er, „Sogar wir als Profis, aber wir haben mit der Zeit damit gelernt umzugehen, schließlich stehen wir nicht das erste Mal auf der Bühne“ „Meine Freundinnen werden heute Abend auch dabei“, erzählte ich ihm. „Oh das freut mich“, lächelte er, „Bestimmt wollen sie sich von deinem schauspielerischen Talent überzeugen“

 

„Ich und schauspielerisches Talent?“, lachte ich, „Wohl eher weniger, ich muss doch fast gar nichts sagen. Nur an einer Stelle muss ich einen Kommentar machen und in der Szene im Straßencafe muss ich mir einen Kaffee bestellen“ „Trotzdem wird es großartig werden mit dir auf der Bühne zu stehen“, drückte er mich an sich und ich ließ mich in seine Arme fallen. Ohne ihn wäre ich sicherlich nicht so ruhig, wie ich jetzt war und ohne ihn hätte ich die Rolle niemals bekommen. Während der Generalprobe fiel mir auf, wie konzentriert die Schauspieler waren. Normalerweise fiel während der Proben immer ein lustiger Spruch, worauf das gesamte Ensemble lachen musste. Diesmal war jeder ganz bei der Sache. Obwohl das Kribbeln in mir aufgrund des nahenden Auftritts stärker wurde, spürte ich die Vorfreude mit Davie auf der Bühne zu stehen.

 

Als ich meinen ersten Kurzauftritt hatte, musste ich mir in Erinnerung rufen, dass ich vor ausverkauften Rängen spielte. Fast hätte ich es geschafft die Zuschauer auszublenden. Ich war voller Konzentration und mitten in der Welt des Theaters. Noch nicht mal für eine Sekunde wagte ich es das Publikum nach meinen Freunden abzusuchen. Beim zweiten Mal als ich auf die Bühne trat, erfüllte mich ein großer Stolz auf den Brettern zu stehen, die die Welt bedeuteten. „Komm her, Maus! Lass dich drücken!“, kam Davie nach dem Auftritt auf mich zu und schloss mich in seine Arme. „Danke, es hat sehr viel Spaß gemacht! Ich hatte überhaupt kein Lampenfieber“, strahlte ich über beide Backen. „Das ist doch super, vielleicht sollst du doch eine Karriere als Schauspielerin beginnen“, lächelte er.

 

„Da muss ich dich leider enttäuschen“, sagte ich, „Ich strebe eine Karriere als Springreiterin an. Nach dem Abschluss auf dem Internat werde ich an internationalen Wettkämpfen teilnehmen und vielleicht finde ich später noch mal den Weg nach Olympia“ „Schade, aber trotzdem werde ich mir deine Siegesritte im Fernsehen ansehen“, meinte er. Ich spielte einen Moment lang mit den Gedanken, ob ich ihn danach fragen sollte, ob wir uns, nach dem Praktikum noch regelmäßig treffen sollten. „Hast du Lust, dass wir uns in Zukunft öfter treffen?“, stupste ich ihn an. „Gerne, aber in den nächsten Wochen habe ich viel zu tun“, erwiderte Davie. Als er mein enttäuschtes Gesicht sah, fügte er hinzu, „Ich kann dir schon mal versprechen, dass wir uns irgendwann wieder sehen werden“

10. Kapitel

Nach zwei Wochen Herbstferien kehrte wieder der Trubel im Internat ein. „Juhu, da seid ihr ja!“, rannte Oli auf mich und Rosy zu und nahm uns beide gleichzeitig in den Arm. „Da sind sie!“, hörte ich Greta rufen, die mit Sandrina und Jenny auf uns zu eilte. Nach zahlreichen Umarmungen hatte Oli eine interessante Neuigkeit für uns parat. „Wusstet ihr, dass Nelly und Joan sich von unserer Schule abgemeldet haben?“, verkündete sie. „Da bin ich gar nicht traurig drum“, sagte ich sofort. „Oh ja, ihr Verhalten in den letzten Wochen ging auf keine Kuhhaut“, nickte Jenny. „Girls, ich will nicht drängen, aber mir ist kalt“, schlotterte Sandrina und verschränkte die Arme vor der Brust. „Krass, dass wir jetzt schon November haben“, bemerkte Rosy nebenbei. In den letzten Tagen war es fast ununterbrochen am regnen und ziemlich kalt.

 

„Schade, dass wir so gerade eben Halloween verpasst haben“, bedauerte Oli, „Denn mir fällt gerade der Streich ein, den wir Mme Noire vor drei Jahren gespielt haben“ „Ja stimmt, das war schon echt originell gewesen“, giggelte Greta los, „Vor allem wie unsere aufziehbaren Mäuse durch den Klassenraum huschten, die Spinne von der Decke baumelte und das Gespenst aus dem Schrank kam“ „So lustig war das nun auch nicht“, machte Rosy ein leicht vorwurfsvolles Gesicht, „Die gute Madame hat sich dabei ihren Knöchel verknackst“ „Und wir haben uns ein wochenlanges Ausgehverbot eingehandelt und eine Strafarbeit, bei der fast alle schlecht abgeschnitten haben“, erinnerte ich mich. „Ich finde wir sind mit neunzehn oder zwanzig zu alt für solche Streife“, war Sandrina der Meinung. „Ist schon klar, dass Streiche und Racheaktionen nur für die Jüngeren aus den unteren beiden Jahrgängen bestimmt sind“, meinte Oli. „Los, jetzt lasst uns endlich ins Haus, ich mutiere zum Eiszapfen“, schob uns Sandrina vorwärts. „Hey, wo seid ihr die ganze Zeit gewesen?“, lief uns Lucy auf dem Schotterweg entgegen, „Man hat euch gesucht“

 

Fiona war bereits in unserem Zimmer, als ich mit meinem Gepäck herein kam. „Hallo Fiona!“, grüßte ich sie. „Hi!“, grüßte sie zurück und sah von ihrem Chemiebuch auf. „Schon am lernen?“, sah ich sie ungläubig an. „Hast du vergessen, dass wir in einer Woche die Klausur schreiben?“, erwiderte sie. „Ach verdammt!“, fiel es mir wieder ein, „Das hätte ich beinahe erfolgreich aus meinem Gedächtnis verdrängt“ „An deiner Stelle, würde ich bald mit dem Lernen anfangen“, vertiefte sie sich wieder in ihre Seiten, „Gerade in dieser Klausur kommt wirklich viel Stoff dran“ „Oje, das habe ich schon befürchtet“, seufzte ich, „Immerhin kann ich Fintan fragen, ob er mit mir das Wichtigste wiederholt“ „Wollt ihr gar nicht zum Abendessen kommen?“, stürmte Oli ohne Voranmeldung in unser Zimmer.

 

„Mensch Oli, hast du schon mal was von Anklopfen gehört?“, nörgelte Fiona, „Man kriegt fast einen Herzkasper wenn du aus dem Nichts vor einem stehst“ „Entweder kommt ihr oder die Jungs futtern uns alles weg“, meinte unsere Freundin, „Es gibt heute Schnitzel mit Kroketten und Tomatensalat“ „Hopp, hoch mit dir, das lassen wir uns nicht entgehen“, zog ich Fiona von ihrem Bett hoch. Unten im Gemeinschaftsraum wurde gegessen. Als erstes ging ich an dem Tisch vorbei, an dem Fintan, Alex und ihre Kumpels saßen. „Hi, wie geht es dir? Hattest du eine schöne Zeit in München?“, tickte ich Fintan von hinten an. „Klar, es war phänomenal“, nickte er, „Das Praktikum war sehr interessant. Zudem kam ich super mit meinen Gasteltern klar und wir haben einige Tagesfahrten gemacht, darunter zur Zugspitze und nach Augsburg und Bayreuth“ „Das klingt echt nach viel Spaß!“, war ich beeindruckt, „Konntest du ein paar Deutschkenntnisse erwerben?“ „Ein paar Dinge kann ich schon sagen. Die deutsche Sprache ist cool, aber gleichzeitig auch etwas kompliziert“, sagte er. „Emily, dein Essen wird kalt“, zog mich Jenny von hinten am Ärmel.

 

„Steht mein Essen schon auf meinem Platz?“, machte ich große Augen. „Klar, wir haben für dich das letzte Schnitzel, etwas Salat und paar Kroketten für dich gerettet“, nickte sie und zog mich fort. „Danke“, murmelte ich leise. „Hast du noch mit Fintan gequatscht?“, fragte mich Greta. „Ja, warum?“, erwiderte ich und begann mein Schnitzel mit dem Messer zu zerschneiden. „Hat jemand von euch Lust in der Halle eine Runde zu reiten?“, fragte Rosy in die Runde. „Ne, ich bin zu müde“, gähnte Oli. „Ich wollte eigentlich noch mit Jenny die Französischvokabeln wiederholen, daher wäre ein anderes Mal passender“, meinte Greta. „Schreibt ihr demnächst wieder einen Test?“, zog Oli die Stirn kraus. „Du kennst doch unsere liebe Mamsell“, lachte Greta kurz auf, „Sie muss immer kontrollieren, ob wir in den Ferien fleißig waren“ „Aber natürlisch habe isch gelernt“, machte ich den Akzent unserer Französischlehrerin nach, worauf sich der ganze Tisch vor Lachen bog. „Die Aussprache ist einfach unmöglisch“, setzte Oli obendrauf, was noch mehr Lachkoller zur Folge hatte. „Ihr müsst zehn Seiten Vokabeln und Grammatik auswendig lernen und das jeden Tag!“, sagte Jenny gespielt streng. „Ja, ich werde überprüfen, ob ihr alles gelernt habt“, stieg Rosy in unsere Albereien ein. Arabella und ihre Freundinnen warfen uns scheele Blicke zu, weil wir so laut lachten.

 

Kurz vor nach acht traf ich mich mit Lucy, Rosy und Fiona zum Reiten in der Halle. Die Pferde brummelten zur Begrüßung, als wir im Stallgang auftauchten. „Yes, die Halle ist leer, wir haben sie für uns alleine!“, freute sich Lucy. In Null komma nichts hatten wir unsere vierbeinigen Freunde gesattelt und in die große Halle geführt. Draußen regnete und stürmte es wieder einmal und dauernd fiel irgendetwas auf das Dach. Es mussten bestimmt kleine Zweige sein, die der Wind durch die Gegend fliegen ließ. Glücklicherweise waren wir im Trocknen, obwohl die Reithalle auch nicht der gerade der wärmste Ort war. Donnie drehte seine Ohren in alle Richtungen. Er schien durch die Geräuschkulisse beunruhigt zu sein. „Wir machen mal das Hallenradio an“, entschied Rosy. Die Musik übertönte das Pfeifen des Windes und das Regenprasseln.

 

Gutgelaunt sangen Fiona und Lucy zu einem Song mit. „Was haltet ihr davon, wenn wir ein bisschen springen?“, schlug Rosy vor. In der Mitte der Halle standen vier Hindernisse. Bestimmt hatte Sandrina in den Ferien trainiert. „Cool, ich bin dabei!“, rief Fiona begeistert und ließ Moonshine antraben. „Damit es jeder mitkriegt, nur eine Person reitet den Parcour zur selben Zeit“, rief Rosy, die mit Shamprock im Galopp an ihr vorbei zog. „Ist schon klar“, nickte Fiona und parierte ihr Pferd durch zum Schritt. Nach Rosy und Fiona war ich endlich an der Reihe.

 

Donnie hatte ernormen Bewegungsdrang und jagte in einem ernorm hohen Tempo über die Stangen, sodass ich einmal fast Angst haben musste, dass ich aus dem Sattel befördert wurde. „Yeah, ist das toll!“, juchzte ich und galoppierte an meinen Freundinnen vorbei. „Dein Donnie hat mal wieder viel Dampf“, kommentierte Fiona. Erst nach zwei Runden schaffte ich es mein Pferd wieder zum Traben zu bringen. „Die Bewegung war echt notwendig für ihn“, sagte ich zu Rosy. „Das glaube ich dir“, bejahte meine Freundin, „Er ist schließlich schon zwei Tage länger hier als wir und ich bin mir sicher, dass er bis heute nicht bewegt wurde“ „Soweit ich weiß, bewegt Sandrina ab und zu die Privatpferde, wenn ihre Reiter nicht da sind, aber sie kann eben nicht alle Pferde gleichzeitig reiten“, erwiderte ich.

 

Ein paar Tage später lernte ich zusammen mit Fintan in meinem Zimmer für die bevorstehende Chemieklausur. Organische Chemie war absolut nicht mein Ding. Dazu sollten wir diese verdammt komplizierten Strukturformeln zeichnen, Reaktionsgleichungen aufstellen und die Schmelz- und Siedepunkte von Alkanen, Alkenen und Alkoholen abschätzen. „Noch immer kapier ich nicht, was ein Aromat ist“, schüttelte ich verständnislos den Kopf. „Ganz einfach, das ist ein Ring mit sechs C-Atomen und mit drei Doppelbindungen zwischen den C-Atomen, die das Grundgerüst bilden“, erklärte er mir es anhand einer Zeichnung. Wir blätterten eine Seite weiter. Was zum Teufel waren aktivierte und deaktivierte Aromaten? Nun verstand ich nur noch Bahnhof. Wenn das am Montag nur gut ging.

 

Meine erste Klausur war bereits ein Desaster, deswegen musste diese deutlich besser sein. Auf keinen Fall wollte ich eine Fünf oder eine Sechs auf dem Zeugnis riskieren. „Emily, du sollst besser eine Pause machen und frische Luft schnappen“, sah Fintan von gefühlt hundert Reaktionsgleichungen auf, die der auf meinen Collegeblock gekritzelt hatte. „Von mir aus, gerade haben wir keinen Regen. Wollen wir joggen gehen?“, schlug ich vor und warf einen Blick aus dem Fenster. „Ne lass mal, ich habe nachher noch anderthalb Stunden Fußballtraining und werde mich noch genug verausgaben“, schüttelte er den Kopf und gähnte kurz hinter vorgehaltener Hand. Offenbar machte die Lernerei nicht nur mich müde. Organische Chemie war schon ein verflixt kompliziertes Thema. 

 

Wir hatten gerade den passenden Moment zwischen zwei Regenschauern abgewartet, als wir über den aufgeweichten Feldweg in Richtung Wald liefen. „Ich habe schon von Greta mitbekommen, dass es zwischen dir und Freddy aus“, sagte er. „Das stimmt“, nickte ich, „Es hat zwischen uns einfach nicht mehr gepasst“ „Das hat man gemerkt, dass ihr nicht mehr richtig zusammen gepasst habt“, meinte Fintan, „Aber Freddy war teilweise vor den Ferien richtig stieselig. Einmal bin ich in der Halbzeitpause beim Spiel gegen das Marine College ziemlich derbe in der Kabine mit ihm aneinander geraten“ „Er war in letzter Zeit wirklich nicht immer leicht zu ertragen“, murmelte ich und suchte krampfhaft ein anderes Gesprächsthema. Ich war nicht sonderlich scharf drauf, das Thema Davie mit ihm anzustoßen. Zumal sich Davie in letzter Zeit eh kaum noch meldete und ich deswegen schon ziemlich sauer auf ihn war.

 

„Was machst du eigentlich nach dem Abschluss?“, fragte ich ihn, um vom Thema abzulenken. „Ich weiß noch nicht genau, was ich studieren werde“, zuckte er mit den Achseln, „Wenn ich Glück habe, werden Shane und ich ab Januar von einem Zweitligaclub verpflichtet, der jetzt mit großer Wahrscheinlichkeit in die erste Liga aufsteigt“ „Wirklich, du wirst Profifußballer?“, konnte ich es kaum glauben. „Doch, ich hatte bereits in Amerika gute Kontakte zu Scouts“, bestätigte er, „Wenn ich mich weiter entwickle, habe ich gute Chancen in die Junioren-Nationalmannschaft zu kommen. Bis dahin muss ich fast täglich Extraschichten schieben und im Fitnessraum an Kraft und Ausdauer arbeiten“

 

„Wow, das ist wirklich klasse“, gab ich ihm einen Highfive. Hinter den Weidezähnen begann es wieder aus allen Kübeln zu schütten. „Wollen wir rennen?“, schlug Fintan vor. „Von mir aus“, nickte ich und spurtete los. Fintan brauchte noch nicht mal zwanzig Meter um an mir vorbei zu preschen. Gegen einen kommenden Profifußballer wie ihn hatte ich nicht den Hauch einer Chance. Freundlicherweise wartete er am Gatter auf mich. „Jetzt haben wir uns ein warmes Getränk verdient. Heute ist mal wieder typisch irisches Mistwetter“, schüttelte er wie ein Hund die Regentropfen aus seinem Haar. „Es geht langsam auf den Winter zu“, seufzte ich und vermisste jetzt schon die schönen langen Sommertage, an denen man die Abende draußen verbringen konnte.

 

Die Klausur am kommenden Montag lief besser als gedacht und ich hatte sogar das Meiste verstanden, was von uns abverlangt wurde. Vielleicht stand diesmal ein Ausreichend oder sogar ein Befriedigend unter meiner Arbeit. „Fandet ihr die Klausur auch so einfach?“, fragte Fiona in die Runde. „Es ging wohl“, nickte Oli. „Klar, die Klausur war einfach richtig genial“, fand Shane, der ein Ass in Naturwissenschaften war. „Dank Fintan bin ich auch einigermaßen klar gekommen“, schaltete ich mich ins Gespräch ein. „Dann soll Finn statt Profifußballer Lehrer für Chemie und Mathematik werden“, meinte Oli. „Wie stellst du dir das vor?“, drehte sich Fintan lachend zu uns um, „Kannst du dir ausmalen, wie das aussieht, wenn ich vor einer Klasse stehe und die frechen Schüler mich am laufenden Band veräppeln?“

 

„Aber Talent hast du“, warf ich ein. „Wenn du nach der Schule ein Lehramtsstudium anfängst, hättest du immer noch einen Plan B“, mischte sich Rosy in unser Gespräch ein. „Na klar, ein zweiten Plan in der Hinterhand zu haben ist immer sinnvoll“, meinte Fintan, „Aber ob ich wirklich Lehramt studieren soll?“ „Vielleicht werde ich später Lehrerin in Französisch und Englisch“, überlegte Rosy. „Du könntest beinahe für jedes Fach Lehrerin sein“, stieß Sandrina sie an, „Du bist doch diejenige, die überall die besten Noten hat“ „Ich überlege es mir noch, aber ich würde auch gerne meine Karriere als Vielseitigkeitsreiterin fortsetzen“, erwiderte Rosy.

 

11. Kapitel

 

„Wisst ihr bald ist es wieder so weit“, kam Greta während eines Nachmittagtees auf den Weihnachtsball zu sprechen. „Stimmt, heute hängen schon die Listen für die Tanzpaare aus“, fiel mir ein. „Ob ich auch mit Karolina tanzen kann?“, rührte Rosy ununterbrochen ihren Tee um. „Mach das einfach, von uns wird keiner blöd gucken“, ermutigte Sandrina sie. „Wie finden das die Lehrer?“, grübelte Rosy. „St Malory steht im Zeichen der Toleranz“, holte Oli tief Luft, „Die Lehrer und die Schulleitung wollen demnächst ein Projekt einführen, um gleichgeschlechtliche Paare den Rücken zu stärken und um Toleranz zu werben. Daher tanz mit Karolina und lass dich von den Idioten, die sich über euch lustig machen nicht runterkriegen“ „Ganz genau, wer euch dumm kommt, der kriegt es mit uns allen zu tun, die hier gerade am Tisch sitzen“, fügte Greta hinzu.

 

„Wisst ihr, ich tanze mit Alex zusammen“, meinte Oli und fügte leise hinzu, „Falls ihr wisst, wir sind seit wenigen Tagen ein Paar“ „Oh toll, das ist phänomenal!“, freute sich Jenny. „Was ist phänomenal?“, guckte Stella neugierig vom Nachbartisch zu uns rüber. „Geht dich nichts an, das ist ein Geheimnis unter Freundinnen“, sagte Lucy sofort. „Dass Arabella, Stella und co überall ihre Nase reinstecken müssen“, rümpfte Greta die Nase, „Echt nervig! Wenn sie etwas spitzkriegen, verbreiten sie Gerüchte in der ganzen Schule, von denen mehr als die Hälfte nicht stimmt“ „Ich weiß nicht, ob ich Shane fragen soll“, war Fiona noch unentschlossen. „Warum nicht? Er wird garantiert nicht nein sagen“, meldete sich Sandrina zu Wort. Dass ausgerechnet sie das sagte, wunderte mich doch ein wenig. Schließlich war sie eine Zeit lang seine Freundin gewesen. „Fiona, du bist ein hübsches Mädchen, also trau dich!“, legte ihr Rosy die Hand auf den Arm.

 

In der Nacht wachte ich auf, hatte ich von Fintan geträumt? Offenbar ja. Je mehr ich mit ihm zu tun hatte, desto weniger ging er mir aus dem Kopf. Sollte ich erneut eine Beziehung mit ihm versuchen oder lieber doch nicht? Andererseits war die Trennung schon ein Jahr und acht Monate her. Inzwischen war schon viel Gras darüber gewachsen und wir hatten uns beide verändert. Wir waren wesentlich erwachsener und reifer geworden. Immer hatte ich ihn noch nicht gefragt, ob wir zusammen zum Weihnachtsball gehen sollten. Naja, etwas Zeit hatten wir zum Glück noch. Greta hatte Lars, Oli ging seit kurzem mit Alex und auch zwischen Fiona und Shane schien sich etwas anzubahnen. Warum sollte ich es mit Fintan nicht erneut versuchen? Wieder tauchte sein Ebenbild vor meinem inneren Auge auf: sein 1,82m großer durchtrainierter Body, seine betörenden grünen Augen, die leicht verwuschelten dunkelblonden Haare, das hübsche pickelfreie Gesicht und das schelmische Grinsen! Inzwischen war aus einem anfangs etwas vorlauten Jugendlichen ein junger Mann geworden. Es wunderte mich, wie mich die Gedanken an ihn wach hielten. Beinahe hielt ich mich selber für liebestrunken. Egal, Hauptsache es war wahre Liebe. Irgendwann nickte ich doch noch ein, bis Fiona mich am nächsten Morgen wach rüttelte.

 

Eine Woche später nach dem Hockeytraining stieg ich mit Jenny in den Bus, um mit ihr nach Riverview zu fahren. Dort hatten wir um sechs Uhr einen Frisörtermin. „Meine Haare gehen gar nicht mehr, sieh dir nur diese Zotteln an“, sagte meine Freundin. „Um meine Haare steht es nicht besser“, erwiderte ich, „Es war fast ein Jahr her, dass ich zuletzt beim Frisör war“ Es war echt notwendig, dass ich mir einen vernünftigen Haarschnitt verpassen ließ. Inzwischen waren meine rotblonden Haare so lang geworden, dass ich sie meist zum Zopf band. Pünktlich um sechs nahmen wir auf den Frisörstühlen platz. „Wie viel soll von den Haaren weg?“, fragte die Frisöse. „Etwa fünf Zentimeter“, zeigte ich mit meiner Hand. „Was soll sonst noch gemacht werden?“, fragte sie weiter nach. „Ich würde mir gerne ein paar Strähnen im Farbton Mahagoni machen lassen“, erwiderte ich.

 

Ungefähr anderthalb Stunden saßen wir auf unseren Stühlen, lasen Zeitung und nippten an der Apfelsaftschorle, die man uns freundlicher Weise vorbei gebracht hatte. Am längsten dauerte das Einwirken der Farbe. „Ich bin gespannt, welchen Farbton du gewählt hast“, sagte ich zu Jenny. „Wirst du gleich sehen“, antwortete sie. Wieder vertiefte ich mich in meine Illustrierte. Ab und zu guckte ich in den Spiegel. Wie lustig wir mit der Alufolie aussahen! Nach dem Warten konnte sich das Ergebnis sehen lassen. Jenny ließ sich ihre Haare auf Kinnlänge abschneiden und hatte blonde Strähnen gewählt, die einen Kontrast zu ihrem braunen Haar bildeten. Der Stufenschnitt, der Seitenscheitel, der halblange Pony und die rotbraunen Strähnen verliehen meinem Haar ein facettenreicheres Aussehen. Endlich trug ich meine Haare mit Stolz wieder offen. „Let’s be Topmodels!“, flachste ich und hängte mich auf dem Weg zur Bushaltestelle bei meiner Freundin ein.

 

Nach dem Abendessen nahm ich mir vor Fintan bezüglich des Weihnachtsballs zu fragen. Ich brauchte ihn nicht lange zu suchen. Zusammen mit Shane, Emil und Ivan stand er am Billardtisch. „Wollt ihr auch mitspielen?“, fragte Emil mich und Oli. „Klar, eine Partie Billard geht immer“, antwortete meine beste Freundin für uns beide. Bevor ich nein oder ja sagen konnte, hatte ich schon einen Billardstab in der Hand. „Jetzt müssen wir die Teams aufteilen“, meinte Emil, „Dann mache ich mit Oli und Shane zusammen“ Wenigstens spielte ich mit Fintan zusammen. Emil überließ uns den Anstoß, den Ivan ausführte und prompt eine Kugel versenkte. „Wir sind noch mal an der Reihe. Willst du, Emily?“, wandte sich Ivan an mich. „Von mir aus“, nickte ich. Wie ich versuchte eine unserer Kugeln zu versenken, sah nicht sonderlich elegant aus.

 

Hätte ich mehr Kraft gehabt, hätte ich wohlmöglich ein Loch in den Tisch gerammt. „Wie hältst du den Queue? So wie du gerade gespielt hast, sieht es aus, als wolltest du den Tisch aufspießen“, entfuhr es Fintan, „Warte, ich zeige dir, wie man es richtig macht“ „Ausnahmsweise, dürft ihr den Spielzug wiederholen“, genehmigte uns Emil eine zweite Chance. Fintan demonstrierte, wie man den Queue hielt und auf geschickte Weise die Kugeln in die Löcher bugsieren konnte. Nun war Emil an der Reihe. Drei Kugeln seiner Farbe schaffte er es auf einmal zu versenken. Offenbar hatte er darin viel Talent. Um die Kugeln einzulochen, musste man immer auf den Winkel achten. Meine weiteren Versuche sahen ganz passabel aus, obwohl wir uns Emilys Team geschlagen geben mussten. „Falls du weißt, Emil ist hier der King of Billard“, raunte mir Ivan zu.

 

„Lust auf eine zweite Runde?“, fragte Shane. „Ne, ich bin müde“, lehnte Fintan ab und legte den Stock zurück. Noch bevor er aus dem Raum ging, fing ich ihn an der Tür ab. „Hast du noch einen Moment Zeit?“, berührte ich ihn leicht an der Schulter. „Klar, worum geht es? Brauchst du Hilfe in Mathe oder Chemie?“, drehte er sich auf der Türschwelle um. „Nein, es geht um den Weihnachtsball“, offenbarte ich ihm, „Ich wollte dich fragen, ob wir dort zusammen hingehen wollen?“ „Von mir aus gerne, wir können uns meinetwegen uns jetzt schon in die Liste eintragen“, zückte er einen Kuli und trug unsere Namen nebeneinander ein. „Übrigens deine Frisur sieht super aus“, sagte er, während wir die Treppe hoch gingen. „Danke!“, lächelte ich geschmeichelt.

 

„Emily, hier spielt die Musik!“, spielte mir Mr. Jenks einen Ball vor die Füße. Mist, ich hatte mal wieder verpennt! Fintans Anwesendheit hinter dem Zaun ließ mich total unaufmerksam werden. Warum musste er sich gerade mit Alex unser Hockeytraining anschauen? Wie peinlich, dass ich wieder am Träumen war und dabei wollte ich am Wochenende gegen die Girls der Hill School von Beginn an spielen. Damit mein Hockeytrainer kein schlechtes Bild von mir bekam, preschte ich mit dem Schläger in der Hand und dem Ball los und umrundete den Wald aus lauter Stangen. „Los Emily, reiß dich zusammen! Gegen hartes Training ist nichts einzuwenden, es macht dich nur besser!“, sagte meine innere Stimme und spornte meine Beine an noch schneller zu laufen.

 

Bald war mir von der Bewegung so warm, dass ich nicht mehr spürte, wie kalt es eigentlich heute war. Zum ersten Mal hatte es leicht gefroren. Unsere Atemluft bildete kleine weiße Wölkchen. Zum Schluss noch ein Schuss auf das Tor. Danielle unsere Keeperin wartete nur darauf meinen Schuss abzuwehren. Voller Konzentration zielte ich auf die untere linke Ecke und traf. „Bravo!“, klatschten mich Sandrina und Oli ab. Anschließend kam eine Partnerübung, bei der man einen sich einen Ball zu passen sollte, während man durch einen Parcour aus Hütchen und Stangen lief. Gleich war die Einheit geschafft und ich konnte mich eine entspannende heiße Dusche freuen. Am Ende der Einheit teilte Mr. Jenks mit, wer für den kommenden Samstag im Kader war. Leider war ich nur auf der Bank, während Sandrina, Oli und Greta von Beginn an spielen durften.

 

Die Adventszeit verstrich in einer atemberaubenden Geschwindigkeit. Geschenke für meine Liebsten mussten gekauft werden, dann wurden noch unzählige Klausuren geschrieben, mit Sandrina musste ich ein Referat über den spanischen Kolonialismus halten und zu guter letzt präsentierte ich in Chemie einen Versuch vor der ganzen Klasse. Dass da nicht viel Weihnachtsstimmung aufkam, war kein Wunder. Zwar machten wir es uns gerne in unseren Zimmern gemütlich und luden uns gegenseitig zum Plätzchen naschen ein, trotzdem wollte der Stress nicht weichen.

 

„Langsam habe ich keine Lust mehr auf diesen Blödsinn“, klappte Oli genervt ihr Politikbuch zu, als bei ihr abends zum Kakaotrinken zusammen saßen. „Uns geht es doch genauso, Oli“, meinte Greta, „Leg deine Politiksachen beiseite, wenn du nur noch am pauken bist, wirst du morgen während der Klausur ein Blackout haben“ „Punktgenau, wozu haben wir euch auf einen gemütlichen Abend eingeladen“, pflichtete ihr Jenny bei. „Kopf hoch! Im Januar sieht die Welt ganz anders aus“, munterte Rosy uns auf. „Wisst ihr im März findet unsere Studienfahrt nach Venedig statt!“, erinnerte uns Lucy. „Stimmt, darauf freue ich mich schon riesig. Eine Schulwoche lang entspannen, Sightseeing und Spaß haben mit den besten Freunden“, hellte sich Olis Gesicht wieder auf. Daraufhin verdrückten wir eine ganze Packung Lebkuchen und tranken eine ganze Kanne Kakao leer, den Rosy aus der Küche besorgt hatte.

 

Der Tag des Weihnachtsballes rückte näher. Am letzten Schultag kribbelte es in mir so dermaßen vor Vorfreude, dass ich die Hälfte des Unterrichts verträumte. Gegen fünf Uhr am Nachmittag zogen wir uns auf unsere Zimmer zurück, um uns dementsprechend für die kommende Party aufzupeppen. „Meine Haare sind die Schlimmsten, ich habe jetzt schon hundert Knoten drin“, jammerte Fiona, die mit ihrer Bürste dauernd hängen blieb. „Komm mal mit“, zog ich sie ins Bad und sprühte ihre Haare mit einem Spray ein, das dem Haar eine bessere Kämmbarkeit verlieh. Nun war das Kämmen ein Kinderspiel und ihre kupferroten Haare glänzten umso intensiver. Anschließend bearbeitete ich ihre Mähne mit einem Glätteisen und flocht aus ihren halblangen Ponyhaaren einen Kranz, der einmal um ihren Kopf herum ging.

 

Was ich mit meinen Haaren vorhatte, wusste ich schon genau und dafür brauchte ich viel Haarspray. „Du hast echt eine Löwenmähne!“, bewunderte meine Freundin meine Frisur. Dank der mahagonifarbenen Strähnen wirkten meine Haare deutlich facettenreicher und kräftiger. Zum Schluss betonte ich meine Frisur mit einer weißen Rose aus Tyllstoff, die ich erst letztens in der Stadt gekauft hatte und machte mir meine Perlenohrstecker rein. Im weißen Kleid hatte ich sogar leicht Ähnlichkeit mit einer griechischen Göttin. Nun fehlte nur noch das Make-up. Ich war so aufgeregt, dass meine Hand leicht zitterte. „Shit, ich verschmiere alles“, schimpfte ich. „Soll ich dich schminken?“, bot Fiona an, „Ich bin darin keine Meisterin, aber ich werde mir Mühe geben. Setz dich auf die Toilette und ich schminke dich“

 

Das Resultat überraschte mich. „Und du behauptest, dass du total unbegabt bist?“, lachte ich und sein mein Spiegelbild zufrieden an. „Ich habe halt mein Bestes gegeben“, meinte sie. Kurz darauf klopfte es an unserer Zimmertür. „Hi, wir wollten euch nur abholen kommen“, grinste Oli über beide Backen. „Und wir haben noch einen besonderen Gast hier“, folgte Greta ihr ins Zimmer. „Mit ihr hat keiner gerechnet“, stellte sich Lucy neben Greta und Oli. Besonderer Gast, was sollte das nun sein? Hoffentlich erlaubten sich meine Freundinnen keinen Scherz. „Fiona und Emmi, ihr werdet es kaum glauben“, machte Sandrina es noch einmal spannend. „Ganz gewiss, mir sind gerade auch die Augen aus dem Kopf gefallen“, fügte Jenny hinzu. „Nun kommt schon, redet nicht die ganze Zeit um den heißen Brei herum!“, wurde ich langsam ungehalten. Was sollte dieses Theater, was meine Freundinnen veranstalteten? „Ihr könnt kommen!“, rief Oli auf den Flur hinaus. Nun kam Rosy in unser Zimmer und hatte ein dunkelhaariges Mädchen in einem schwarzen Samtkleid an der Hand.

 

Es war nicht irgendein Mädchen, sondern Amandine! „Amandine!“, stieß ich jubelnd aus und fiel ihr um den Hals. An den Händen haltend hüpften wir durch das Zimmer. „Wo kommst du her?“, war Fiona ganz baff. „Meine Anwesenheit sollte bis zum Schluss eine Überraschung sein“, meinte die Französin, „Ich wurde ebenfalls eingeladen und ich habe meine Tante gebeten, dass sie nichts davon erzählt, dass ich heute Abend anwesend bin“ „Die Überraschung ist geglückt“, sah Jenny uns augenzwinkernd an. „Ihr wisst das Beste noch nicht. Da ich vor kurzem ein Lehramtsstudium für Französisch und Englisch angefangen habe, darf ich hier noch mal ein etwa sechswöchiges Praktikum absolvieren“, fuhr Amandine in einem aufgeregten Tonfall fort, wodurch ihr französischer Akzent vermehrt zum Vorschein kam. „Yeah, das müssen wir nachher richtig feiern!“, gab Oli ihr einen Highfive. „Hey Mädels, ich will nicht drängen, aber gleich beginnt der Gottesdienst“, sah Lucy beunruhigt auf den Wecker meines Nachttisches. „Von mir aus können sie den Gottesdienst auch streichen“, war Greta der Meinung, „Eine Andacht haben wir doch eh jeden Sonntagvormittag“

 

„Let’s go, Girls!“, gab Greta die Marschrichtung vor und hakte sich Jenny und Oli unter. Ich hängte mich bei Amandine und Lucy ein. Rosy, Fiona und Sandrina taten es uns gleich. „Los, wir rocken gleich den Gottesdienst!“, drehte sich Oli schelmisch grinsend zu uns um. „Lieber nicht, für Albereien sind wir leider zu alt“, meinte Rosy dazu. „Schade, manchmal wäre es echt cool, wenn wir mindestens drei Jahre jünger wären“, sagte Oli seufzend. Der Fußweg zur Kapelle kam uns in der Dunkelheit und bei diesem nieseligen windigen Wetter dreimal so lang vor. Dann noch dieser unbequeme Kiesel! „Können sie die Wege nicht einmal normal pflastern, wie es jeder andere auch tut?“, moserte Sandrina. „Jetzt fang genauso an rumzunörgeln wie Arabella und ihr Zickenensemble, die noch nicht mal einen Regentropfen aushalten“, konnte sich Greta einen Kommentar nicht verkneifen.

 

„Girls, wir haben es gleich geschafft und später steigt eine sensationelle Party!“, versuchte ich meine Freundinnen fröhlicher zu stimmen, die offenbar keine Lust auf eine minutenlange langweilige Predigt hatten. Die steinerne Schulkapelle wurde von unzähligen Kerzen erleuchtet. Gemütlich sah es schon aus. „Hoffentlich schläft man bei den Reden nicht ein“, feixte Oli. „Das tust nicht, sonst hast du meinen Ellenbogen in deinen Rippen“, drohte ich ihr grinsend. Zu neunt drängten wir in eine der Reihen, die für unseren Jahrgang bestimmt war. „Wo bleiben die Jungs?“, flüsterte Greta, „Sie wollten um halb sieben hier sein“ „Keine Ahnung, ich habe Finn, Alex, Shane, Tiago und Lars zum letzten Mal kurz nach dem Tee am Tischkicker gesehen“, zuckte Oli mit den Achseln.

 

„Komisch, dass Jungs länger brauchen, um sich zu stylen als wir“, meinte Fiona, „Dabei heißt es immer so schön, dass wir Mädels deutlich mehr Zeit mit unserem Aussehen verplempern“ Gerade als die Orgel zu spielen begann, kam ein ganzer Schwall Jungs aus unserem Jahrgang in die Kapelle. Da in unserer Reihe kein Platz mehr war, setzten sie sich zwei Reihen hinter uns hin. „Unsere Märchenprinzen haben es wohl noch gerade rechtzeitig geschafft!“, flüsterte mir Oli ins Ohr. „Psst!“, machte Rosy und deutete auf den Pastor, der den Gottesdienst leiten würde. Neben ihm stand unser Schulleiter Mr. Scott, der sich mit Krawatte und Anzug für die kommende Veranstaltung ordentlich in Schale geworfen hatte.  

 

Nach der Eröffnungsrede unseres Direktors wurden einige Schüler, die sich durch besondere Leistungen bei Talentwettbewerben, Sportmannschaften oder Schülerfirmen hervor getan haben, geehrt. Lucy, Rosy, Greta, Matthew und ich wurden als Vertreter unserer Schülerfirma aufgerufen, die in den Pausen gesunde Snacks verkaufte. Lächelnd nahmen wir unsere Urkunden entgegen. Als nächstes wurde unsere Hockeymannschaft geehrt, da ich im Mannschaftsrat war, stand ich wieder auf dem Podium. „Nicht, dass du noch zur Urkundensammlerin wirst“, tickte mich Jenny an. „Ach was, in den Schulwettbewerben in Naturwissenschaften, Mathematik und Sprachen kriege ich kein Bein an die Erde“, erwiderte ich flüsternd und handelte mir einen mahnenden Blick von Rosy ein. Nun war die Fußballmannschaft an der Reihe. Fintan, Shane und ein Junge aus dem dritten Jahrgang gingen als Vertreter nach vorne. Wieder wurden es ein dutzend Ehrungen. Rosy konnte im Historik-, sowie im Französischwettbewerb doppelt absahnen.

 

Somit war unsere hochbegabte Freundin die Urkundensammlerin vom Dienst. Nach der letzten Urkundeversammlung stimmte die ganze Schule zusammen ein Lied an. Kurz darauf hielt der Pastor eine Predigt und segnete uns und St. Malory für das kommende Jahr. Zum Schluss kam der Auftritt unserer Klasse. Im Musikunterricht hatten wir zwei Lieder einstudiert. Rosy begleitete uns auf der Harfe und Stefanie auf ihrer Violine. Das Publikum war begeistert. Obwohl wir in einer Kapelle waren, wurde heftig applaudiert. Endlich war die Weihnachtsstimmung auf jeden übergesprungen, der gerade anwesend war. Nach dem Gottesdienst verließ ich bei Oli und Sandrina untergehakt die kleine Kirche, während die Orgel spielte.

 

Nach dem Abendessen in der Aula war es endlich soweit: Der Ball wurde eröffnet. Dieses Jahr lautete das Motto: Willkommen im Winterwunderland! „Die Zweitklässler haben sich echt Mühe mit der Dekoration gegeben“, schwärmte Greta. „Dito!“, nickte ich. Mehrere Plastiktannenbäume mit Glitzergirlanden und LED-Kerzen zierten die Turnhalle. An einigen Stellen verstreut lag glitzernder Kunstschnee. Am Rande der Tanzfläche waren Schneemänner, Märchenfiguren und Rentiere aus Pappe und Holz aufgebaut. Neben der Bühne stand ein kleines Hexenhäuschen, das die Tischler-AG gebaut hatte. Über unseren Köpfen spannten sich dunkelblaue Tücher mit goldenen Sternen. Beinahe fühlte man sich hier wie in einem Zirkuszelt. Nichts erinnerte daran, dass wir uns vormittags während des Sportunterrichts abackerten. Das Buffet war immer noch am Besten.

 

So viele märchenhafte Süßigkeiten und Snacks hatte ich noch nie gesehen: Tannenbaum-Cupcakes, Zimtsterne mit Schokoladenüberzug, kleine Schokoladenberggipfel, Chips und Nachos in märchenhaft verzierten Tüten, bunte Lollis, Zuckerstangen und noch viel mehr, was das Herz begehrte. „Ich kann dem nicht länger widerstehen, das sieht so verdammt lecker aus!“, leckte sich Oli die Lippen. „Schatz, wir hatten doch gerade schon genug zu essen“, legte Alex den Arm um seine Freundin. „Ich kann Oli schon verstehen, davon kann man nur hungrig werden“, meinte Fintan. „Finn, aber erst tanzen wir“, stupste ich meinen Tanzpartner an. „Klar, verhungern werden wir bis dahin nicht“, nickte er grinsend und warf immer wieder begierende Blicke auf das Buffet.

 

„Du bist wunderbar, Kleine!“, lächelte Fintan und strich mir über das Haar. „Du auch!“, sagte ich so leise, dass man es kaum hörte. In seinem weißen langärmeligen Hemd, seiner Bluejeans und den zurrecht gemachten Haaren sah er wie mein Traumboy aus. Nach dem Wiener Walzer, der als Eröffnungstanz gespielt wurde, kamen einige irische Volkslieder. Ich liebte die lebhafte Musik zu der man ausgelassen tanzen konnte. Voller Freude hüpften und drehten wir uns über den Dancefloor. Einfach unbeschreiblich! Ich konnte mein Glück nicht in Worte fassen. Nach fünf Tänzen folgte eine kurze Verschnaufpause. Wir schickten Oli, Fintan, Lars und Jenny los, damit sie uns Getränke mitbrachten.

 

„Der schönste Abend seit langen!“, strahlte Rosy wie eine Schneekönigin und nahm Karolina fest in den Arm. „Ihr beide seid ein tolles Paar!“, bemerkte Sandrina voller Bewunderung. „Ratet mal mit wem ich heute Abend tanze?“, kam Amandine auf uns zu und zog Freddy hinter sich her. „Du tanzt mit Freddy?“, machte Oli ganz große Augen. „Das war schon vorher abgesprochen“, nickte die Französin. Etwas abseits von uns standen Shane und Fiona eng umschlungen und küssten sich auf die Lippen. „Es hat sie erwischt!“, raunte mir Oli zu. „Von mir aus soll sie das doch“, kniff Sandrina die Augen zusammen, die darüber nicht besonders erbaut sein zu schien. An diesem Abend tanzte sie mit Ivan, der mit ein paar Kumpels zum Biertrinken verschwunden war. „Es geht weiter, der nächste Tanz ruft!“, zog Oli Alex wieder auf die Tanzfläche. Fintan und ich ließen uns Zeit und stiegen erst beim nächsten Tanz ein.

 

Nach dem Pflichtprogramm legte ein DJ fetzige Partymusik und die neusten Hits aus den Charts auf. „Los, zeigt doch mal, was ihr drauf habt“, munterte Jenny Rosy und ihre Freundin zum Tanz auf. Mit mehreren Personen bildeten wir einen großen Kreis. „Hey, hey, hey, hey!“, feuerten Oli, Greta, Lars, Shane und Jenny sie ununterbrochen an und klatschten im Takt. Rosy und Karolina tanzten einen Discofox. Mich erstaunte es, dass sie sich durch nichts aus dem Takt bringen ließen und sich noch nicht mal einen winzigen Fehler erlaubten. „Ihr seid die Stars des heutigen Abend“, jubelte ihnen Oli zu. Neben uns warfen ein paar Schüler aus anderen Klassen dem tanzenden Paar hämische Blicke zu. Glücklicherweise waren Rosy und Karolina so sehr miteinander beschäftigt, dass sie dieses dämliche Gelache und die blöden Blicke nicht mitbekamen. „Komm, lass uns loslegen“, zehrte mich Fintan in die Menge der tanzenden Menge. Ich glaubte im siebten Himmel zu sein, als wir über die Tanzfläche fegten. Die ganze Zeit kribbelte es in mir. „Hast du kurz Zeit um mit mir nach draußen zu gehen?“, zog er mich näher an sich heran, „Ich muss dir was sagen“ Ohne etwas zu sagen, ließ ich mich von ihm aus der Turnhalle führen.

 

Draußen war es bitterlich kalt. Inzwischen hatte sich der Regen mit einigen dicken Schneeflocken vermischt. Bah, was war das nur für ein Schietwetter! „Beeil dich bitte, mir ist verdammt kalt!“, klapperte ich bereits nach wenigen Sekunden mit den Zähnen. Er schlang seine Arme um mich. Er war gefühlte zwanzig bis dreißig Grad wärmer als ich. Mich wunderte es, dass er in dieser Eiseskälte nicht fror, obwohl er nur ein dünnes Hemd anhatte. Seine Wärme übertrug sich auf mich und taute mich auf, sodass ich mich behaglich geborgen fühlte. „Ich habe dich vermisst“, sagte er, „Das ganze Jahr als ich in Amerika war, habe ich fast täglich an dich gedacht. Du hast mir gefehlt und ich bin froh, dass ich dich endlich wieder habe. Du bist mein Mädchen und zwar nur du“

 

„Oh ja, ich habe dich auch sehr vermisst“, wuschelte ich ihm durch die Haare und küsste ihn leicht auf die Wange. „Komm, das machen wir noch mal richtig!“, gab er mir einen Kuss auf den Mund, den ich voller Leidenschaft erwiderte. Wir küssten uns noch weitere Male, allerdings fiel mir auf, dass seine Küsse zunehmend nach Bier schmeckten. „Anscheinend hast du schon ein bisschen intus“, zog ich ihn auf. „Ach komm schon, was ist schon gegen zwei Bier einzuwenden?“, zog er mich an seinen Oberkörper. „Ich habe noch etwas mitgenommen“, holte ich eine kleine Papiertüte aus meiner kleinen Handtasche. Vom Buffet hatte ich ein paar Süßigkeiten und Plätzchen mitgenommen. „Wie cool, gerade könnte ich wieder einen Snack vertragen“, leuchteten Fintans Augen. Gegenseitig fütterten wir uns und sahen uns beim Kauen zu.

 

Nach einer Weile zog es uns wieder ins Warme. Draußen im Schneeregen war es für einen längeren Aufenthalt viel zu ungemütlich und zu kalt. „Habt ihr mitbekommen, dass Freddy mit tränenüberströmtem Gesicht aus der Halle gelaufen ist? Ihm scheint es gerade ziemlich dreckig zu gehen“, kam uns Greta entgegen. „Was ist denn um Himmels Willen passiert?“, entfuhr es mir schockiert. Auf einmal hatte ich doch Mitleid mit einem Ex-Freund. „Er hatte eine SMS bekommen, dass sein Onkel einen Herzinfarkt hatte und gestorben ist“, wusste Alex Bescheid. „Oh Gott, das hört sich übel an!“, wurde mir ganz anders. Ich wusste noch, wie es damals bei Mum war, als man mir und Dad diese schlimme Nachricht mitteilte.

 

„Sollen wir nach dem Rechten gucken, wo er hingelaufen ist? Ich denke, er kann ein bisschen Trost und Aufmunterung gut gebrauchen“, mischte sich Fintan ein. „Brauchst du nicht, Amandine ist bei ihm und spendet Trost“, winkte Oli ab. Mich erstaunte es fast, dass Fintan sich gegenüber Freddy gerade so engagiert zeigte. In den vergangenen Monaten schien es, als seien die Beiden Rivalen. Die Nachricht von Freddys Onkel zog uns alle für einen Moment runter. Offenbar verging kein Weihnachtsball ohne Tragödie. Im letzten Jahr war die Wohnung von Rosys Mutter ausgebrannt. Seitdem lebte meine Freundin und ihre Familie mit uns unter einem Dach. „Leute, wir können uns den Abend doch nicht von einer einzigen Nachricht verderben lassen“, sagte Alex, „Am besten wir trinken noch eine Runde Bier“ „Ich gehe freiwillig zur Theke, kommt einer von euch mit?“, erhob sich Shane. „Ich komm mit“, meldete sich Tom freiwillig. Tiago, Patrick und Lars schlossen sich ihnen an.

 

Zu fünft schafften sie mehrere Paletten Bier zu unseren Tischen. „Probier doch mal ein Guinness!“, hielt mir Patrick ein Bierglas unter die Nase. „Prost!“, hielt Alex sein Glas hoch und wir stießen munter durcheinander an. „Auf uns!“, rief ich und hob mein Glas. „Auf St Malory!“, krähte Oli. „Auf unser letztes Jahr, dass wir für immer Freunde bleiben!“, ergänzte Patrick. Wieder ließen wir die Gläser klirren. „Genau, beste Freunde für immer!“, legte Sandrina mir und Oli die Arme um die Schultern. Da das Schwarzbier zu bitter schmeckte, trat ich mein Bier an Fintan ab und holte mir stattdessen ein Mischbier. „Wir haben euch etwas mitgebracht“, verkündete Karolina lächelnd und hinter ihr tauchte Rosy mit einem Tablett voller Kuchen und Süßigkeiten vom Buffet auf. „Cool, gerade habe ich wieder einen riesigen Bock auf einen Zuckerschock!“, überschlug sich Jenny fast vor Begeisterung. „Zuckerschock ahoi!“, riefen Oli, Greta und ich im Chor.

 

„Emily, ich liebe dich über alles! Du bist mein wahrer Engel!“, drückte Fintan mich an sich und küsste mich zum zigsten Mal. Fast hatte ich das Gefühl, er würde über mich herfallen und mich wie ein Hund abschlabbern. Zunehmend schmeckten seine Küsse nach dunklem Guinness und dem Likör, den ein paar unserer Mitschüler hier munter austeilten. „Give me love, give me more!“, rieb er sich an mir. “Fintan, lass das!”, zischte ich, “Wir blamieren uns sonst” Der Alkohol hatte bereits seine Wirkung entfacht. Wie aufgedreht zog er mich auf die Tanzfläche und wirbelte mich herum. Vorhin war er zum Verlieben süß, aber seitdem er tiefer ins Glas geschaut hatte, wurde er unberechenbar.

 

Ich musste ihn sogar daran hindern, dass er sich sein Hemd auszog und die Bühne erklomm. „Mit dir kann man sich hier kaum blicken lassen“, dachte ich leicht verärgert. Im nächsten Moment verschüttete er die Hälfte seines Bieres. „Pass doch auf, jetzt ist mein Kleid nass“, beschwerte ich mich. „Oh, das habe ich nicht gesehen“, sagte er kleinlaut und tanzte weiter, als gäbe es keinen morgen. Bei der nächsten Gelegenheit, als er sein Glas wegbrachte, machte ich mich aus dem Staub und gesellte mich zu Alex und Oli. „Dein Macker ist wohl ziemlich blau“, bemerkte Alex mit einem süffisanten Lächeln. „Wo hast du Finn gelassen?“, fragte Oli. „Er ist immer noch auf der Tanzfläche. Wahrscheinlich merkt er nicht, dass ich nicht mehr da bin“, sagte ich.

12. Kapitel

Am kommenden Morgen wurde uns ein Festessen als Frühstück serviert. Es gab eine große Auswahl an frisch gepressten Säften, Früchten, Joghurts und Puddings. Man konnte sich zwischen warmen Würstchen, Buletten und Rührei mit Bacon entscheiden. „Was für ein geniales Katerfrühstück!“, biss Oli in ihr Zimtcrossiant. „Perfekt um sich voll zu stopfen, bis man platzt!“, nahm Jenny zwei Würstchen auf einmal in den Mund. „Jenny, das sieht wirklich ulkig aus!“, stieß ihr Lucy lachend in die Seite. „Fällt euch auf, dass die Jungs noch nicht da sind?“, fragte ich meine Freundinnen. „Wo du es sagst, fällt mir es gerade auch auf“, sagte Fiona, „Shane und seine Kumpels haben bis in die frühe Morgenstunden gefeiert“

 

Hinter uns setzten sich Arabella und ihre Clique an einen Tisch. „Seht mal, ihre fetten Augenringe!“, tuschelte Greta. „Sie haben garantiert noch mehr gefeiert und gesoffen als wir“, vermutete ich. „Dabei können sie noch nicht mal ihre Müdigkeit mit Schminke und Make up wegschminken“, lästerte Oli. „Mädels, wir sollten uns beeilen“, sah ich auf meine Uhr, „Dad kommt um halb zwölf und bis dahin müssen wir Donnie fertig für den Transport haben“ „Schande, ich habe noch nicht mal meinen Koffer gepackt!“, schlug sich Oli vor den Mund. „Dann wird es Zeit!“, konnte ich mir ein süffisantes Grinsen nicht verkneifen. So war meine beste Freundin halt: eine Chaotin, wie sie im Buche stand! Schnell löste sich unsere gemütliche Frühestücksrunde auf. Oli rannte nach oben in ihr Zimmer, um rechtzeitig ihre Sachen gepackt zu bekommen. Rosy und ich gingen in den Stall, um Donnie fertig für den Transport zu machen.

 

Gretas Mutter kam als erste und nahm bei der Gelegenheit Oli und Jenny mit. „Macht’s gut!“, nahm ich meine beiden Freundinnen in den Arm, „Frohe Weihnachten und einen guten Rutsch, aber rutscht bitte nicht zu tief“ Nach gefühlten hundert Umarmungen konnten Greta, Oli und Jenny endlich in das Auto steigen. „Wollen wir einen Moment ins Haus gehen, mir ist kalt“, schlotterte Fiona. „Dann zieh doch eben deine Jacke an“, meinte Rosy. Drinnen in unserem Wohnhaus kamen uns Fintan und seine Mom auf der Treppe entgegen, die zahlreiche schwere Gepäckstücke hievten. „Guten Morgen, bist du auch endlich wach?“, begrüßte ich ihn und konnte das Neckische in meiner Stimme nicht verstecken. „Du bist gut!“, brummte er, „Weißt du, was für einen dicken Schädel ich habe?“ „Er hat doch etwas zu viel getrunken“, raunte mir Fiona leise zu. „Emily, kommst du gleich noch mal runter auf den Hof?“, rief Fintan von unten. „Klar, ich schaue kurz in meinem Zimmer nach dem Rechten“, antwortete ich. Nach der Stippvisite eilte Lucy in mein Zimmer. „Ich wollte euch nur Tschüss sagen und euch frohe Weihnachten, sowie ein guten Rutsch wünschen! Meine Eltern sind gerade gekommen“, sagte sie außer Atem und umarmte mich und Fiona zum Abschied.

 

In den Fluren und auf der Treppe herrschte Hochbetrieb, wie in einem Bienenstock. Unzählige Eltern, Geschwisterkinder und andere Angehörige waren anwesend und halfen beim Koffertragen. Unten auf dem Hof traf ich endlich Fintan wieder. Inzwischen unterhielten sich mein Dad und seine Mom. „Gut, dass du noch mal gekommen bist“, sagte Fintan zu mir, „Ich wollte mich dafür entschuldigen, dass es gestern zu sehr ausgeartet ist. Naja, ich war wirklich nicht mehr nüchtern“ „Ach kein Ding. Jeder feiert mal zu hart“, erwiderte ich und fand ihn auf einmal mit seinen verwuschelten Haaren und den Augen auf Halbmast doch wieder ganz knuffig. „Ich habe vor, dich zwei Tage vor Weihnachten zu besuchen“, räusperte er sich kurz und fuhr mit klarer Stimme fort, „Wir könnten uns einen schönen Nachmittag bei dir machen und ich hätte auch schon eine kleine Überraschung für dich“ „Cool, das passt sogar“, strahlte ich, „An dem Tag bin ich alleine zuhause, weil Daddy nach Wales fährt, um seine Tante zu besuchen. Rosy und ihre Familie sind bis Heilig Abend bei Verwandten eingeladen“

 

„Emily, wie lange willst du hier noch festwachsen?“, rief Dad, der bereits ins Auto gestiegen war. „Ja, ich komme doch sofort!“, rief ich und küsste Fintan zum Abschied. Ich winkte meinen Mitschülern zu, da ich kaum Zeit hatte mich von ihnen zu verabschieden. Kaum als Rosy und ich uns angeschnallte hatten, startete Dad den Motor und brauste vom Hof. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Fintan mit seiner Mutter im Stall verschwand. „Welcome home!“, schmunzelte Dad und beschleunigte, als wir auf eine Landstraße fuhren. Rosy und ich lächelten uns zufrieden an. Fast drei Wochen Weihnachtsferien standen vor der Haustür. Endlich mal faulenzen und das tun, worauf man gerade Lust hatte. Besonders die letzten Wochen waren stressig gewesen, weil wir mehrere Probeexamen für den Abschluss im kommenden Sommer geschrieben hatten und wir sehr viel lernen mussten.

 

Fintan hielt sein Versprechen. Am Vormittag zwei Tage vor Heilig Abend fuhr er mit seinem Auto bei uns auf dem Hof. „Hallo Darling!“, gab er mir einen Begrüßungskuss. „Komm rein, ich habe Tee und Kuchen soweit fertig!“, lotste ich ihn in unsere Wohnküche. Er zog seine dicke Jacke aus und setzte sich gegenüber von mir hin. „Wie lange hast du noch sturmfreie Bude?“, fragte er mich. „Bis morgen Nachmittag“, erwiderte ich. „Prima, ich hatte vor die Nacht bei dir zu verbringen“, sagte er, „Ich muss noch kurz zum Auto und meine Sachen holen“ Kurz darauf tranken wir gemütlich Tee und verdrückten ein Stück von meinem selbst gebackenen Kuchen, während wir uns verliebt in die Augen schauten. „Komm, lass uns losfahren“, stand Fintan plötzlich auf. „Wohin willst du?“, fragte ich ihn erstaunt. „Lass dich überraschen“, lächelte er mich verführerisch an und gab mir einen Kuss. Wir setzten uns in sein Auto.

 

Langsam fuhr er vom Hof, bog auf eine Schnellstraße ab und fuhr von dort aus auf einen Highway drauf. „Ich wäre ja nicht Fintan Oliver Bentley, wenn ich nicht die originellsten Ideen hätte“, sagte er, während er einen langsamen Lastwagen überholte. Bei dem Gedanken, dass ich nicht wusste, wohin die Reise führte, hatte ich doch ein merkwürdiges Gefühl im Bauch. Draußen begann es wieder heftig zu regnen, sodass das Wasser während der Fahrt an die Fenster spritzte. „Wo willst du bei diesem Mistwetter mit mir hin?“, fragte ich ihn eindringlich. „An einen ganz besonderen Ort, der heute für uns beide perfekt ist“, tat er mal wieder total geheimnisvoll und nahm die nächste Ausfahrt.

 

Noch immer fragte ich mich, wo er auf einmal mit mir hin wollte. Wir fuhren an Bauernhöfen und kleinen Dörfern vorbei. Immer wieder goss es aus Kübeln und meine Lust auf den Ausflug sank von Minute zu Minute. Wahrscheinlich würden wir eh klitschnass werden. Gelangweilt schaute ich auf mein Handy, ob mir Greta, Oli oder Fiona schon auf meine Nachrichten geantwortet hatten. „Gleich sind wir da!“, beruhigte er mich. Wo waren wir hier gelandet? Nun war die Straße ganz schmal, rings herum nur grüne Wiesen und ab zu eine alte Mauer aus Steinen. Kurz darauf kaum ein Parkplatz, wo Fintan den Wagen abstellte. „Cliffs of Moher“, las ich auf einem Schild. „Warum hast du mir nichts gesagt?“, stieß ich ihn an. „Sonst wäre es keine Überraschung mehr gewesen“, erwiderte er und nahm meine Hand.

 

Hand in Hand gingen wir einen steinigen Pfad entlang. Ringsherum war alles grün. Irland nannte man auch die grüne Insel und nun war mir klar warum. Hinter einem Zaun entdeckten wir eine Herde Schafe. Immer noch war der Himmel von Wolken verhangen und es nieselte leicht. „Ist es den Schafen nicht zu kalt hier?“, machte ich ein skeptisches Gesicht. „Ach was, Schafe können viel vertragen“, meinte Fintan, „Unsere Schafe verbringen auch fast das ganze Jahr draußen. Nur die Lämmer müssen einige Wochen im Stall bleiben, weil sie sonst zu schnell auskühlen“ Je weiter wir kamen, umso lauter wurde das Rauschen des Meeres. Hier war die Luft besonders salzig und roch nach frischem Meerestang. Über uns kreischten unzählige Möwen und andere Seevögel. Bald kamen wir zu einem Aussichtspunkt, wo wir von einem Klippenkamm eine sehr gute Sicht auf das Meer und die weiteren Klippen hatten.

 

Ein starker Wind blies uns ins Gesicht und rüttelte an unseren Jacken. Wenige Meter vor uns ging es viele Meter in die Tiefe. Mit einem unüberhörbaren Rauschen brachen sich die Wellen an den Klippen und traten den Rückzug ins Meer an, bevor sie von der nächsten Woge überrollt wurden. „Lass uns ein Selfie machen“, holte er sein IPhone aus seiner Jackentasche und streckte seinen Arm aus. Er machte mehrere Fotos von uns und der Umgebung. „Endlich habe ich ein neues Profilbild“, strahlte er und im nächsten Moment küssten wir uns leidenschaftlich. Für einen kurzen Augenblick brach die Sonne durch die Wolken und spiegelte sich auf der unruhigen See. Wir setzten uns auf einen mittelgroßen Findling und schlossen die Augen, um das Meeresrauschen und das Geschrei der Vögel deutlicher wahrnehmen zu können.

 

„Ich glaube, wir sollten uns auf den Rückweg machen, in spätestens zwei Stunden wird es dunkel sein“, blies Fintan zum Aufbruch. „Danke, für den wundervollen Nachmittag“, lächelte ich und war so glücklich, wie seit langem nicht mehr. Nun wurde mir bewusst, wie sehr er mir letztes Jahr und zuvor gefehlt hatte. Es war mehr als anderthalb Jahre, dass unsere Beziehung wegen Lucien in die Brüche gegangen waren. Nun hatten wir uns endlich wieder und konnten einen unbeschwerten Neustart wagen. Inzwischen war viel Gras über die alten Narben gewachsen. Kaum waren wir wieder im Auto, fing es wieder kräftig an zu regnen. Ich lehnte mich zurück und döste ein bisschen. Wenig später rüttelte Fintan sanft an meiner Schulter. „Nächster Zwischenhalt“, weckte er mich.

 

Nun standen wir auf dem Parkplatz einer alten Ruine. „Aussteigen, meine Liebe!“, öffnete er mir die Tür. Inzwischen hatte es leicht zu dämmern begonnen. Durch das halbhohe Gras wateten wir auf eine keltische Kathedrale zu, die von außen halb verfallen aussah. Ein gelbes Schild über unseren Köpfen warnte davor, dass das Betreten auf eigene Gefahr sei. Nachdem wir über ein paar Steinberge geklettert waren, standen wir in einer kleinen Halle mit winzigen Fenstern. „Hier ist es aber duster“, stellte ich fest. „Macht nichts, wir wollen uns nicht stundenlang hier aufhalten“, mein Freund und holte eine kleine dunkelblaue Schachtel aus dem Rucksack. Eine silberne Kette mit einem halben Sonnenanhänger aus Silber und Gold kam zum Vorschein.

 

„Wow, ist die schön!“, leuchteten meine Augen. „Ich wusste, sie gefällt dir. Ich trage die andere Hälfte bereits um den Hals“, lächelte er zufrieden, „Warte, ich mach sie dir eben um“ Wir hielten die Anhänger unserer Ketten zusammen, sodass es eine ganze Sonne ergab. „Wo hast du die Ketten gekauft?“, wollte ich wissen. „Die habe ich nicht gekauft, sondern im Internet bestellt“, erwiderte er, „Das soll übrigens eine Inkasonne sein“ „Vielen Dank, du bist einfach der Beste!“, fiel ich ihm um den Hals und gab ihm einen Kuss. „Kein Ding, ich bin einfach nur happy, dass wir nach genau nach genau 21 Monaten wieder zusammen sind“, strahlte er und hob mich ein Stück hoch. „Ich liebe dich!“, flüsterte ich und knabberte an seinem Ohr rum. „Ich dich auch, Mäuschen!“, wisperte er und setzte mich wieder sanft auf dem Boden ab.

 

Zuhause angekommen, mussten wir uns erstmal um Donnie und den Haushalt kümmern. „Was wollen wir uns zu Essen machen?“, sah sich Fintan in der Küche um. „Wir können mal in der Tiefkühltruhe nachschauen“, schlug ich vor. „Von mir aus, ich brauche dringend etwas zwischen die Kiemen, sonst verhungere ich auf der Stelle“, folgte er mir in den Nebenraum, wo die Tiefkühltruhe stand. Immerhin fanden wir eine Packung Lasagne. „Her damit!“, forderte mein Freund. „Das ist eine 800g-Packung, das schaffen wir niemals“, machte ich ein skeptisches Gesicht. „Kein Ding, ich schaffe das notfalls auch alleine“, lachte Fintan und nahm mir die Packung aus der Hand. Während die Lasagne im Hof schmorte, schnitten wir einen kleinen Salatkopf, eine Gurke und zwei Paprika klein. Etwas Gesundes dazu musste einfach sein. Zum Nachtisch kochten wir einen einfachen Vanillepudding aus der Tüte. „Langsam könnte die Lasagne fertig sein“, ließ Fintan die Küchenuhr nicht aus dem Auge.

 

„Ich kenn dich, du wirst zum Raubtier, wenn du Hunger hast“, stieß ich ihn neckend an. „Klar, ich bin dann richtig ungenießbar“, murmelte er und zog sich schon mal die Küchenhandschuhe an, um in einer Minute die Lasagne aus dem Ofen zu holen. Endlich war das Essen auf dem Tisch. „Man, hatte ich einen Kohldampf!“, schob sich mein Freund das erste Stück in den Mund. „Vor allem werden wir zu den schnellsten Essern der Welt“, musste ich grinsen, weil Fintan sich gerade ein riesiges Stück auf einmal verschlang. „Ich sag doch, wandern macht hungrig“, sagte er, während er sich das nächste Stück abschnitt. „Wir müssen noch auf den Abend anstoßen“, rief ich und sprang auf. Kurz darauf kam ich mit einer Flasche Zitronenlimonade wieder. Ich goss uns beiden etwas davon ein und hob mein Glas. „Auf eine lange Beziehung!“, prosteten wir uns zu und hatten mit einem Zug unsere Gläser geleert. „Schaffen wir wirklich die ganze Lasagne?“, schaute ich meinen Freund mit einem herausfordernden Blick an. „Kein Problem!“, nahm er mit einem Nicken die Herausforderung an und teilte den Rest in zwei Stücke.

 

Nachdem wir noch den Nachtisch mit Ach und Krach aufbekommen, machten wir uns auf dem Sofa vor dem Kamin bequem, den wir zuerst noch anheizen mussten. „Meine Güte bin ich voll!“, ließ ich mich auf die Couch plumpsen. „Aber das tat gut! Ich hatte zuvor noch nicht viel gegessen, bis auf zwei Scheiben Brot zum Frühstück“, meinte er und nahm sich noch einen Karamellbonbon aus der Schale, die vor unserer Nase stand. „Pass auf, dass du nicht zu viel Süßkram futterst, sonst wirst du so rund, dass ich dich rollen muss“, neckte ich ihn. „Ich und dick werden? Ich müsste erst eine LKW-Ladung Schokolade und Bonbons verdrücken, um überhaupt etwas anzusetzen“, erwiderte er und konnte sich ein Grinsen nicht unterdrücken. Bevor Langweile aufkommen konnte, warfen wir eine DVD vom letzten James Bond Film ein. Um es gemütlicher zu machen, zündete ich ein paar Teelichter und die Kerzen vom Adventskranz an. „Wunderbar!“, lächelte ich und schmiegte mich an seinen athletischen Oberkörper.

 

Nachdem der Film zuende war, saßen wir noch lange vor dem offenen Feuer und redete über unsere Zukunftspläne im nächsten Jahr. Ich musste mir eingestehen, dass ich noch nicht wusste, was ich studieren wollte. Sicher war, dass ich in den kommenden Jahren an mehreren größeren Springturnieren teilnehmen wollte. Als es auf Mitternacht zuging, redeten wir kaum noch und kuschelten uns eng aneinander. Fintan zog sich fast ganz aus, sodass er nur noch eine Shorts anhatte und ich trug auch nur noch meine Unterwäsche. Im Hintergrund tickte Dads alte Pendeluhr, die er letztens von Grandma geerbt hatte.

 

„Ich liebe dich über alles, Schatz!“, zog er mich zu sich hin, sodass ich direkt auf seinem nackten Oberkörper lag. Das Kaminfeuer spiegelte sich in seinen Augen. Mit meinem Zeigefinger fuhr ich ihm über Brust und Bauch. Ich liebte ihn gerade noch viel mehr, als vor über zwei Jahren. Nun waren wir viel erwachsener und erfahrener als damals. „Nie wieder gebe ich ihn wieder her!“, dachte ich bei mir und deckte uns beide mit einer Wolldecke zu. Nach und nach schliefen wir beide nebeneinander ein. Es war kurz nach halb drei, als ich kurz aufwachte. Fintan lag ruhig neben mir und atmete fast geräuschlos ein und aus. Seicht streichelte ich über seinen Haarschopf. Anscheinend registrierte er meine Berührung nicht und schlief seelenruhig weiter.

 

13. Kapitel

 

So schnell, wie unsere Ferien gekommen waren, so schnell vergingen sie wieder. In unserem Internat kehrte nach knapp drei Wochen wieder Leben ein. Endlich summte es wieder im Bienenstock. Fiona, war die erste, auf die ich traf. Sie war anscheinend kurz vor mir an Land gekommen. Rege tauschten wir uns über die Weihnachtsferien aus. „Du hast mit Fintan Silvester gefeiert?“, fragte mich meine Freundin neugierig. „Klar, wir waren mit drei Freunden von ihm im Pub und haben uns um Mitternacht das öffentliche Feuerwerk angeschaut“, erzählte ich. „Cool, ich hätte mir zu sehr gewünscht, dass ich mit Shane zusammen gefeiert hätte. Leider war ich zuhause in England bei Dad und bei meiner Tante, die zusammen mit meinen Cousins eine Feier organisiert hat“, seufzte Fiona, „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich Shane vermisst habe. Wenigstens haben wir täglich telefoniert und an manchen Tagen stundenlang geskypt“

 

„Wollen wir uns nicht ein wenig beeilen, bestimmt sitzen unsere Freunde im Gemeinschaftsraum beim Nachmittagstee“ „Einen kleinen Moment noch, ich muss eben noch mein Bett beziehen“, krabbelte sie in ihren dunkelblauen Bettbezug mit unserem Internatsenblem. „Du siehst aus wie ein Gespenst!“, kicherte ich. „Aber ein blaues Gespenst!“, vernahm ich ihre Stimme gedämpft. „Ja, du bist ganz schön blau“, flachste ich weiter, „Hast du zu tief ins Glas geschaut?“ „Haha, manchmal kannst du so witzig sein“, mühte sich meine Freundin weiterhin mit ihrer Bettwäsche ab. Das Bettenbeziehen und das Einräumen unserer Sachen war immer der unangenehmste Teil der Ankunft. „Soll ich dir helfen?“, bot ich Fiona an. Ich konnte mir nicht länger ansehen, wie beim Beziehen ihrer Decke verzweifelte. „Danke, das wäre echt lieb von dir, sonst meckert nachher die Hausmutter, wie unordentlich mein Bett aussieht“, erwiderte Fiona erleichtert.

 

Wir waren die letzten, die im Gemeinschaftsraum auftauchten. Zum Glück hatten Fintan und Shane uns Plätze an ihrem Tisch freigehalten. „Hi, hat das Bettenbeziehen bei euch so lange gedauert?“, sah uns Shane stirnrunzelnd an. „Du hättest uns ja ruhig helfen können“, klang Fiona leicht vorwurfsvoll. „Du hättest mir doch wenigstens eine Nachricht schicken können“, erwiderte ihr Freund und knuffte sie leicht in die Seite. „Wie waren eigentlich eure Ferien?“, fragte Alex in die Runde. „Wir haben drei Tage nach Heilig Abend meinen Onkel beerdigen müssen, dieser hatte sich eine Seebestattung gewünscht und wir sind in der Abenddämmerung auf die See hinaus gefahren und haben seine Urne in der Nordsee versenkt“, erzählte Freddy. „Oh je, das war sicher nicht so toll“, machte Fiona ein einfühlsames Gesicht.

 

„Gewiss nicht, ich war in der ersten Ferienwoche noch sehr traurig. Schließlich war mein Onkel derjenige, bei dem ich mehr als zwölf Jahre Reitstunden hatte“, seufzte Freddy und seine hellblauen Augen wurden einen Tick dunkler. „Ich habe meine Ferien in der Normandie mit meiner ganzen Familie verbracht. Mein Onkel und meine Tante haben dort einige riesige Villa und wir haben dort mit knapp zwanzig Personen fünf Tage verbracht“, berichtete Amandine. „War Mme Noire auch da?“, wollte Oli wissen. „Aber natürlich, sie gehört doch zu unserer Familie“, erwiderte die Französin, als wäre das das Selbstverständlichste dieser Welt. „Ich war während der ganzen Zeit nur in unserem Haus in Südschweden“, begann Oli zu erzählen, „Meine Oma ist zur Zeit krank und meine Mutter muss sich um sie kümmern. Wenigstens kamen an Silvester zwei alte Freundinnen von mir und drei meiner Cousins, sodass wir eine kleine Party feiern konnten“

 

„Wisst ihr, dass Finn und ich unsere Autos auf dem Internatsgelände parken dürfen?“, riss Shane ein neues Gesprächsthema an. „Wirklich? Ich glaube, ich platze vor Neid!“, rief Oli. „Eigentlich darf man das nicht“, warf ich ein. „Bei uns hat man eine Ausnahme gemacht“, meinte Fintan. „Das hat aber den Sinn, dass wir seit Anfang des Jahres bei einem Erstligaaufsteiger unter Vertrag stehen und die Trainingseinheiten nur mit dem Auto erreichen können“, klärte Shane sie auf. „Vielleicht könnt ihr uns ab und zu mit den Autos in die Stadt bringen“, war ich begeistert.

 

„Mr. Scott hat uns ausführlich gesagt, dass wir die Autos nur für unsere Trainingsfahrten verwenden dürfen“, machte Fintan meine Hoffnungen zunichte. „Aber es fällt doch nicht auf, wenn ihr uns manchmal hin und her kutschiert“, versuchte Oli die beiden Jungs zu überzeugen. „Wenn wir für euch mal den Chauffeur spielen, ist das okay“, meinte Shane, „Aber nicht dauerhaft, das würde irgendwann den Lehrern auffallen“ „Cool, ihr spielt im richtigen Profibetrieb?“, klang Freddy beeindruckt. „Na klar, so talentiert wie Shane und Finn sind, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie vom Talentscout aufgegabelt werden“, äußerte sich Alex dazu.

 

Oli nutzte kurz nach dem Abendessen die Gelegenheit dazu ihre mitgebrachten Weihnachtskekse unter die Leute zu bringen und holte eine runde Dose aus ihrer Umhängetasche. „Cookies!“, bekam Greta ganz runde Augen und langte als Erste zu. „Hurra, du hast wieder gebacken!“, freute sich Lars und nahm sich lediglich einen Dominostein. Auch ich konnte dem Anblick der Lebkuchen mit dunkler Schokolade nicht widerstehen und nahm mir gleich zwei davon. „Wenn wir so weiter futtern, werden wir uns noch ordentlich mästen“, meinte Jenny kauend. „Dann fress nicht so viel!“, stieß ihre Cousine sie an. „Schmecken tut es schon mal fantastisch, Oli! Tres bien!“, kaute Amandine genüsslich.

 

„Hey, lasst ihr uns noch was übrig! Ihr habt mindestens noch vier weitere Keksinteressenten“, rief Shane, der mit Fintan, Alex und Ivan zu unserem Tisch eilte. „Langt nur zu, Jungs!“, schob ihnen Oli die Keksdose hin. Obwohl wir gerade gegessen hatten, fingen die vier Jungs an sich mit dem Süßkram voll zu stopfen. „Wolltest du nicht ursprünglich zwei Kilo abnehmen, um wieder fit zu werden?“, zog ich Fintan auf, der sich gerade ein Spritzgebäck und einen Dominostein gleichzeitig in den Mund stopfte. „Es freut mich, dass es schmeckt!“, lächelte Oli zuckersüß. „Wenigstens mästen sich gerade unsere Jungs und nicht wir. Aber trotzdem könntest du in Zukunft öfters backen“, fügte Rosy hinzu, die nur einen Zimtstern probiert hatte. „Ich muss zugeben, dass meine Mutter die Kekse gebacken hat und nicht ich“, gab Oli zu. „Dann werden wir sie hier als Bäckerin anstellen“, schlug Fiona vor.

 

„Emily, meine Mission Sport und Abnehmen beginnt schon heute Abend“, meldete sich Fintan zu Wort, als er wieder den Mund frei hatte, „Ich gehe gleich in den Fitnesskeller. Kommst du mit?“ „Von mir aus gerne!“, nickte ich. Eigentlich war ich nicht der Typ für das Fitnessstudio, aber nach drei Wochen fast ohne Sport und stattdessen mit viel gutem Essen, hatte ich doch leichte Gewissensbisse. Garantiert hatte ich etwas zugenommen, was ich an meinen enger werdenden Hosen merkte, aber auf die Waage traute ich mich lange nicht mehr. „Wollt ihr wirklich ins Fitnessstudio?“, sah uns Alex mit großen Augen an, „Wir wollten eigentlich hier einen Videoabend im Gemeinschaftsraum planen“ „Was hättet ihr zur Auswahl?“, fragte ich neugierig. Unsere Freunde nannten vier Vorschläge. „Ich kenne diese Filme schon in und auswendig“, meinte Fintan, „Daher habe ich keinen Bedarf“

 

Eine Stunde später traf ich mich mit meinem Freund im Fitnessraum im Keller, der zwischen den beiden Räumen mit den Waschmaschinen lag. „Ich bin bestimmt einen Monat nicht mehr gejoggt“, war ich schon nach zehn Minuten auf dem Laufband fast aus der Puste. Ich setzte mich auf eine Holzbank und sah Fintan dabei zu, wie er sich an den Geräten abmühte. „Wusstest du, dass mein Grandpa aus Schottland seit Weihnachten im Krankenhaus liegt?“, begann er zu erzählen. „Ja, du hast es einmal kurz erwähnt“, nickte ich. „Seit kurzem wissen die Ärzte, dass er Krebs hat und zwar im fortgeschrittenen Stadium. Er soll demnächst nach London verlegt werden, weil dort es dort eine Klinik gibt, die sich auf Krebs spezialisiert hat“, fuhr er fort und hielt inne, „Die Ärzte geben ihm nur noch wenige Wochen oder maximal drei Monate. Ich habe arge Bedenken, dass er die Chemo- und Strahlentherapie nicht gut übersteht“

 

„Oh Gott, das tut mir richtig leid für dich!“, setzte ich mich neben ihm und nahm seine Hand. Ich sah ihm an, was für eine große Angst er um seinen Opa hatte. „Ich weiß, dass ich ihn verlieren werde“, musste Fintan schlucken. Ich befürchtete, dass ihm gleich die Tränen kamen, wenn wir nicht das Thema wechselten. „Hast du vor in diesem Jahr bei einem Reitwettkampf zu starten?“, fragte ich. „Nein, ich werde mich ab jetzt ganz auf den Fußball konzentrieren“, verneinte er und fügte hinzu, „Vorgestern hatten Shane und ich das erste Training mit unserer neuen Mannschaft. Es war echt cool. Einige unserer Teamkollegen sind richtige Spaßvögel und der Trainer ist echt klasse“

 

Gleich in der ersten Französischstunde nahm uns Madame Noire richtig ran. „Shane, kannst du uns bitte deinen Text vorlesen?“, fragte sie. „Welchen Text bitteschön?“, erwiderte Shane total perplex. „Hast du nicht mitbekommen, dass ihr über die Ferien eine Inhaltsangabe von der Lektüre anfertigen solltet?“, runzelte unsere Französischlehrerin die Stirn und fragte in die Klasse, wer die Aufgabe auch nicht gemacht hatte. Sofort meldeten sich fünf weitere Schüler, darunter auch Oli und Fiona. „Ihr seid euch bewusst, dass ihr dieses Jahr das Examen absolvieren werdet. Ich finde es ganz schön schwach, dass ein Großteil von euch während der Ferien nichts gemacht hat. Wie wollt ihr die Prüfung in fünf Monaten bestehen, wenn ihr nicht bereit seid, mehr zu leisten als ihr müsst?“, hielt sie uns einen Vortrag.

 

Mit einem betroffenen Schweigen sahen wir uns an. „Emily, anscheinend hast du die Aufgabe gemacht. Könnte ich bitte hören, was du geschrieben hast?“, wandte sie sich an mich. Ich räusperte mich und fing an zu lesen, nachdem meine Klassenkameraden ihre Privatgespräche eingestellt hatten. „Nicht schlecht!“, meinte Madame Noire, „Bis auf ein paar kleine Grammatikfehler und ein paar Aussprachefehler war es gut“ „Da ich gesehen habe, dass ihr anscheinend nicht besonders fleißig ward während der freien Tage, schlage ich vor, dass ihr euch für Freitag auf eine kleine Lernstandkontrolle vorbereitet“, teilte unsere Lehrerin einen großen Stapel Papiere aus, von dem sich jeder drei Blätter nehmen musste.

 

„Es gibt manchmal Momente, in denen ich diese Frau hasse!“, flüsterte mir Oli ins Ohr. „Nicht nur du!“, nickte ich bestätigend. „Ich kann euch dabei helfen“, bot uns Amandine kameradschaftlich an. „Damit es jeder weiß, ihr macht die Aufgaben alleine machen müsst und meine Nichte wird euch dabei nicht helfen, sie kann das eh schon“, sah Madame uns streng an. „Madame, könnten Sie die Lernkontrolle auf Montag verschieben? Ein paar von uns müssen noch für Chemie an einem Projekt arbeiten“, zeigte Alex auf. „Von mir aus, aber dann keinen Tag später“, willigte sie ein, „Aber ich fordere von jedem Einzelnen eine gute Vorbereitung“ „Man Alex, du bist ein Held!“, gab ihm Fintan einen Highfive. Wenigstens hatten wir nun ein paar Tage mehr Zeit und mussten nicht bis Freitag den ganzen Stoff in uns hinein pauken.

 

Am Freitagnachmittag verabredete ich mich mit Alex und Oli zum Ausritt. Endlich wollten wir die neue Springstrecke im Wald ausprobieren, wozu wir noch nicht gekommen waren. „Kommst du auch mit?“, wollte ich von Fintan wissen. „Muss ich das?“, grummelte er, während er mit einem Buch auf seinem Bett saß. „Komm schon, das wird bestimmt lustig, wenn wir den Waldparcour reiten!“, versuchte ich ihn zu locken. „Ne, ich bin müde, sucht euch einen anderen Mitreiter!“, verschanzte er sich noch mehr hinter seinem Roman. „Finn, keine Ausrede! Du kommst mit!“, kitzelte ihn Alex an den Füßen. Reflexartig zog Fintan seinen Fuß weg, doch sein Kumpel ließ nicht locker. „Na gut, ich komme mit. Ihr müsst einen Moment warten, bis ich umgezogen bin“, setzte er sich aufrecht hin.

 

„Okay, wir sind schon mal im Stall“, schloss Oli die Tür hinter uns. Zu dritt gingen wir in den Stall, um unsere Pferde zu satteln. „Ich frage mich, wieso Finn keine Lust mehr hat zu reiten?“, wunderte sich Oli. „Anscheinend konzentriert er sich ganz und ausschließlich auf den Fußball“, konnte ihr die Antwort geben. „Ach ja, er und Shane haben einen Vertrag bei diesem Proficlub unterschrieben“, fiel Alex ein. „Stimmt, sie fahren fast jeden Nachmittag zu Training“, nickte ich und widmete mich Donnie, der mich freudig begrüßte. Offenbar wusste er bescheid, dass eine Bewegungseinheit auf ihn wartete. Er folgte mir automatisch, als ich ihn zum Putzen aus der Box holte. Leise summend begann ich sein Fell zu striegeln. Wie ich das Reiten und die Gesellschaft liebte! Es war ein perfekter Ausgleich zum stressigen Internatsalltag. „Es ist schon krass, wie viel sie trainieren müssen, damit aus ihnen einmal Profis werden“, sagte Alex, während er Moonlight die Hufe auskratzte.

 

„Hier bin ich schon!“, tauchte Fintan in Reitkleidung im Stallgang auf. „Das ging aber schnell!“, staunte Oli. „Klar, ich bin doch kein Mädchen!“, erwiderte er neckisch und nahm Felicitas an den Führstrick. „Ist schon jemand den Waldparcour geritten?“, fragte ich meine Freunde. „Nur einmal, aber das war an einem Novembertag mit Rosy und Greta“, nickte Oli. „Was haltet ihr von einem Wettrennen?“, forderte uns Alex heraus. „Angenommen!“, klatschte ich bei ihm ein. „Von mir aus, aber Felicitas ist kein Springpferd und ich kein Springreiter, dennoch nehme ich die Herausforderung an“, meinte Fintan. „Kannst du überhaupt springen?“, fragte Oli ihn. „Ja, ich hatte mal zwei Jahre Springstunden, aber mich haben vornherein Pferderennen mehr angesprochen“, erwiderte er und zog den Sattelgurt fest. „Yeah, gleich geht es los!“, sprühte Oli vor Vorfreude, während sie die Steigbügel auf die richtige Länge einstellte.

 

Nach einer Viertelstunde ritten wir hintereinander vom Internatsgelände runter. Die Hufe klapperten gleichmäßig auf dem Asphalt. Irgendwo in der Nähe bellte ein Hund. Felicitas riss ruckartig den Kopf nach oben, sodass Fintan fast die Zügel verlor. „Ganz ruhig, mein Mädchen!“, redete er beruhigend auf die Araberstute ein. „Ist Felicitas immer noch so schreckhaft?“, sah Oli ein bisschen skeptisch aus. „Es geht eigentlich“, meinte Fintan, „Es war schon deutlich schlimmer“ Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie sein Pferd vor fast drei Jahren hier im Wald durchgegangen war und er stürzte. Oli und ich hatten ihn damals verletzt aufgefunden. „Wir müssen jetzt den kleinen Pfad nach rechts einschlagen“, navigierte uns Oli, die den Weg kannte.

 

Nun tat sich vor unseren Augen der Waldparcour auf, dessen Hindernisse aus Wassergräben, Baumstämmen und Hecken bestand. Alex gab das Startsignal, während wir trabten. Sofort trieben wir unsere Pferde in einen atemberaubend schnellen Galopp. Bis zum ersten Baumstamm lagen Fintan und Felicitas in Führung. Ihnen war anzumerken, dass sie auf Pferderennen spezialisiert waren. Allerdings konnten wir sie an den Hindernissen rasch einholen und schließlich überholen. Es wurde deutlich, dass Fintan kein Springreiter war. Einmal beobachtete ich ihn, wie er sprang. Besonders professionell sah es nicht aus und bei einem Turnier hätte er sehr viel Punktabzug für seine Haltung bekommen.

 

„Donnie, come on!“, trieb ich meinen Fuchswallach an. Donnie schien meine Worte erhört zu haben und reagierte sofort auf meine Schenkelhilfen. Wir zogen problemlos an den anderen Reitern vorbei und flogen über dutzende Baumstämme und halbhohe Hecken. Donnie und ich waren im Rausch und sahen die Landschaft an zu vorbei rasen. Ich konzentrierte mich nur auf die kommenden Hindernisse. Ein kleiner Augenblick Unaufmerksamkeit konnte fatale Auswirkungen haben. Mir traten durch den Wind Tränen in die Augen und sog die feuchte Luft, die nach Erde roch, tief in meine Lungen ein. Es gab nichts Besseres als hier mit den Pferden draußen zu sein und um die Wette zu galoppieren, sodass der Adrenalinpegel von ganz alleine in die Höhe schnellte. Vor uns lag nun ein breiter Wassergraben. Vorsichtshalber nahm ich etwas Tempo raus, damit er die richtige Schrittfolge einhielt.

 

Mit einem gewaltigen Sprung katapultierte Donnie uns über den Graben mit dem braunen Regenwasser, der hätte auch doppelt so breit sein können. „Gleich haben wir dich!“, hörte ich Alex hinter mir rufen. „Komm,  Donnie, wir lassen uns nicht schlagen!“, raunte ich meinem Pferd zu. Nach anderthalb Kilometer endete die Strecke an einem Heckenbogen. „Gewonnen!“, rief ich triumphierend und ballte meine Hand zu einer Faust. Yeah, ich hatte sie alle abgeschüttelt! Nur wenige Sekunden kam Alex noch kurz vor Oli ins Ziel, die ihre Pferde zum Schritt durchparierten. Weitabschlagen gelangte Fintan deutlich nach uns ins Ziel. „Ich hätte gedacht, Feli wäre ein Rennpferd“, zog Alex ihn auf. „Ein Rennpferd ja, aber kein Springpferd“, konterte er, „Sie hat gerade vor zwei Hecken gescheut und einmal hätte sie mich beinahe abgeworfen“

 

„In Prinzip könnten wir die gleiche Strecke noch einmal zurück reiten“, liebäugelte Oli mit einer Revanche. „Nein danke, das war gerade für uns ziemlich anstrengend“, lehnte Fintan ab, „Wisst ihr, wie lange ich nicht mehr gesprungen bin? Das müsste vier oder fünf Jahre her sein“ „Na gut, dann eben nicht“, seufzte Oli. „Ich bin dafür, dass wir wieder gemütlich in Richtung Heimat reiten“, gab ich die Richtung vor. „Dem kann ich nur zustimmen, ich muss in zwei Stunden mit Shane zum Training fahren“, pflichtete mir Fintan bei. „Hach, war das schön!“, schwärmte Oli, „Endlich ein Ritt mit viel Action“ „Genau, draußen reiten ist viel schöner“, stimmte ihr Alex zu, „Leider fangen wir offiziell im März an wieder draußen zu trainieren, was ich bisschen schade finde“

 

Wir kamen noch gerade pünktlich zur Teatime. „Ihr habt Glück gehabt, es ist noch Kuchen da“, empfing uns Greta, die uns vier Plätze freigehalten hat. „Super, es gibt frisch gebackenen Kuchen“, leckte ich mir die Lippen. „Oh Schande, ich muss mich beeilen“, stopfte sich Fintan schnell ein Stück Kuchen rein und leerte seine Tasse Tee in weniger als fünf Minuten. „Hast du dir ordentlich die Zunge verbrannt?“, neckte ich ihn. „Ach was, das war gar nicht mehr so heiß“, meinte er nur und verschwand kurz darauf. „Was habt ihr gerade gemacht?“, fragte Amandine interessiert. „Wir sind die Springstrecke im Wald geritten“, erwiderte ich.

 

„Cool, wir wollten wohl gleich auch noch in der Halle reiten“, erwiderte meine französische Freundin. „Cool, mit wem denn?“, hakte ich nach. „Rosy, Lucy und Sandrina wollen wohl mitkommen. Hättest du auch Lust?“, fragte sie. „Nein, ich bin schon genug geritten“, schüttelte ich den Kopf, „Aber zugucken tue ich euch gerne. Ab wann reitet ihr?“ „Das freut mich, wir sind ab halb sechs in der Reithalle“, sagte Amandine. Zusammen räumten wir das Geschirr auf den Geschirrwagen. „Tschüss!“, verabschiedete ich mich und verließ den Gemeinschaftsraum. Auf der Treppe huschten Fintan und Shane an mir vorbei, die beide ihre Trainingsanzüge anhatten und Mützen trugen, schließlich war es nicht besonders warm.

14. Kapitel

 

An einem grauen verregneten Februartag schlenderte ich mit meiner Sporttasche auf der Schulter durch die schuleigene Parkanlage. Ich war auf dem Weg von der Sporthalle, wo ich gerade Hockeytraining hatte, zu unserem Wohnhaus. Da es nasskalt war, wollte ich schnell ins Warme gelangen. Von weitem entdeckte ich eine Person, die mit dem Oberkörper nach vorne gebeugt, auf einer Bank saß. Als ich näher kam, sah ich, dass es Fintan war. Was machte er bloß bei diesem Wetter hier draußen. „Fintan!“, blieb ich vor ihm stehen. Nur langsam hob er seinen Kopf, sodass ich einen Blick in seine leeren grünen Augen werfen konnte. Irgendwas stimmte mit ihm nicht, er war ganz blass im Gesicht und mich beunruhigte es, dass er mich anschwieg. „Sag mal, was ist los? Du siehst so fertig aus“, setzte ich mich neben ihn und legte meinen Arm um ihn.

 

„Gestern ist Grandpa gestorben“, sagte er tonlos. „Oh je, das tut mir sehr leid für dich. Mein herzliches Beileid!“, tröstete ich ihn. Tränen stiegen ihn in die Augen, die er trotzig wegblinzelte. „Die Ärzte wussten vornherein, dass er es nicht schaffen wird“, seufzte er mit schwerer Stimme und war am fast am weinen. Irgendwie fühlte ich mich ein bisschen hilflos und wusste nicht, was ich tun wollte, damit es, damit es ihm besser ging. Wieder fing es an zu nieseln. Fintan igelte sich in seiner dicken Daunenjacke ein und setzte sich die Kapuze auf. „In zwei Tagen darf ich für die Junioren-Nationalmannschaft debütieren“, sagte er leise, „Aber ich werde antreten, Grandpa wäre stolz auf mich, auch wenn ich nicht für Schottland spiele“ „Tue das, das hätte er bestimmt gewollt“, nahm ich ihn in den Arm. Eine Weile saßen wir eng umschlungen auf der Bank. „Mom kommt gleich und holt mich ab“, sah er auf.

 

Schnell half ich ihm die nötigsten Sachen zusammen zu packen. Gerade als wir mit unseren Gepäckstücken aus der Tür kam, wartete seine Mutter auf uns. „Hallo Emily“, grüßte sie mich mit matter Stimme und reichte mir die Hand. Anhand ihrer roten verquollenen Augen war zu sehen, dass sie gerade geweint hatte. Fintan nahm sie wortlos in den Arm. „Ich wollte es dir nicht gestern sagen, weil ich wusste, dass ihr heute eine wichtige Matheklausur schreibt“, sagte seine Mom im weinerlichen Tonfall. „Mom, bitte nicht weinen, sonst fange ich gleich auch ein“, meinte Fintan und wandte sich mir zu. „Vielen Dank, dass du bei mir warst, Engel! Ich schreibe dir heute Abend“, drückte er mich an sich und gab mir einen Kuss.

 

„Klar und ich komme übermorgen mit Oli und Fiona zum Spiel“, versprach ich ihm und verabschiedete mich, bevor sie mit traurigen Gesichtern ins Auto stiegen. Ich wünschte ihnen viel Kraft für kommende Tage. Geknickt ging ich wieder zum Wohnhaus, wo mir gerade Shane und Fiona Hand in Hand entgegen kamen. „Hast du Fintan gesehen?“, fragte mich Shane als allererstes. „Ja, er wurde gerade von seiner Mutter abgeholt“, antwortete ich, „Sein Großvater ist gestern an Krebs gestorben“ „Ach du liebes bisschen, das tut mir echt leid“, sah Fiona mich schockiert an. „Wird er dann auch spielen?“, hakte Shane nach. „Klar, er hat zu mir gemeint, dass er übermorgen auflaufen wird“, erwiderte ich. „Gut, das finde ich klasse“, nickte er, „Fintan ist ein waschechtes Talent, der es verdient hat für unsere Mannschaft zu spielen“

 

„Stimmt, ihr habt es beide verdient“, pflichtete ich ihm bei, „Ihr seid gerade mit Abstand die besten Spieler unseres Internats und in der ganzen Umgebung“ „Nun übertreib mal nicht!“, lachte Shane, „Es gibt von den anderen Collages weitere sehr gute Spieler. Wir hatten nur Glück, dass uns ein Talentcoach auf der Rechnung hatte, der einen guten Draht zum Trainer der Junioren-Nationalmannschaft hat“ „Shane, wir wollen doch nach den Pferden gucken. Hast du das vergessen?“, zog ihn Fiona an der Hand. Ich verabschiedete mich von ihnen und ging ins Haus. Herrlich warm war es hier drinnen! Fast hatte ich das Gefühl, dass ich zum Eiszapfen mutiert war, der gerade am auftauen war.

 

Während des Abendessens sprach ich kaum ein Wort. Seit vorhin war ich total nachdenklich. Wie mochte es Fintan nun gehen? Ich mochte es nicht, ihn wütend oder traurig zu sehen und schon gar nicht den Tränen nah. Unter dem Tisch checkte ich meine Nachrichten. Weder auf WhatsApp noch auf Facebook hatte er mir geantwortet, anscheinend war er seid drei Stunden nicht mehr online. Oli, Greta, Jenny, Lucy und Rosy unterhielten sich so lebhaft und brachen in regelmäßigen Abständen in albernes Gekicher aus. Mir war werde nach schwatzen noch nach lachen. Schweigend biss ich von meinem Käsebrot ab und kaute im Zeitlupentempo. „Emily, alles in Ordnung mit dir?“, tippte Amandine mich an. „Naja, mir geht es immer noch durch den Kopf, dass Fintans Opa gestorben ist“, sagte ich nachdenklich.

 

„Oh je, der Ärmste!“, machte sie ein betroffenes Gesicht, „Das tut mir sehr Leid für Fintan. Herzliches Beileid auch von mir!“ „Sag mal, hat er eigentlich überhaupt jemanden erzählt, dass sein Großvater gestorben ist?“, mischte sich Oli in unser Gespräch ein. „Nein, er war plötzlich nicht mehr da und antworten tut er gerade auch nicht“, schüttelte Greta den Kopf. „Lasst ihn doch, wenn er es nicht überall herumposaunen will“, meinte Fiona. „Er hatte zwar nicht richtig geweint, aber auf jeden Fall war er fertig mit der Welt“, musste ich schlucken. Warum musste ich nur immer an Mom denken, wenn wir über Tod und Verlust sprachen? Besonders diesen Gedanken hasste ich wie die Pest und manchmal wünschte ich mir, ich könnte diese furchtbaren Erinnerungen einfach ausradieren.

 

Nach dem Abendessen verabredete ich mich mit Amandine zum Reiten in der Halle. Irgendwie konnte ich jegliche Ablenkung gut gebrauchen. Gerade als ich Donnie aufsattelte, kam mir Freddy auf dem Stallgang entgegen. Seine weißblonden Haare standen verstrubbelt in alle Himmelsrichtungen ab und dann trug er eine dunkelblaue Trainingsjacke. „Du auch hier?“, fragte ich erstaunt. „Klar, Amandine hat mich auch gefragt“, erwiderte mein Ex-Freund, der gerade Shamprock am Halfter hinter sich her führte. „Nice!“, nickte ich, „Wirst du Shamprock reiten?“ „Klar, wir kommen mittlerweile echt gut miteinander aus und er sollte ruhig öfter bewegt werden, bevor er seine Kondition nach der Winterflaute noch vollständig verliert“, meinte er.

 

„Natürlich ist es gut, dass du ihn bewegst“, sagte ich, „Es freut mich wirklich, dass du ihn so gut reiten kannst. Ich kenne viele Schüler, die Probleme mit ihm hatten“ „Oh ja, er ist ein wahres Powerpferd. In Sachen Sprungkraft kann er sich wirklich mit deinem Donnie messen. Ich glaube, die halbe Reiterschaft unterschätzt ihn immer noch“, fuhr er fort. „Ja, wahrscheinlich wird er nicht für voll genommen, weil er bis vor kurzem schnell gebockt hat und bei jeder Kleinigkeit nervös wurde“, erwiderte ich, „Ich habe zufällig mitbekommen, dass er von einem weltbekannten Olympiapferd abstammt. Bis vor drei Jahren wurde Shamprock auch hoch gehandelt, aber vor zweieinhalb Jahren verletzte er sich auf einem Turnier schwer, sodass er für Monate lahmte und aussortiert wurde. Deshalb konnte St. Malory ihn zum Sonderpreis kaufen. Allerdings sollte er erst ein Trainingspferd sein und nicht zum Einsatz kommen“

 

„Pah, von wegen Trainingspferd!“, sah Freddy mich schon fast entrüstet an, „Er geht mittlerweile prima. Ihn könnte man auf fast jedes Turnier schicken“ „Ist schon gut, ich wollte deinen Liebling nicht kränken“, lachte ich. „Ist schon gut, die Entschuldigung akzeptiere ich“, lachte er. Jetzt fiel mir gerade auf, dass ich wieder etwas tat, was ich fast drei Monate nicht mehr getan hatte: Ich führte eine entspannte Unterhaltung mit Freddy. Irgendwie konnte ich nicht mehr böse auf ihn sein. Wie auch? Freddy war, außer wenn er eifersüchtig war, ein freundlicher und ehrlicher Zeitgenosse. Umso froher war ich, dass Amandine uns wieder zusammen schweißte.

 

Da ich schneller war als meine Freunde, schloss ich den kleinen Technikraum neben der Halle auf. Als erstes machte ich die Hallenbeleuchtung an und stellte dann das Radio an. Musik war beim Reiten ganz unterhaltsam. Als ich wieder zurückkam, half Freddy Amandine dabei Queeny zu satteln und auf zu trensen. Endlich waren wir fertig für die Halle. In der Reithalle war das Licht deutlich heller als in den halbdunklen Stallgassen. Meine Augen mussten sich zunächst daran gewöhnen. „Hurra, mein Lieblingslied!“, freute sich Amandine. Natürlich war es ein französisches Lied, die hier ab und zu auch im Radio gespielt wurden. Ich staunte fast, als ich Amandine reiten sah. Das sah deutlich gekonnter und selbstbewusster aus, als noch im letzten Jahr.

 

„Wow, warum kannst du auf einmal so gut reiten?“ „Ich habe im letzten Sommer einen dreiwöchigen Reitkurs in Spanien absolviert“, erzählte meine französische Freundin, „Da wurde man einfach aufs Pferd gesetzt und war durch die Wälder geritten, teilweise auch ohne Sattel“ „Cool, wir müssen alle mal zusammen Reiterferien machen“, frohlockte ich, „Dann müssen wir noch Oli, Fintan, Alex, Greta, Rosy und Fiona mitnehmen“ „Dann sind wir aber ganz schön viele“, meinte Freddy trocken. Als wir uns im Schritt warm geritten haben, ließen wir unsere Vierbeiner zunächst antraben und galoppierten anschließend ein paar Runden. Ich bewunderte immer noch Amandines sicheren Sitz. Sie sah aus, als würde sie schon mindestens ein halbes Jahrzehnt lang reiten. Selbst bei der kleinen Hürde hatte sie keine Probleme, obwohl sie noch nie Springstunden hatte.

 

Zwei Tage später saß ich mit Oli und Fiona auf der Tribüne des kleinen Stadions. Heute Abend würden Fintan und Shane ihr Debüt für die irische Juniorennationalmannschaft gegen Rumänien geben. Zwei Reihen vor uns saßen Fintans Eltern und weitere Mitglieder seiner Familie. Fintans Dad war es zu verdanken, dass wir hier waren, denn er hatte mich und meine beiden Freundinnen von Riverview abgeholt und uns hier her gebracht. Unten auf dem Feld liefen sich die Spieler beider Teams im Nieselregen warm und dehnten sich. „Ich finde Shane irgendwie schon voll süß“, flüsterte Fiona. „Du hast wahnsinniges Glück, dass du ihn abbekommen hast“, meinte Oli, „Du glaubst gar nicht, wie viele andere Mädchen auf ihn fliegen“ „Das wollte ich gar nicht so genau wissen“, erwiderte Fiona. Auf dem Platz stellten sich unsere Spieler in zwei Reihen auf und begannen mit Schüssen aufs Tor. „Wow, das muss dein Schatz im Spiel bringen!“, stieß mich Oli an. „Wie? Was? Habe ich etwas verpasst?“, war ich total von den Socken. „Hast du nicht gesehen, wie Fintan den Torwart verladen hat? Das hätte ein Zlatan Ibrahimovic nicht besser machen können“, redete sie los wie ein Wasserfall. 

 

Kurz darauf stellten sich beide Teams an der Mittellinie auf, nachdem die Flaggen beider Länder auf den Platz getragen wurden. Zuerst erklang die Nationalhymne der Gäste, bevor die irische Hymne gespielt wurde. „Schau, was hat Fintan nur?“, stupste mich Fiona an. Während seine Mitspieler die Hymne mitsangen, liefen ihm stumme Tränen über das Gesicht, die er sich mit dem Handrücken wegwischte. „Warum weint er?“, wunderte sich nun auch Oli. „Ich weiß es selbst nicht, vielleicht hat es mit dem Tod seines Opas zu tun. Er hat mir gestern eine lange Nachricht geschrieben, dass er daran ziemlich zu knapsen hat und in die erste Nacht durchgeweint hat“, mutmaßte ich. Es tat innerlich weh, dass ich nicht zu ihm laufen und ihn nicht trösten konnte.

 

Kurz darauf lief Shane zu Fintan hin und legte seinen Arm um ihn. Noch immer war Fintans Gesicht ganz rot. Der Trainer kam auf ihn zu, umarmte ihn kurz und sprach ihm ein paar Worte des Trostes zu. „Nicht, dass seine Länderspielpremiere ins Wasser fällt, weil er wegen der vielen Tränen nicht spielen kann“, wisperte Oli. „So ein Quatsch!“, verdrehte ich die Augen, „Natürlich kann er spielen. Seht mal, er weint gar nicht mehr und scheint sich wieder beruhigt zu haben“ Fintan trabte zu seiner Position im offensiven Mittelfeld, während Shane im Sturm aufgestellt war. Die Rumänen hatten Anstoß. Der Schiedsrichter eröffnete mit einem lauten Pfiff die Partie. Erst rollte der Ball langsam, da zunächst nur Sicherheitspässe gespielt wurden. Die irischen Jugendspieler lauerten nur darauf, bis sie ihren Gegnern den Ball abluchsen konnten.

 

Fintan war der Erste, der einen sehenswerten Akzent setzen konnte. Er fing einen missglückten Pass der Gegner ab und dribbelte entlang der Außenbahn nach vorne. Durch seine Schnelligkeit und Wendigkeit konnte er drei Spieler hinter sich lassen, indem er sie wie Slalomstangen stehen ließ. „Abspielen! Abspielen!“, hörte man einen seiner Mannschaftskollegen rufen. Da nun gleich zwei Verteidiger gleichzeitig auf Fintan zustürmten, war er gezwungen eine hohe Flanke vor das Tor zu bringen, die Shane nur um Millimeter verpasste. „Schade!“, rief Oli und einige Zuschauer applaudierten. Nun hatte die andere Mannschaft Abstoß und unsere Spieler ließen sich weiter in ihre eigene Hälfte zurück fallen. In den nächsten Minuten gab es keine einzige Tormöglichkeit mehr. Beide Mannschaften waren sehr defensiv eingestellt und passten höllisch auf, dass der Gegner nicht zum Zug kam.

 

Mir fiel auf, dass selbst Fintan hinten mitgearbeitete und einmal per Kopf zur Ecke klärte. Als Mittelfeldspieler musste er quasi überall sein. In meinen Augen war es schon beachtlich, wie viele Kilometer er und Shane abspulten. Jedes Mal, wenn unsere Spieler den Ball eroberten und im Vorwärtsgang waren, brandete Applaus auf und die Leute jubelten den Kickern in den grünweißen Trikots zu. Auf der Tribüne gegenüber von uns, sangen die Fans ununterbrochen und schwangen Fahnen in grün, weiß und orange. Die irischen Fußballfans waren berühmt für ihre gute Stimmung im Stadion, das war mir schon bei der vergangenen Europameisterschaft aufgefallen.

 

Der Regen wurde stärker, was den Beteiligten auf dem Feld, wenig ausmachte. Die „Boys in Greene“ erarbeiteten sich bis zur Halbzeitpause zwei weitere Großchancen. Eine davon gehörte Shane. Hätte er den Ball getroffen, stünde es schon 1:0. Allerdings war es nicht gerade einfach auf einem rutschigen Untergrund zu spielen, da die Spieler bei jedem Zweikampf ausrutschten. Bald klebten auf den weißen Hosen und auf den grünen Stutzen braune Schlammspuren. In der zweiten Halbzeit änderte sich wenig an der Spielweise beider Teams, sodass keine Tore fielen. Fintan wurde bereits in der 67.Minute ausgewechselt und trottete in Richtung Kabinentrakt.

 

Das Spiel wurde torlos beendet. „Shane hätte gut zweimal treffen müssen“, war Fiona der Meinung, „Dass er auch immer auf dem nassen Rasen wegrutschen musste“ Freundlicherweise brachte uns Fintans Dad wieder zum Internat zurück. „Vielen Dank, Mr. Bentley!“, bedankte ich mich. „Kein Ding, dass ihr dabei seid, hat sich mein Sohn sehr gewünscht“, meinte er und stieg wieder in sein Auto. Als ich wieder in meinem Zimmer war, rief ich Fintan an. „Hallo, hier ist Fintan Bentley“, meldete er sich mit müder Stimme. „Hi, ich bin’s Emmi“, antwortete ich. „Hi Schatz, ich habe euch vorhin gesehen“, machte seine Stimme einen Freudensprung, „Es war cool, dass ihr da ward“

 

„Shane und du, ihr habt fürs erste Mal ordentlich gespielt“, lobte ich. „Danke, aber der Rasen war einfach beschissen“, meinte mein Freund, „Das war so, als ob wir auf Schmierseife spielten“ „Kann ich mir vorstellen“, kicherte ich und fügte wieder ernsthaft hinzu, „Was war eigentlich mit dir vor dem Spiel los?“ „Ach, mich haben wieder die Gedanken an Grandpa übermannt. Ich vermisse ihn so, da er schon immer einer meiner größten Fans war. Ich bin mir sicher, er schaut mir bei jedem Spiel im Himmel zu und feuert mich an“, musste er schlucken. „Wann bist du wieder im Internat?“, fragte ich ihn. „Erst ab nächsten Freitag, da übermorgen die Beerdigung stattfindet und wir morgen schon nach Schottland fahren“, sagte er und musste kurz darauf auflegen.

 

Genau eine Woche später kam Fintan wieder. Er wirkte nicht besonders glücklich, als ich ihn alleine im Gemeinschaftsraum auf dem Sofa entdeckte. Es war offensichtlich, dass ihn der Tod seines Opas immer noch zu schaffen machte. „Hi Finn!“, setzte ich mich neben ihn. „Hallo“, hob er nur kurz seinen Kopf. „Alles in Ordnung mit dir?“, hakte ich besorgt nach. „Naja, es ist immer noch schwierig das zu verkraften“, musste er schlucken. „Du siehst auch irgendwie sehr müde und schlaff aus“, musste ich gestehen. „Das bin ich auch“, gab er zu, „Ich habe die letzten Tage nur fünf oder sechs Stunden geschlafen“ „Weißt du was, wir könnten mal einen Spaziergang machen“, schlug ich vor, „Dann kannst du mir alles erzählen, was dir auf dem Herzen liegt“ Mir war es sehr wichtig, dass mein Freund die Trauer nicht die ganze Zeit in sich hinein fraß. Hand in Hand gingen wir an den Waldzäunen entlang bis zum Waldrand. Es nieselte leicht. Seit Tagen klarte es nicht mehr auf.

 

Dennoch tat uns die frische Luft gut und Fintan begann zu erzählen, während wir unsere Blicke über die Koppeln schweifen ließen. „Es wird bestimmt noch Tage oder Wochen dauern, bis ich den Verlust vollständig verarbeitet habe. Meiner Schwester, Marek und Karolina geht es nicht anders, sie haben während der Trauerfeier sehr viel geweint. In den letzten Tagen hatte ich immer Tränen in den Augen, als ich an Grandpa gedacht habe. Es tut einfach immer noch verdammt weh. Wenigstens habe ich noch einen Abschiedsbrief an ihn schreiben können, den wir ihm mit in den Sarg gelegt haben“, stockte seine Stimme. „Komm her!“, schlang ich seine Arme um ihn und küsste ihn seicht auf die Lippen. In seinen Augen glitzerten Tränen, er holte einmal tief Luft und fuhr fort, „Der Tod ist nun mal der Lauf der Dinge. Wir werden irgendwann alle Sterben und daher muss ich damit fertig werden, dass Grandpa nicht mehr lebt“ „Aber wir werden uns mit dem Sterben hoffentlich Zeit lassen“, stieß ich ihn an, worauf wir beide kurz lachten.

 

Die nächsten Tage war ich für Fintan da, wenn er mich brauchte. Bei unzähligen Spaziergängen spendete ich ihm Trost und baute ihn wieder auf. Zwar war er nicht mehr ganz so traurig, aber es nagte immer noch an ihn. Ich konnte seine Gefühle gut nachvollziehen. Als Mom gestorben war, brauchte ich über ein Jahr um damit fertig zu werden. Mittlerweile war ich einigermaßen darüber hinweg gekommen, doch in manchen Momenten vermisste ich sie immer noch schmerzhaft. Durch die immer stärker werdende Zuneigung wuchs die Liebe zwischen Fintan und mir stetig. Vor zwei Jahren war unsere Beziehung noch nicht halb so stabil, aber wir merkten, wie gut es uns tat, dass wir einander hatten und wie ein bärenstarkes Duo zusammenhielten. Durch meine Zuwendung wurde mein Freund wieder ganz der Alte. Wir gingen mit Oli, Alex, Amandine, Freddy, Lars und Greta in einen Agentenfilm im Kino. Abends verausgabten wir uns bei Tischtennis- und Billardturnieren oder wir ritten den Waldpfad entlang. Ebenso sorgte das ständige Fußballtraining für Ablenkung. Bei Fintan kehrte allmählich der Alltag ein. Trotzdem war er der Meinung, dass seine Fünf in der Politikklausur immer noch von dem Tod seines Großvaters rühre. Es konnte nur noch besser werden!

15. Kapitel

„Ist dir eigentlich bewusst, dass du nächste Woche Geburtstag hast?“, sprach mich Fiona an, als wir die Hausaufgaben für Mathematik und Biologie erledigten. „Aber natürlich! Als ob ich nicht wüsste, wann ich Geburtstag habe?“, brummte ich und tippte eine ellenlange Rechnung in meinen Taschenrechner. „Du hast noch nicht mal ein Wörtchen davon erwähnt“, fuhr meine Zimmergenossin fort. „Fiona, wie wäre es, wenn wir das Thema während der Teatime besprechen?“, klang ich leicht genervt. Ich wollte einfach nur noch mit dem Kram fertig werden, nachdem ich gerade eben eine Springstunde hinter mir gehabt habe, die nicht besonders glorreich verlief. Es waren meine Konzentrationsfehler, weshalb Donnie fast in ein Hindernis gecrasht wäre und ich erneut anreiten musste. Mein zweiter Versuch klappte nicht viel besser. Noch immer hatte ich das Geräusch der herunterfallenden Stangen im Kopf.

 

Unsere Reitlehrerin warf mir nach dem grottigen Ritt einen scheelen Blick zu und konnte es nicht unterlassen, mich wie eine achtjährige Reitschülerin zu belehren. Ich kam mir vor, als wäre ich eine Anfängerin und dann hatten Arabella und Samantha nichts Besseres zu tun, als blöd zu kichern. Ich hätte den blöden Gänsen den Hals umdrehen können, wenn Sandrina nicht beruhigend auf mich eingeredet hätte. „Aber sonst hast du doch nie so eine schlechte Laune“, riss mich Fionas Stimme aus den Gedanken. Ich schnalzte nur genervt mit der Zunge und verschanzte mich hinter meinen Schulbüchern. Ja, ich hatte schlechte Laune und zwar massiv, zumal ich vorhin eine schwache Vier in Geschichte wieder bekam und unser Geschichtslehrer meinte, dass ich auf der Kippe stünde, wenn ich mich nicht mehr im Unterricht beteiligte. Es gab Tage, da raubte mir alles die Nerven!

 

Fiona hatte bei der Teatime nichts Besseres zu tun, als meine Geburtstagsparty bei meinen Freundinnen anzusprechen. „Emmi, du wirst feiern, das ist ein runder Geburtstag!“, setzte mir Sandrina fast die Pistole auf die Brust. „Natürlich, der neue Partyschuppen ist fertig“, rief Oli übermütig. „Aber mein Geburtstag ist doch mitten in der Woche“, sagte ich. „Es steht außer Frage, dass wir am Freitag oder am Samstag darauf feiern“, meinte Greta. „Ich wäre für den Freitag, das ist hier mein letzter Tag“, warf Amandine ein. „Yeah, das sind schon zwei Anlässe zu feiern“, klatschte Jenny in die Hände. „Hey, seid doch nicht so laut“, zischte Lucy, „Arabella, Natascha, Stella und co gucken interessiert zu uns rüber“ „Als ob ich die einlade“, raunte ich. „Dann gehen wir zur Besprechung eben in euer Zimmer“, schlug Rosy vor.

 

„Genau, geheime Mädelssitzung!“, kicherte ich. Gesagt, getan! Wir trafen uns in meinem Zimmer wieder, wo es zu neunt verdammt eng war. „Meinetwegen können Greta und ich den Partyraum bis morgen reservieren, das müssten wir geregelt kriegen“, bot mir Oli an. „Aber es wird verdammt stressig die ganze Party zu organisieren“, widersprach ich meiner besten Freundin. „Ganz ruhig, Emmi, wir organisieren die Fete schon“, legte mir Greta die Hand auf den Arm. „Der nächste Punkt wäre die Gästeliste“, schrieb Fiona auf ihren Block. „Schreib schon mal alle Anwesenden auf“, sagte Jenny. „Dann würde ich noch meine Cousine Priscilla und ihre Klassenkameradin Karolina einladen“, ergänzte ich.

 

„Natürlich dürfen die Jungs nicht fehlen“, krakelte Oli los. „Hey, nicht so laut, man kann dich bestimmt noch zwei Räume weiter hören“, legte Sandrina ihren Zeigefinger auf die Lippe. „Natürlich wären schon mal: Fintan, Lars, Alex und Shane dabei“, diktierte Greta. „Patrick muss dabei sein, denn er soll der DJ sein. Dann wollte ich auch noch Tiago einladen, weil er auf Partys immer so lustig ist“, fuhr ich fort. „Findest du Tiago ernsthaft lustig?“, zog Rosy die Augenbrauen hoch, „Vor zwei Jahren war er so betrunken, dass er mitten in den Gemeinschaftsraum gekotzt hat“ Als letztes setzten wir noch Freddy und Ivan auf die Gästeliste. „Wir sind knapp zwanzig Personen, das muss reichen“, zog Fiona den Schlussstrich.

 

Ein paar Tage später ging ich mit Amandine, Freddy und Fintan an den Koppeln spazieren. „Kaum zu glauben, dass ich morgen schon zwanzig bin“, sagte ich zu meinen Freunden. „Das ist nichts Unnormales“, fand Freddy, „Ich bin schon seit mehr als zwei Monaten zwanzig“ „Trotzdem fühle ich mich so alt“, murmelte ich. „Komm schon, ich werde in drei Monaten schon einundzwanzig“, lachte Fintan. „Dann bist du der Älteste von uns“, stellte Amandine fest. „Na klar, ich wohne auch schon im Altersheim und bin so dement, dass ich meine Pantoffeln im Gefrierschrank parke“, sagte Fintan mit ganz tief verstellter Stimme und gekrümmten Rücken. Dabei tat er so, als schiebe er einen Rollator vor sich her. Amandine und ich bekamen sofort einen Lachkrampf, sodass uns die Tränen in die Augen traten. „

 

Ein guter Schauspieler bist du“, grinste Freddy amüsiert, „Vielleicht könntest du dich parallel noch für ein Schauspielstudium bewerben“ „Besser nicht“, musste Fintan schmunzeln, „Das will ich den Leuten doch nicht antun“ „Habt ihr schon Pläne, was ihr nach der Schule macht?“, fragte Amandine. „Ich weiß noch nicht, vielleicht mache ich irgendwo ein freiwilliges Jahr“, überlegte ich. Fintan hatte sich schon seinen Jugendtraum erfüllt, indem er seinen Lebensunterhalt nach der Schule mit Fußballspielen verdiente und nebenbei wollte er ein Fernstudium im Sportmangement anfangen. Amandine studierte bereits Englisch und Französisch auf Lehramt. „Ich will am liebsten Tiermedizin studieren“, sagte Freddy, „Nur mein Notenschnitt wird nicht gut genug dafür sein, daher mache ich zuerst eine Ausbildung in diesem Bereich“ Manno, meine Freunde hatten schon Zukunftspläne geschmiedet, nur ich kam nicht in die Pötte.

 

Am Abend meiner Geburtstagsfeier war ich schon ganz aufgeregt, was sich meine Freude haben einfallen lassen. Dummerweise hatte man Amandine und mich in meinem Zimmer eingesperrt. Wir durften noch nicht mal aus dem Fenster gucken. Um uns die Langweile zu vertreiben, guckten wir uns einen französischen Film auf meinem Laptop an. Gegen halb sechs bekam ich einen Anruf von Oli, dass die Feier in einer Stunde beginnen sollte und teilte uns mit, dass das Motto der Party „St. Patricks Day“ war. Kurz darauf klopfte Rosy bei uns an die Tür, die uns zwei dunkelgrüne längere Shirts und zwei Haarreifen mit Kleeblättern vorbei brachte. „Das sollen wir anziehen?“, lachte ich, „War das so gedacht, dass wir im Partnerlook gehen?“ „Du hast es richtig erraten“, grinste meine Freundin, „Und ab jetzt habt ihr noch vierzig Minuten Zeit zum Umziehen“

 

Rosy verschwand wieder und schloss uns wieder ein. „Was für eine Überraschung?“, musste ich immer noch kichern, als ich mir eine eng anliegende schwarze Leggins anzog. Die grünen Shirts reichten uns bis zu den Oberschenkeln und man fühlte sich darin wie in einem Kleid. Jetzt mussten nur noch die Haare und das Make up gemacht werden. Aber das war nicht viel, wir mussten nur die Haare bürsten und uns die lustigen Haarreifen mit den abstehenden Kleeblättern aufsetzen. „Hilfe, wir sehen aus wie Alliens!“, kriegte sich Amandine nicht mehr ein und steckte mich mit ihrem Lachen an. Zum Schluss malten wir uns jeweils ein rotes Herz und ein grünes Kleeblatt auf die Wangen. Fertig war das St.-Patricks-Day-Outfit!

 

Draußen auf dem Flur vernahm ich Olis Stimme. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloss. „Hurra, es geht los!“, faste ich Amandines Hände und hüpfte mit ihr auf und ab. „Ihr scheint ja bereit zu sein?“, enterte Oli zusammen mit Greta, Jenny und Rosy das Zimmer. „Natürlich bekommt ihr auch dieses Mal die Augen verbunden“, zückte Greta zwei schwarze Augenbinden. „Muss das sein?“, protestierte ich. „Ja, sonst ist keine Überraschung“, beharrte Oli darauf und verband mir die Augen. Greta und Jenny nahmen meine Hände und führten mich aus dem Raum. Hinter mir hörte ich Amandine kichern, die von Oli und Rosy durch das Haus geführt wurde. Es ging noch etliche Meter über den Hof, bevor wir den Speicher erreichten, den eine Arbeitsgemeinschaft zum Partyraum umgebaut hatte.

 

Als uns die Augenbinden abgenommen wurden, war es ganz dunkel im Raum. Huch, wo war ich? Waren unsere Freunde überhaupt da? Plötzlich gingen die Scheinwerfer an und all meine Freunde sangen mir ein Geburtsständchen. Mir fiel auf, dass alle meine Freunde sich zum Motto St. Patricks Day gekleidet hatten, grüne Fußballtrikots oder grüne T-Shirts trugen. Tiago zündete eine Konfettibombe, sodass sekundenlang grüne, weiße und orange Papierfetzen auf uns herab rieselten. „Alles Gute noch mal, Darling!“, fiel mir Fintan um den Hals und gab mir einen Kuss. „Der Eröffnungstanz bitte!“, krähte Alex in sein Mikro, „Emily und Amandine mit ihren Tanzpartnern bitte nach vorne“ Um Himmels willen, war er nun der Moderator? Natürlich begleitete Fintan mich zur Tanzfläche. Amandine stand etwas ratlos herum, bis Freddy nach vorne gestürmt kam.

 

Alex gab Patrick ein Zeichen und die Musik erklang. Als Eröffnungstanz hatten sie sich ein lebhaftes irisches Folkslied ausgesucht. Beschwingt bewegten wir uns im Takt, was bestimmt ziemlich ulkig aussehen musste. Fintan und ich hatten noch nie einen richtigen Tanzkurs besucht, genauso wenig wie Amandine und Freddy. Trotzdem jubelten uns unsere Freunde begeistert zu und klatschten nach unserem Auftritt begeistert Beifall. „Jetzt kommt das Beste!“, frohlockte Greta. „Genau, wir haben uns mit dem Essen sehr viel Mühe gegeben“, nickte Rosy eifrig. Das Buffet war der Oberhammer! Noch nie hatte ich so viele grüne Sachen gesehen. Naja, immerhin waren die Pommes gelb und der Käse auf den Pizzaecken weiß. Selbst grünes Bier und grüne Limonade gab es zum Trinken. „Kann man das wirklich essen?“, blieb Amandine vor ein paar grünen Crepes stehen. „Aber sicher, das ist nur Lebensmittelfarbe“, bejahte Lucy.

 

Ich wollte zuerst grüne Spagetti mit einer grünen vegetarischen Soße probieren, bevor ich mich an den Pizzaecken und den grünen Hamburger versuchte. Zum Dessert gab es für mich die Crepes und eine grün gefärbte Vanillemousse. „Bevor wir richtig mit der Party starten, bitte ich Emily und Amandine noch einmal nach vorne“, nahm Alex wieder das Mikrofon in die Hand. Zuerst bekam Amandine einen Bilderrahmen mit einem Klassenfoto und eine Reitgerte zum Andenken an die gemeinsamen Wochen mit uns. Ihr war anzusehen, dass beinahe vor Rührung weinte. „Danke, ihr seid die Besten!“, schniefte sie. „Nicht traurig sein, wir wollen gleich richtig feiern“, nahm Sandrina ihre Hand und führte sie zu den Tischen zurück. Nun war ich an der Reihe.

 

Oli trug einen großen Bilderrahmen mit einer Fotocollage nach vorne. „Das sind die besten Bilder aus fast vier Jahren Freundschaft“, strahlte sie. Nun wurde mir noch ein großer Korb überreicht. Darin befanden sich ein nigelnagelneues Halfter, Pferdeleckerli, eine grüne Nagellackflasche, ein Klamottengutschein, ein Paar Plüschsocken und viele Süßigkeiten. „Mein Geschenk fehlt noch“, lief Priscilla nach vorne und überreichte mir XXL-Ohrringe mit großen Federn. Das war nicht ganz mein Fall, trotzdem bedankte ich mich herzlich. „Willst du die Ohrringe mal anziehen?“, fragte mich meine Cousine. „Die kannst du gut tragen, schließlich sind die Federn grün“, setzte Rosy nach, als sie mein skeptisches Gesicht sah. Ich musste ein bisschen herumfriemeln, bis der Federschmuck an meinen Ohrläppchen hing.

 

„Lasst uns loslegen, Girls and Boys!“, sprang Alex auf die Bühne, „Habt ihr Bock auf Party?“ Ein lautes und lang gezogenes „Ja“ schlug ihm entgegen, sodass Patrick keine andere Wahl hatte und die Musik aufdrehte. Bunte Partylichter blitzten und leuchteten um die Wette. Die Discokugel, die sich über unseren Köpfen drehte, reflektierte das bunte Licht. Ich entdeckte Fintan zusammen mit Tiago und Lars an der Theke, die sich das nächste Bier gönnten. „Komm, jetzt rocken wir Mädels die Tanzfläche!“, nahm Oli meine Hand. Zusammen mit Sandrina, Rosy und Lucy bildeten wir einen Tanzkreis und hampelten so wild herum, das immer eine von uns in ein lautes Gekicher ausbrach. „Dürfen wir auch mitmachen?“, fragte Karolina. „Keine Frage!“, nickte Sandrina und so ließen wir sie und Priscilla in unseren Kreis. Kurz darauf machten auch Greta, Amandine und Freddy mit.

 

„Freddy, wie ist es so, als Hahn im Korb?“, rief ihm Ivan zu. „Ganz witzig eigentlich“, grinste Freddy. „Wie wäre es mit einer Polonäse?“, schlug Alex vor. „Oh ja, das wird bestimmt total lustig!“, jubelte ich. „Okay, Patty, ein anderes Lied bitte!“, orderte Alex. Als Geburtstagkind war es meine Aufgabe die Polonäse anzuführen. Nach und nach hängten sich meine Freunde hinten dran. „Zur Theke bitte!“, bestimmte Oli. „Na klar, die Biertrinker müssen auch noch einsammeln!“, lachte ich. Unsere Schlange bahnte sich den Weg zwischen den beiden Biertischen durch bis zur Theke. „Ist das euer Ernst?“, sah uns Lars entgeistert an. „Ja, wir kesseln euch sonst ein“, nickte Greta und zwinkerte ihrem Freund zu. „Na gut, ich mach schon mit“, legte Fintan die Hände auf Karolinas Schultern.

 

Shane bildete das Schlusslicht, nachdem er das Bierglas in einem Zug gelehrt hatte. „Patrick fehlt noch!“, fiel Rosy auf. „Patty, komm her!“, rief Greta. Der DJ sprang auf und rannte zu uns hin. „Du kannst ruhig den neuen Schlangenkopf bilden“, hielt ich ihn an den Schultern fest. „Von mir aus“, nickte er und wir stapften im Pulk weiter. Es ging immer im Kreis, bis Jenny die Idee hatte, dass wir es mal mit Rückwärtslaufen versuchen sollten. Dies gab lautes Gelächter, weil immer irgendjemand gegen die Tische und Bänke stieß. Mit einem Mal verstummte die Musik. Patrick sprintete zu seiner Anlage zurück, um den nächsten Song anzumachen. Wieder tanzte ich zusammen mit meinen Mädels. Allerdings war es mir ein Dorn im Auge, dass sich Fintan zum Biertrinken mit Alex und Shane in die hinterste Ecke verkrümelte. „Wir bereiten jetzt einen Überfall vor“, zog Oli mich und Fiona zu sich hin, „Wir schleichen uns an. Wenn ich euch das Zeichen gebe, stürzen wir uns auf unsere Jungs“ „Ok, von mir von aus“, grinste Fiona, sodass sich ihre Sommersprossen kräuselten.

 

Überfallartig stürzten wir uns auf unsere Freunde und übersäten sie mit Küssen. „Hey, was soll das?“, empörte sich Alex. Bei der Aktion war sein Bierglas zerbrochen. „Ihr wollt doch auch an der Party teilhaben, nicht wahr?“, schmiegte sich Oli an ihren Freund. „Schatz, ich komme jetzt“, ließ Fintan sein Bier stehen und folgte mir auf den Dancefloor. Shane ließ sich grummelnd von Fiona abführen. „Unser Masterplan hat geklappt!“, gab mir Oli einen Highfive. „Seht mal, Rosy und Karo machen es richtig vor!“, deutete Greta auf das Tanzpaar vor uns. Ihnen war anzusehen, dass sie sich hier vergnügten. Nur Priscilla stand etwas unschlüssig in der Gegend herum, bis Tiago sie fragte und sie an der Hand nahm. Ich lehnte mich gegen Fintans Oberkörper und schloss meine Augen.

 

Bei ihm fühlte ich mich zu hundert Prozent geborgen. „Bist du schon müde?“, lachte er. „Ach was, ich will richtig Gas geben!“, rief ich und wir wirbelten übermütig umher. Einmal rutschte ich mit meinen Ballerinas weg, sodass ich erst befürchtete in die Kerzen auf dem benachbarten Tisch zu fallen. Gerade noch rechtzeitig hielten mich zwei starke Arme fest. „Dich überlasse ich nicht so schnell den Flammen“, meinte mein Freund. „Oh man, bitte nicht mehr so wild“, japste ich und musste mich ein Weilchen setzen. Fintan besorgte uns zwei Getränke. Arm in Arm sahen wir der Partymeute beim Tanzen und herumalbern zu, während wir zärtliche Küsse austauschten. „Auf meine Lieblingsprinzessin!“, hob er sein Glas. „Auf den besten Freund der Welt!“, erwiderte ich. Bevor wir anstießen, küssten wir uns noch mal, aber diesmal mit Zunge. Was für eine grandiose Geburtstagsparty! Ich muss schon sagen, dass es meinen Freunden wirklich gelungen war.

 

16. Kapitel

 

Es war 16:24 als wir am Flughafen Venedig aus unserem Flieger stiegen und die Passkontrolle passierten. „Mein allererster Flug!“, bemerkte Rosy nebenbei. Vorhin als wir in Dublin gestartet waren, hatte sie vor Aufregung sogar etwas gezittert. „Jetzt haben wir es gut hinter uns“, nahm Oli Rosys Hand. „Oh ja, Fliegen ist einfach nur toll!“, fand Greta. „Hey, trödelt nicht so, Mädels!“, hörten wir Alex rufen, „Das Gepäckband setzt sich in Bewegung“ „Los, unsere Koffer wollen wir nicht verpassen“, spornte ich meine Freundinnen an. Wir rannten durch die kleine Halle, wo bereits unsere Schulkameraden warteten. „Venedig, die Shoppingtour kann starten“, schwärmte Arabella und rückte ihre teure Gucci-Sonnenbrille zurrecht. „Ich bin dabei, wir werden die neuen It-Girls von Venezien“, pflichtete Stella ihr bei. „Haha, vertut euch da mal nicht“, kommentierte Jenny hämisch.

 

„Soweit ich weiß, ist Venedig die teuerste Stadt in Italien“, belehrte Oli die Zicken. „Pah, wir haben mindestens 500€ dabei“, erwiderte Lia-Mary schnippisch. „Schön für euch!“, brummte ich unbeeindruckt. „Wie wäre es, wenn ihr uns zum Essen einladet?“, klimperte Greta mit den Wimpern. „Hättet ihr wohl gerne?“, zischte Samantha. „Was lasst ihr euch immer auf die Wortgefechte mit den Ziegen ein?“, raunte uns Fiona zu. „Irgendwie macht es Spaß“, grinsten Oli und Greta schelmisch. „Jaja, ihr liebt es andere zur Weißglut zu bringen“, neckte Rosy sie. „Yeah, da sind unsere Koffer“, hörten wir Lucy sagen, die etwas abseits von uns stand. Nachdem wir unsere Gepäckstücke hatten, ging es mit dem Bus zum Hotel, das in einem Vorort lag. Während der Fahrt konnten wir die ersten Eindrücke von Italien gewinnen. Während es in Irland momentan ständig regnete, war hier schon der Frühling ausgebrochen und überall an den Straßenrändern blühten Bäume.

 

In dem kleinen einfachen Hotel gab es Zimmer mit drei oder vier Betten. Natürlich war ich mit Oli, Greta und Rosy auf einem Zimmer. Glücklicherweise waren Sandrina, Jenny, Lucy und Fiona direkt neben uns untergebracht. Kurz nachdem wir unsere Koffer ausgepackt hatten, klopften Fintan, Lars und Shane an unsere Tür. „Lust auf eine Erkundungstour?“, streckte Fintan seinen Kopf herein. „Klar, ich wäre dabei“, sprang ich begeistert von meinem Bett auf. Oli, Greta und Jenny schlossen sich an, während die anderen sich erstmal von der Reise entspannen wollten. Auf dem Flur warteten schon Alex und Ivan auf uns. „Hier in der Nähe soll es einen Strand geben“, sagte Lars, „Ich glaube es sind nur zehn Minuten Fußweg“

 

„Ja, ich habe den Weg schon mal im Internet nachgeschaut“, hielt uns Alex sein Handy hin. Zu neunt machten wir uns auf den Weg. „Sommer, Sonne, Strand und Meer!“, rief Greta übermütig. „Sommer? Du bist gut!“, kicherte Oli los, „Wir haben es gerade einmal März“ „Egal, Hauptsache das Wetter stimmt“, setzte sich Greta ihre Sommerbrille auf. Stimmt, warm war es hier schon und überall blühten Blumen in allen Farben. An den Strandpromenaden wuchsen sogar Palmen. Als wir den Strand erreichten, zogen wir unsere Socken und Schuhe aus. „Zum Baden ist es noch zu kalt“, meinte Jenny. „Egal, ich werde es austesten“, sah Fintan sie herausfordernd an. „Das ist wohl nicht dein Ernst!“, hielt ich meinen Freund am Arm fest. „Ich will nur mal meine Füße ins Wasser halten“, lachte er, „Dachtest du, ich würde schwimmen gehen?“ „Dir ist alles zuzutrauen, Finn“, nickte Ivan. Obwohl das Mittelmeer in einem verzückenden Himmelblau erstrahlte, war es verdammt kalt. Ich quietschte, als meine Zehen zum ersten Mal das kühle Nass berührten. Fintan, Lars und Alex waren bereits knietief in den Wellen. „Wie macht ihr das, Jungs?“, rief Oli, „Meine Zehen sind jetzt schon ganz blau“ „Das ist halt Gewöhnungssache“, sagte Lars und richtete seine Brille. „Ich habe einen Eisstand an der Promenade entdeckt“, kam Jenny ganz aufgeregt zu uns zurück gelaufen.

 

„Cool, wie teuer ist eine Kugel Eis?“, fragte ich. „1,5 Euro“, antwortete sie. „Ein Eis lass ich mir nicht entgehen!“, war Alex als Erster wieder aus dem Wasser raus. Jeder von bestellte sich zwei Kugeln. „So ein cremiges Eis habe ich noch nie gegessen“, geriet Greta ins Schwärmen. „Ich glaube, ich werde zuhause nie wieder Eis essen, sondern nur noch hier“, pflichtete Fintan ihr nickend bei. „Bella Italia, das ist das dolce Vita!“, gab Ivan uns allen einen Highfive. „Ja, wir werden die freien Tage hier genießen!“, machte Greta einen Luftsprung. „Leider, ist es auch unsere Studienfahrt und unsere gemeinsame Schulzeit wird in vier Monaten vorbei sein“, gab ich seufzend zu bedenken. „Wehe, du erinnerst mich jetzt schon daran!“, bekam ich von Oli einen Rippenstoß verpasst. „Bis dahin sollten wir die schöne Zeit genießen“, war Alex der Meinung. „Schöne Zeit? Nach den Ferien werden wir für das Examen sehr viel büffeln müssen“, schaltete sich Shane ein.

 

Am nächsten Morgen standen wir schon sehr früh auf. Wir wollten so früh wie möglich die Marcus-Basilika besuchen. Als wir auf dem Marcus-Platz standen, war der Himmel von vielen grauen Wolken verhangen und es waren kaum Menschen unterwegs. „In der Basilika ist Fotografieren nicht erlaubt“, erinnerte uns Miss Greene, als Rachel ihren Selfiestick zückte. „Dürfen wir überhaupt keine Bilder von dem Dom machen?“, war Emil irritiert. „Von außen schon“, mischte sich Mr. Thornton ein, der als zweiter Lehrer mitgefahren war. Eigentlich sollte Mr. O’Connor als Klassenlehrer unserer Parallelklasse mitfahren, da er vor kurzem eine Knieoperation hatte, war sein jüngerer Kollege für ihn eingesprungen. „Wäre auch zu schade gewesen, wenn diese schöne weiße Kirche nicht ablichten dürften“, fand Rosy und machte mehrere Fotos aus zig verschiedenen Blickwinkeln. Rachel fuhr doch noch mal ihren Selfiestick aus und machte ein Gruppenfoto von uns allen. „Das sieht aus, als wäre diese Kirche vom Zuckerbäcker persönlich errichtet worden“, fand Stefanie. „Vor allem diese Kuppeln“, nickte Darcy und hängte sich bei ihrer Freundin ein. Der Eintritt war frei. Nur als wir die Schatzkammer besichtigen wollten, mussten wir ein bisschen Geld bezahlen.

 

„Wenn man die ganzen Fresken und diese Wandbilder sieht, hat man das Gefühl, man sei in einem richtigen Kunstmuseum“, war Lucy ganz begeistert. „Stimmt, nach dem Mittagessen sind wir noch mal in einem richtigen Kunstmuseum“, meinte Miss Greene. „Oh ne, das ist doch nicht ihr Ernst?“, flüsterte mir Oli ins Ohr. „Ach, so schlecht ist die italienische Kunst nicht“, fand ich. Als wir die Kathedrale verließen, war der Marcus-Platz rammelvoll. Gut, dass wir schon so früh hier her gekommen waren. Anschließend hatten wir eine zwei Stunden zur freien Verfügung. Zusammen mit Fintan, Oli, Alex, Greta, Lars und Sandrina schlenderte ich über einen großen Markt. Zum Glück sprach Sandrina fließend Italienisch, sodass wir nie wegen Verständnisprobleme in große Not kamen. „Wo wart ihr gewesen?“, stand Freddy mit einem Mal an einem Olivenstand vor uns. „Du auch hier?“, machte Lars große Augen. „Ja, ich habe euch hier gesucht. Ihr seid einfach ohne mich losgezogen, als ich auf Toilette war“, machte er ein leicht vorwurfsvolles Gesicht.

 

„Du hättest uns doch wenigstens sagen können, wenn du mit uns gehen willst, dann hätten wir auf dich gewartet“, sagte Alex. „Du kannst natürlich mit uns gehen, das ist kein Thema“, gab Fintan Freddy einen leichten Klaps auf die Schulter. Gemütlich schlenderten wir durch die Gassen und schauten uns alle möglichen Läden und Stände an. Gegen Mittag trafen wir uns in einem Pizzarestaurant, in dem die Preise noch angemessen waren. Am Nachmittag stand ein Museumsbesuch an, der doch viel interessanter war, als ich gedacht habe. Um dort hin zu kommen, mussten wir einmal die Gondel nehmen. Rosy und Fiona hatten zuerst unheimliche Angst mit dem Ding zu kentern. Als sie drin saßen, legte sich ihre Sorge und sie genossen die Fahrt über den Canal Grande. Vom Wasser aus sahen die Gebäude noch beeindruckender aus. Selbstverständlich wurde die Rialtobrücke am häufigsten fotografiert.

 

Am nächsten Tag stand eine Fahrt mit dem Ausflugsschiff an. „Wenn wir Glück haben, sehen wir auch ein paar Delfine“, sagte Miss Greene. Die Sonne schien und es war so warm, dass wir im T-Shirt auf dem Deck herum laufen konnten. „Fällt euch auch auf, dass Freddy und Sandrina seit gestern die ganze Zeit miteinander turteln?“, wisperte Fiona. „Irgendwie schon, selbst im Museum hingen die beiden die ganze Zeit zusammen“, nickte Greta, „Ist schon interessant, dass ausgerechnet sie sich so gut verstehen“ „Leute, ich kann dahinten schon die ersten Delfine sehen“, rief Matthew, der durch sein Fernglas schaute. „Cool, darf ich mir mal dein Fernglas ausleihen?“, fragte Jacob.

 

Sofort meldeten sich weitere Interessenten, die sich sein Fernglas kurz ausleihen wollten. Sandrina und Freddy steckten weiterhin die Köpfe zusammen, als würden wir im Moment für sie nicht existieren. Als sie sich gegenseitig die Arme um die Schultern legten, flüsterte mir Lucy ins Ohr, „Offenbar ist Venedig doch eine Stadt zum Verlieben“ Gerade als sie das sagte, spürte ich das große Verlangen mich neben Fintan zu setzen und mich bei ihm anzulehnen. „Na, meine süße Maus“, gab er mir einen Kuss und legte seinen Arm um mich. „Hey, die Delfine sind ganz nah dran!“, sprang Darcy neben uns auf. Das war der richtige Moment um mein Handy aus der Tasche zu holen und ein Beweisvideo zu drehen. Wieder sprang einer dieser Meeressäuger aus dem türkisblauen Wasser. „Wie in der Südsee“, fand Rosy, „Ich muss Karolina unbedingt die Bilder schicken“

 

Am vorletzten Tag, dem Donnerstag, hatten wir einen ganzen Tag zur freien Verfügung. Juhu, wir durften machen, worauf wir Lust hatten. Als allererstes schliefen wir richtig lange aus und ließen uns am Frühstücksbuffet viel Zeit, bevor wir mit dem Bus in die Stadt aufbrachen. Da jeder nach Venedig wollte, schlug Mr. Thornton vor, dass er eine kleine Stadtführung auf die Beine stellen könnte. Niemand hatte dagegen etwas einzuwenden, weshalb wir um kurz nach Zwölf in den Bus stiegen. Nachdem der junge Geographie- und Geschichtslehrer uns noch weitere interessante Sehenswürdigkeiten gezeigt hatte, war es uns überlassen, wie wir die Zeit hier verbrachten.

 

Nach der Führung kauften wir uns in einem Souvenirladen venezianische Karnevalsmasken, die zum Glück nicht so teuer waren und machten unzählige Fotos, auf denen wir herum alberten. Fintan lud mich in ein sehr kleines Restaurant ein, das gerade einmal vier Tische hatte und in einer engen Gasse versteckt war. Das Ambiente war ein bisschen altmodisch, aber trotzdem sehr gemütlich. Wir bestellten uns beide Pasta, die Beste unseres Lebens. Ich genoss die Zweisamkeit, nur wir beide alleine. Aber ich wusste, dass unsere Freunde sich in der Nähe herumtrieben. Gerade als ich meinen Teller leer gegessen hatte, rief mich Sandrina an. Sie kannte die Anlegestelle der Gondeln, die zur blauen Lagune heraus fuhren. „Natürlich fahren wir noch mal mit der Gondel“, leuchteten Fintans Augen, „Warte, ich muss noch eben zahlen“

 

Zu unserem Erstaunen trafen wir nicht nur Sandrina und Freddy am Treffpunkt auf dem Marktplatz. Alex und Oli waren da, ebenso wie Greta und Lars. Sogar Fiona und Shane hatten sich uns kurzfristig angeschlossen. „Das ist der Hammer, fünf Paare“, kam Oli aus dem Staunen nicht mehr heraus, „Das ist der Beweis, in Venedig verliebt man sich gerne“ Sandrina zeigte uns den Weg zum Anleger, anscheinend war sie vor uns schon mal hier gewesen. „Wie teuer ist eine Fahrt für zwei Personen?“, fragte sie auf Italienisch. „Das macht 40 Euro“, antwortete ihr ein braungebrannter Gondelier, der einen Strohhut trug. Sandrina und Freddy nahmen die erste Gondel. „Wir haben noch Zeit“, zog mich Fintan zu einem Kartenstand. Hier waren die Postkarten recht günstig, sodass ich kurz entschlossen eine für Dad mitnahm.

 

„Oh man, ich habe ganz vergessen meiner Familie eine Karte zu schreiben“, sagte mein Freund, „Das werde ich jetzt tun und sie in den Briefkasten dahinten werfen“ „Das dauert aber ewig“, nölte ich. Da wir ein paar Minuten mit dem Postkartenschreiben verplempert hatten, mussten wir die letzte Gondel nehmen. Unsere Freunde waren schon weit draußen auf der Lagune. Wieder zahlte Fintan den ganzen Preis im Alleingang. Strahlend lehnte ich mich an seinen Oberkörper, als der Gondelier uns vom Anleger abstieß. Leidenschaftlich küssten wir uns, als wir die schmalen Kanäle entlang fuhren. „Gleich wirst du sehen, dass die blaue Lagune ihren Namen gerecht wird“, flüsterte mir Fintan zu und machte prompt noch ein paar Bilder von den Brücken und den schönen Häusern. „Danke, du kleiner Charmanteur, dass du mir die Fahrt und das Essen ausgeben hat“, gab ich ihm einen Kuss auf die Wange.

 

Die blaue Lagune war wirklich strahlend blau und das Wasser richtig flach und glasklar. Es war warm und die Sonne knallte auf uns herab. Fast könnte man meinen, wir wären in der Südsee gelandet. An manchen Stellen ragten kleine Inseln mit Häusern und Kirchen aus dem Meer. Es hatte wirklich etwas Märchenhaftes. „Sieh mal!“, deutete ich nach rechts. Nun entdeckten wir die Gondeln unserer Freunde. Lachend winkten wir uns gegenseitig zu. „Schatz, es ist ein wunderbarer Nachmittag“, küsste mich mein Freund erneut, diesmal noch länger und leidenschaftlicher. Insgesamt schipperten fünf Gondeln mit fünf Liebespaaren über die blaue Lagune. Ja, wir waren in der Stadt der Liebe und der Romantik. Leider war es unser letzter Tag, bevor wir morgen wieder ins Flugzeug stiegen. Fintan und ich genossen die Fahrt mit all unseren Sinnen.

 

Auf der Lagune unterwegs zu sein, war noch ganz was anderes als die Kanäle entlang zu fahren. Über uns kreischten die Möwen, die über unseren Köpfen sämtliche Flugkunststücke ausprobierten. „Glaubst du, dass sich zwischen Freddy und Sandrina etwas Ernsthaftes entwickelt?“, fragte er mit einem Mal. „Ich habe schon den Eindruck, dass zwischen ihnen etwas läuft“, nickte ich. „Aber so plötzlich?“, zog er die Stirn kraus. „Warum nicht? Shane und Fiona waren auch wie aus dem Nichts zusammen“, erwiderte ich, „Manchmal kann man länger in eine Person verliebt sein, aber es vor den anderen Personen geheim halten“ „Stimmt, ich brauchte echt lange dich nach einem Date zu fragen“, erinnerte sich Fintan, „Es müsste demnächst drei Jahre her sein. Zuvor war ich mit Arabella zusammen, bis ich gemerkt habe, dass sie es mit mir nicht ernst meint. Aber du bist wenigstens natürlich schön und nicht so eingebildet, wie diese dumme Nuss“

 

Den letzten Abend ließen wir mit beiden Klassen und den Lehrern am Strand ausklingen. Wir hatten uns im Strandcafe extra ein paar Tische reservieren lassen und unsere Lehrer sponserten uns pro Tisch eine Sektflasche. Zudem bestellten wir uns große Eisbecher und pro Nase mehrere Cocktails. Die Stimmung war großartig. Es lief laute Musik, an den Tischen wurde viel gelacht und an der Promenade spazierten Liebespärchen. Als die Sonne unterging liefen meine Freundesclique und ich über den Sand zum Meer. Aaahh, das Wasser noch kälter als sonst. Zum Glück nahm mich Fintan Huckepack, sodass meine Füße nicht mehr frieren mussten. Am Strand setzte er mich wieder ab. Hinter mir alberten Oli und Lars herum. Nun veranstaltete unsere gesamte Clique einen riesigen Affenzirkus.

 

Leicht angetrunken jagten wir uns lachend über den Strand, spritzten uns gegenseitig nass und ließen uns in den Sand fallen. Im Hintergrund war immer noch die Musik aus dem Cafe zu hören. Nun sahen wir zum ersten Mal, wie sich Freddy und Sandrina das erste Mal küssten. Aufgedreht rannten sie durch das seichte Wasser und wirbelte herum. Mit einem Mal verlor Sandrina das Gleichgewicht. Freddy war nicht darauf gefasst, als sie an seinen Arm festklammerte und ihn mit in die kalten Fluten riss. „Ich glaube, wir müssen dringend zum Hotel zurück, sonst holt ich euch noch den Tod“, richtete sich Rosy fürsorglich an das junge Pärchen. Freddy und Sandrina strahlten immer noch, obwohl sie klatschnasse waren.

17. Kapitel

 

Nach den Osterferien ging es in schnellen Schritten auf die Examensprüfungen zu, ab Ende Mai geschrieben wurden. Daher wälzten wir unsere Schulbücher und Unterrichtsmaterialien und paukten bis zum Umfallen. Ausritte zum Spaß, Eisessen in der Eisdiele von Sandrinas Verwandten, lange Tischtennisabende, Kinobesuche und Shoppingtouren in Riverview waren nicht mehr drin. Sechs Prüfungen musste jeder absolvieren. Englisch, Französisch und Mathematik musste jeder von uns schreiben. Dazu dürfte man aussuchen, in welchem Fach man die vierte und fünfte Prüfung schrieb und dann gab es noch am Ende eine mündliche Prüfung, dessen Fachgebiet wir auch wählen konnten. Für die beiden weiteren schriftlichen Prüfungen hatte ich mich für Politik und Biologie eingeschrieben und für die mündliche Prüfung hatte ich Geschichte als Fach ausgesucht.

 

Nun wurden zu den einzelnen Fächern Lerngruppen gebildet. Erstaunlicherweise war ich mit Jenny in jeder Gruppe, da sie exakt die gleiche Fächerkombination hatte wie ich. Immerhin konnte ich mit Fintan zusammen für die Kernfächer und für Geschichte lernen. Ansonsten schrieb er seine weiteren Prüfungen in Chemie und Physik. Oli, Lucy und Fiona hatten sich für den Dreiklang der Naturwissenschaften entschieden, also: Chemie, Physik und Biologie. Der ganze Stress kam zustande, weil wir nun auch nachmittags Wiederholungskurse hatten und natürlich wurden wir auch in den Sportmannschaften gefordert. Für mich hieß das, zweimal Springtraining und einmal Hockeytraining. An vielen Tagen war ich so erschöpft, dass ich bereits um neun Uhr ins Bett ging.

 

„Gibt es nicht einen Tag, wo mein Kopf nicht qualmt?“, seufzte ich. „Tja, manchmal wünscht man sich auf eine Südseeinsel, wo man einfach nur die Seele baumeln lassen kann“, murmelte Fintan neben mir, als wir gemeinsam lernten. Gerade knöpften wir uns das Fach Geschichte vor, nachdem wir schon über eine Stunde Französisch gebüffelt hatten. „Ich habe so einen Schiss vor Franze“, seufzte mein Freund, „Vor allem wenn ich ständig diese Flüchtigkeitsfehler reinbaue, sehe ich schwarz“ Fintan war als rein naturwissenschaftlicher Typ und kein Ass in Sprachen, weder in Französisch noch in Englisch. Dafür hatten wir beide in Geschichte ganz akzeptable Noten, weshalb wir es als sechstes Prüfungsfach gewählt hatten. „Komm, Emmi, wir müssen zusehen, dass wir voran kommen“, riss er mich aus meinen Gedanken, „Um halb sieben muss ich zum Training fahren“ Immer dieses ewige Fußballtraining und jedes Wochenende ein Spiel! Dieser Stress würde mich wahnsinnig machen, wenn ich zusätzlich für meinen Abschluss pauken müsste. Ein Wunder, dass er diese Doppelbelastung packte.

 

Ich kramte meine Geschichtsmappe aus meiner Schreibtischschublade. Ich hatte mir schon eine Menge Lernzettel gemacht, die wir der Reihe nach durchgingen. Dabei mussten wir uns auf folgende Themen vorbereiten: Französische Revolution, Kolonialismus der Spanier und Portugiesen in Südamerika, der zweite Weltkrieg und der kalte Krieg. „Hey, was haltete ihr von einer Partie Tischtennis?“, platzte Greta mit Oli ohne Vorankündigung in unser Zimmer. „Gerade keine Zeit“, wiegelte ich meine Freundinnen ab. Fintan schien etwas genervt zu sein. „Könnt ihr denn mal wenigstens vorher anklopfen, bevor ihr einfach so hereinplatzt? Das kann doch nicht so schwer sein“, fuhr er sie ungehalten von der Seite an. „Oh sorry, wir wollten euch nicht stören“, wurde Oli ganz kleinlaut. „Sucht euch andere Spielpartner und geht nicht uns auf die Nerven“, murrte Fintan, der sich gerade ein paar Notizen von mir durchlas. „Kein Problem, wir sind schon wieder weg“, huschten die beiden Mädels hinaus, allerdings ließen sie die Tür einen kleinen Spalt weit offen stehen. Ich musste aufstehen, um sie zu schließen. „Meine Güte, die beiden haben manchmal echt keinen Anstand“, schüttelte mein Freund den Kopf.

 

„Finn, jetzt ärgere dich nicht. Ich glaube, du machst dir gerade zu viel Stress. Wir sollten wirklich eine Pause machen, du bist ziemlich gereizt“, legte ich ihm die Hand auf den Rücken. „Gerade wo du das sagst, hast du Recht. Ich bin irgendwie überarbeitet“, pflichtete er mir bei. „Wir könnten uns auf mein Bett setzen und ein bisschen kuscheln“, schlug ich vor. Wir ließen unsere Lernsachen liegen und machten uns es auf meinem Bett bequem. „Du hättest vorhin nicht so pampig zu unseren Freundinnen sein müssen“, redete ich ihm ins Gewissen, „Falls du gesehen hast, Oli war schon etwas verletzt, als sie hinaus gegangen war“ „Kann sein, ich habe sie nimmt es nicht krumm“, murmelte er. „Na klar, du meinst es nicht böse“, knuffte ich ihn und gab ihm einen Kuss. Weil er immer noch keine Miene bewegte, fing ich an ihn durchzukitzeln. Dabei suchte ich mir seine kitzeligsten Stellen aus: Bauch, Flanken und Füße. „Das lasse ich nicht auf mir sitzen!“, rief er. Lachend wälzten wir uns auf meiner Bettdecke und kitzelten uns gegenseitig. 

 

In der ersten Prüfungswoche Ende Mai schrieben wir Französisch. Als ich die Aula betrat, der als Prüfungsraum diente, war mir ganz schlecht und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Meine Freunde und ich sprachen uns gegenseitig Mut zu und wünschten uns gegenseitig Glück. Anders als sonst, saßen wir an Einzeltischen, die durchnummeriert waren. Bevor es losging, kam Mr. Scott mit den Klausuren herein und las uns die Prüfungsbedingungen vor. „Wer mit dem Handy oder einem unerlaubten Hilfsmittel erwischt wird, hat die Prüfung automatisch nicht bestanden“, teilte er uns mit.

 

Nun kam es zur Taschenkontrolle und wir mussten alle Gegenstände auf unsere Tische legen, die wir dabei hatten. Nach gefühlten Stunden wurde die Klausur ausgeteilt. Nachdem ich mir die Aufgabenstellung in Ruhe durchgelesen hatte, merkte ich, dass ich deutlich ruhiger wurde. Die Prüfung war machbar. Die erste Aufgabe bestand darin eine Zusammenfassung des Textauszuges zu schreiben. Dann kam eine Szenenanalyse dran und zum Schluss mussten wir eine kleine Erörterung schreiben. Alles nur halb so wild, wie ich es mir vorgestellt hatte. Selbst mit dem beilegten Arbeitsmaterial kam ich prima zurrecht. Warum hatte ich vor dieser Prüfung mehr Angst gehabt als vor Mathematik? Ich kam gut voran. Am Ende hatte ich sogar noch Zeit meine Texte zu korrigieren.

 

Der nächste Horror, der auf Französisch folgte, war Mathematik. Zahlen und Gleichungen waren noch nie meine absolute Stärke gewesen. Ausgerechnet an einem Montag würde die Klausur geschrieben, sodass wir noch nicht mal ein Wochenende zu relaxen hatten. Stattdessen traf sich unsere Freundesclique zum Lernen im Gemeinschaftsraum oder wir lernten in Kleingruppen. Am Sonntagabend ging ich mit Fintan noch einmal alles gründlich durch. Vor allem Integralrechnung und Matrizen machten mir sehr zu schaffen. „Ich werde es morgen vergeigen, wenn das dran kommt“, jammerte ich. „Das sind auch sehr schwierige Übungen, die ich für dich herausgesucht habe“, meinte mein Freund und schnappte sich meinen Kugelschreiber, „Pass mal auf, ich schreibe dir den Lösungsweg in allen Einzelheiten noch mal auf“

 

Ich konnte dem nur schwer folgen, obwohl er sich viel Mühe gab, es mir verständlich zu machen. Aber so viele unbekannte Parameter, hier rechnete man fast nur noch mit Buchstaben! „Können wir ein leichteres Beispiel rechnen?“, bat ich. „Aber sicher“, nickte er, „Mach dich trotzdem darauf gefasst, dass einige Transferaufgaben an die Reihe kommen werden“ Die Tasten unserer Taschenrechner klackerten, während wir ellenlange Rechenschwänze eintippten. Wir schrieben uns die Finger wund und markierten uns die wichtigsten Merksätze mit bunten Textmarkern. Auf meinem Schreibtisch stapelten sich zusätzlich die Lernmaterialien der anderen Fächer, die mit neonfarbenen Lesezeichenstreifen versehen waren. „Ich kriege zu viel!“, stöhnte ich. „Komm lass uns eine Runde um den Block gehen, du drehst schon völlig am Rad“, stand er auf und schloss das Übungsbuch.

 

„Was soll bei Mathe schon schief gehen?“, sagte Matthew zu Shane. „Im Idealfall nichts, vor allem ist es immer logisch und man kann sich viel herleiten“, erwiderte sein Gesprächspartner. Zwei Matheasse unter sich! Mir wurde wieder angst und bange als Mr. Scott herein kam. Oli drehte sich kurz zu mir um und warf mir einen Schokoerdnussriegel zu. Manchmal konnte ich meine beste Freundin echt knutschen. Außerdem konnte ich Nervennahrung echt gut gebrauchen. Auf den ersten Blick sahen die Aufgaben nicht schlimm aus, wie ich dachte und musste mir doch eingestehen, dass ich mich ein wenig getäuscht hatte. Jedes Aufgabenpaket startete mit einfachen Aufgaben, die immer schwieriger wurden. Am Ende jedes Blocks stand eine Transferaufgabe, wie es Fintan bereits prophezeit hatte.

 

Da ich mit Wahrscheinlichkeitsrechnung und Kurvendisskusion am besten konnte, löste ich diese Aufgabenblöcke zuerst. Schwierigere Themen wie Integral- und Matrizenrechnung hob ich mir bis zum Schluss auf. Geschockt musste ich feststellen, dass ich für den dritten Abschnitt etwas länger brauchte und kam in arge Zeitnot. Es machte mich verrückt, dass Ivan, Alex und Stefanie schon eine halbe Stunde vor Schluss abgaben. Anscheinend muss die Prüfung für sie ein Kinderspiel gewesen sein. Für mich war es alles andere als leicht. Hoffentlich schrieb ich heute an diesem Ort meine letzte Mathearbeit meines Lebens. Noch mehr Zahlen, Formeln und Gleichungen könnte ich nicht mehr ertragen. Als die Schlussglocke läutete, setzte ich den Schlusspunkt. Puh, endlich geschafft!

 

Fintan bedauerte, dass er seinen 21. Geburtstag nicht groß feiern konnte, da er am Tag darauf Chemie schrieb. Wenigstens konnte ich ihn zu einem kleinen Ausritt überreden. Alex, Oli, Greta, Lars und Shane begleiteten uns. Am Nachmittag gab es frischen Streuselkuchen. Das war die Gelegenheit um Fintan ein Ständchen zu singen und ein bisschen feierlichere Stimmung aufkommen zu lassen. Es war der einzige Lichtblick des stressigen Wochenendes, das wieder mit Pauken drauf ging. Wann hatte der Wahnsinn ein Ende? Am Abend überraschten uns Fintans Eltern ganz spontan und nahmen uns mit in ein Restaurant, damit sein Ehrentag nicht ganz vermiest war. „Konntet ihr wenigstens ein bisschen feiern?“, erkundigte sich sein Dad. „Naja, wir haben zusammen Tee getrunken und Kuchen gegessen, aber mehr war nicht drin“, schüttelte Fintan den Kopf. „Du vergisst unseren Ausritt nach dem Frühstück“, warf ich ein, „Da haben uns sogar unsere Freunde begleitet“ „Wenigstens etwas“, schmunzelte seine Mom und pustete eine blonde Strähne aus ihrem Gesicht. Auf der Rest der Fahrt wurde wenig gesprochen, bis Mr. Bentley vor einem teueraussehenden Steakhouse halt machte.

 

Zwischen der Englischprüfung und meiner Politikklausur lagen sogar neun Tage. Somit konnte ich ohne Probleme an einem Testspiel unserer Hockeymannschaft teilnehmen. Pflichtspiele hatten wir keine mehr, nachdem wir beim College-Cup bereits im Viertelfinale ausgeschieden waren. Nun stand nur noch das Freundschaftsspiel gegen eine Mädchenmannschaft aus den Niederlanden an, die gerade auf Irlandreise war. Da in den nächsten Tagen die Prüfungen in Physik und Geographie geschrieben wurden, durften sich die Spielerinnen aus dem vierten Jahrgang aussuchen, ob sie antreten wollten oder nicht. Ich wollte unbedingt spielen und hatte mich von Mr. Jenks auf die Liste setzen lassen.

 

Es war mir wichtig, dass ich mindestens noch einmal das Trikot von meiner Schule trug. Leider waren vieler meiner Freundinnen wegen der Prüfungen verhindert. Immerhin nahmen Rosy, Jenny und Priscilla an dem Spiel teil. Mir wurde eine große Ehre zu teil: Da unsere Spielführerin Shirley und ihre Stellvertreterin Oli nicht dabei waren, durfte ich zum allerersten Mal die Kapitänsbinde tragen. Weil besonders gute Spielerinnen wie Sandrina, Oli und Greta und zwei Stammspielerinnen fehlten, merkte man uns sehr schnell an, dass wir geschwächt waren und wir kassierten unser erstes Gegentor in der dritten Minute. Bis zur Halbzeit fielen noch drei weitere Tore. Immerhin konnte ich durch einen Abstauber auf 1:3 verkürzen. Das Spiel endete 2:5 für die Niederländerinnen. Mir war die Niederlage fast egal, Hauptsache ich habe gespielt und konnte noch einen Treffer beisteuern.

 

Nach den mündlichen Prüfungen hatten wir für drei Wochen keinen Unterricht mehr. Dies bedeutete aber nicht, dass wir nichts zu tun hatten. Wir bereiteten eine Revue mit kleinen lustigen Theaterstücken, Tanz und Lifemusik vor. Gerade unsere neu zusammen gefundene Schülerband hatte die Hände voll zu tun. Dave und Alex spielten E-Gitarre, Francis Saxophon und Freddy Schlagzeug. Rosy konnte zu unserem Erstaunen Keyboard spielen. Jacob wollte unbedingt den Bassist geben. Arabella und Samantha stritten sich um die Position als Leadsängerin, bis man sich darauf einigte, dass sie entweder die Songs zusammen sangen oder im Wechsel. Am Anfang und Ende wollten wir einen großen Gemeinschaftstanz vorführen, bei dem der ganze Jahrgang und unsere Klassenlehrer mitmachten. „Das wird eine geniale Show!“, stand für Shane fest, als wir das erste Mal den gesamten Ablauf in der Aula probten. „Gewiss, unsere Sketche sind einfach nur witzig“, pflichtete ihm Emil bei. „Teilweise sind sie sogar aus dem Leben gegriffen, wie unser Halloweenstreich im ersten Schuljahr“, mischte sich Greta in ihr Gespräch ein. „Bei der Szene musste ich Tränen lachen“, grinste Tom, „Lucy ist eine erstklassige Französischlehrerin, die ihren Tonfall genau nachahmen kann“

 

„Obwohl ich damals nicht dabei war“, warf Lucy ein, „Aber ich konnte mir vorstellen, wie lustig es gewesen sein muss“ „Mamsells Reaktion damals war erstklassig“, sah uns Fintan belustigt an, „Aber leider hatte es danach ziemlichen Ärger gegeben“ „Die arme Madame hatte sich bei der ganzen Aktion vor Schreck den Knöchel verstaucht“, erinnerte ich meine Freunde. „Aber Pamela hatte am meisten Schiss“, sagte Pattrick, „Die dumme Nuss hat gar nicht gepeilt, dass es nicht echt war“ „Oh ja, Pamela war echt dämlich und hatte nicht im Geringsten hier her gehört“, fing Oli an zu lästern, „Als sie nach wenigen Monaten wieder weg war, hatte ihr niemand ein Tränchen hinterher geweint. Die Erleichterung war nur zu groß, dass wir diese intrigante Kuh nicht mehr ertragen mussten“ „Vor allem hat sie Rosy unzählige Diebstähle in die Schuhe geschoben“, schnaubte Greta. „Nicht nur das, sie hat mich derbe ausgenutzt und hat mir verboten, dass ich mit euch rede, da sie meine alleinige beste Freundin sein wollte. Sie schrieb alle meine Hausaufgaben ab und selbst bei den Klassenarbeiten schaute sie ständig über meine Schulter“, ergänzte Rosy.

 

Im Laufe der kommenden Projektwochen legten wir einen Sportpfad an, der vom Waldrand bis zu unserem schuleigenen Park führte. Die Gelder stellte der schuleigene Förderverein bereit und die professionelle Hilfe bekamen wir von einem Gartenbauunternehmen. Seit ein paar Jahren war es Usus, dass sich die ältesten Jahrgänge mit einem Großprojekt verabschiedeten, womit sie den nachfolgenden Schülergenerationen dienten. Genau einen Kilometer lang sollte der Sportpfad werden und rund zwölf Stationen beinhalten. Greta, Rachel, Lars, Darcy, Dave, Matthew und ich legten eine Sprunggrube an. Es war eine Knochenarbeiten mit dem Spaten die Erde um einen halben Meter auf einer größeren Fläche abzutragen und die Erde mit den Schubkarren wegzubringen. „Vielleicht schaffen wir es in ein paar Tagen uns einen Tunnel nach China zu graben“, witzelte Greta. „Cool, dann wäre es auch nicht mehr so weit nach Singapur und wir könnten locker May besuchen“, merkte ich an. „Apropos May, hat sie sich noch bei dir gemeldet?“, fragte Greta.

 

„In den letzten Monaten nicht“, schüttelte ich den Kopf. „Mit ihr habe ich vor ein paar Wochen geschrieben“, meinte meine Freundin, „Aber offenbar hält sie es nicht für notwendig ständig in Kontakt mit uns zu sein“ „Warum auch? Sie hat doch an ihrer neuen Schule sehr viele Freunde gefunden. Daher sind wir nicht mehr so wichtig“, zuckte ich mit den Schultern. „Leute, es ist Mittagzeit“, sah Matthew auf seine Uhr. „Juhu, endlich Pause! Diese Arbeit macht verdammt hungrig“ , ließ Darcy ihren Spaten fallen. „Aber um Punkt drei Uhr geht es weiter, denn da kommt der Lader mit dem Sand“, sagte Dave. „Das ist fast in zwei Stunden“, drehte ich mich zu ihm um, „Bis dahin werden wir wohl gegessen haben“ Greta und ich beschlossen zu gucken, was an den anderen Stationen vor sich ging. „Immerhin stehen schon mal ein paar Holzpfähle“, zeigte Alex auf ein paar Holzstangen, die aus der dunklen Erde ragten.  „Was soll das werden?“, wollte Greta wissen. „Ein Klettergerüst“, antwortete er und wischte sich über die verschwitzte Stirn.

 

„Man könnte meinen, wir würden einen Spielplatz für die nachfolgenden Schüler bauen“, rutschte es so aus mir heraus. „Aber mit dem Zweck, dass die Schüler häufiger nach draußen gehen und sich auch in ihrer Freizeit mehr bewegen“, verbesserte Shane mich. Von Station zu Station sammelten wir immer mehr Freunde ein. An der letzten Station auf dem Rasen der internatseigenen Parkanlage sollte ein großes Trampolin entstehen, wofür erstmal mit einem kleinen Bagger ein Loch gebuddelt werden musste. „Das sieht aus wie nach einem Meteoriteneinschlag“, bemerkte Oli, als sie den Krater sah. „Ja, aber das Trampolin kommt erst morgen“, meinte Freddy, der in der Trampolingruppe mitarbeitete. „Warum haben wir das nicht in den Jahren zuvor gehabt?“, murmelte ich. „Ganz einfach, weil wir der Jahrgang mit den coolsten Ideen sind“, klopfte mir Freddy auf die Schulter.

 

Die freien Abende verbrachten wir im Pub, im Kino oder wir schwammen unsere Runden im Pool und ruhten uns danach auf den Liegen aus. Heute wollte ich mit Fintan auf den See hinausrudern, der ganz in der Nähe unseres Internats lag. Es war nicht sonderlich warm, aber dem Wetter nach zu urteilen, wartete ein grandioser Sonnenuntergang auf uns. „Kannst du dich noch an das erste Date erinnern?“, hörte mein Freund kurz auf zu rudern und lauschte dem Zirpen der Grillen. „Drei Jahre ist es schon her“, lächelte ich, „Es war ein heißer Tag und wir sind sogar geschwommen“ „Das war unvergesslich und einer meiner Lieblingsaugenblicke mit dir“, strahlte er über beide Backen und küsste mich.

 

„Ich war schon seit dem ersten Tag in dich verknallt“, gestand ich, „Selbst bei der Aufnahmeprüfung im Frühjahr, bevor wir hier zur Schule gingen, bist du mir schon aufgefallen“ „Wirklich? War ich so markant?“, lachte er kurz auf. „Du hattest damals unglaublich wirre Haare, die dir in alle Richtungen abstanden und dabei ein verschmitztes Lächeln“, fuhr ich fort. „Ja, seitdem habe ich mich aber schon sehr verändert“, meinte er, „In den letzten vier Jahren bin ich erwachsen geworden. Damals war ich noch ein kleiner frecher Teenie, der ziemlich viele Flausen im Kopf hatte“ Es wurde langsam dunkel. Ich liebte es, wenn sich der Himmel rosaviolett verfärbte und die ersten Fledermäuse geräuschlos über die Wasseroberfläche jagten. Ein Moment voller Romantik und Magie. Gerade als wir uns wieder leidenschaftlich küssten, verfehlte eine große Fledermaus uns nur knapp. „Hilfe, wir werden attackiert!“, scherzte ich.

18. Kapitel

Miss Hanson hatte beschlossen uns doch für ein internationales Turnier für junge Reiter bis 25 Jahre in einer kleinen Stadt in Nordirland anzumelden. Insgesamt sollten sechs Reiter an den Start gehen. Da am gleichen Tag zufällig das Endspiel der Fußballmeisterschaft der Colleges stattfand, ging Matthew als einziger männlicher Reiter an den Start. Sandrina und ich waren die einzigen Mädels aus unserem Jahrgang, die an dem Turnier teilnahmen. Zudem bekam Rebecca aus dem ersten Jahrgang die Chance sich in der Schulmannschaft zu beweisen, genauso wie Victoria und Ayleen aus der zweiten Klasse. Die Turnierteilnahme bedeute für mich und Donnie tägliches Training. Ich musste ihn unbedingt bis Samstag fit kriegen.

 

In den Wochen zuvor, als ich noch im Prüfungsstress steckte, hatte ich nur wenig Zeit um mit ihm zu trainieren und alles von ihm abzuverlangen. Als Sandrina hörte, dass sie Colorado reiten durfte, flippte sie vor Freude fast aus. „Arabellas Vater war vorhin kurz hier. Ich habe ihn vor der Reithalle getroffen und er meinte, dass ich Colorado auf jeden Fall reiten dürfe. Seiner Meinung nach hätte ich das als talentierte Reiterin verdient mit einem guten Springpferd an den Start zu gehen“, sprudelte es aus ihr heraus. „Glückwunsch, das ist ja richtig cool. Mit Colorado hast du einen Sechser im Lotto gezogen. Der Junge ist richtig gut!“, gab ich ihr einen Highfive. „Es ist nur schade, dass Freddy nicht dabei sein kann“, klang Sandrina mit einem Mal wieder etwas geknickt. „Fintan kann auch nicht kommen“, klopfte ich ihr auf die Schulter, „Es ist leider so, dass unsere Jungs für die Fußballmannschaft im Einsatz sind“

 

„Hey Emily, hast du schon gesehen, dass Mr. Scott drei Stellen für ein freiwilliges Jahr ausgeschrieben hat?“, zog mich Jenny am Ärmel, als auf dem Weg vom Stall ins Wohnhaus war. „Soziales Jahr? Was heißt das?“, fragte ich sie irritiert. „Es heißt, dass drei Schülerbetreuer gesucht werden, die den Mannschaftstrainern assistieren, Schülerprojekte und Arbeitsgemeinschaften leiten“, klärte meine Freundin mich auf. „Cool, da werde ich noch heute Abend eine Bewerbung schreiben“, nickte ich. Um mir zu beweisen, dass sie mir keinen vorm Pferd erzählte, führte Jenny mich zum schwarzen Brett, wo die Anzeige hing. Stolz konnte ich meiner Clique während des Abendessens davon erzählen, dass ich mich auf die Stelle für das freiwillige Jahr bewerben wollte. „Na siehst du, jetzt hast du doch noch einen Plan“, zwinkerte mir Oli zu. „Bewirb dich trotzdem noch auf weitere Ausbildungsstellen“, riet mir Lucy. „Das werde ich wohl tun“, versicherte ich ihr, „Ich habe mich letztens für eine Ausbildung zur Tierarztassistentin beworben“

 

„Für mich steht fest, dass ich nach Schweden zurück gehe“, sagte Oli. „Wirklich? Hat Irland dir nicht gefallen?“, machte Greta ein langes Gesicht. „Quatsch, es gefällt mir sehr wohl und ich liebe dieses Land und die lockere Mentalität“, erwiderte sie, „Aber ich will unbedingt in Stockholm studieren und näher bei meiner Familie sein“ „Ich werde wohl Musik und Kunst in Birmingham studieren, wenn mich die Uni annimmt“, offenbarte Lucy ihre Pläne für die Zukunft. Nun taten alle kund, was sie nach der Schule vorhatten. Rosy wollte in Glasgow oder Manchester Tiermedizin studieren. Alex wollte für ein Studium zurück nach Deutschland. Shane und Fintan wollten ihre Zukunft dem Profifußball widmen. Ivan fing eine duale Ausbildung in St. Peterburg an. Greta hatte eine Ausbildungsstelle zur Diätassistentin in Galway sicher und Sandrina wollte in wenigen Monaten wieder nach Mailand zurückkehren.

 

„Es steht fest, dass wir uns nicht mehr regelmäßig nach den Ferien sehen werden“, zog Fiona die Mundwinkel nach unten. „Ich weiß, wir werden fast überall in Europa sein“, seufzte Oli, „Umso wichtiger ist es, dass wir ein- oder zweimal im Jahr ein Cliquentreffen einrichten“ „Ja, das müssen wir einfach hinkriegen“, nickte Greta, „Ach man, wenn ich daran schon denke, vermisse ich euch jetzt schon“ „Halt, noch sind wir ein paar Wochen hier“, bremste ich sie. „Richtig, wir müssen jeden Tag genießen, als wäre es unser letzter“, pflichtete Rosy mir bei. „Genau genommen, werden wir in zwei Wochen entlassen“, sah Jenny auf ihrem Terminkalender nach. „Krass, dass es so schnell geht“, murmelte ich.

 

Am Samstagmorgen musste ich schon um halb sechs aufstehen. Ich stopfte mir drei Müsliriegel als kleine Stärkung rein und leerte eine halbe Wasserflasche. Ich war erleichtert, dass Dad auf dem Parkplatz auf mich wartete. „Na Liebes, du siehst ziemlich müde aus“, nahm er mich kurz in den Arm. „Ich bin halt kein Frühaufsteher“, nuschelte ich undeutlich und ging mit ihm in Richtung Stall. In der Stallgasse traf ich Sandrina, die schon deutlich wacher war als ich. „Hi, wer wird dich und Colorado zum Turnier fahren?“, fragte ich sie. „James, mein alter Reitlehrer“, lächelte sie, „Er ist ein großer Fan von mir und unterstützt mich immer noch. Er kommt gleich vorbei, nimmt Colorado im Transporter mit und ich darf bei ihm im Auto mitfahren“ „Cool!“, nickte ich und begann Donnie fertig für den Transport zu machen.

 

Eine halbe Stunde später waren Dad und ich auf der Straße unterwegs. Es wunderte ich ein bisschen, dass Jane nicht dabei war. Aber richtig traurig darum war ich nicht, endlich waren wir wieder zu zweit. Genauso wie früher. Ich hatte nichts gegen Jane. Ganz im Gegenteil, sie war sogar richtig lieb und gab sich Mühe um eine gute Ansprechperson für mich zu sein. Trotzdem war sie halt nicht meine Mutter und keine andere Frau, die Dad liebte, konnte Mom nicht ersetzen. Während der Fahrt redeten wir nicht viel, was eher daran lag, dass ich früh morgens nicht besonders gesprächig war. „Wollen wir gleich kurz anhalten und frühstücken?“, fragte Dad. „Von mir aus gerne“, murmelte ich, aber sah längst nicht mehr so verschlafen aus, wie vorhin.

 

Meine Teamkollegen und Miss Hanson waren schon vor mir und Sandrina da. Sie waren gemeinsam mit dem schuleigenen Bulli gekommen und hatten ihre Pferde schon gestern nach hier hin verladen. Es war ein Privileg für mich, dass ich mit Dad hier her gefahren war. Wir gönnten uns ein paar Drinks, bevor wir uns an die Arbeit machten und unsere Pferde für das Turnier vorbereiteten. „Stellt euch mal zu einem Mannschaftsbild auf“, rief Miss Hanson, die eine Kamera in der Hand hielt. Sandrina und ich schauten bei uns nach, ob unsere weißen Reithosen und schwarzen Jacketts tiptop waren, bevor wir uns zu unseren Mannschaftskameraden dazu stellten. Entwarnung: Wir sahen ordentlich und sehr schick aus. „Mein letztes Turnier in St. Malorys Namen“, ging mir durch den Kopf und wollte mir trotzdem nichts anmerken lassen. Zuversicht ausstrahlen war viel besser, deshalb lachte ich und gab mich locker.

 

Unser Schulteam bekam wenig später einen Stalltrakt zugewiesen, der ein bisschen abseits vom Geschehen lag. Das war gar nicht mal so verkehrt, da wir unsere Ruhe hatten und von niemand gestört wurden. Leise vor mich hin summend striegelte ich Donnies athletischen Pferdekörper bis sein fuchsfarbenes Fell rötlich schimmerte. „Du bist mein ganzer Stolz, du Prachtbursche!“, flüsterte ich ihm ins Ohr und lehnte mich an ihn. Nun machte ich mich an seiner Mähne zu schaffen, die ich nicht so lassen konnte. Sandrina schaffte es Colorado genauso heraus zu putzen. Am Ende hatte ich noch so viel Zeit, dass ich Victoria helfen konnte, Mollys Mähne zu frisieren. Zum Glück war unser Springwettbewerb erst am frühen Nachmittag, sodass wir in der Mittagspause Zeit hatten den Parcour abzugehen und kalkulieren konnten, wie viele Galoppsprünge man zwischen den einzelnen Hindernissen brauchte. „Seht mal, die haben sich sehr viel einfallen lassen“, machte uns Matthew auf die kreativen Hindernisse aufmerksam. Eine Hürde bestand aus altem Metallschrott, ein anderes wiederum aus einer Blumenhecke und dann war da noch ein Stapel Autoreifen. Da hatte wohl jemand sehr viele Ideen. Prompt holte ich mein Handy aus der Jackettasche und hielt die ersten Eindrücke fest.

 

Da ich die Startnummer drei hatte, hatte ich von uns die wenigste Zeit zum Aufwärmen. Aber es musste auch so gehen. Mit einem Lächeln ritt ich auf den Platz, grüßte die Schiedsrichter und stellte mich mit Donnie an der Startlinie auf. Automatisch galoppierte mein Fuchswallach an, als das Startsignal erklang. Er hatte so viel Geschwindigkeit drauf, dass ich befürchtete, dass er mit mir ins erste Hindernis crashen würde. Gott sei dank, hatte ich ihn soweit unter Kontrolle, wir die ersten Hürden souverän meisterten. Leider hörte ich einmal unter mir doch eine Stange purzeln. Das war genau bei der Hecke mit den vielen bunten Blüten. Egal, nun durften wir uns nicht aus dem Konzept bringen lassen. Als der Doppeloxer kam, hatte ich erst Bedenken, dass mein Pferd mit dem Hufen unter dem Boden wegrutschte. Dies war glücklicher Weise nicht der Fall.

 

Irgendwie schaffte Donnie es uns in der Balance zu halten, sodass wir hinter dem Hindernis sicher landeten. Puh, Schwein gehabt! Der Steilsprung, der darauf kam, war wiederum kein Problem, genauso wenig wie die Mauer und für Wassergräben hatte Donnie sowieso ein Faible. „24:21 Sekunden, vier Fehlerpunkte“, wurde über Lautsprecher verkündete. Richtig toll war das nicht, aber auch nicht schlecht. Ich musste darauf bauen, dass die Konkurrenz auch Fehler machte. Gleichzeitig gönnte ich allen meinen Mannschaftskameraden einen guten Ritt. „Gut gemacht, mein Junge!“, klopfte ich mein Pferd und ritt zum Abreiteplatz. „Emily, du warst nicht schlecht“, rief mir Miss Hanson zu, „Wenn da nicht dieser Hindernisfehler gewesen wäre“ Immer fehlerfrei reiten konnte ich nicht. Das schaffte niemand. Nach mir war Ayleen an der Reihe. Da ihr Pferd zweimal scheute, brachte sie es an den Rand der Disqualifizierung.

 

Gut sah es bei ihr nicht gerade aus. Mehr Pech hatte der darauf folgende Reiter aus Wales, der vom Pferd fiel und verletzt liegen blieb, sodass ein paar Ersthelfer herbei eilen mussten. Nach ihm zog Laura Hilton, eine englische Nachwuchsreiterin alle Blicke auf sich. Sie schaffte den Ritt, wie er im Bilderbuche stand. Eine Topzeit und null Fehler! Selbst beim Abreiten lächelte sie, als hätte sie das Turnier bereits gewonnen, was auf mich ein wenig arrogant wirkte. Keiner der weitere Starter schaffte es überhaupt nur ein Stück an sie heran gekommen. Da war nur Sandrina, die ebenfalls einen fehlerfreien Ritt hinter sich hatte und nur Bruchteile von Sekunden langsamer war als Laura Hilton. Nachdem ersten Durchgang lag Sandrina auf dem zweiten Platz und ich auf dem fünften Rang. Wenigstens waren Matthew, Sandrina, Victoria in der zweiten Runde dabei. Unsere anderen beiden Teilnehmerinnen waren leider ausgeschieden.

 

Gleich am Anfang des zweiten Durchlaufes ereignete sich der zweite Sturz. Diesmal hatte die junge Irin sich nicht ernsthaft verletzt und konnte ihr Pferd vom Platz führen. Donnie schien wieder leicht hibbelig zu sein, aber nicht aus Nervosität, sondern vor Vorfreude. Wenn es ums Springen ging, war er in seinem Element. Es zeigte sich im zweiten Durchgang, wie gut er in Form war. Vor allem war er schnell und hatte viel Kraft, sodass ich es genau spüren konnte, wie er uns vom Boden abdrückte und unbedingt gegen die Schwerkraft gewinnen wollte. Gleichzeitig motivierte mich das wiederum. Ja, wir waren ein eingespieltes Team und wollten es den Zuschauern und den Schiedsrichtern zeigen. Sowieso war jeder zweite Ritt von uns besser als der erste.

 

Meine Stärke lag darin zu analysieren, worin unsere Fehler lagen und wie wir sie beim nächsten Mal vermeiden konnte. Was Donnie betraf, beim ihm schienen sich die Parcours in sein Gedächtnis einzubrennen, sodass er sie fast auswendig konnte und genau wusste, wie viel Power er für jede Hürde brauchte. Diesmal gab es keinen Patzer an der Blumenhecke. Allerdings vermasselten wir fast den Steilsprung. Unter mir klapperte eine Stange bedrohlich, die zum Glück dort blieb, wo sie hingehörte. „23:54 und null Fehlerpunkte“, lautete mein Resultat. Na also, lief doch! Erleichtert ritt ich Donnie auf dem Nebenplatz trocken. Das Turnier war gelaufen und jetzt konnte ich meine Gedanken kurz schweifen lassen. Ein bisschen schade war es schon, dass ich zum letzten Mal für St. Malory antrat. Andererseits würde ich in Zukunft noch größere und richtige Turniere reiten, wo nicht nur junge Leute an den Start gingen.

 

Sandrina hatte die Sensation geschafft, sie war sogar schneller als Laura Hilton, die jetzt eher grimmig wirkte, als dass sie so überheblich lächelte wie vorhin. Man sah ihr an, dass sie Lust hatte, ihre Silbermedaille auf den Misthaufen zu befördern. Durch meinen zweiten Ritt hatte ich es doch noch auf den dritten Platz geschafft, immerhin noch Bronze. Nach der Ehrenrunde mit wehenden Schleifenbändern und donnernden Pferdehufen fielen Sandrina und ich uns jubelnd um den Hals. „Ja, wir sind das Dreamteam von St. Malory!“, hüpfte ich auf und ab. Es erfüllte einen mit Stolz, dass Sandrina den Sieg für sich und unser College einholen konnte. Endlich waren wir wieder eine Hausnummer. Nachdem wir unsere Pferde bei den Stallburschen gelassen hatten, die unsere Vierbeiner versorgten, kam uns Dad entgegen.

 

„Sehr gut gemacht, Mäuschen! Ein dritter Platz ist schon sehr gut“, umarmte er mich und gab mir ein Küsschen. „Herzlichen Glückwunsch zum Sieg!“, gab er Sandrina die Hand. „James!“, begann meine Freundin auf einmal aufgeregt zu winken. „Da bist du ja“, drehte sich ein Mann mit Brille und aschblonden Haaren um, der Ende dreißig oder Anfang vierzig sein musste. „Alles Gute zum Sieg, Sandy!“, gab er ihr die Hand, „Du machst mich wirklich stolz“ „Seit wann nennt man dich Sandy?“, raunte ich ihr zu. „Meine alten Freunde nennen mich so“, erwiderte sie, „Aber ich mag Sandrina viel lieber“ „Wen hast du an der Seite?“, fragte ihr ehemaliger Reitlehrer. „Das ist meine Freundin Emily Dean, sie geht mit mir in eine Klasse“, stellte sie mich vor. „Langsam möchte ich etwas essen“, drängelte Dad. Inzwischen hatte ich auch guten Hunger, da ich seit Stunden nichts Richtiges mehr zwischen die Kiemen bekam. „Was haltet ihr davon, wenn ich euch auf ein Getränk, sowie auf ein Steak vom Grill und eine Pommes einlade?“, schlug Dad vor, „Sie sind natürlich auch eingeladen, James“ „Danke, das ist sehr nett von Ihnen“, bedankte sich der fremde Mann.

 

Als ich auf dem Parkplatz stand, rief mich Fintan an. „Wie ist das Turnier gelaufen?“, erkundigte sich er. „Sandrina hat das Turnier mit zwei sensationellen fehlerfreien Ritten gewonnen. Ich habe den dritten Platz belegt, weil ich mir im ersten Durchgang doch noch einen Patzer erlaubt habe, aber der zweite Durchgang war deutlich besser“, sprudelte es aus mir heraus. „Glückwunsch Schatz, das freut mich sehr für euch beide“, gratulierte mir mein Freund. „Und wo seid ihr gerade?“, fragte ich ihn. „Wir sitzen gerade bei der Siegesfeier in der Pizzeria“, antwortete er. „Cool, habt ihr das Finale wirklich gewonnen?“, strahlte ich. „Ja, aber im Elfmeterschießen“, erzählte er, „Im eigentlichen Spiel stand es 1:1, dabei hatte Alex seinen allerersten Treffer für unsere Schulmannschaft überhaupt erzielt, nachdem er nach einer Ecke den Ball ins Tor geköpft hat“

 

„Das ist ja klasse!“, freute ich mich, „Hast du beim Elfmeterschießen getroffen?“ „Ja, ich war dabei sogar ganz locker und habe den Torwart in die andere Ecke springen lassen. Danach hat unser Gegner zweimal verschossen, weswegen wir gewonnen haben“, berichtete Fintan voller Euphorie. „Herzlichen Glückwunsch, ihr Fußballer ward genauso erfolgreich wie wir“, lachte ich. „Ich würde sagen, das war ein sehr sportreiches und erfolgreiches Wochenende für St. Malory“, meinte er. Kurz darauf mussten wir Schluss machen. Dad wollte unbedingt losfahren, da es schon spät war. Auch ich merkte, wie geschafft ich war und schlief auf dem Beifahrersitz ein.

 

 

19. Kapitel

Es war der vorletzte Abend, den wir hier auf St. Malory verbrachten. Ich saß mit Fintan, Oli, Greta, Lars, Fiona, Shane und Alex unter der alten Eiche im Park und beobachteten, wie sich der Abendhimmel erst goldorange verfärbte und dann rotviolett. Die Vögel stimmten ihr Abendkonzert an, die Grillen zirpten und im Hintergrund wieherte ein Pferd. Es war ein lauer Sommerabend im Juli. Vor unserer Nase wurden bereits die große Musikbühne und ein paar Stände für morgen aufgebaut. „Ich habe das Gefühl, wir werden morgen aus dem Paradies verscheucht“, klang Oli traurig. „Ich kann mir das Leben ohne St. Malory nicht vorstellen“, sagte Greta, „Es ist mittlerweile mein Zuhause geworden“ „Ja, ist es nicht das Zuhause von uns allen?“, seufzte ich. „Man will hier gar nicht mehr ausziehen, obwohl ich mich hier anfangs gar nicht wohl gefühlt habe“, meinte Fiona.

 

„Mädels, jetzt schiebt doch nicht jetzt schon Trauer“, mischte sich Lars ein, „Es ist doch ganz normal, dass man Lebensabschnitte anfängt und wieder beendet“ „Immerhin haben wir alle das Examen erfolgreich bestanden“, nickte Fintan. „Soweit ich weiß, haben Mike, Lia-Mary und Jacob es nicht geschafft“, meldete sich Shane zu Wort, „Sie müssen das Jahr wiederholen“ „Immerhin haben wir es alle geschafft, also unser Freundeskreis“, lächelte Greta. „Aber bei Tiago und Patrick war es nur ganz knapp“, meinte Lars, „Vor allem Tiago mit seiner schwachen Fünf in Französisch“ „Natürlich waren Rosy, Stefanie und Matthew die Besten in unserem Jahrgang“, meinte Oli. „Klar, die spielen in einer anderen Liga“, sagte Alex dazu, „Denen fällt Lernen genauso leicht, wie das Hochheben einer Feder“ „Aber dafür war Rosy immer sehr fleißig und hat doppelt so viel gearbeitet wie wir alle“

 

Am frühen Nachmittag bekamen wir die Abschlusszeugnisse verliehen. Alphabetisch wurden wir in der Aula nach vorne auf die Bühne gerufen. „Emily Sophia Dean“, rief Mr. Scott mich auf und gab mir die Hand, bevor er mir das Zeugnis überreichte. Mit vielen Dreien, ein paar Zweien und zwei Vieren in Physik und Chemie konnte ich gut leben. Wenigstens hatte ich den Abschluss, worauf ich vier Jahre lang hingearbeitet hatte. Nun wurden die besten fünf Absolventen geehrt. Das waren Stefanie, Rosy, Matthew, Francis und überraschenderweise auch Ivan, der bei den Examensprüfungen am besten abgeschnitten hatte. Unsre Eltern, Geschwister, Verwandte und Bekannte applaudierten begeistert, als wir die Bühne verließen. Nun gab es eine halbstündige Pause, bevor unsere Show anfing. Schnell musste ich hinter die Kulissen und mich umziehen. Daher hatte ich keine Zeit um Dad, Grandma und Priscillas Eltern zu begrüßen, die unten im Publikum saßen.

 

Hinter der Bühne waren meine Mitschüler bereits in Hektik. „Hat jemand meinen Eselshut gesehen?“, fragte Oli panisch. „Er liegt hinter dir, Oli“, rief Sandrina. „Danke“, erwiderte Oli erleichtert. „Lass uns noch mal den Text zusammen durchsprechen“, trommelte Alex seine Leute zusammen. Wir holten unsere Zettel aus einer kleinen Box und sprachen ihn im Flüsterton noch mal durch. „Es geht los!“, raunte Tom. Das Intro erklang und der Vorhang öffnete sich. Nun standen wir alle zusammen mit den beiden Klassenlehrern auf der Bühne, als die Musik loslegte und die Beats durch die Aula dröhnten. Wir tanzten einen Medley, der mehrere bekannte Songs aus verschiedenen Epochen beinhaltete. Dazu hatten wir die passende Partytänze einstudiert, wie bei Macarena, den Village People oder beim Harlem Shake. Es kam beim Publikum gut an, das freudig im Takt mitklatschte. Die Stimmung war am explodieren und hatte den Siedepunkt längst überschritten. Bunte Lichter blitzten und leuchteten im Takt. Nach unserem ersten Auftritt wollte der Applaus gar nicht aufhören und die Leute forderten lautstark eine Zugabe.

 

Danach spielte die Schulband zwei Stücke, bevor wir mit den ersten Theaterszenen dran kamen. Besonders bei den nachgespielten Unterrichtsszenen und Streichen johlten die Zuschauer vor Lachen. Lucy als ultrastrenge Französischlehrerin und Tiago als rotzfrecher Schüler schossen den Vogel ab. Am besten war immerhin die Szene, als wir den Halloweenstreich aufführten. Das Gelächter ebbte nur langsam ab. Danach kam ein Jazzdancestück, das Arabella und ihre Freundinnen einstudiert hatten. Anschließend spielte wieder die Schulband drei Songs. Mal wieder ließ Alex sein Gitarrensolo erklingen. Ja, die Band hatte gerade einen richtig guten Lauf und ich musste wirklich zugeben, dass Arabella und Samantha eine richtig gute Stimme hatten. Nun kamen wieder Sketche und Szenen aus unserem Schultag an die Reihe. Es war eine gute Mischung aus Tanz, Theater und Musik, die die Show zu einem grandiosen Erfolg werden ließ. Als letztes führten wir gemeinsam einen irischen Folkloretanz auf, wo es die Zuschauer nicht länger auf ihren Stühlen hielt und sie begeistert mittanzten. Während der Verbeugung wurden wir gefeiert, als stünden wir auf dem roten Teppich in Hollywood. Lautstark wurde nach einer Zugabe verlangt. Diesmal musste die Schulband wieder ran, um die Zuschauer zu beruhigen.

 

„Endlich kann die richtige Feier beginnen“, klang Greta erleichtert, als wir kurz in unseren Zimmern waren und uns ordentlich in Schale geworfen hatten. Ich trug ein dunkelblaues Sommerkleid ohne Träger, dazu die Kette von Fintan und ein Paar Perlenohrstecker. „Endlich können wir uns ins Getümmel stürzen“, grinste Oli breit. Überall auf dem Internatsgelände war etwas los. „Amandine! Amandine!“, begann Rosy hektisch zu winken. Strahlend kam unsere Französin auf uns zu und umarmte jede von uns herzlich. „Eure Sketche waren so klasse“, schwärmte Amandine lachend, „Lucy, du kannst Tantchen echt gut nachmachen“ Wir quatschten uns mit Amandine fest, sodass wir nicht mitbekamen, dass erst Greta und dann Oli verschwand. „Halli Hallo, seht her, wen ich mitgebracht habe?“, kam Greta als erste mit einem asiatischaussehenden Mädchen in einem weinroten Cocktailkleid zu uns zurück.

 

„May!“, quiekte ich vor Freude und fiel ihr stürmisch um den Hals. Nach und nach fielen ihr die anderen Freundinnen um den Hals. „Mit dir haben wir gar nicht gerechnet“, war Rosy ganz perplex. „Wie auch, ich habe auch nur Greta bescheid gesagt und sie darum gebeten, dass die Überraschung euch gegenüber geheim halten soll. Außerdem bin ich so froh, euch nach über zwei Jahren wieder zu sehen“, grinste May und wischte sich eine pechschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Kaum einen Augenblick später kam Oli mit zwei Mädchen zurück, die sich recht ähnlich sahen. Beide hatten grüne Augen und trugen einen modischen Kurzhaarschnitt. Allerdings war die eine honigblond und die andere rothaarig. „Na, erkennt ihr uns?“, grinste die Rothaarige. „Stimmt, ihr seid es!“, stieß Greta überrascht aus, „Isabel-Janet und Alison!“ „Tja, wir dachten uns, dass wir euch zuerst etwas verunsichern“, lachte Isabel-Janet, „Aber mit unserer neuen Frisur und dem neuen Style erkennen uns die meisten Leute nicht wieder“ „Oh ja, ihr seht ganz anders aus“, bestätigte ich und nahm die Schwestern kurz in den Arm.

 

„Hach, ist das schön, dass wir am Ende wieder vereint sind“, war Rosy ganz glücklich. „Dafür haben wir auch keine Kosten und Reisestrapazen gescheut“, nickte Alison, „Wir wollten euch nach anderthalb Jahren unbedingt wieder sehen“ „Ich finde es sehr cool, dass ihr gekommen seid“, richtete sich Jenny an Amandine, May und die Burtonschwestern. „Das war die geplante Überraschung“, zwinkerte Greta Oli zu und die beiden tauschten einen Highfive aus. Glücklicherweise war Fiona voraus gelaufen und hatte einen ganzen Tisch für unsere Mädelsclique reserviert. Als erstes mussten wir eine Vorstellungsrunde starten, da May und Amandine sich nicht kannten und die Burtonschwestern Amandine auch noch nie zuvor gesehen hatten. „Mädels, ich will endlich etwas essen“, wurde Fiona ungeduldig, „Ich habe die ganze Zeit hier auf euch gewartet und habe Hunger“ In kleinen Gruppen gingen wir zu den Ständen, wo kleine Buffets und Grills aufgebaut waren. Es gab so viele Gerichte, dass ich gleichzeitig Nudeln, Pizza, einen Putenspieß und Garnelen auf meinem Teller hatte. Ein Hoch auf die Köche und auf die Jahrgänge unter uns, die so viele leckere Sachen gezaubert hatten!

 

Ich verbrachte die Zeit abwechselnd mit Fintan, meinen Verwandten und meinen Freundinnen. Ich pendelte ständig zwischen den Gruppen hin und her. Einmal entdeckte ich Fintan mit einem jungen Mädchen am Getränkestand. Es war ein paar Jahre jünger als wir, sah aber trotzdem sehr gut aus in ihrem roten Kleid und den langen blonden Haaren. „Das ist nur meine jüngere Schwester Fianna“, lachte Fintan, als er meinen eifersüchtigen Blick sah. Fianna hatte hübsche blaue Augen, die sie mit einem Kajal betont hatte. Sie war genauso groß wie ich, trug kristalline Ohrstecker und lächelte freundlich. „Hi Fianna!“, gab ich die Hand, „Du kennst mich doch bestimmt, ich bin Emily“ „Klar, kenne ich dich“, nickte Fintans Schwester, „Es war nur zwei Monate her, als du das letzte Mal bei uns warst“ „Ich habe dich in dem Abendkleid und mit der Schminke gar nicht wieder erkannt“, kicherte ich. „Sie ist mittlerweile richtig groß geworden“, legte Fintan den Arm um seine Schwester. „Wie alt bist du noch mal?“, fragte ich Fianna. „Ich werde in zwei Monaten fünfzehn“, erwiderte sie. Was für ein großes Mädchen sie nun war, dabei kannte ich sie noch als elf- oder zwölfjähriges Mädchen.

 

„In zwei Jahren werde ich hier auch zur Schule gehen“, strahlte Fianna, „Wollt ihr mir mal die Pferde zeigen?“ Die Einladung uns kurz aus dem Staub zu machen, ließen wir uns natürlich nicht entgehen. Am Weidezaun war es viel ruhiger und so hatten wir für einen Moment Auszeit vom ganzen Trubel. „Hier lässt sich es aushalten!“, schloss Fintan kurz die Augen und lehnte sich gegen das Gatter. Gedämpft waren immer noch die Stimmen der vielen Leute wahrzunehmen, die munter durcheinander schnatterten. Wenigstens waren die Pferde nicht so gesprächig. Als ich mit der Zunge schnalzte, kamen Moonlight und Molly zum Zaun gelaufen. „Wie heißen die Pferde und sind sie von der Schule?“, wurde Fianna neugierig. „Das ist Moonlight“, zeigte ich auf den Grauschimmel, „Daneben steht Molly, die manchmal ziemlich zickig sein kann“ „Die beiden gehören zum Schulbetrieb“, übernahm Fintan das Wort, „Die privaten Pferde der Reitschüler stehen auf der anderen Koppel, die am Waldrand liegt“ „Cool, wollen wir dort auch noch mal hingehen?“, fragte Fianna.

 

„Nein danke, das ist mir zu weit“, lehnte ich ab, „Ich kann in den Ballerinas nicht so weit laufen und außerdem sind unsere Pferde noch im Stall“ „Wisst ihr, wenn ich hier zur Schule gehe, sollen Kelly, Maira und Lynn unbedingt mitkommen. Sie sind meine besten Freundinnen und es wäre nur zu schön, wenn ich mit ihnen zusammen auf ein Internat gehen könnte“, klang Fianna ganz euphorisch. „Wollen wir nicht langsam zurückgehen?“, warf Fintan einen Blick auf seine teure Armbanduhr. Inzwischen standen Dad und Grandma zusammen mit Fintans Verwandten am Spirituosenstand. „Hey, da seid ihr ja!“, winkte uns Dad gut gelaunt zu, „Ihr kommt gerade passend! Ich lasse eine Flasche Sekt springen“ Er füllte jeden von uns etwas Sekt ein, selbst Fianna ein wenig, die ihr Glas mit Orangensaft auffüllte. „Auf unsere beiden erfolgreichen Collegeabsolventen!“, hob Mr. Bentley sein Glas und stieß mit seiner Frau und dann mit seinem Sohn an. Bevor Fintan und ich anstießen, gaben wir uns vorher noch einen innigen Kuss.

 

Am Abend startete die richtige Party auf der Bühne. Zuerst trat die Schulband mit ein paar weiteren Liedern auf und dann kam eine Partyband, die man für den heutigen Abend gemietet hatte. Bunte Scheinwerfer blinkten und strahlten auf die Musiker herab. Die Leute vor der Bühne hüpften die Leute auf und ab. Natürlich tanzten meine Freunde und ich ebenfalls ausgelassen und ließen die Sau raus. Nun hatten sich die Jungs um Fintan und Shane alle Sonnenbrillen aufgesetzt, um noch cooler zu wirken, als sie schon waren. Klassiker wurden gespielt, aber auch neue Songs aus den Charts. Es war einfach umwerfend. Am besten war es immer noch, dass unsere vier Freundinnen gekommen waren, um uns zum Abschied noch einmal zu sehen. Am meisten Zeit verbrachte ich natürlich mit Fintan. Eng aneinander geschmiegt tanzten wir zu den Liedern mit und küssten uns zwischendurch. Als es dunkel war, wurden überall im Park Fackeln und kleine Feuerschalen angezündet, über denen wir Marshmellow brieten. Zwischen den Bäumen waren unzählige Lichterketten gespannt, die in allen Farben leuchtete. Hier konnte man sich echt wie im Märchenwald fühlen.

 

„Überraschung!“, riefen die Burtonschwestern auf einmal und holten mehrere Packungen Knicklichter aus ihren Taschen. „Wie cool ist das denn!“, jubelte Oli, „Ich will auch eins haben“ Die Knicklichter konnte man bequem ums Handgelenk herum tragen. Greta kam auf die Idee mehrere Knicklichter zusammen zu stecken, sodass sie einen Heiligenschein ergaben. Nun steckten auch Oli, Rosy, May und ich unsere Knicklichter zu Heiligenscheinen zusammen, die wir uns auf den Kopf setzten. Oli und ich setzten sogar Fintan und Alex so ein leuchtendes Ding auf den Kopf. Zunächst protestierten sie, weil die Leuchtkränze angeblich ihre Frisur zerstörten. „Habt euch nicht so, Jungs!“, rief ich gegen die laute Musik an. „Ich will auch so ein Ding haben!“, hob Shane seine Hand, „Fiona, machst du mir auch einen Heiligenschein?“ Nun waren wir eifrig dabei Kränze aus Knicklichtern zu stecken, die wir an Mitschüler und Freunde verteilte. Bald hatte jeder so ein Ding auf dem Kopf, auch Freddy und Sandrina, die Hand in Hand auf uns zugeschlendert kamen.

 

„Wenn man uns so mit diesen Heiligenscheinen sieht, könnte man meinen, dass wir St. Malory mit einer großen Erleuchtung verlassen“, kicherten Lucy und Jenny. Fast jeder zückte sein Handy und jetzt wurden zig Fotos geschossen. „Was für eine astreine Party!“, grölte Jacob neben uns, der schon ein bisschen zu tief ins Glas geschaut hatte. „Jo, läuft bei uns!“, drehte sich Fintan zu ihm um und prostete mit ihm zu, da er sich gerade ein neues Bier geholt hatte. Nun stimmte die Band eines meiner Lieblingslieder an. Ich nahm die Hände von May und Isabel-Janet und hüpfte mit ihnen auf und ab. Die Party war ein echter Hit! Diesen wunderbaren Abend vergaß niemand von uns. Jetzt durften wir nicht daran denken, dass morgen mit einem Schlag alles vorbei war und wir Ex-Schüler dieses Internats waren. Schnell schob ich diesen Gedanken beiseite und feierte mit meinen Freunden weiter. Wir holten uns in regelmäßigen Abständen neue Drinks und Cocktails und stießen ständig aufs Neue an.

 

Um zwei Uhr war die offizielle Party vorbei. Inzwischen waren die meisten Angehörigen und Bekannte wieder gefahren und man traf nur noch auf Schüler. Trotzdem wollten wir noch weiter feiern. Obwohl ich den ganzen Abend getanzt hatte, fühlte ich mich noch gar nicht müde. Wir beschlossen noch eine Runde im Pool schwimmen zu gehen. Im Badehaus neben dem Pool hatten wir clevererweise bereits vorher unsere Badesachen deponiert, sodass wir innerhalb weniger Minuten im lauwarmen Wasser planschten und um die Wette schwammen. Ein Scheinwerfer sorgte dafür, dass man überhaupt etwas sah und im Hintergrund lief leise Musik. So ein Nachtschwimmen hatte auch seinen Scharm. Die Jungs kamen etwas später. Fintan und seine Kumpels kamen in schwarzweißen Bademänteln zum Pool. „Ihr seht aus wie Pinguine!“, kringelte sich Oli vor Lachen und nun kicherte meine gesamte Mädchencrew los. „Wenigstens sind wir Pinguine mit Stil“, sah uns Patrick ernst an, worauf wir wieder vor Lachen explodierten. Nach und nach legten die Jungs ihre Bademäntel ab und präsentierten ihre durchtrainierten Bodys.

 

„Achtung Arschbombe!“, erzeugte Tiago einen kleinen Tsunami. „Pass doch auf, du Pappnase, du bist mir fast auf den Kopf gesprungen!“, kreischte Jenny. Mit den Jungs im Pool wurde es noch wilder. Wir lieferten uns heftige Wasserschlachten, wobei ich mehrmals Wasser schluckte und doll husten musste. Freddy und Sandrina waren etwas abseits des Geschehens und küssten sich zärtlich. Das Gleiche wollte ich mit Fintan auch tun, aber er war gerade zu aufgedreht und jagte hinter Fiona her, die ihn mit einer Wasserpistole attackierte. „Hey, ihr Spielkinder!“, trat Arabella mit Stella und Francis an den Pool. „Was wollen die denn?“, hörte ich Greta laut sagen. „Wir haben in der Küche über zwanzig Liter Sangria zusammen gemischt“, fuhr Stella fort, „Ihr seid herzlich eingeladen“ „Sangria, wie geil ist das denn!“, kletterte Greta als erste aus dem Becken. Ruck zuck verpieselten wir uns zum Umziehen ins Badehaus. Sangria, das wollte sich keiner entgehen lassen.

 

Als wir wieder draußen waren, entdeckten wir die Jungs, die das süße Zeug aus den langen bunten Strohhalmen saugten. „Hey, das ist nicht fair, dass ihr ohne uns anfangt!“, rief Greta empört. „Immerhin haben wir die Eimer und die Stühle getragen“, erwiderte Lars augenzwinkernd. Inzwischen hatte jemand Reggaemusik angemacht, die momentan prima dazu passte. Amandine, Alison, Oli, Sandrina und ich setzten uns Shane, Fintan, Alex und Freddy, die einen Eimer für sich in Beschlag genommen hatten. „Hier habt ihr auch ein paar Strohhalme“, händigte uns Natascha uns ein paar dieser ellenlangen Sangriastrohhalme aus. „Dankeschön!“, murmelte ich und hielt meinen Strohhalm in die Bowle. Zuerst schmeckte die Sangria süß, bis man den Alkohol irgendwann doch noch herausschmeckte. „Arabella, eure Sangriabowle ist echt der Hit!“, lobte Oli. „Freut mich, dass ich auch noch ein paar nette Worte von dir höre“, lächelte Arabella zaghaft. Obwohl ich erst zweifelte, ob Arabella wirklich lächelte, merkte ich, wie sie sich wirklich über das Kompliment freute. Heute Abend war für Zickereien kein Platz. Manchmal war Friede, Freude, Eierkuchen auch ganz schön. Irgendwie wurde ich langsam müde und lehnte mich gegen Fintans Schulter. Sanft streichelte er über mein Haar und setzte mich auf seinen Schoß.

 

„Ich bin müde“, gähnte Greta, „Lars, trag mich ins Bett!“ „Kommt nicht in Frage“, setzte sich Fiona neben sie. „Was sagst du da?“, sah Greta sie irritiert an. Nun kam die Überraschung zu dran, die ich mit Fiona während des Vormittags vorbereitet hatte. „Kommt mit, Mädels“, blies ich zum Aufbruch, nachdem ich meinem Freund einen Gute-Nacht-Kuss gegeben hatte. „Warum gehst du mit uns in den Stall?“, wunderte sich May. „Hier wollen wir aber doch nicht schlafen, Emily“, wollte Alison auf der Stelle kehrt machen. „Nein, du kommst schön mit“, hielt ich sie am Arm fest. „Hä, was ist denn jetzt los?“, klang Isabel-Janet leicht verärgert. Nun kletterte ich in Windeseile die Leiter zum Heuboden rauf und forderte meine Freundinnen auf mir zu folgen.

 

„Emmi!“, stieß Amandine aus, „Hast du das riesige Schlaflager alleine hergerichtet? Das ist ja toll!“ „Ich habe ihr dabei geholfen“, meldete sich Fiona zu Wort. „Ist hier überhaupt Platz für zwölf Mädels?“, sah May ein bisschen skeptisch drein. „Und außerdem haben wir noch unsere normale Straßenkleidung an“, warf Lucy ein. „Egal, ich kann auch so schlafen“, ließ sich Oli in das weiche Heu plumpsen. Nun machten wir es uns alle auf den großen Laken bequem und deckten uns zu. An uns mangelte es nichts. Ich hatte für Getränke und Kekse gesorgt, damit niemand Hunger oder Durst haben musste. Als wir die Taschenlampen ausmachten, sahen wir den Mond, der durch das kleine Dachfenster schien. Wie gemütlich es hier war! Zufrieden lag ich zwischen Rosy und Amandine. Zudem lag ich mit Isabel-Janet Kopf an Kopf. „Vier wunderbare Jahre sind vorbei!“, hörte ich Greta leise murmeln. „Immerhin habe ich hier meine besten Freundinnen gefunden, zu denen ihr alle gehört“, war ich mit einem Mal wieder etwas glücklicher gestimmt. Freundschaft bedeutete mir viel.

 

Besonders während der Grundschulzeit und anfangs auf der Highschool war ich häufig einsam gewesen, da ich von meinen Mitschülern gehänselt wurde. Nach Moms Tod fühlte ich mich Monate alleine, war depressiv und verlor zunehmend den Draht zu meinen damaligen Freunden. Der Umzug nach London war ein Segen, obwohl ich am Anfang noch Probleme mit meinen Klassenkameraden hatte, die sie sich zum Glück nach einer gewissen Zeit gaben und ich in Jill eine gute Freundin fand. Richtig heimisch fühlte ich mich erst hier in St. Malory. Schon von Anfang an fühlte ich mich hier geborgen und freundete mich mit vielen meiner Mitschüler an. Endlich war ich keine Außenseiterin mehr oder das hässliche Entlein mit den roten Haaren. Daher wusste ich das Gefühl von Freundschaft und Gemeinschaft umso mehr zu schätzen. „Habt ihr Lust auf einen Mitternachtssnack?“, setzte sich Sandrina auf. Ich hörte ihre Frage nur noch halb, denn mittlerweile war ich richtig eingeschlafen und träumte von den schönsten Momenten, die ich hier erlebt hatte. Diese letzte Nacht war eine ganz Besondere und wir waren ganz nah bei unseren vierbeinigen Freunden.

 

Der Abschied am kommenden Vormittag war sehr emotional. Selbst unsere hart gesottene Französischlehrerin weinte bitterlich, als sie jeden Schüler noch einmal in den Arm nahm. „Macht es gut, au revoir!“, schniefte sie in ihr Taschentuch. „Tantchen, nicht weinen!“, nahm Amandine sie in den Arm. Auch Miss Greene standen die Tränen, als sie sich von uns verabschiedete. Bevor sich unsere Lebenswege trennten, machte Mr. Scott noch ein Jahrgangsfoto von uns. Als die ersten Autos unserer Eltern kamen, wussten wir, dass es endgültig vorbei war. Bei meinen Freundinnen und mir flossen kübelweise Tränen. Am dollsten weinten Greta, Lucy und Oli, für die St. Malory ein richtiges Zuhause geworden war. „Meine Güte, sind wir auf einer Beerdigung!“, stand Dad unmittelbar vor uns, als er in unsere verheulten Gesichter sah. „Ich will einfach noch nicht gehen“, heulte ich los und ließ mich in seine Arme fallen. Nach und nach leerte sich der Hof, inzwischen war auch schon die Hälfte meiner Freundinnen gefahren. Zum Glück war Fintan noch da.

 

„Ach du meine Güte!“, entfuhr es ihm, als er mich mit Fiona, Rosy, Lucy, Greta und Jenny auf einer Bank entdeckte. „Jetzt ist alles vorbei“, weinte Rosy, „Ich werde es so vermissen, die Pferde, das Internat und euch“ „Mädels, wollt ihr euch tagelang die Augen aus dem Kopf weinen“, senkte Fintan seine Stimme, „Ich kann verstehen, dass ihr traurig seid. Klar, das bin ich auch. Lars, Emil, Shane und Alex haben vorhin auch ein paar Tränchen vergossen, aber irgendwann muss Schluss mit der Gruppenheulerei sein. Ich werde demnächst noch ein Klassentreffen bei mir auf dem Hof organisieren. Auf jeden Fall werden wir uns noch öfter wieder sehen, keine Frage“ Fintans Worte hatten gesessen.

 

Nun waren unsere Tränen gestoppt und wir konnten wieder ein schmales Lächeln über die Lippen bringen. „Meine Mutter kommt, sie wird auch Lucy mitnehmen!“, sprang Jenny auf. Flüchtig umarmten uns die beiden Cousinen zum Abschied und sie machten sich mit ihrem Gepäck aus dem Staub. Fintan half mir Donnie in den Transporter zu verladen. Dank seiner aufmunternden Worte hatte ich wieder einen freien Kopf und konnte klar denken. „Schatz, ich melde mich bei dir“, küsste er mich und schlang seine Arme um meinen Oberkörper. „Ich werde übermorgen auf jeden Fall zu dir kommen und die erste Ferienwoche bei dir verbringen“, hauchte ich und spürte wieder Tränen in meinen Augen brennen. Rosy und ich stiegen zu Dad ins Auto. Während wir die Internatszufahrt entlang fuhren, sahen wir mit einem Tränenschleier vor den Augen aus den Fenstern hinaus.

 

Zuhause angekommen, legte mir Dad einen Briefumschlag auf den Küchentisch. „Das ist Mums Beitrag zu deinem bestandenen Examen“, sagte er. „Was?“, nun fiel mir die Kinnlade runter. „Sie hat vor sechs Jahren einen Brief an dich geschrieben, weil sie schon vorher das Geld für dich zur Seite gelegt und gerne Dinge im Voraus gemacht hat“, meinte Dad. Wusste Mom vorher, dass sie stirbt? Nun war ich ganz durch den Wind. Mit zittrigen Fingern öffnete ich den Brief.

 

 

Liebe Tochter, du bist jetzt schon vierzehn und langsam bist du auf dem Weg eine Frau zu werden. Ich bin mir sicher, dass du in zwei Jahren deinen Highschoolabschluss und in sechs Jahren hast du das College geschafft. Das Geld habe ich für dich, für meine einzige Tochter, zurückgelegt, damit du dir einen Herzenswunsch erfüllen kannst. Gönn dir eine Weltreise mit deiner ersten großen Liebe oder kauf dir dein Traumpferd. Natürlich kannst du das Geld anlegen und für deine erste eigene Wohnung verwenden. Langsam wirst du groß und triffst deine Entscheidungen selbst. Nachdem wir dich mit sechzehn auf ein Internat schicken, wirst du mit zwanzig zum Studieren in eine große Stadt ziehen. Allerdings würde ich dich sehr vermissen, meine kleine heißgeliebte Emily. Du bist mein kleiner Schatz mit den hübschen rotblonden Haaren, deinen himmelblauen Augen und deiner fröhlichen Lebensart. Ich habe dich ganz doll lieb, deine dich liebende Mom!“, las ich.

 

Ich legte den Brief und die 20.000 Pfund beiseite. Ich war so ergriffen, dass mir die Tränen kamen. Es fühlte sich so an, als würde Mom in Wirklichkeit mit mir sprechen. Zumindest höre ich ihre Stimme. Rosy, die auch schlucken musste, saß neben mir und hielt meine Hand. Es war traurig und schön zugleich, dass ausgerechnet Mom mir das größte Geschenk zum Examen machte, somit lebte sie wenigstens in meinem Herzen weiter und war überall dabei, wo ich auch war. Ich konnte immer auf sie zählen.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 14.09.2015

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Betty J. Victoria, die meine Internatsreihe sehr gerne liest :)

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