Momentan war in der Tierarztpraxis nicht viel los. Kein Wunder, wer brachte während der Mittagspause sein Tier vorbei. „Annemieke, kannst du kurz kommen?“, drang Frau Dankers Stimme aus dem Hinterzimmer. Die Tierärztin kniete neben einer kleinen Katze nieder, die ein schmerzhaftes Miauen ausstieß. Schon seit einigen Tagen war sie wegen einer entzündeten Wunde am Hinterbein bei ihnen in Behandlung. „Was kann ich tun?“, wollte Annemieke wissen. „Kannst du Maxi ins Behandlungszimmer bringen? Wir müssen ihr eine Spritze geben“, bat Frau Danker. Ohne etwas zu sagen, brachte Annemieke das Kätzchen im Körbchen nach nebenan. Wieder miaute das kleine Geschöpf vor Schmerzen. „Alles ist gut, gleich wirst du keine Schmerzen mehr haben“, redete sie beruhigend auf die Katze ein und strich über ihr samtiges Fell.
„Die Wunde heilt offenbar doch nicht, wie ich mir erhofft habe“, machte die Tierärztin ein besorgtes Gesicht und verabreichte die Spritze, während Annemieke das Hinterbein festhielt. Obwohl die Katze ein quäkendes Geräusch von sich gab, war sie kurz darauf wieder still. „Wir haben zwei neue Patienten“, kam Jennifer, die Tierarzthelferin hinein. „Um welche Patienten handelt es sich denn?“, drehte sich Frau Danker zu ihr um. „Zwei Meerschweinchen mit Milbenbefall“, meinte die Gehilfin. „Moment, wir sind gleich fertig“, sagte die Tierärztin. Nachdem die Katze behandelt wurde, brachte Annemieke sie wieder in das Hinterzimmer und versorgte sie mit Wasser und Futter. Im Behandlungszimmer hockten inzwischen zwei kleine Meerschweinchen auf dem Behandlungstisch. Annemieke fiel zuerst auf, dass sie an manchen Stellen kein Fell mehr hatten. „Wie konnten sich unsere Tiere mit diesen Milben infizieren?“, fragte die fremde Frau ratlos.
Im nächsten Moment klingelte aus Annemiekes Hosentasche. Peinlich berührt schlich sie in das Hinterzimmer. „Hey, ich bin’s Micky!“, nahm sie den Anruf entgegen. „Hey, hier ist Lotta!“, meldete sich am anderen Ende der Leitung. „Was gibt es dringendes, dass du mittendrin anrufen musst?“, fragte Annemieke sie mit gedämpfter Stimme. „Ich wollte dich an das Treffen nachher in der Stadt erinnern“, meinte ihre Freundin. „Das hatte ich sowieso noch auf dem Schirm, erst gestern haben wir deswegen geschrieben“, erwiderte sie. „Ach ja, unser Alpenurlaub ist jetzt in trockenen Tüchern!“, fügte Lotta hinzu, „Kommst du dann nachher um vier ins Eiscafe?“ „Könnte knapp werden. Ich muss noch bis halb vier in der Praxis bleiben“, sagte sie. „Dauert dein Praktikum wirklich so lange?“, fragte Lotta. „Na klar, jeden Tag bis halb vier“, bestätigte Annemieke. „Hey, kannst du Matti noch mal anschreiben?“, bat Lotta, „Ich habe sie vorhin nicht erreichen können“ „Klar, tue ich das! Bis nachher!“, beendete sie das Gespräch. Bevor sie wieder in den Nebenraum zurückging, schrieb sie eine Nachricht an ihre Schwester, die ihr Praktikum in der Küche eines Restaurants absolvierte.
Auf leisen Sohlen schlich sie zurück in das Behandlungszimmer. Hoffentlich hatte Frau Danker nicht gemerkt, wie sie knapp drei Minuten nebenan telefoniert hatte. Glücklicherweise war die Tierärztin mit dem Frauchen der beiden Meerschweinchen in ein Gespräch verwickelt. Nur Jennifer schien gemerkt zu haben, dass sie sich nach nebenan verpieselt hatte. „Mach lieber dein Handy aus, bevor es die Chefin merkt“, flüsterte sie Annemieke zu, die ihren Rat mit einem zaghaften Nicken annahm. Sie nahm auf einem Stuhl platz und sah zu, wie die kleinen Nager mit einem weißen Puder behandelt wurden. Das Frauchen bedankte sich bei Frau Danker und nahm ihre Vierbeiner wieder mit. „Was hast du solange draußen gemacht?“, wollte die Tierärztin wissen. „Äh…Eine Freundin hat mich angerufen“, erwiderte Annemieke verlegen, „Sorry, dass ich mein Handy nicht ausgeschaltet habe“
„Okay, aber das nächste Mal tust du das“, meinte sie nur. Nun standen Aufräumen und das Desinfizieren der Arbeitsfläche und der Geräte auf dem Plan. Hierbei legte sich Annemieke ordentlich ins Zeug. Ihr war der Handyzwischenfall immer noch peinlich, gerade wo sie bei den Unternehmen und Einrichtungen ein gutes Bild von sich hinterlassen sollten. Wichtiger war es, ihre Schule gut zu repräsentieren. „Ich will später keine Beschwerden über euch hören“, hatte sie die Stimme ihres Politiklehrers Herr Weber nur zu gut im Kopf. „Annemieke, da du heute ordentlich mitgearbeitet hast, kannst du von mir aus eine Viertelstunde eher gehen“, meinte die Tierärztin. „Vielen Dank, das ist sehr nett von Ihnen!“, strahlte sie und verabschiedete sich.
Draußen checkte sie ihre neuen Nachrichten. „Kann leider nicht kommen, Chef lässt mich nicht gehen“, schrieb ihr Mathilda in knappen Worten. „Dass sie bei so einem miesen Chef landen musste!“, ärgerte sich Annemieke insgeheim, „Wahrscheinlich lässt er sie bis in die Puppen Teller und Becher abwaschen“ Allgemein war ihre Schwester alles andere als zufrieden mit dem Praktikum. Jeden Abend kam Mathilda völlig erledigt nach Hause und beklagte sich über die unfreundlichen Mitarbeiter und die unmöglichen Arbeitszeiten. Annemieke tat ihr Zwilling schon ziemlich leid, zumal die Beziehung zwischen ihr und Sven immer wieder leicht kriselte. „Was habe ich für ein Glück, dass ich mein Praktikum bei Frau Danker machen darf“, war sie überzeugt. Mit den Tierärztin und den beiden Assistentinnen kam sie wunderbar zurecht. Keine war unfreundlich zu ihr und hatten viel Geduld.
„Hallo!“, eine bekannte Stimme drang zu ihr rüber. Im nächsten Moment hielt Emily auf dem Motorrad neben ihr. „Na, wie war dein Tag?“, wollte ihre beste Freundin wissen. „Super, mir macht das Praktikum einfach Spaß“, strahlte Annemieke über beide Backen. „Das freut mich! Bis gleich!“, brauste Emily davon, die ganz in der Nähe der Tierarztpraxis wohnte. Annemieke schwang sich auf ihr Rad. Zum Glück war das Wetter richtig gut, sodass sie ohne Jacke fahren konnte. Da sie noch genügend Zeit hatte, konnte sie einen kleinen Umweg durch den Stadtpark in Kauf nehmen. Obwohl es bereits mitte Oktober war, lag immer noch ein Hauch Spätsommer in der Luft. Einige Blätter der Bäume hatten sich bereits goldgelb verfärbt, doch die Mehrheit strahlte in einem satten Grün. Kinder im Grundschulalter spielten auf dem Spielplatz, eine ältere Dame fütterte Enten, eine Studentin sonnte sich neben ihr auf der Bank und zwei Hunde kabbelten sich freundschaftlich auf der Wiese. Eine ihrer Locken löste sich im Fahrtwind aus ihrem Pferdeschwanz und wehte vor ihrem Gesicht hin und her. „So muss Leben sein!“, dachte sie zufrieden.
Annemieke war wahrhaftig ein Mensch, der die Harmonie und die Ruhe liebte. In manchen Momenten war sie das krasse Gegenstück zu ihrer lebhaften Schwester, die ab und zu sehr aufbrausend sein konnte und immer Trubel um sich haben musste. „Ihr seid wie Ying und Yang“, hatte Kiki einmal zu ihnen gesagt. Tatsächlich konnten sich die beiden Schwestern mittlerweile sehr gut ergänzen. Während Mathilda ihre Stärken in Mathematik, Chemie und Geographie hatte, war Annemieke in Sprachen und Biologie deutlich begabter. Seit einiger Zeit unterschieden sich die Zwillinge zunehmend in ihrem Aussehen. Annemieke ließ sich ihre Haare wachsen, die sie öfter glättete oder aufwändig frisierte. Zudem favorisierte sie in letzter Zeit Kleidung in Creme- und Pastellfarben. Ihre Schwester hingegen ließ sich ihre wilden Locken immer noch auf Kinnlänge zurückschneiden und liebte bei der Mode sehr knallige Farben, vor allem grün und dunkelblau. Noch vor anderthalb Jahren waren sie zum Verwechseln ähnlich, da sie ihre Kleider immer mal untereinander tauschten, um ihre Mitmenschen bewusst zu irritieren.
„Hi Micky, auch schon da?“, winkte ihr Lotta von einem der Tische vor dem Eiscafe zu. „Wieso, bin ich etwa zu spät?“, erwiderte sie leicht irritiert. „Ach was, du bist auf die Minute pünktlich“, lachte Fianna. Tatsächlich war fast die ganze Bande bis auf Mathilda und Kiki versammelt. „Ach, wie gerne hätte ich auch Praktikum! Dann würden uns die Lehrer mit ihren Hausaufgaben, Referaten und Klassenarbeiten in Ruhe lassen“, seufzte Vivien und rückte ihre Sonnenbrille zurecht. Mit ihrer Hand fuhr sie sich durch ihre halblangen rotbraunen Haare, die in der Sonne wie poliertes Mahagoniholz glänzten. Da Aylin und sie erst in der neunten Klasse waren, hatten sie das mehrwöchige Praktikum erst im nächsten Schuljahr. „Vertue dich da nicht, Matti muss heute noch ein paar Überstunden machen“, widersprach ihr Annemieke. „Wie immer!“, verdrehte Aylin die Augen. „Arme Matti, sie hat es nicht verdient für so einen Idioten zu arbeiten, der sie dauernd herumscheucht!“, seufzte Emily, die ihren Latte Macchiato in Zeitlupentempo umrührte.
„Mein Praktikum bei der Bank ist auch nicht so spannend und cool, wie ich erwartet habe“, meinte Lotta, „Ich hätte doch in den Kindergarten oder in die Grundschule gehen sollen, doch da hätte meine Mutter garantiert gemeckert“ „Was bin ich froh, dass ich in meiner alten Grundschule gelandet bin und meinen früheren Klassenlehrer begleiten darf“, warf Fianna ein, „Mit den Kids habe ich jeden Tag meinen Spaß. Gestern durfte ich in der ersten Klasse eine Mathestunde an der Tafel halten“ „Uuuuh! Guten Morgen, Frau O’Hara!“, grinsten ihre Freundinnen breit. „Was kann ich für euch tun, meine Damen?“, stand ein charmanter Kellner vor ihrem Tisch. Nach und nach bestellten die Freundinnen. Nachdem der junge Mann wieder gegangen war, wechselte Lotta das Gesprächsthema. „Unsere Alpenfahrt ist in trockenen Tüchern! Ich konnte schon ein Gruppenticket für die Bahnfahrt besorgen und meine Großtante Anni ist damit einverstanden, dass wir in einem ihrer neuen Ferienhäuser unterkommen und nichts dafür bezahlen, allerdings müssen wir auch ein wenig auf dem Hof mithelfen. Das sind zumeist kleinere Aufgaben, z.B. das Vieh hüten, die Kühe melken oder die Ställe ausmisten“, verkündete sie triumphierend.
„Juhuu, das ist doch was! Alpengaudi mit den besten Freundinnen der Welt!“, gab Fianna all ihren Freundinnen Highfives. „Auf dem Hof zu helfen wird doch wohl nicht all zu schwer sein“, war Emily der Meinung. „Kühe melken ist doch ein Klacks!“, fügte Aylin hinzu. „Wann fahren wir überhaupt?“, schaltete sich Annemieke ein. Lotta nannte das Datum, das war gleich der erste Samstag in den Herbstferien. Schon seit Anfang des neuen Schuljahres war die Bandenfahrt in die Alpen Gesprächsthema Nummer eins. „Kommt Kiki auch mit?“, hakte Vivien nach. „Aber sicher, ich habe sie gestern Abend extra deswegen angerufen“, nickte Lotta. „Das wird noch schöner!“, war Fianna ganz aus dem Häuschen. Am meisten freute sich Aylin, die inzwischen einen kleinen Nebenjob hatte und sich zum ersten Mal eine Fahrt ohne Probleme finanzieren konnte. „Alpengaudi, Alpengaudi, hey hey hey!“, stimmten die Freundinnen an und ließen ihrer Freude freien Lauf. „Seht ihr nicht, wie komisch uns die Leute von den Nachbartischen angucken?“, zischte Vivien. „Man wird sich doch wohl mal freuen dürfen!“, gab Fianna pikiert zurück.
Zwei Kellner, die jeweils drei Eisbecher balancierten, steuerten auf ihren Tisch zu. „Wer hat den Erdbeertraum mit Joghurtsoße bestellt?“, fragte der Kellner. „Ich!“, schnellte Annemiekes Hand nach oben. „Das sieht ja lecker aus!“, bekam Fianna ganz große Augen und stibitzte eine Erdbeere. „Mein Eis!“, wies Annemieke sie kichernd zurrecht und puffte sie leicht. „Nie gönnst du mir etwas!“, streckte ihre Freundin ihr die Zunge raus, worauf wieder gekichert wurde. „Hey, wir kriegen doch alle unser Eis!“, mischte sich Emily giggelnd ein. „Auf unsere Alpengaudi!“, erhob Lotta ihren Löffel und tunkte ihn in die Schokoladensoße. Annemieke spießte eine Erdbeere auf, schob sie sich in den Mund und schloss kurz die Augen. So war das Eis am besten zu genießen.
Was für ein Jammer, dass ihre Schwester nicht anwesend war und die schöne Stimmung nicht mit ihnen teilen konnte! Stattdessen hockte sie garantiert in dieser gruseligen miefigen Küche und musste den Dreck wegmachen, den andere fabriziert hatten. Das Leben konnte schon manchmal ziemlich gemein sein. „Bleibst du weiterhin mit mir in der Stadt?“, berührte Emily sie leicht an der Schulter. „Klar gerne!“, nickte sie begeistert. Das Wetter lud zum Bummeln ein und zudem hatte sie nicht mehr täglich die Gelegenheit ihre beste Freundin zu sehen, die seit den Sommerferien die Realschule besuchte. „Ich habe in einem Laden ein paar tolle T-Shirts und Hosen im Sonderangebot gesehen!“, fuhr Emily begeistert fort. „Da müssen wir hin!“, beschloss Annemieke.
Erst gegen Abend kam Annemieke mit einer gut gefüllten Einkaufstasche zurück. Sie war doch mit Emily länger in der Stadt geblieben, als sie gedacht hatte. Normalerweise gab es bei ihnen um halb sieben Abendbrot. Laut ihrer Uhr war es bereits ein paar Minuten später. Pfeifend schloss sie die Haustür auf und stellte ihre Sachen im Flur ab. Merkwürdiger Weise war es still. War niemand von ihrer Familie anwesend? Da sie Durst hatte, ging sie in die Küche, wo sie ihre Mutter antraf. Sie lag mit ihrem Oberkörper auf dem Küchentisch und verbarg ihr Gesicht. Annemieke blieb wie angewurzelt stehen und ließ fast das Glas fallen, welches sie aus dem Schrank geholt hatte. Ein leises Schnäuzen drang zu ihr rüber. „Mama, weinst du etwas?“, fragte sie mit einem leicht mulmigen Gefühl. Keine Antwort, dafür ein neues Aufschluchzen.
„Jetzt sag schon, was los ist?“, blieb sie hartnäckig und legte ihrer Mutter die Hand auf den Rücken. Mit einem Mal war ihre gute Laune verflogen. „Falls du es wissen möchtest, dein Vater ist unerträglich“, erwiderte ihre Mutter mit erstickter Stimme. „Was ist passiert? Habt ihr euch gestritten?“, fragte Annemieke weiter nach. „Da möchte ich nicht weiter drüber reden, Micky!“, richtete sie sich auf, „Lass mich für einen Moment alleine“ Die rot verquollenen Augen ihrer Mutter verrieten alles. Garantiert hatte es wieder Streit mit ihrem Vater gegeben. Seitdem er mit dieser merkwürdigen Autoimmunkrankheit zuhause war und nicht arbeiten konnte, hatte er immer wieder seine Stimmungsschwankungen und wurde schnell sauer. Betroffen schlich Annemieke die Treppe hoch. Wieso musste Papa es an allen auslassen, dass es ihm nicht gut ging? Keiner hat ihm diese komische Krankheit gewünscht.
Gerade als sie sich auf ihrem Laptop ein paar Videos auf Youtube anschaute, hörte sie unten ein Poltern und Rumpeln. Das musste ihre Schwester sein. Mathilda war nie zu überhören, wenn sie zur Tür hineinkam. „Hi Matti, wie war dein Tag?“, lief sie die Treppe hinunter. „Scheiße!“, kam es von unten. „War dein Chef so gemein zu dir?“ „Du glaubst gar nicht, dass ich von meinen tollen Kollegen die ganze Zeit dumm von der Seite angemacht worden bin!“, legte ihr Zwilling los, „Aus einem zerbrochenen Teller machen sie gleich ein riesiges Drama und als mir die Bratkartoffeln etwas zu dunkel geraten sind, haben sie mich gleich an die Spüle verbannt!“ „Mensch, das ist ja gemein!“, nahm Annemieke ihre Schwester in den Arm, „Ich finde, du hast nicht verdient, dass man dich so herablassend behandelt“ „Wenn das so weitergeht, schmeiß ich hin!“, klang Mathilda frustriert. „Ach was, zieh das durch! Das ist doch nur noch eine Woche und danach können sie dich mal“, redete sie ihr Mut zu.
Mit einem Mal fiel ihr ein, dass gerade ihre Lieblingsserie im Fernsehen lief. Mathilda folgte ihr ohne sich die Schuhe auszuziehen. Glücklicherweise war das Wohnzimmer frei, das sonst dauernd von ihrem Vater in Beschlag genommen war. Bei Chips und Cola machten es die Zwillinge auf dem Sofa bequem. Gerade als die erste spannende Szene kam, platzte ihr Vater herein. „Was sind das für Sitten, Mathilda? Erstens schmeißt du deine Sachen auf dem Boden und dann ziehst du dir noch mal die Schuhe aus!“, donnerte er los. „Halt die Klappe, Papa!“, fauchte sie. „Du ziehst sofort deine Schuhe aus!“, wurde er laut. „Sei endlich leise, ich will die Sendung gucken! Gerade kommt eine spannende Szene, die ich wegen dir nicht verpassen will“, zischte Mathilda. „Du machst es jetzt oder…“, drohte er. „Das kann ich in zwei Minuten immer noch machen!“, schnitt sie ihm das Wort ab. „Jetzt war’s das mit eurer billigen Vorabendsendung!“, schaltete er den Fernseher aus. „Mensch Papa, musste das sein?“, meckerte Annemieke. „Du bist echt ein unerträglicher Vollidiot geworden!“, schrie ihre Schwester ihren Vater an.
„Mathilda, noch ein Wort und ich streiche dir das Taschengeld für den gesamten Monat! Deine Frechheiten gehen auf keine Kuhhaut mehr“, rief ihr Vater. „Deine miesepetrige Laune auch!“, schoss Mathilda zurück und versuchte ihm die Fernbedienung zu entreißen. Annemieke stand auf und ging in den Flur. Von draußen hörte sie, wie sich ihr Vater und ihre Schwester sich inzwischen niederländische Schimpfwörter an den Kopf warfen. „Laat met rust!“, explodierte Mathilda und stürmte an ihr vorbei die Treppe hoch. Im nächsten Moment knallte die Tür ihres Zimmers zu. Unschlüssig blieb Annemieke stehen, bis sie beschloss ein paar Takte mit ihrem Vater zu sprechen. „Das hätte nicht sein müssen, Mathilda kam vorhin ganz geknickt nach Hause“, redete sie auf ihren Vater ein. „Trotzdem lasse ich mir ihre Respektlosigkeiten nicht länger gefallen“, erwiderte er barsch. „Du hast doch angefangen! Wegen dir ist sie endgültig mit den Nerven zuende“, warf sie ihm vor. „Jetzt werd auch noch frech, Annemieke! Entweder du bist ruhig oder du gehst auf dein Zimmer“, wurde er wütend.
Da es keinen Sinn hatte mit ihm zu reden, ging sie zu ihrer Mutter in die Küche. „Der Idiot dreht mal wieder am Rad“, bemerkte ihre Mutter trocken. „Und das nur wegen einer Kleinigkeit“, klang Annemieke bedrückt und hatte auf einmal große Mühe ihre Tränen zurück zu halten. „Ich weiß auch nicht, was er hat“, seufzte ihre Mutter, „Vorhin ist er komplett ausgerastet, weil ich einen neuen Drucker gekauft habe“ „Wieso das denn?“, entfuhr es Annemieke. „Er meint, ich würde unser Geld aus dem Fenster werfen“, klang sie auf einmal sehr traurig, „Dabei hat unser alter Drucker wirklich nicht mehr richtig funktioniert“ Seitdem ihr Vater nicht mehr arbeiten konnte, bekam er von der Krankenkasse nur noch einen Teil seines Lohnes ausgezahlt. Annemieke spürte, dass er Angst hatte nicht mehr über die Runden zu kommen. Zwar war es insgesamt spürbar, dass sie etwas weniger Geld zur Verfügung hatten, trotzdem waren sie bei weitem nicht arm. Nahrungsmittel, Strom, Gas, Wasser, Sprit und Schulmaterialien der Zwillinge konnten bezahlt werden. Zudem konnten sie noch all ihren Hobbys nachgehen. Von wegen akute Geldknappheit! Was sollte Aylin sagen, die drei Geschwister hatte und um jede Teilnahme an einer Fahrt zittern musste?
„Ach Mama, Lotta hat erzählt, dass die Fahrt in die Alpen in trockenen Tüchern ist“, wechselte sie das Thema. „Oh das ist schön! Ich freue mich, wenn ihr mit euren Freundinnen einen tollen Urlaub verbringen könnt“, freute sich ihre Mutter und fügte hinzu, „Das ist garantiert viel schöner als mit deinem Vater und mir“ „Ach was, mit dir wäre das sicherlich auch schön!“, nahm Annemieke die Hand ihrer Mutter. Insgeheim wünschte sie sich, dass ihre Eltern sich wieder vertragen würden. Von den wochenlangen Zankereien hatte sie inzwischen die Schnauze voll. Einen Moment schwiegen sie vor sich hin. „Nimm es mir nicht übel, Micky! Aber ich glaube inzwischen ist es das Beste, dass wir uns trennen und auseinander ziehen. Ich werde bald mit euch zu meinen Eltern ziehen. Es ist einfach nicht mehr das Gleiche wie früher, als Papa und ich in Bremen studiert haben. Wir haben uns fast nichts mehr zu sagen und die Liebe fehlt, das ist nicht erst seit gestern so. Wegen euch Zwillingen haben wir jahrelang das perfekte Ehepaar gespielt, da wir euch nicht verletzen oder traumatisieren wollten“, sagte ihre Mutter im Flüsterton und brach kurz darauf in Tränen aus.
Annemieke fühlte sich, als wäre sie zigfach geohrfeigt worden. „Bitte Mama, könnt ihr es nicht noch mal versuchen?“, bettelte sie fast. „Das ist unmöglich, es ist einfach vorbei und daran lässt sich nichts ändern!“, bloggte ihre Mutter rigoros ab. Plötzlich stieg eine heftige Wut in Annemieke hoch. „Wieso gebt ihr eure Beziehung einfach so auf?“, schrie sie, „Ihr seid doch seit Jahren verheiratet und bis zu den Sommerferien habt ihr euch ganz normal verhalten. Euch wegen ein paar Streitereien und einer schweren Lebensphase zu trennen ist wohl das Allerletzte! Merkt ihr gar nicht, wie Matti und ich inzwischen darunter leiden, dass ihr euch bei jeder Gelegenheit in die Haare kriegt?“ Aufgebracht rannte sie die Treppe hoch und riss die Tür ihres Zimmers auf. Ihr Herz setzte einen Moment aus, als sie Mathilda entdeckte, die wie ein Häufchen Elend zusammengekauert auf ihrem Bett saß.
„Was ist nur in dich gefahren?“, sah Mathilda mit einem müden Blick zu ihr auf. Lauter nass geschniefte Taschentücher und ihre roten Augen ließen erahnen, dass sie gerade geweint haben muss. „Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll“, ließ sich Annemieke auf ihrer Bettkante nieder. „Was denn? Worum geht es?“, wurde ihre Schwester ungeduldig. „Unsere Eltern wollen sich vielleicht trennen! Dann will Mama mit uns zu Oma und Opa ziehen“, sagte sie ihrer Schwester die Wahrheit ins Gesicht. „So ein Blödsinn!“, zischte Mathilda, „Haben unsere Alten nichts außer ihren dämlichen Streitereien im Kopf? Es kann doch nicht sein, dass sie so plötzlich auseinander ziehen wollen. Wer hat dir das mit der Trennung gesagt?“ „Mama...“, hauchte Annemieke und konnte nicht weiter sprechen. Sie spürte den Drang zu weinen. „Diese blöde Pute ist selber verantwortlich, wenn sie auf Papas Launen eingeht und sich da hineingesteigert“, war ihre Schwester außer sich. „Aber ich kann Mama verstehen“, wand Annemieke ein, „Er geht in letzter Zeit wirklich nicht zimperlich mit ihr um“ „Trotzdem wäre alles nur halb so schlimm, wenn sie nicht bei jeder Gelegenheit so hysterisch werden würde“, grummelte Mathilda. „Da musst du dich selber an deine eigene Nase packen, du gehst ebenso bei jeder Kleinigkeit hoch“, fuhr sie ihre Schwester an. „Jetzt werd du auch noch zickig!“, erwiderte ihr Zwilling in einem pampigen Tonfall. Streit mit ihrer eigenen Schwester hatte ihr gerade noch gefehlt.
Mit hängendem Kopf schlich sie ins Badezimmer, um sich zu duschen. Gerade als sie sich ihre Kleider vom Leib streifte, bekam sie mit, wie sich ihre Eltern lautstark im Flur stritten. „Mit dir ist es nicht auszuhalten! Es ist besser ich verschwinde von hier!“, brüllte ihre Mutter. Mit einem Krachen fiel die Haustür ins Schloss. Im nächsten Moment fuhr sie das Auto aus der Garage. Oh nein, wollte sie heute etwa die Flucht ergreifen? Annemieke erstarrte erneut. Was war das nur für ein scheußlicher Abend? Ein Streit jagte den nächsten und zudem fühlte sie sich von ihren Eltern auch ziemlich hintergangen. Machte ihre Mutter ihre Drohung sich von ihrem Vater zu trennen wahr? Sie stellte die Dusche an und drehte das Radio auf. Passend zu ihrer Stimmung lief ein ziemlich trauriger Song. „Why did you leave me? Loosing you is a shot in my heart“, sang der Sänger mit schwerer Stimme. Das warme Wasser löste ihre Schockstarre auf, sodass sie hemmungslos zu weinen anfing.
„Warum tun unsere Eltern uns das nur an?“, schluchzte sie laut auf. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Wasser und dem Shampoo. Bei dem Plätschern des Wassers und den lauten Hintergrundgeräuschen traute sie sich alle Emotionen heraus zu lassen, die sie vor ihrer Familie versteckt gehalten hatte. Laut heulend boxte sie gegen die Wand, feuerte einen Lappen gegen das Fenster und zerknüllte den Schwamm. Was wäre nur, wenn ihre Mutter sie und Matti schnappen würde und zu ihren Großeltern ziehen würde? Dafür müssten sie die Schule wechseln und aus dem Hockey- und Reitverein austreten. Das Schlimmste wäre, dass sie ihre besten Freundinnen nicht mehr täglich sehen könnten. Was ein Umzug in eine andere Stadt bedeutete, konnte man bei Kiki am besten sehen. Zwar war sie noch die offiziell die Bandenleaderin, trotzdem schlug sie nur noch ein oder zweimal im Monat in Freudenburg auf. In Mainz hatte sie inzwischen eine neue Clique und seit neustem einen Freund.
„Meine Güte, Micky, du siehst aber fertig mit der Welt aus!“, empfing Mathilda sie, als sie im Pyjama in ihr Zimmer kam. „Bin ich auch!“, gab Annemieke zu. „Es ist nur halb so schlimm“, beruhigte ihr Zwilling sie, „Ich habe gerade noch mit Papa gesprochen. Mama hat ihm gerade eine SMS geschickt, dass sie gerade bei ihrer Freundin Ina ist. Sie wird nachher zurückkommen“ Vor Erleichterung kamen Annemieke beinahe erneut die Tränen. „Magst du noch ein wenig bei mir bleiben?“, bot ihr Mathilda an. „Für eine Weile gerne“, nickte sie und schlüpfte zu ihr unter die warme Bettdecke. Es war ein wunderbares Gefühl neben der Zwillingsschwester zu liegen, sich die Seele vom Leib zu reden und sich geborgen zu fühlen. „Weißt du, was mir aufgefallen ist“, begann Mathilda. „Worauf willst du hinaus?“, zog Annemieke fragend die Augenbrauen hoch. „Mama und Papa tragen ihre Eheringe nicht mehr“, sagte ihre Schwester leise. „Oh, darauf habe ich nicht geachtet“, gestand sich Annemieke selbst ein. „Glaub mir, ich habe das jetzt schon ein wenig länger beobachtet. Weder an Mamas noch an Papas Hand glitzert ein silberner Ring. Ich weiß ganz genau wie die Eheringe unserer Eltern aussehen. Papa habe ich schon mindestens zwei Wochen ohne Ring gesehen und Mama trägt ab und zu nur so einen kitschigen Schmuckring anstelle des Eherings“, fuhr ihr Zwilling fort. „Oh je, das macht die Situation auch nicht besser“, seufzte Annemieke und schloss niedergeschlagen die Augen. Die Situation schien hoffnungslos zu sein. Schweigend lagen die Schwestern nebeneinander, beide in ihre eigenen Gedanken versunken.
„Hast du eine Idee, wie Mama und Papa wieder mehr zusammenfinden?“, stieß Mathilda sie an. „Darauf weiß ich keine Antwort“, war Annemieke ratlos, „Momentan hätte ich keinen Einfall, was ihre Beziehung retten könnte“ „Aber irgendetwas müsste es doch geben, dass wir ihre Ehe retten können“, ließ Mathilda nicht locker.
„Meinetwegen können wir ihnen einen Liebestee kochen oder sie mit einem betörenden Duft einsprühen“, murmelte Annemieke, „Aber nichts wird helfen, solange sie es nicht von alleine wollen“ „Ich werde nicht zulassen, dass diese Miesere unsere Familie zerstört. Mama, Papa, du und ich wir gehören zusammen und zwar nur zu viert. Ihr seid die wichtigsten Personen in meinem Leben und zwar noch viel wichtiger als die anderen Roten Siebenerinnen und Sven“, gab sich ihre Zwillingsschwester kämpferisch. „Hm, ich hätte schon eine kleine Idee“, dachte Annemieke halblaut nach, „Zwar könnten wir aus der Sicht unserer Eltern kleine Liebesbriefe schreiben. Ich schreibe aus Mamas Sicht an unseren Vater und du umgekehrt“
„Die Idee ist wirklich nicht verkehrt, aber ich bin wirklich keine Romantikerin“, meinte ihre Schwester. „Dann schreibe ich es halt allein“, bestimmte Annemieke. „Ich bin mir sicher, du wirst die passenden Worte finden“, griff Mathilda nach ihrer Hand. „Bist du dir ganz sicher? Was ist, wenn ich vielleicht in ein Fettnäpfchen trete? Jedes falsche Wort kann fatal sein“, überkamen sie im nächsten Moment Selbstzweifel. Die beiden Schwestern diskutierten, was das Zeug hielt und suchten nach Lösungen der Eheflaute ihrer Eltern. Um kurz nach eins übermannte zuerst Annemieke die Müdigkeit und wenig später auch ihre Schwester. Mittlerweile war es Jahre her, dass sie zuletzt gemeinsam in einem Bett schliefen. Sieben Stunden später klingelte Mathildas Wecker. „Ich will gar nicht aufstehen, irgendwie geht es mir nicht gut“, murmelte sie mit matter Stimme. Annemieke erkannte sehr wohl, dass sie sich vor dem Praktikum drücken wollte. „Komm schon, Faulpelz!“, warf sie ihr ein Kissen ins Gesicht, welches sofort zurückkam. Im nu war eine wilde Kissenschlacht im Gange und die Zwillinge waren hellwach.
Als die Schwestern nach unten in die Küche gingen, saßen ihre Eltern bereits am Frühstückstisch. Auffällig war, dass sie nicht miteinander sprachen. Ihr Vater verbarrikadierte sich hinter der Zeitung und ihre Mutter rührte pausenlos ihren Milchkaffee um. „Übrigens hat mir eure Mutter erzählt, dass ihr in den Herbstferien mit euren Freundinnen in die Alpen fahren wollt. Da wir die Reise kaum finanzieren können, bleibt ihr während der Ferien hier“, eröffnete ihr Vater das Gespräch. „Das ist nicht gerecht!“, echauffierte sich Mathilda und wurde puterrot im Gesicht. „Ihr habt uns vorher versprochen, dass wir mitfahren dürfen“, sprang Annemieke ihrer Schwester bei. Was war nun wieder mit ihrem Vater los? „Ihr habt manchmal wirklich keine Ahnung wie teuer das Leben ist“, warf ihr Vater ihnen vor.
„Ich werde dafür sorgen, dass meine Töchter mit ihren Freundinnen verreisen dürfen, auch wenn ich sie eigenständig in die Alpen karre“, sprach ihre Mutter ein Machtwort und fügte kritisierend hinzu, „Nur weil du schlechte Laune hast, müssen unsere Töchter nicht darunter leiden. Außerdem werden unsere Kinder kostenlos bei Verwandten von Lotta untergebracht und daher muss lediglich nur die Bahnfahrt bezahlt werden. Wenn du zu geizig bist, dann bezahle ich ihnen die Bahnfahrt“ „Mama, du bist die Beste!“, fielen ihr die Zwillinge um den Hals. „Ich finde ihr solltet euren Spaß mit euren Bandenfreundinnen haben“, lächelte ihre Mutter. „Da Lotta ein Gruppenticket organisiert hat, kommt uns die Fahrt nur halb so teuer“, strahlte Mathilda. „Hurra, wir fahren!“, war Annemieke aus dem Häuschen. Da nun die Wogen geglättet waren, konnte in Frieden gefrühstückt werden.
Schon am Abend vor der Abreise packten die Zwillinge ihre Koffer. „Vergesse auf keinen Fall dicke Sachen, deine Stiefel und deine Winterjacke einzupacken“, erinnerte Annemieke ihre Schwester, „In den Alpen kann es schon im Oktober schneien“ „Menno, dann wir mein Koffer doppelt so schwer sein“, murrte Mathilda. Gut gelaunt summte Annemieke vor sich hin. „Bandenfahrt, Bandenfahrt, morgen geht die Rote Sieben auf Bandenfahrt!“, sang sie leise und kramte einen dicken Wollpulli aus dem Schrank. „Ich weiß wirklich nicht, ob ich mitfahren soll“, ließ sich ihre Zwillingsschwester seufzend auf ihr Bett fallen. „Hä, wieso das?“, horchte sie auf. „Wegen Sven“, murmelte Mathilda und hörte sich unglücklich an. „Was soll mit ihm sein?“, hakte Annemieke nach. „Ich habe ihn seit zwei Wochen nicht gesehen, weil er angeblich nie Zeit hatte. Nun postet er ein Bild auf Facebook, wo er mit einem anderen jungen Mädchen zu sehen ist“, fuhr Mathilda geknickt fort.
Sven hatte die letzten beiden Wochen sein Praktikum in einem Chemielabor absolviert. Da es ihm dort sehr gut gefallen hat, wollte er das Praktikum um drei Tage verlängern. „Ich glaube nicht, dass Sven dich hintergeht“, setzte sich Annemieke neben sie. „Glaubst du wirklich?“, murrte ihre Schwester. „Quatsch, das junge Mädchen neben ihm wird nur eine Laborantin sein, die sich nur sehr gut mit ihm versteht. So wie sie aussieht, ist sie bestimmt schon zwanzig. Sven ist mit knapp fünfzehn viel zu jung für sie“, versuchte Annemieke ihr etwas Positives entgegenzusetzen. Die sonst so lustige und quirlige Mathilda wirkte seit den letzten Wochen ziemlich abgeschlagen und launisch. Annemieke wusste, dass ihre Schwester momentan viele Sachen bedrückten. Vor allem wenn es um Sven ging, der seine Freundin zurzeit immer wieder vernachlässigte.
Am nächsten Morgen ging es schon ziemlich früh in Richtung Bahnhof. Ihre Mutter fuhr sie zum Bahnhof. „Ich freue mich Kiki wieder zu sehen. Seit gefühlten Jahren habe ich sie nicht mehr gesehen“, freute sich Mathilda. „Genau genommen war sie seit vier Wochen nicht mehr hier“, wusste Annemieke aus dem Gedächtnis. Es war der längste Zeitraum, wo Kiki von ihrer geliebten Bande getrennt war. „Kommt euch Kiki gar nicht mehr besuchen?“, wunderte sich ihre Mutter, die Kiki ebenfalls sehr gerne mochte. „In letzter Zeit kam sie uns nur selten besuchen“, klang Mathilda etwas enttäuscht. „Wenigstens fährt sie mit uns in die Alpen“, lächelte Annemieke. Obwohl die Bandemädchen immer noch gut mit Kiki befreundet waren, war nichts mehr so wie vor knapp einem Jahr. Noch am Anfang besuchte Kiki ihre Freundinnen fast jedes Wochenende. Inzwischen hatte sie in Mainz dutzende neue Freundinnen gefunden. Seitdem sie mit Maik zusammen war, beanspruchte ihr neuer Freund ihre volle Aufmerksamkeit.
„Diese verdammten Motorradfahrer fahren wie die reinsten Henker!“, wurde Annemieke durch das Geschimpfe ihrer Mutter in die Gegenwart zurückgeholt. „Gleich sind wir da!“, wisperte ihr Mathilda aufgeregt zu und rieb ihre Hände aneinander. Da der Parkraum am Bahnhof sehr begrenzt war, stellte die Mutter der Zwillinge den Wagen auf dem Parkplatz eines Supermarktes ab. Strahlend hakten sich die Zwillinge unter. „Hey, wollt ihr eure Koffer im Auto lassen?“, rief ihnen ihre Mutter hinterher. „Ups, unsere Koffer hätten wir fast vergessen“, fing Mathilda an zu kichern. Die Vorfreude der Schwestern steigerte sich, desto mehr sie sich dem Bahnhofsgebäude näherten. „Sie sind bestimmt schon am Gleis“, vermutete Annemieke. „Hallihallo! Da seid ihr ja!“, rannte Fianna jubelnd auf sie zu und fiel ihnen um den Hals. „Hallo Fianna!“, gab die Mutter der Zwillinge ihr die Hand. „Hallo, Frau ter Steegen!“, lächelte Fianna. „Sind wir wirklich die letzen?“, wollte Mathilda wissen. „Das seid ihr“, bestätigte ihre Freundin, „Schon die ganze Zeit halten wir nach euch Ausschau“
„Ist Kiki schon da?“, begannen die Augen der Zwillinge zu strahlen. „Klar, aber ihr werdet sie kaum wieder erkennen“, grinste Fianna. Die drei Mädchen rannten los. Am Bahnsteig hatten sich ihre Freundinnen bereits versammelt. „Kiiiikiiii!“, schrie Mathilda auf einmal. Jubelnd ließ sie ihren Koffer stehen und legte einen Sprint hin. Schnaufend folgte ihr Annemieke. „Hallo Zwillingsmäuse, wunderbar euch wieder zu sehen!“, umarmte Kiki die Zwillinge überschwänglich. „Meine Güte, wie siehst du denn aus?“, entfuhr es Mathilda. „Ich war letztens beim Friseur“, lächelte ihre beste Freundin. Kiki hatte sich ihre Haare auf Kinnlänge abschneiden lassen und zu einem Seitenscheitel gekämmt. Zudem durchzogen einige karamellfarbene Strähnen ihre pechschwarzen Haare. „Sieht schick aus!“, fand Annemieke, obwohl sie immer noch der Meinung war, dass Kikis langen Indianerzöpfe sonst immer ihr Erkennungsmerkmal gewesen waren.
Nach und nach wurden die beiden Schwestern von ihren anderen Freundinnen stürmisch begrüßt. „Fast hättet ihr eure Koffer wieder stehen lassen!“, kam ihre Mutter hinterher. „Zum Zweiten!“, fügte Annemieke grinsend hinzu. Im nächsten Moment verkündete eine Lautsprecherdurchsage die Einfahrt des Zuges, der sie nach München bringen würde. „Euch eine schöne Reise!“, wurde Annemieke von ihrer Mutter in den Arm genommen. „Danke Mama, ich werde dir jeden Tag schreiben“, versprach sie ihr. „Und ihr lässt mich mit eurem Vater alleine!“, fügte ihre Mutter halbernst hinzu. „Nimm es nicht so schwer, Mama!“, gab ihr Mathilda einen Abschiedskuss. Kurz darauf fuhr der Zug ein und kam quietschend zum Stehen. Zu acht stürmten die Freundinnen in das nächste freie Abteil. „Bleiben wir zusammen oder teilen wir uns auf?“, blieb Vivien unschlüssig im Gang stehen. „Natürlich bleiben wir zusammen!“, entschied Kiki und hievte ihren Koffer auf die Ablage.
„Almgaudi, Alpengaudi, hurra wir kommen!“, sang Lotta gut gelaunt vor sich hin. Da es nur sechs Sitzplätze gab, klappten die Roten Siebenerinnen alle Lehnen hoch. Zufrieden ließ sich Annemieke zwischen Aylin und ihrer Schwester nieder. „Eng, aber sehr gemütlich!“, stellte Vivien fest, die neben Lotta am Fenster saß. Von draußen winkte ihnen die Mutter der Zwillinge zu. Die Bandenmädchen winkten zurück bis ihnen die Hände fast abfielen und der Zug den Bahnhof verlassen hatte. „Endlich weg von zuhause!“, freute sich Mathilda. Annemieke konnte ihre Meinung nur teilen. In letzter Zeit hatten sich ihre Eltern noch häufiger gefetzt. Dabei versuchte ihr Vater Mathilda auf seine Seite zu ziehen, während Annemieke oft ihre Mutter in Schutz nahm. „Ist der Ehestreit eurer Eltern inzwischen besser geworden?“, richtete Lotta einen neugierigen Blick auf die Zwillinge an. „Was geht dich das an?“, erwiderte Mathilda barscher als gewollt. „Naja, es ist immer noch wie vorher“, lenkte Annemieke ein. „Hoffentlich trennen sich eure Eltern nicht“, warf Emily besorgt ein. „Das hoffe ich auch“, murmelte Mathilda. „Meine Eltern haben sich ziemlich schnell voneinander getrennt“, meinte Emily. Die Zwillinge tauschten unbehagliche Blicke aus.
„Können wir nicht das Thema wechseln? Ihr seht doch, dass sie nicht darüber sprechen wollen und meiner Meinung nach ist dieses Gesprächsthema ein echter Stimmungskiller“, mischte sich Kiki ein. „Danke Kiki!“, sagte Annemieke in ihren Gedanken. Ihre Freundin hatte ein echt gutes Gespür für ihre Mitmenschen. Zur Freude der Mädchen gab Fianna eine Runde Gummibärchen aus. „Mutig und freundlich, so tapfer und gläubig, fröhlich und frech kämpfen sie auch für dich! Leben im Wald unter Bäumen und Steinen, in ihren Höhlen sind sie zu Haus! Gummibärchen hier und dort und überall! Sie sind für dich da, wenn du sie brauchst, das sind die Gummibären!“, stimmten Mathilda und Kiki den Song von der Gummibärenbande an. Die ganze Bande stimmte ein und sang den Song mindestens dreimal. Da Lotta und Fianna eine unbeschreiblich gute Laune hatten, stimmten sie noch mehr Lieder an. „Ich komm mir vor, als wäre ich mit einem Chor unterwegs“, lachte Emily. „Das bist du auch!“, gickerte Aylin und fing an ihr Lieblingslied zu singen. Mit einem Mal waren die Freundinnen ruhig. Aylin hatte eine wunderbare Stimme und hatte vor über drei Jahren den Talentwettbewerb mit diesem Song gewonnen.
Der Rest der Fahrt verlief eher ruhig. Entweder beschäftigten sich die Mädchen mit ihren Handys, hörten über ihrer MP3-Player Musik, lasen in Zeitschriften oder dösten. Lotta machte in der Zwischenzeit ein paar unvorteilhafte Bilder ihrer Freundinnen. Sie schaffte es eine dösende Fianna, Mathilda mit Locken vor ihrem Gesicht und Vivien abzulichten, die sich an der Fensterscheibe die Nase platt drückte. Annemieke blätterte in einem Mädchenmagazin herum. Als Lotta sie fotografieren wollte, hielt sie ihr das Handgelenk fest. „Mensch Lotta, muss das sein!“, nörgelte sie. Mit leicht beleidigter Miene ließ sich Lotta wieder auf ihren Sitz zurückplumpsen. Bald darauf kamen sie in München an. Sich auf dem großen Bahnhof zurrecht zu finden, war nicht gerade einfach. Am besten behielt Lotta den Überblick. Da die Bandenmädchen inzwischen einen mächtigen Hunger hatten, kehrten sie in ein Schnellrestaurant ein, um sich mit Pommes, Hamburgern und Softdrinks einzudecken. Glücklichweise hatten sie knapp anderthalb Stunden Aufenthalt, sodass sie sich beim Essen nicht hetzen musste.
Für Aufregung sorgten Emily und Mathilda, die zu zweit in einen Souvenirladen abdampften und bis kurz vor der Abfahrt nicht wiederkamen. „Das war aber knapp!“, raunte ihnen Lotta zu. „Es wäre nur zu blöd gewesen, wenn wir wegen euch den Anschlusszug nicht bekommen hätten“, fügte Kiki hinzu. Der nächste Zug, in dem die Mädchen saßen, war ein richtiger Bummelzug. Im gefühlten Schneckentempo zuckelte er durch die Landschaft, die zunehmend bergiger wurde. „Es sieht schon sehr nach Alpen aus“, stellte Kiki fest. „Trotzdem dauert es noch eine Stunde bis wir da sind“, meinte Lotta. „Wer wird uns am Bahnhof erwarten?“, fragte Annemieke. „Wahrscheinlich Rosi, die Tochter von meiner Großtante Anni“, erwiderte Lotta, „Vielleicht sind ihre Kinder Lisa und Raphael auch dabei“
„Was ist mit dem Mann von deiner Großtante?“, erkundigte sich Emily. „Sepp ist wegen einer Bypassoperation immer noch im Krankenhaus und der Mann von Rosi muss immer noch seine Knieverletzung auskurieren“, sagte ihre Freundin, „Daher sind Rosi und Anni ganz glücklich, dass sie bald eine achtköpfige Verstärkung bekommen“ „Meine Ferien habe ich mir irgendwie anders vorgestellt“, murmelte Vivien leise. „Ach was, wir werden nicht die ganze Zeit körperlich hart arbeiten“, entgegnete ihr Lotta. „Sind deine Großtante und Rosi freundlich?“, mischte sich Kiki in das Gespräch ein. „Na klar, zudem sind sie sehr herzlich, wie du gleich sehen wirst“, meinte Lotta. „Da bin ich aber beruhigt“, fiel Aylin ein Stein vom Herzen. Da es die ganze Zeit bergauf ging, wurde der Zug immer langsamer. „Was für eine tolle Aussicht!“, schwärmte Mathilda. In der Ferne kamen die ersten schneebedeckten Berggipfel in Sicht. „Und einige schöne Schlösser gibt es auch“, war Annemieke total begeistert. Gespannt wartete sie darauf, dass das Schloss Neuschwanenstein in Sicht kam.
Gerade als Annemieke für einen kurzen Augenblick eingedöst war, rüttelte ihre Schwester ihrer Schulter. „Schwesterherz, wir sind da!“, säuselte ihr Mathilda ins Ohr und stellte ihr ihren Koffer vor die Füße. „Oh, das ging aber schnell“, murmelte sie leicht verwirrt. „Kein Wunder, du hast die halbe Fahrt verschlafen“, stupste Aylin sie lachend an. Auf dem Bahnsteig steuerte eine blonde Frau auf sie zu. „Hallo Rosi!“, rief Lotta winkend. „Servus Lotta! Schön, dass du deine ganzen Freundinnen mitgebracht hast!“, fiel ihr die Frau um den Hals und gab ihr zwei Küsse. „Ich bin Rosalie, genannt Rosi“, stellte sie sich den anderen Mädchen vor und gab jeder Roten Siebenerin die Hand. „Wie ich sehe, seid ihr eine ziemlich große Bande. Da wird es für mich schwer sein, mir eure Namen zu merken“, lächelte Rosi.
Annemieke fand sie vom ersten Blick an sympathisch, obwohl sie so einen starken bayrischen Akzent hatte, dass die Mädchen genau hinhören mussten. „Passenderweise bin ich mit dem großen Bulli gekommen, um euch alle befördern zu können. Da ihr zu acht seid, haut das gerade hin“, meinte Rosi gutgelaunt. Die Bande passte tatsächlich gerade eben in den Bulli, da der Kofferraum nicht groß genug für alle Taschen und Koffer war, mussten Annemieke und Emily ihre Koffer auf ihren Beinen balancieren. „Liegt der Hof wirklich auf den Bergen?“, tickte Kiki Lotta an. „Ja, er liegt auch 1600 Meter Höhe auf einer Almwiese“, nickte sie, „Das nächste Dorf liegt in anderthalb Kilometern Entfernung“ Zufrieden hielten sich die Zwillinge an den Händen. Wie schön es war eine Woche allem Stress und Zankereien der Eltern zu entfliehen.
„Da wären wir, herzlich willkommen auf dem Glockenhof“, drehte sich Rosi zu den Mädchen um und stellte den Motor aus. Annemieke fühlte sich wie im siebten Himmel. „Das ist wie im Paradies!“, fand auch Emily. Vom langen Sitzen waren den Mädchen die Beine eingeschlafen, daher war Bewegung notwendig. Im Nu war die gesamte Bande ausgestiegen. „Können wir zuerst unsere Unterkunft sehen?“, bat Kiki. „Klar, ihr habt sogar ein Ferienhaus für euch alleine“, nickte Rosi. Hinter dem Haupthaus, der Scheune und zwei großen Ställen lagen zwei Holzhäuser. Ein Kieselweg führte dorthin. „Da werdet ihr die nächsten Tage wohnen“, blieb Rosi stehen und schloss die Haustür auf. „Was für ein schönes Haus!“, juchzte Fianna. „Darauf sind wir mächtig stolz“, meinte Rosy, „Erst im September wurden sie fertig gestellt und ihr habt die große Ehre dieses Ferienhaus einzuweihen“
Neugierig traten die Bandenmädchen in einen großen Raum ein, der Wohnzimmer und Küche zugleich war. Annemieke mochte das helle Holz und die hellblauen Vorhänge auf Anhieb. „Falls ihr wissen wollt, wo ihr schlaft“, fuhr Rosi fort, „Oben sind zwei Schlafzimmer mit je vier Betten“ Die Roten Siebenerinnen schleppten ihre Koffer eine Wendeltreppe hinauf. Besonders Aylin ächzte, da sie als Kleinste die größte Tasche dabei hatte. „Wer schläft mit wem zusammen in einem Zimmer?“, blieb Lotta oben im Flur stehen. „Wir bleiben zusammen!“, legte Mathilda ihre Arme um Kiki und ihre Schwester. Die Mädchen konnten sich schnell einigen. Die Zwillinge bezogen mit Lotta und Kiki das Zimmer, welches mit den Fenstern in Richtung Hof zeigte. „Das ist unser Bett“, beschlagnahmte Mathilda das Doppelbett in der Mitte des Raumes. Juchzend ließen sich die Zwillinge auf ihr Bett fallen. Zu ihrer großen Freude gab es neben Lottas Bett eine Tür, die zu einem kleinen Balkon führte.
Gedankenverloren sah Annemieke aus dem Fenster. Die Aussicht war traumhaft mit den schneebedeckten Berggipfeln und vereinzelten Almhöfen. Unten im Tal lag ein kleines Dorf mit einer Kirche. Vereinzelt gab es ein paar bewaldete Gebiete, wo überwiegend Tannen und Fichten wuchsen. „Hey Micky, nicht träumen!“, berührte Mathilda sie an der Schulter. Die anderen Mädchen waren schon dabei ihre Kleider in die Schränke einzusortieren. „Gleich wird es unten im Haupthaus Kaffee und Kuchen für uns geben und dann zeigt uns Raphael den Hof“ „Wer war noch mal Raphael?“, wollte Kiki wissen. „Rosis achtzehn jähriger Sohn, also mein Cousin zweiten Grades“, erwiderte Lotta. „Hey, seid ihr so weit?“, platzte Fianna im nächsten Moment herein. „Habt noch ein paar Minuten Geduld“, sagte Lotta, die ihren Kulturbeutel in ihr Badezimmer brachte. Glücklicherweise hatten beide Schlafzimmer ein kleines Bad mit Dusche, WC und Waschbecken für sich. Die Freundinnen beeilten sich, dass sie ihre Sachen eingeräumt bekamen.
Es war bereits kurz vor Fünf und der erste kleinere Appetit machte sich bemerkbar, da sie seit Mittag nichts mehr gegessen hatten. Zu acht machten sie sich auf dem Weg ins Haupthaus. Ein etwa elf- oder zwölfjähriges Mädchen streifte ihren Weg, warf den Bandenmädchen ein kesses Grinsen zu und lief an ihnen vorbei. „Das war Lisa“, flüsterte Lotta, „Sie kann ganz schön frech werden“ „Na, da seid ihr ja!“, wurden sie von Rosi empfangen, die die Rote Sieben in die Gute Stube geleitete. Annemieke fiel als erstes die ganzen Tierköpfe und Geweihe auf, die an den Wänden hingen. Im Kamin prasselte ein wärmendes Feuer und neben der Tür tickte eine Kuckucksuhr. Eine alte Dame stand auf und fiel Lotta um den Hals. „Ich bin Anni, die Großtante von Lotta. Auch von mir ein herzliches Willkommen auf dem Glockenhof“, stellte sie sich den anderen Mädchen vor. Anni hatte genau die gleiche Herzlichkeit wie ihre Tochter. „Setzt euch!“, lächelte Rosi und stellte eine Kanne warmen Kakao auf den Tisch.
Die Bandenmädchen nahmen am gedeckten Tisch platz. Ein älterer Junge und das Mädchen von vorhin betraten den Raum. „Das sind meine Enkel Raphael und Lisa“, deutete Anni in ihre Richtung. Beide Geschwister waren im Gegensatz zu Rosi dunkelhaarig. Als letztes kam ein Mann auf Krücken herein. Er hieß Alois und war Rosis Mann, der momentan wegen einer Knieverletzung außer Gefecht gesetzt war. Endlich wurde aufgetischt. Es gab frischen Pflaumenkuchen mit Schlagsahne. Es schmeckte den Mädchen so vorzüglich, dass sie noch einmal nachnahmen und fast die ganze Platte leerten. „Wow, ihr bringt einen guten Appetit mit!“, war Anni beeindruckt. „Kein Wunder, wir haben knapp fünf Stunden nichts mehr gegessen“, dachte Annemieke bei sich. Zudem machte die frische Bergluft unglaublich hungrig. Während sich ihre Freundinnen unterhielten, wanderte ihr Blick immer wieder zu Raphael. Er sah wirklich sehr nett aus. Bestimmt war er es auch, wenn sie ihn noch näher kennen lernte.
Anschließend zeigte ihnen Raphael den Hof. Ihr erster Weg führte in die Scheune, in der fast stockduster war. Lotta und Emily machten mit ihren Handys ein wenig Licht. Obwohl es ihr oben keinen Internetempfang für die Smartphones der Mädchen gab, machten sie sich als Taschenlampen gut brauchbar. „Wie ihr seht, stehen hier einige unserer Kühe“, sagte Raphael, „Im Herbst und im Winter bleiben sie oft nur einen halben Tag lang draußen. Gegen Nachmittag bringen wir sie wieder in den Stall“ Eine braune Kuh schaute Annemieke neugierig aus ihren dunklen Kuhaugen an. „Wie heißt sie?“, fragte sie. „Das ist Milly“, erwiderte Raphael, „Sie ist quasi die Leaderin unter den Kühen, da sie die Älteste ist“ Insgesamt standen etwa 30 Kühe im Stall.
Im Stall nebenan waren ein paar Ziegen untergebracht, die voller Neugierde auf die Mädchen zuliefen. Annemieke wurde gleich von drei Ziegen umlagert. „Hab nichts für euch!“, kicherte sie unbeholfen. „Hier! Probier es mal damit!“, warf ihr Raphael eine Karotte zu, die sie in drei Stücke teilen musste. Trotzdem ließen die verfressenen Vierbeiner nicht von ihr ab. „Meine Güte, die können den Hals nicht voll genug kriegen“, beklagte sich Vivien. Emily knipste mit ihrer Handykamera ein paar Bilder für ihren neuen Freund Manuell. „Micky, mach mal ein Foto von mir und der Ziege“, drückte ihr Mathilda ihr Smartphone in die Hand. Mit einem breiten Grinsen kniete sie sich neben einer gescheckten Ziege nieder. Kurz darauf brach ein Fotoshootingwahn aus. Jede Rote Siebenerin ließ mit den Ziegen ablichten und verschickte die Beweisfotos an Familienmitglieder oder Freunde.
Lotta bedauerte sofort, dass es auf der gesamten Alm kein Internetempfang gab. „W-lan gibt es nur bei uns im Haupthaus“, informierte Raphael sie. „Was für Tiere habt ihr noch auf dem Hof?“, wollte Aylin wissen. „Kommt mit, wir gehen zum anderen Stall rüber und dann zeige ich euch die nächsten Hofbewohner“, forderte der Junge sie auf. Zuerst gingen sie in einen Pferdestall hinein, indem zwei große Kaltblüter und ein kleineres Reitpony standen. „Können wir die Pferde reiten?“, fragte Vivien mit leuchtenden Augen. „Das Pony gehört meiner kleinen Schwester und die großen Kaltblüter setzen wir zum Holzrücken oder zum Ziehen der Schlitten ein. Als Reitpferde sind sie eher nicht geeignet“, verneinte Raphael. Bedröppelt sahen ihn die Bandenmädchen an. Jeden Freitag gingen sie zum Reiten, daher hätten sie sich sehr gefreut, auch hier einmal aufs Pferd zu dürfen. Nebenan waren zwei dutzend Hühner untergebracht. „Haben wir alle Tiere gesehen?“, fragte Fianna. „Ihr kennt unseren Jagdhund Tommy noch nicht, sowie die beiden Stallkatzen Miri und Luna“, meinte der Junge.
Der Jagdhund saß in einem Zwinger neben der Scheune. „Nehmt ihr den Hund gar nicht mit ins Haus?“, wunderte sich Aylin. „Das ist ein Jagdhund und kein Schoßhündchen“, entgegnete ihr Raphael. „Was gehört eigentlich zu unseren Aufgaben?“, wollte Mathilda wissen. „Kühe melken, Tiere füttern, Kühe und Ziegen auf die Alm treiben, Eier suchen im Hühnerstall und die Ställe ausmisten“, zählte er auf. Zu guter letzt bekam die Rote Sieben die Scheune mit dem Heuboden und den ganzen Maschinen zu sehen. „Haben wir heute auch schon etwas zu tun?“, erkundigte sich Emily. „Ach was, heute seid ihr erst angekommen und könnt noch einmal eine Runde ausspannen“, winkte der Junge ab.
Da es noch ein wenig hell war, machten die Mädchen mit Raphael einen kleinen Spaziergang in die Umgebung. Hinter den eingezäunten Wiesen gab es einen kleinen gurgelnden Gebirgsbach mit kristallklarem Wasser. Aus Jux steckten die Mädchen ihre Hände kurz hinein und zogen sie wieder reflexartig raus. „Ah, ist das kalt!“, quietschte Fianna. „Das ist Schmelzwasser aus den Bergen, das ist auch im Sommer eiskalt“, meinte Raphael. Da es demnächst Abendbrot geben sollte, machte sich der Trupp wieder auf dem Rückweg. Gutgelaunt hakten sich die Zwillinge bei Emily und Kiki ein. „Das wird ein fabelhafter Urlaub!“, war sich Mathilda ganz sicher. „Vermisst ihr eigentlich niemanden?“, fragte Emily plötzlich. „Hm, nicht wirklich“, zuckte Fianna mit den Achseln, „Wenn dann höchstens eine Familie“ „Es mag vielleicht komisch klingen, aber ich habe bereits eine Sehnsucht nach Manuell“, murmelte Emily nachdenklich, „Ich habe ihn zuletzt gesehen, als er mich heute morgen zum Bahnhof gebracht hat“ „Ich vermisse Maik auch ein wenig“, gab Kiki zu, „Zumindest hat er mir gerade geantwortet“
„Ich habe noch keine Nachricht bekommen“, brummte Mathilda. „Kommt bestimmt noch! Vielleicht hat Sven noch nicht auf sein Handy geschaut“, legte ihr Lotta aufmunternd die Hand auf die Schulter. „Ach herrje, ich habe mich noch bei keinem gemeldet“, fiel Annemieke ein und behielt es für den restlichen Abend vor ein paar SMS zu verschicken. Mittlerweile waren wieder mehr als zwei Stunden vergangen. Meine Güte, wie die Zeit flog! Ausnahmsweise waren die Roten Siebenerinnen an diesem Abend zum Abendbrot bei Rosi und Anni eingeladen. Schon vorn herein wussten die Bandenmädchen bescheid, dass nur das Mittagessen gemeinsam mit der Familie vom Hof einnehmen würde. Um Frühstück und Abendbrot mussten sie sich selbst kümmern, obwohl Rosi ihnen hoch und heilig versprochen hatte, sie täglich mit frischen Semmeln, Obst, Wasser, Eiern und anderen Lebensmitteln zu versorgen. Das gemeinsame Abendessen fand wieder im gleichen Raum statt wie das Kaffeetrinken.
Diesmal gab es frische Milch, warme Brezeln, Brot, Wurst, Schinken und einen würzigen Käse. Obwohl das Kaffeetrinken nicht lange her war, konnten die Roten Siebenerinnen wieder ordentlich zulangen. Die Bergluft sorgte stets für einen gesunden Appetit. Nachdem Essen ging die Bande wieder in ihr Ferienhaus zurück. Lotta machte den Fernseher an und die restlichen Mädchen ließen sich auf der Couchgarnitur nieder. Zufällig lief ein guter Film, den die Rote Sieben vor ein oder zwei Jahren gemeinsam im Kino gesehen hatte. Zwischendrin fiel Annemieke ein, dass sie noch zuhause anrufen musste und verzog sich kurz nach draußen. Da es wirklich nicht sonderlich warm mehr war, hielt sie das Gespräch mit ihren Eltern relativ kurz. Um halb zehn beschlossen die Freundinnen ins Bett zu gehen. Bereits im Sitzen fielen ihnen fast die Augen zu und morgen mussten sie wieder früh aufstehen.
Gerade als Annemieke am wegschlummern war, berührte ihre Zwillingsschwester sie am Arm. „Hey, was ist denn los?“, flüsterte sie. „Ich wollte nur überprüfen, ob du noch wach bist“, wisperte Mathilda. „Kannst du etwa nicht schlafen?“, wollte Annemieke wissen. „Ne, ich mach mir Gedanken, ob mich Sven noch liebt. Er hat mir immer noch nicht geantwortet, obwohl er in Zwischenzeit auf sein Handy geschaut haben müsste“, seufzte ihr Zwilling. „Natürlich liebt er dich“, redete Annemieke auf sie ein, „Mach dir erstmal keinen großen Kopf! Morgen wirst du garantiert eine Nachricht von ihm erhalten“ „Manchmal habe ich das Gefühl, dass unsere Beziehung nicht richtig läuft. Seit dem Praktikum haben wir richtig flaute und ich verstehe nicht wieso. Es kann doch nicht so schwer sein, sich mindestens einmal pro Tag zu melden“, klang ihre Schwester melancholisch. „Vielleicht klammerst du auch zu sehr, was er auch als störend empfinden kann“, dachte Annemieke halblaut nach. „Heißt klammern schon, dass ich ihm mindestens alle 24 Stunden einmal schreibe?“, hielt Mathilda ihr entgegen. Annemieke seufzte leise. Eine Schwester mit Liebesproblemen zu haben, war alles andere als einfach. Mittlerweile war es fast zur Gewohnheit geworden, dass sie ihren Zwilling jeden Abend aufmuntern musste. Früher war Mathilda, diejenige gewesen, die Probleme in der Beziehung nicht ernst nahm und über das Verliebtsein spottete. Inzwischen trafen sie all diese Probleme selbst. Annemieke kuschelte sich in ihre Decke und versuchte einzuschlafen. Ihre Schwester wälzte sich unruhig hin und her. Lotta und Kiki schliefen bereits und atmeten friedlich.
Der Wecker klingelte bereits in aller Frühe. Gähnend stellte Annemieke ihn aus und schwang sich gut gelaunt aus den Federn. „Ich will weiterschlafen“, grummelte Mathilda in ihr Kissen. „Guten morgen allerseits!“, streckte sich Lotta. „Hey, habt ihr auch so gut geschlafen?“, war Kiki hellwach und begann sich anzuziehen. „Naja, halbwegs“, murmelte Annemieke, die ihre Anziehsachen zusammensuchte. Heute würden sie zum ersten Mal richtig auf dem Hof mitarbeiten und die Hofbewohner noch besser kennen lernen. „Glaubt ihr, dass die im Nebenzimmer schon wach sind?“, fragte Lotta in die Runde. „Hören tue ich nichts von nebenan. Wahrscheinlich sind sie noch am schlafen, so wie ich sie kenne“, murmelte Kiki, die bereits fertig angezogen war. Unten klingelte es an der Tür. „Ich mach schon auf“, huschte Kiki aus dem Zimmer.
Annemieke zog sich einen schlichten Kapuzenpullover über und folgte ihrer Freundin. „Wer war das denn?“, wollte sie wissen, als sie unten ankam. „Ach das war nur Anni, die uns einen Korb voller Brötchen gebracht hatte“, meinte Kiki. „Das ist spitze!“, freute sie sich. Da außer ihnen noch niemand auf den Beinen war, begannen sie den Tisch zu decken. Zudem stellte Annemieke eine Schüssel mit Blaubeeren auf den Tisch. „Wie wäre es mit einem Rührei?“, hielte Kiki eine Packung Eier hoch. „Brilliante Idee!“, stimmte ihr Annemieke begeistert zu. Die Mädchen stellten zwei Pfannen auf den Herd und begannen das Rührei zu zubereiten. Annemieke hatte die grandiose Idee Schinkenstreifen knusprig zu braten und zum Rührei zu servieren. „Das wird ein super Frühstück“, freute sich Kiki. Schon der Geruch von Rührei und Bacon ließ ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen.
Munter schwatzend kamen Fianna, Vivien, Lotta und Aylin die Treppe runter. „Oh fein, ihr macht Frühstück für uns!“, freute sich Fianna. „Klar, weil ihr Faulpelze nicht aus dem Bett kamt“, drehte sich Kiki zu ihnen um. „Rührei mit Schinken, das wird ein Schmaus!“, leckte sich Lotta die Lippen. „Nehmt schon mal platz“, wandte sich Annemieke an die Freundinnen. „Wo bleibt eigentlich Matti?“, wunderte sich Aylin. „Die kommt nicht aus den Federn“, murmelte Kiki. „Guten Morgen, hier riecht es so gut, dass man glatte die ganze Luft verspeisen könnte“, setzte sich Emily voller Enthusiasmus an den Tisch. „Oh ja, ich könnte glatt alles alleine auffuttern“, klang Vivien begeistert. „Futter du uns das ganze Frühstück weg, du kleiner Vielfraß!“, stieß Fianna sie aus Spaß an. Gerade als das Rührei und der Bacon serviert wurden, kam Mathilda die Treppe herunter geschlurft. „Du siehst aber müde aus, Matti!“, empfing Emily sie. „Kein Wunder, ich habe irgendwie kaum geschlafen“, nuschelte Mathilda undeutlich und ließ sich neben ihrer Schwester nieder. „Hat das einen Grund, dass du nicht schlafen konntest?“, hackte Lotta nach, „Haben wir etwa geschnarcht?“ „Blödsinn, das hat andere Gründe gehabt, wieso ich nicht schlafen konnte“, erwiderte sie. Die anderen Mädchen spürten, dass Mathilda sich nicht darüber auslassen wollten und ließen sie in Frieden. Die Freundinnen ließen sich ihr Frühstück schmecken. Besonders der gebratene Schinken und das Rührei waren der große Renner. Kiki musste sich erneut an den Herd stellen und eine halbe Packung Eier opfern.
Auch von den Brötchen war weniger als die Hälfte da. Inzwischen aß jede ihr zweites Brötchen. Der Kakao ging ebenfalls schnell weg, sodass noch eine Kanne nachgekocht werden musste. Doch da ein arbeitsreicher und anstrengender Tag auf sie warten würde, war es umso wichtiger gut gestärkt zu sein. „Wie soll ich arbeiten, ohne nebenbei einzuschlafen?“, seufzte Mathilda beim Zähneputzen. „Wird schon klappen, an der frischen Bergluft wirst du hellwach sein“, klopfte ihr Annemieke auf die Schulter. Geschlossen machte sich die Bande auf dem Weg zum Hof, wo bereits Anni, Raphael und Rosi auf sie warteten. „Guten Morgen, freut mich, dass ihr da seid!“, wurden sie von Rosi überschwänglich begrüßt. Schnell wurden die Arbeitsgruppen eingeteilt.
Aylin und Vivien sollten mit Rosi das Vieh versorgen und im Hühnerstall Eiersuchen gehen. Lotta, Kiki und Fianna bekamen die Aufgabe Raphael beim Ausmisten des Ziegenstalls, sowie beim Umschichten des Heus zu helfen. Annemieke, Mathilda und Emily gingen mit Anni in den Stall um die Kühe zu melken. Mit einem lauen Muhen wurden sie begrüßt, als Anni die Stalltür öffnete. „Offenbar sind sie scharf drauf gemolken zu werden“, stellte Emily fest. Anni holte mehrer Melkschemel aus einer kleinen Kammer nebenan und zeigte an Edna wie eine Kuh zu melken war. Gleichmäßig spritze die Milch im Strahl in den Stahleimer. „Sieht wirklich einfach aus“, flüsterte Annemieke ihrer Schwester zu, die nur zustimmend nickte. Anni teilte den Mädchen die friedlichsten und geduldigsten Kühe im Stall zu. „Na, dann mal an die Arbeit!“, lächelte sie den drei Mädchen motivierend zu.
Bevor Annemieke bei Wolke loslegen konnte, musste sie das Euter säubern und mit Melkfett behandeln. „Meine Güte, geht das schwer“, ächzte Emily neben ihr, „Wieso geht da nichts raus?“ Annemieke probierte es selbst, vorsichtig zog sie an den Zitzen, doch kein Tropfen kam raus. Sie probierte es erneut und drückte die Zitze noch kräftiger zusammen. Wenigstens kam jetzt ein wenig Milch raus. Nach ein paar Wiederholungen hatte sie gerade einmal so viel Milch im Eimer, dass gerade der Eimerboden mit Milch bedeckt war. „Warum sieht es bei Anni so einfach aus?“, sagte sie halblaut vor sich hin. „Zugegebenerweise tun mir jetzt schon die Hände weh“, jammerte Emily. „Geht mir nicht anders“, brummte Annemieke, die einen Augenblick Pause machen musste, da ihr die Hände bereits jetzt schon wehtaten.
„Moment, ich zeige es dir noch mal“, warf ihr Anni einen Blick über die Schulter. Bei der alten Frau sah es wirklich wie ein Kinderspiel aus. Woher hatte sie so viel Kraft in den Fingern? Annemieke stieß bereits bei einer Kuh an ihre Grenzen, doch Anni hatte im Normalfall zehn bis zwanzig Kühe zu melken. Nachdem sich Annemieke einen Moment ausgeruht hatte, raffte sie sich erneut auf. Diesmal lief es viel besser. Da sie den Dreh raus hatte, fing es sogar an Spaß zu machen. Stolz trug sie den vollen Eimer zu Anni, die die Milch einen größeren Behälter füllte. Nachdem Annemieke die dritte Kuh gemolken hatte, fühlte sie, wie ihre Finger steif wurden. „Eine weitere Kuh schaffe ich nicht mehr“, dachte sie insgeheim. Emily und Mathilda mühten sich ebenfalls ab. „Gleich kann ich meine Finger nicht mehr bewegen“, klagte Emily. „Halt sie gleich einfach ein paar Minuten unter warmes laufendes Wasser“, riet ihr Anni. Gerade als Emily aufstehen wollte, stieß sie versehentlich Mathildas halbvollen Eimer um.
„Pass gefälligst auf, wo du hintrampelst!“, schnauzte Mathilda sie an. „Sorry, das wollte ich nicht, Mathilda“, entschuldigte sich Emily kleinlaut. „Du bist aber voll dagegen getreten, falls du es nicht gemerkt hast“, echauffierte sich diese noch weiter, „Wegen dir ist die ganze Arbeit umsonst“ „Meine Güte, flippe doch gleich nicht so aus!“, schoss Emily zurück. „Das tue ich doch gar nicht!“, verteidigte sich Mathilda. „Aber natürlich tust du das und zwar bei jeder Gelegenheit“, gab Emily verärgert zurück. „Hey, jetzt reicht es aber, ihr Zankhennen! Ihr macht mit eurem Gezicke die Kühe schon ganz nervös“, mischte sich Annemieke ein. Kaum als sie dazwischen ging, war wieder Ruhe im Stall. Nach dem Melken kam Anni mit zwei Hütehunden wieder, die Momo und Olli hießen.
„Nun geht es nach draußen!“, strahlte sie und öffnete die Stalltür. „Wo geht es hin?“, fragte Emily. „Auf die Almwiese in der Nähe“, antwortete die alte Dame. Wie selbstverständlich trotteten ihr die Vierbeiner hinterher. „Ich wusste gar nicht, dass sie so zahm sein können“, staunte Mathilda. „Och, die Kühe kennen mich schließlich von klein auf“, meinte Anni, die den Tross anführte. Es ging einen schmalen Pfad zu einer abgelegenen Almwiese hinauf. Je höher sie kamen, desto weniger Bäume wuchsen. Die drei Mädchen sicherten von den Seiten und nach hinten ab, damit keine Kuh irgendwo stehen blieb. „Jetzt weiß ich, wieso dieser Hof Glockenhof heißt?“, verwies Annemieke auf das gleichmäßige Geläut der Kuhglocken, das zu den Alpen genauso dazu gehörte wie ein Tannenbaum zu Weihnachten oder bunte Eier zu Ostern.
Gegen Mittag trafen sie sich beim Mittagessen im Haupthaus. Rosis Mann Alois, der wegen einer Beinverletzung verhindert war, zauberte ein Omelett mit Gemüse, Schinkenspeck und Bratkartoffeln. Annemiekes Blick wanderte immer wieder zu Raphael, der ihr direkt gegenüber saß. Fast ungläubig musste sie feststellen, dass sie sich doch schon in ihn verguckt hatte. Erst ein Jahr war es her gewesen, dass sie für eine kurze Zeit mit Marc aus der Parallelklasse zusammen gewesen war. Nachdem es mit ihm vorbei war, konzentrierte sie sich lieber auf ihre Freundinnen und ihre Bande, anstatt anderen Jungs schöne Augen zu machen. „Na Schwesterchen, willst du dein Essen kalt werden lassen?“, hatte Mathilda sie bereits ertappt. „Ehm, ich habe nur einen Moment nachgedacht“, versuchte sie sich heraus zu winden und wurde dabei leicht rot. „An was dachtest du denn?“, hakte ihre Schwester nach. „An nichts besonderes“, tat sie gleichgültig. Bevor die Mädchen dabei helfen sollten einen Schuppen winterdicht zu machen, hatten sie noch eine Stunde Pause. „Wir können noch einen schönen Spaziergang machen?“, schlug Lotta vor, die sich ein wenig in der Gegend auskannte. Sofort stimmte ihr die Bande mit purer Begeisterung zu.
Annemieke war erstaunt, welch geheime Wege Lotta bereits kannte. „Hey, habt ihr dieses Schild gesehen?“, rief Aylin von weit hinten. „Was denn für ein Schild bitteschön?“, blieb Kiki abrupt im halbhohen Gras stehen. „Keltenwald – Privatgrundstück, Zutritt streng verboten!“, las Fianna vor und deutete auf ein Pappschild mit bunten Buchstaben. „Ach, das haben irgendwelche Kinder gemalt“, meinte Emily gleichgültig. Ohne Furcht steuerte die Rote Sieben auf ein kleines Waldgebiet zu, wo überwiegend Fichten wuchsen. Ohne Vorwarnung fiel ein großes Netz auf sie herab. „Was soll das?“, rief Kiki ungehalten und versuchte sich vergebens zu befreien. Fianna versuchte sich zu befreien, verhedderte sich, verlor dabei das Gleichgewicht und brachte Mathilda mit zu Fall. Wie Dominosteine schlug eine nach der anderen hin.
„Ah verdammt, so kommen wir nie wieder raus!“, fluchte Annemieke, die sich mit einem Fuß in einer Masche verfangen hatte. „Hey Micky, nimm deinen Fuß aus meinem Gesicht!“, beschwerte sich Vivien. Es war das pure Durcheinander. „Lisa, ich weiß, dass du es warst!“, rief Lotta zornig. Oben aus dem Baum drang leises Gekicher. „Jetzt kommt runter, sonst gibt es Saures!“, tobte Lotta. „Na gut, wollen wir nicht so sein!“, gickerte es von oben. Lisa, die kleine Schwester von Raphael und zwei weitere Kinder kamen die Fichte hinunter geklettert. Hinter niedrigen Sträuchern kamen mindestens drei weitere Jungen und Mädchen zum Vorschein. „Danke, dass ihr uns aufgelauert habt!“, wurde Kiki richtig böse. „Wir wollten nur schauen, welche Touristen uns heute in die Falle gehen“, erwiderte Lisa frech und warf ihre langen Zöpfe über die Schulter. „Außerdem seid ihr selbst schuld, dass ihr in die Falle getappt seid“, meinte ein sommersprossiger Bub, der nicht älter als zehn oder elf sein konnte.
„Entweder ihr uns auf der Stelle frei oder ich schwärze euch bei Rosi an“, zitterte Lottas Stimme vor Empörung. Kaum hatte sie das gesagt, halfen ihnen die fremden Kinder aus den Maschen. „Legt euch bloß nicht mit den Pistenfüchsen an!“, rief ein dünnes Mädchen mit hellblonden Haaren. „Was soll das schon wieder?“, schnaubte Emily, „Wir suchen keinen Streit mit euch, sondern wollen hier in Ruhe spazieren gehen“ „Trotzdem habt ihr das Hoheitsgebiet der Pistenfüchse betreten“, trat ein Mädchen mit rotbraunen Wuschelhaaren hervor. „Habt ihr gar nicht das Schild gelesen?“, meldete sich ein Junge mit einer dicken Brille zu Wort. „Haha, darauf geben wir einen Scheiß!“, fauchte Mathilda die jüngeren Kinder an.
„Als ob wir das ernst nehmen“, bemerkte Aylin verächtlich. „Lasst uns verschwinden, ich habe keine Lust auf einen Krieg mit Frischgemüse“, wisperte Kiki ihren Freundinnen. „Das kann noch heiter werden, wenn uns die Blagen noch weiter auf den Nerven herumtrampeln“, stöhnte Emily entnervt, als sie sich wieder auf dem Rückzug befanden. „Sind die Pistenfüchse auch eine Bande?“, wollte Vivien wissen. „So weit ich weiß schon“, nickte Lotta bestätigend. „Hey, regt euch doch nicht gleich wegen einer handvoll frecher Blagen auf! Wenn wir uns vor ihnen echauffieren, haben sie umso mehr ihren Spaß“, versuchte Annemieke ihre aufgebrachten Freundinnen zu besänftigen. „Ganz genau, sonst verschwenden wir unsere Zeit damit uns zu ärgern“, nickte Aylin.
In der kommenden Nacht wachte Annemieke auf. Hatte sie gerade etwa von Raphael geträumt? Seine verwuschelten dunkelbraunen Haare und seine geheimnisvollen Augen gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Es schien so, als hätte sie ihren Traumboy in ihn entdeckt. Was wohl Lotta davon hielt, wenn sie davon erfuhr, dass Annemieke in ihren Cousin verknallt war? Sehr gerne hätte sie ihren Freundinnen von ihren Gefühlen erzählt, doch irgendetwas hinderte sie daran. Zudem grämte sie sich ein wenig, dass sie noch nicht einmal ein Wort miteinander gewechselt hatten. Am Nachmittag hatten sie zusammen den Schuppen in einer neuen Farbe angestrichen, trotzdem traute sie sich nicht ein Gespräch mit ihm anzufangen. „Warum muss ich immer zu schüchtern sein, um einen Jungen anzusprechen?“, dachte sie frustriert. Lotta und Emily fiel es doch immer so leicht zu flirten und sich auf Dates einzulassen.
Leider war sie weder Lotta noch Emily, sondern das Mauerblümchen Annemieke. Noch nicht einmal ihre Zwillingsschwester war so verklemmt wie sie. Für Mathilda und Sven kam erleichternd hinzu, dass sie sich über Jahre kannten und im Vorfeld eine gegenseitige Zuneigung zueinander hatten. Nicht umsonst hatte Sven ihre Schwester bereits mitten in der sechsten Klasse einmal geküsst. Erst seit fünf Monaten waren sie ein Paar. Anfangs hatte sich Annemieke sehr für ihre Schwester gefreut, bis sie schließlich doch ein paar Fünkchen Eifersucht in sich entdeckte. Gerade in diesem Moment war sie auf jeden neidisch, der eine glückliche Beziehung führte. Schlaflos wälzte sich Annemieke von der einen Seite auf die andere. Verliebt sein war auf der einen Seite ein prickelndes und wunderschönes Gefühl, aber nicht gerade einfach. Erschwerend kam hinzu, dass Raphael bereits achtzehn war, also zwei Jahre älter als sie. Würde er sich überhaupt für sie interessieren oder wäre sie nur das kleine Mädchen für ihn?
„Mensch Annemieke, träumst du eigentlich?“, riss Emilys Stimme sie abrupt aus den Gedanken. „Hä, was ist denn los?“, drehte sich Annemieke verwirrt zu ihr um. „Du sollst die Schubkarre nach draußen bringen“, sagte ihre beste Freundin. Da sie die ganze Zeit auf Raphael geschaut hatte, war ihr entgangen dass Emily einen Riesenhaufen Stallmist auf die Schubkarre geladen hatte. Zudem steckte ihr immer noch in den Knochen, dass sie letzte Nacht nicht besonders gut geschlafen hatte. Seit dem Frühstück war sie etwas neben der Spur und war so heftig in ihren Gedanken versunken, dass sie sogar für ihre Freundinnen nicht anzusprechen war. „Wie lange soll die Schubkarre hier noch herum stehen?“, wurde Lotta ungeduldig. „Moment, ich bringe die Fuhre eben weg“, nickte Annemieke und verschwand mit der Schubkarre in Richtung Misthaufen, der hinter dem Hühnerstall lag. Raphael hier, Raphael dort! Zum Glück konnte niemand in ihrem Inneren sehen, wie verknallt sie tatsächlich war.
Freiwillig hatte sie sich für das Ausmisten des Ziegenstalls gemeldet, obwohl es eine anstrengende Arbeit war, die nach einer gewissen Zeit auf die Knochen ging. Wäre Raphael nicht dabei gewesen, wäre sie lieber mit auf die Alm gegangen oder hätte in der Küche geholfen. Voller Motivation ging sie pfeifend in den Stall zurück, schnappte sich die Forke und lud sich einen besonders großen Misthaufen auf. Ein plötzlicher starker Schmerz in der Rückengegend ließ sie zusammen zucken. „Oh nein!“, stöhnte sie schmerzerfüllt und krümmte sich. „Alles in Ordnung?“, eilte Emily herbei. „Nein, mir tut alles weh“, jammerte Annemieke, die immer nicht gerade stehen konnte. Eine Schmerzattacke jagte die nächste. „Setz dich einmal hin“, ordnete Lotta an. Auch im Sitzen wurden die Schmerzen nicht besser. „Wahrscheinlich hast du dir einen Hexenschuss eingefangen. Das passiert schnell, wenn man sich beugt, eine Last anhebt und dabei den Rücken verdreht“, meinte Raphael, „Am besten du legst dich erstmal für eine Weile hin“
„Ich bringe sie eben zu unserem Haus“, wandte sich Lotta an ihren Cousin. „Soll ich euch helfen?“, bot Raphael an und stützte Annemieke. Lotta hakte sich auf der anderen Seite bei ihr unter. „Gleich machen wir ein paar Kirschkernkissen warm und legen sie dir auf deinen Rücken. Das hilft hundertmal besser als eine Schmerztablette“, redete ihr Lotta gut zu, während Annemieke immer noch eine schmerzvolle Miene zog. Gleichzeitig tanzte eine Hundertschaft Schmetterlinge in ihrem Bauch Ballett. Raphael war ihr ganz nah und berührte sie. Erneut explodierte eine Ladung Frühlingsgefühle in ihr und das mitten im Herbst. „Wäre ich doch nicht so feige“, dachte sie bei sich und grämte sich, dass sie nicht die richtigen Worte fand, wie sie ihn ansprechen wollte. Als sie an ihrem Ferienhaus angekommen waren, formte sie mit ihren Lippen ein lautloses „Danke“ in Raphaels Richtung. „Gute Besserung!“, wünschte er ihr noch und verschwand in Richtung Ziegenstall.
Bäuchlings legte sich Annemieke auf ihr Bett. Zuvor musste sie ihren Pullover ausziehen, da ihr Lotta kleine warm gemachte Kirschkernsäckchen auf die schmerzenden Stellen legte. „Sag mal, Micky, mir ist seit der Ankunft etwas besonderes an deinem Verhalten aufgefallen“, begann ihre Freundin. Annemieke brauchte keine Sekunde, um zu erraten, worauf Lotta hinaus wollte. Deshalb machte es keinen Sinn die Sache mit dem Verliebtsein weiterhin vor ihr und den anderen Roten Siebenerinnen zu verstecken. „Nicht nur mir, sondern der ganze Bande ist aufgefallen, dass du beinahe zur Salzsäule erstarrst und mit deinen Gedanken ganz woanders bist, sobald Raphael in Sichtweite ist. Wir haben im Verdacht, dass du dich in ihn verguckt hast“, sprach Lotta ihren Gedanken aus. „Ihr habt mich ertappt“, murmelte Annemieke leise vor sich hin und fügte leicht verunsichert hinzu, „Stört es dich, dass ich mich in ihn verliebt habe?“ „Ach was!“, lachte Lotta, „Ganz im Gegenteil, ich bin eher überrascht und ich freue mich auch“
„Schon beim ersten Mal als er in die Stube kam, fand ich ihn total faszinierend. Je häufiger ich ihn sah, desto mehr Gefühle habe ich für ihn entwickelt. Nun geht er mir gar nicht mehr aus dem Kopf. In der letzten Nacht habe ich sogar von ihm geträumt, weswegen ich aufgewacht bin und die restliche Nacht nicht mehr schlafen konnte“, öffnete sich Annemieke allmählich. Es gab kein besseres Gefühl sich einer guten Freundin anzuvertrauen. Gerade Lotta war die Expertin für Liebe und Beziehungen, schließlich hatte sie schon zwei Beziehungen über einen längeren Zeitraum gehabt. Annemieke war in Sachen Jungs noch ziemlich unerfahren, bis auf das eine Mal, wo es kurz zwischen ihr und Marc gefunkt hatte. Inzwischen war das auch schon über ein Jahr her, seitdem hatte sich beziehungstechnisch nichts mehr getan. „Ich bin mir nicht sicher, ob Raffi noch mit der Luisa von nebenan zusammen ist“, sagte Lotta nachdenklich.
„Bitte lass ihn keine Freundin haben!“, flehte Annemiekes innere Stimme. Mit einem Schlag war ihre gesamte Euphorie verpufft. Nur zu gerne wollte sie wissen, er diese Luisa war, die angeblich nebenan wohnte. Annemieke stellte sich ein großes schlankes Mädchen mit pickelfreier Haut vor, deren lange seidige Haare im Wind wehten. Bestimmt war sie viel hübscher und attraktiver als sie selbst. „Lotta, kannst du mir einen Gefallen tun?“, bat sie, als ihre Freundin gerade ihr Zimmer verlassen wollte. „Und welchen?“, wollte Lotta wissen. „Ich traue mich nicht ihn direkt darauf anzusprechen, was ich für ihn empfinde“, sagte sie. „Kein Ding, natürlich tue ich das für dich“, versicherte ihr ihre Freundin, „Vielmehr die Bande berät nachher, was sich da tun lässt. Vielleicht schaffen wir es ein einzigartiges Date auf die Beine zu stellen“ „Danke, ihr seid die besten Freundinnen, die man sich nur wünschen kann“, hauchte Annemieke. Ihr Pegel an Glückshormonen begann wieder steil anzusteigen. „Keine Ursache, schließlich hat Anna bei mir und Freddy auch nachgeholfen. Ohne sie wäre ich auf keinem Fall mit ihm zusammen gewesen. Glaub mir, ich bin nicht die Jungenheldin, wie ihr glaubt“
Nachdem Lotta gegangen war, nickte sie für eine Weile ein. Knapp eine Stunde später schreckte aus dem Schlaf auf, nachdem Raphael ihr erneut im Traum begegnet war. Ein Blick auf ihr Handy verriet, dass es bereits fast Mittag war. Eine lange SMS ihrer Mutter trudelte ein. Annemieke brauchte nicht einmal einen Satz zuende lesen und wusste bereits, worum es ging. Zuhause hing bei ihren Eltern wieder der Haussegen schief. Gerade wo sie und ihre Zwillingsschwester nicht anwesend waren, schienen sie sich noch heftiger und fast durchgehend zu fetzen. Generell ließen ihre Eltern ihren Gefühlen viel mehr freien Lauf, wenn die Zwillinge nicht als Zeuginnen dabei waren. Je weiter sie las, desto unwohler wurde sie.
Wo mochte das nur hinführen, wenn ihre Eltern sich in dieser Intensität in die Wolle kriegten? Annemieke hatte insgeheim gehofft, dass sie während des Urlaubes all die Sorgen aus der Heimat zurücklassen konnte. Stattdessen holten sie ihre Sorgen und Ängste mit jeder neuen Nachricht ihrer Eltern wieder ein. Hoffentlich machten sie ihre Drohung nicht wahr, dass sie sich trennten. Mit einem Mal bekam Annemieke eine höllische Wut auf die Krankheit ihres Vaters, die ihn seit knapp drei oder vier Monaten so stark veränderte. Seine schlechte Laune ließ er an der Familie aus, wobei es ihre Mutter immer noch am härtesten traf. Manchmal hatte Annemieke den Eindruck, dass es ihre Eltern nur noch wegen ihr und Mathilda unter einem Dach aushielten. Mittlerweile schlief ihre Mutter im Gästezimmer neben den Zwillingen. Annemieke hatte sie bereits mehrmals mitten in der Nacht leise weinen gehört.
Am nächsten Tag gab Rosi den Mädchen nach dem Mittagessen frei. Ihrer Meinung nach, sollten sie zusammen mit Raphael die Bergwelt besser kennen lernen. Kiki, Emily und Fianna planten eine kleinere Wanderung mit einem Picknick. Während der Rest der Bande bei dem fabelhaften Wetter im Gemüsegarten auf einer Bank chillten, bereiteten die drei Freundinnen das Picknick vor. „Ganz in der Nähe von unserem Hof gibt es eine Seilbahn. Wir werden bis zum Gipfelkreuz hinauffahren und anschließend talabwärts wandern“, erzählte Raphael den Mädchen. „Eine waschechte Bergwanderung!“, klang Mathilda enthusiastisch und gab all ihren anwesenden Freundinnen Highfives. „Nur ich habe keine richtigen Wanderstiefel mit“, hörte sich Aylin nicht mehr so begeistert an.
„Meinetwegen kann ich dir ein paar von meinen Schuhen leihen, die habe alle viel Profil und ein gutes Schuhbett. Zudem müssten wir auch die gleiche Schuhgröße haben“, bot ihr Vivien an. „Danke, du bist echt ein Schatz, Vivi!“, fiel ihr Aylin um den Hals. „Hoffentlich ist die Wanderung nicht so lang“, murmelte Emily, die eine Nachricht an ihren Freund schrieb. „Soweit wird es auch nicht werden, schließlich haben wir nur einen Nachmittag Zeit“, meinte Raphael. Emily war anzusehen, dass ihr ein Stein vom Herzen fiel. Als große Läuferin war sie innerhalb ihrer Bande nicht bekannt, lieber bewegte sie sich auf dem Pferd fort. Während ihre Freundinnen munter redeten, hockte Annemieke am Rand und ließ sich die Sonne auf die Nase scheinen. Wie sonst drehten sich ihre Gedanken nur um den Jungen, der schräg gegenüber von ihr stand und sich intensiv mit den anderen unterhielt. „Ehm, wie wird das Wetter heute Nachmittag werden?“, traute sie sich dann doch zu fragen. Grinsend stießen sich Mathilda und Aylin an, ihnen war nicht entgangen, dass Annemieke selbst bei so einer kleinen Frage puterot wurde. „Heute Nachmittag soll es die ganze Zeit sonnig und warm bleiben“, beantwortete Raphael ihre Frage.
Die Kabine der Seilbahn war gerade so groß genug, dass sie zu neunt hineinpassten. Voller Begeisterung zückten die Mädchen entweder ihre Handys oder Kameras und begannen hunderte Bilder zu schießen. Unter ihnen lag eine Landschaft aus Geröll, Steinen, Felsvorsprüngen und Alm. „Was für eine Aussicht!“, juchzte Kiki, „Das ist noch viel besser, als auf dem Hof!“ „Hoffentlich sind wir gleich da, ich ertrage diese Wackeln nicht mehr. Mir ist jetzt schon schlecht“, hauchte Aylin, die Emilys und Lottas Hände festhielt. Ihre eigentlich olivfarbene Haut war in diesem Moment ungewohnt blass. „Gleich wird es wieder vorbei sein“, tröstete Annemieke sie. „Habt ihr auch diesen verdammten Druck auf den Ohren?“, fragte Emily in die Runde. „Das ist in den Bergen normal, daher bin ich es gewohnt“, nickte Raphael. „Kaugummi hilft dagegen am besten“, ließ Mathilda eine Packung Pfefferminzkaugummi herum gehen. Kurz bevor die Seilbahn in die Bergstation einfuhr, ruckelte sie besonders heftig, worunter Aylin am meisten zu leiden hatte. Schließlich kam die Kabine zum Stillstand. Raphael riss die Tür auf und sofort drang ein eisiger Luftzug zu ihnen, obwohl es sehr sonnig und keine einzige Wolke zu sehen war. Was für ein Glück, dass Annemieke sich extra dick angezogen hatte. Hier oben lag nur geringfügig Schnee, trotzdem war es auf dem Gipfel deutlich kälter und es wehte ein starker Wind. Am grandiosesten war die grenzenlose Aussicht über mehrere Kilometer. Kiki hatte ein Fernglas dabei, das sie kurz an jede Freundin auslieh. Lotta bestand darauf, dass ein Bandenfoto vor dem Gipfelkreuz für das Bandenalbum gemacht wurde.
„Bestimmt sehe ich mit meinen verwuschelten Haaren wieder total bescheuert aus“, rief Emily gegen den Wind. „Was soll ich dann sagen?“, entgegnete ihr Mathilda, deren dichten Locken ihr ins Gesicht wehten. Annemieke hatte das Gefühl, dass sie noch vom Gipfel geblasen würde. Die Mädchen mussten auch wegen des steinigen und teils rutschigen Untergrunds höllisch aufpassen, dass sie nicht ausrutschten. Vorsichtshalber hakte sich Annemieke bei ihrer Schwester unter. „Hey, ich habe gerade eben Tiere gesehen, die den benachbarten Hang hinunter galoppiert sind“, raunte Kiki auf einmal. „Ich auch! Waren das so eine Art Rehe?“, wollte Vivien wissen. „Nein, das waren bestimmt Gämsen, die sieht man hier in der Gegend öfter“, drehte sich Raphael zu ihnen um. Er als geborener Alpenländer musste es schließlich wissen. Da weder Emily noch Aylin und Vivien davon Ahnung hatten, mussten ihnen Kiki und Raphael genau erklären, wie eine Gämse aussah. Annemieke schoss dutzende Bilder mit ihrem Handy. Überall war die Aussicht traumhaft. „Wie lange müssen wir noch laufen?“, taten Aylin bereits nach wenigen Kilometern die Füße weh. „Die Hälfte haben wir mindestens noch vor uns, aber wenn wir demnächst die Alm erreichen, machen wir eine größere Pause“, versprach ihr Raphael.
Je mehr es bergab ging, desto wärmer wurde es. Allein die kräftige Sonne wärmte ungemein. Bald konnten die Mädchen ihre dicken Jacken ausziehen. „Hier ist genau der passende Ort für das Picknick“, fand Lotta. Ihre Freundinnen begannen die große karierte Picknickdecke auszurollen. „Lasst mich mal sehen, was für köstliche Sachen ihr dabei habt“, frech lugte Mathilda hinter Kikis Schulter hervor. „Pfoten weg, du Vielfraß!“, stieß Emily sie kichernd an. Zu Annemiekes Freude gab es frische Himbeeren, Blaubeerpfannkuchen, einen Apfelstrudel mit Zimt und einen Kräutertee. Nach den Strapazen der ersten Etappe schmeckte es gleich doppelt zu gut. Nur Fianna schien nicht so viel Appetit zu haben. „Mir geht es nicht so gut und ich weiß nicht warum“, klang sie bedrückt. „Oh hoffentlich hast du dir keinen fiesen Virus eingefangen“, sah Lotta besorgt aus. Die Leckereien waren im Nu fast aufgegessen. Lotta, Kiki, Emily und die Zwillinge zankten sich aus Spaß um die letzten Blaubeerpfannkuchen. „Hey, du hast doch schon drei Stück davon gehabt“, warf Kiki aus Protest Mathilda eine Ladung ausgerupftes Gras ins Gesicht.
Mathilda ließ das keine Sekunde auf sich sitzen und feuerte zurück. „Hey, jetzt habe ich wegen euch einen Käfer in meinem Ausschnitt“, beschwerte sich Emily, die die Grashalme zurückwarf. „Danke, dass du meinen Teller getroffen hast“, sagte Lotta. Kurz drauf war eine wilde Grashalmschlacht im Gange. Prustend und kichernd jagten sich die Freundinnen über die Alm. Nur Fianna machte am Rande mit, der es sichtbar nicht besonders gut ging. „Oh man, kann mich mal jemand das Gras aus meinen Haaren entfernen“, japste Annemieke und blinzelte eine Lachträne weg. „Klar tue ich das gerne für dich“, stand Raphael unmittelbar hinter ihr und begann die Grashalme aus ihren Haaren zu picken. Wieder schoss ihr Glückshormonspiegel noch weiter hoch. „Danke!“, murmelte Annemieke und wurde wieder leicht rot. „Kein Ding!“, meinte Raphael nur. Er war ein richtiger Gentleman. „Sieh mal einer an, wer da rot wird“, grinste Emily breit. „Oh lala, die Liebe!“, fügte Mathilda hinzu und formte mit ihren Händen ein Herz. „Soll ich noch eine Ladung Gras nach euch feuern?“, drohte ihnen Annemieke lachend. „Ne lass mal“, warf Raphael ein, „Nicht dass ihr im Eifer des Gefechts noch ein paar seltene Blumen heraus reißt. Das ist gesetzlich verboten und man kann dafür belangt werden“ „Oh, gut zu wissen“, murmelte Lotta kleinlaut.
Auf der restlichen Wanderung führten Lotta, Emily und Kiki mit Raphael die Gruppe an. Dahinter kamen die Zwillinge, die einen Moment lieber unter sich sein wollten. Aylin, Fianna und Vivien bildeten das Schlusslicht. „Hey, kommt zurück!“, hörten sie Vivien laut rufen. „Was ist denn los?“, rief Kiki zurück. „Oh schreck, Fianna ist hingefallen“, entfuhr es Annemieke erschrocken, die zusammen mit Mathilda zu ihr hineilte. Die gesamte Gruppe machte kehrt. „Fianna, kannst du uns hören?“, berührte Emily sie seicht an der Schulter. Fianna lag mit dem Gesicht im Gras und antwortete nicht. Ihre roten Haare glänzten orangefarben in der Sonne und fielen ihr über die Schultern. Obwohl ihre Freundinnen Fianna immer wieder ansprachen, reagierte sie nicht. Offenbar war sie bewusstlos. Anhand dass sich ihr Brustkorb immer wieder hob und senkte, war zu sehen, dass sie atmete. „
Wie ist das passiert?“, wollte Mathilda wissen. „Sie ist plötzlich umgefallen“, zuckte Aylin mit den Achseln. Emily, die eine ausgebildete Ersthelferin war, brachte Fianna in die stabile Seitenlage und überprüfte den Puls. „Scheiße, hier ist kein Empfang!“, verlor Lotta beinahe die Fassung, während sie auf ihrem Smartphone herumwischte. „Dann versuchen wir es, wenn wir gleich im Tal sind“, legte ihr Raphael beruhigend die Hand auf die Schulter. „Was machen wir nun?“, klang Vivien aufgebracht. „Dann trage ich sie halt bis zum Hof, so weit ist das nun auch nicht mehr“, meinte Raphael. Erst als Fianna in seinen Armen lag, war zu erkennen wie bleich sie im Gesicht. Obwohl Annemieke mächtig Angst um ihre Freundin hatte, mischte sich ein kleiner Hauch Eifersucht unter ihre irritierten Gefühle.
Auf halber Höhe hatte Lotta wieder Empfang und telefonierte mit Rosi, die an der nächsten befahrbaren Straße auf sie warten wollte. „Arme Fianna!“, klang Vivien ganz traurig. „Das Schlimmste ist, dass wir noch nicht mal wissen, was sie überhaupt hat“, war Kikis Laune gänzlich im Keller. Bald kam der Hof in Sicht. „Da steht Mamas Auto“, deutete Raphael auf ein dunkles Auto, auf das sie zusteuerten. „Ich bringe Fianna schnell zum Krankenhaus“, empfing Rosi sie. „Darf ich mitkommen?“, fragte Aylin. „Na gut, eine Person kann ich noch mitnehmen“, nickte Rosi und stieg ins Auto. Kurz darauf war der Wagen davon gerauscht. Mit hängenden Köpfen marschierten die Roten Siebenerinnen weiter. „Das war vielleicht ein Reinfall“, verärgert kickte Mathilda einen Kieselstein über den Pfad. „Hoffentlich ist sie nicht schwer krank“, bangte Kiki. „Vielleicht hat sie nur Probleme mit ihrem Kreislauf“, vermutete Emily, „Ich hatte das auch mal eine Zeit lang, als ich noch in der Wachstumsphase war“ „Das könnte sein“, dachte Lotta laut nach, „In der letzten Zeit ist Fianna wirklich ein ganzes Stück gewachsen“
Früher zählte Fianna zu den Kleinsten, die kaum größer war als Aylin und Vivien. Inzwischen war sie an Kiki vorbei gezogen und hatte die Zwillinge eingeholt. „Wollen wir ihr einen Blumenstrauß pflücken?“, schlug Mathilda vor. „Wieso kaufen, wenn wir ihn gleich hier pflücken können?“, horchte Emily auf. „Dürfen wir die Blumen überhaupt pflücken?“, war sich Annemieke nicht sicher. „Klar, ihr könnt die Blumen ruhig pflücken“, nickte Raphael, „Hiervon steht keine auf der roten Liste“ Die Mädchen pflückten alles, was am Wegesrand wuchs und einen eine schöne Blüte hatte. Als sie am Hof ankamen, hatten sie bereits einen Monsterstrauß zusammen. „Moment mal, wir haben noch eine sehr große Vase“, rief Raphael. „Wann sollen wir den Strauß überhaupt überreichen?“, murmelte Lotta halblaut vor sich hin. „Vielleicht dürfen wir sie im Krankenhaus besuchen“, meinte Kiki. „Seid ihr euch ganz sicher, dass sie länger im Krankenhaus bleiben muss?“, schaltete sich Emily ein. „Garantiert wird sie dort eine Nacht bleiben muss, auch wenn nur zur Beobachtung“, konnte Annemieke aus Erfahrungen sprechen. „Arme Fianna, sie tut mir so leid“, seufzte Vivien geknickt.
Die Mädchen warteten, bis Rosis Wagen auf dem Hof rollte. Es dem Auto stiegen nur Rosi und Aylin aus. Fianna kam nicht wieder, stattdessen standen noch ihre Untersuchungsergebnisse aus und sollte noch eine geraume Zeit im Krankenhaus bleiben. „Auf jeden Fall geht es ihr immerhin ein wenig besser“, teilte Rosi ihnen mit. Die Stimmung unter den Roten Siebenerinnen war ziemlich getrübt. „Garantiert ist der gesamte Urlaub für sie gelaufen und das gerade, wo es so schön war“, hatte Emily üble Laune. Noch nicht einmal Chips, Salzstangen, Cola, Gummibärchen und Schokoriegel konnten zur Aufheiterung beitragen. Abends schauten sie sich noch einen Film im Fernsehen an und gingen relativ früh ins Bett. Sobald dass Licht aus war und die Mädchen nicht mehr redeten, dachte Annemieke an Raphael. Das endlose Kribbeln in ihrem Bauch verriet ihr, dass sie so heftig verliebt, wie sie es zuvor noch nie gewesen war. In ihren kühnsten Träumen malte sie sich aus, wie sie Hand in Hand mit ihrem Traumboy über die Alm schwebte und sich auf dem Berggipfel zum ersten Mal küssten.
Der erste Kuss musste auf jeden Fall ein romantischer Moment sein, entweder im Mondschein oder bei Sonnenuntergang. In Gedanken an ihn duselte sie weg und fiel in einen seichten Schlaf. Um kurz nach Mitternacht schreckte sie von einem unbekannten Geräusch hoch. Was war das nur? Vielleicht war nur ein Tannenzapfen auf das Dach gefallen. Gerade als sie sich wieder umdrehen wollte, stellte sie fest, dass Mathilda nicht mehr in ihrem Bett lag. Annemieke zog ihre Puschen an und guckte im Bad nach. Dort war ihre Schwester auf nicht, genauso wenig wie im Flur und im benachbarten Schlafzimmer. Lautlos schob sie die Gardine zur Seite und spähte aus dem Fenster. Tatsache, da saß ihre Schwester vor dem Haus auf einem Stein. Ihre halblangen Locken glänzten weißlich im Mondschein. Annemieke zog sich in Windeseile um, ohne dabei Krach zu machen. Schließlich war es bereits kurz nach Mitternacht. Auf Zehenspitzen schlich sie die Treppe hinunter und schloss die Haustür auf. Ihre Schwester saß immer noch auf dem Stein und hatte sich keinen Zentimeter bewegt.
„Matti!“, flüsterte sie und setzte sich neben sie. Ihr Zwilling machte immer noch keinen Mucks. Mathilda sah sie nur kurz an. Im Mondschein konnte Annemieke sehen, dass Tränen in ihren Augen glitzerten. „Was ist los? Warum sitzt du hier in der Kälte?“, hakte sie nach. „Ich kann nicht schlafen“, erwiderte Mathilda mit tonloser Stimme. „Wieso das?“, wunderte sich Annemieke, „Machst du dir Sorgen um Fianna?“ „Nein das nicht, ich habe gerade mit Papa telefoniert“, begann Mathildas Stimme zu zittern. „Hört sich gar nicht gut an“, zog Annemieke ihre Stirn kraus. „Mama ist verschwunden und mit ihr das Auto. Papa versucht sie seit heute Mittag zu erreichen, aber sie hat ihr Handy nicht an. Auch bei ihrer Arbeit, beim Hockeyclub und bei ihren Freundinnen ist sie auch nicht“, geriet ihre Stimme immer mehr ins Weinerliche. „Ach du Schreck!“, entfuhr es Annemieke und ihr Herz begann immer schneller zu schlagen. Hastig nestelte sie ihr Handy aus der Jackentasche und wählte die Nummer ihrer Mutter. Nach ein paar Malen als es tutete, ging wieder nur die Mailbox dran. „Mist, sie hat ihr Handy aus“, fluchte sie leise und fühlte, wie sich ein riesiger Kloß in ihrem Hals bildete.
Dicke Tränen, die sich in Mathildas Augen sammelten, begannen hervor zu quellen und liefen ihr übers das Gesicht. „Ich will nicht, dass Mama etwas Schlimmes zugestoßen ist“, weinte sie. Annemieke nahm sie fest in den Arm und drückte sie an sich. Obwohl sie am liebsten auch wie ein Schlosshund geheult hätte, hinderte eine innere Blockade sie daran. „Ich glaube nicht, dass ihr etwas passiert ist“, versuchte sie sich Mut zu machen. Obwohl sie sich in diesem Moment auch hundeelend fühlte. „Sie werden sich definitiv trennen und dann müssen wir doch mit Mama zu unseren Großeltern ziehen“, schnäuzte sich Mathilda. „Warum muss ausgerechnet sowas passieren, wenn wir nicht da sind?“, wurde Annemieke mit einem Mal stinksauer, „Ich habe nicht gedacht, dass unsere Eltern so hinterhältig sein können. Kaum sind wir aus dem Haus, schlagen sie sich die Köpfe ein, da sie keine Zeugen für ihren Ehekrieg haben“ Während Annemieke ihren Ärger Luft machte, bekam ihre Schwester noch einen stärkeren Weinkrampf und sank schluchzend in sich zusammen.
Es war lange her, dass Mathilda so heftig geflennt hatte wie jetzt. Normalerweise galt sie unter ihren Freundinnen entweder als Spottdrossel oder als Stimmungskanone. Annemieke war in letzter Zeit nicht entgangen, wie sich ihre Schwester in letzter Zeit verändert hatte und sich mehr und mehr zurückzog. Vor allem die Streitereien ihrer Eltern und die Beziehungsflaute mit Sven trafen Mathilda ziemlich ins Herz. Auch anhand ihrer Noten machte sich das bemerkbar. Anstatt Zweien und Dreien, standen in den letzten Klausuren meistens Vieren und in Englisch bekam sie sogar eine schwache Fünf wieder. „Nicht einmal Sven hat sich in der Zwischenzeit gemeldet“, schniefte Mathilda und tupfte ihre verquollenen Augen mit einem Taschentuch ab.
„Wir haben hier doch kein Internet“, fiel Annemieke ein, „Wie soll er dich dann auf Facebook, Skype und WhatsApp erreichen?“ „Hach, stimmt ja“, schlug sich ihre Schwester vor die Stirn, „Warum habe ich blöde Kuh nicht daran gedacht?“ „Du kannst trotzdem eine SMS an ihn schreiben“, munterte Annemieke sie auf. „Jetzt nicht, er wird garantiert schlafen“, schüttelte Mathilda den Kopf. Da ihnen langsam kalt wurde, gingen sie ins Haus und setzten sich ins Wohnzimmer. „Warum sind unsere Eltern noch nicht einmal in der Lage einen Streit diplomatisch zu lösen?“, ereiferte sich Mathilda, „Du siehst es doch, sie hören sich seit einiger Zeit nicht mehr zu und lassen ihr Gegenüber nicht aussprechen“ „Da hast du Recht, sowas ist ein ziemlicher Beziehungskiller“, musste ihr Annemieke seufzend beipflichten. Mit einem Mal wurde ihr wieder ganz schwer ums Herz. „Wenn unsere Eltern sich trennen, dann kriegt man uns beide auf keinen Fall auseinander und wir werden auf jeden Fall zusammen wohnen bleiben“, flüsterte sie Mathilda ins Ohr. „Auf alle Fälle, Zwillinge für immer!“, drückte sie ihre Hand. Auf einmal fühlte sich Annemieke neben ihrer Schwester geborgen. Sie und Mathilda waren seit ihrer Geburt ein bärenstarkes Duo, noch nicht einmal eine von ihren Freundinnen kam zwischen sie.
Um sieben Uhr klingelte Lottas Wecker. „Aufstehen Mädels!“, flötete Kiki mit ihrer hohen Stimme. „Lass mich weiterschlafen, du Nervensäge!“, knurrte Mathilda und zog sich die Decke über den Kopf. Annemieke gähnte etwas Unverständliches und drehte sich wieder um. „Merkwürdig, warum seid ihr so müde?“, wunderte sich Lotta, „Sonst findet zumindest Micky immer schnell den Weg aus ihrer Kiste“ „Ist dir noch gar nicht aufgefallen, dass die Betten der Zwillinge heute Nacht leer waren“, stieß Kiki Lotta ein, die nur den Kopf schüttelte. „Warum stromert ihr mitten in der Nacht durch die Gegend?“, sah Lotta die Zwillinge fragend an. „Darüber möchte ich gerade nicht reden“, murrte Mathilda und warf ihr einen abweisenden Blick zu.
„Wir hätten uns unseren Freundinnen ruhig anvertrauen können“, sagte Annemieke zu ihrer Schwester, nachdem Kiki und Lotta gegangen waren. „Trotzdem geht es sie nichts an“, entgegnete ihr Mathilda scharf. „Wenn du meinst“, gab sich Annemieke geschlagen. „Vielleicht erzähle ich es ihnen im Laufe des Tages“, fügte ihre Schwester sanfter hinzu. „Wollte ich gerade sagen“, nickte sie, „Nachher denken unsere Freundinnen, dass wir etwas verheimlichen“ „Ach was, sie nehmen es uns nicht übel, wenn wir jetzt nicht darüber sprechen wollen“, murmelte ihre Schwester und kämpfte sich aus dem Bett. „Willst du wirklich frühstücken?“, gähnte Annemieke, „Ich habe überhaupt keinen Appetit“ „Ich auch nicht“, murmelte ihr Zwilling.
Beim Frühstück bekamen die Zwillinge keinen Bissen herunter. Auch der leckere Kakao, den Emily gekocht hatte, schmeckte total fade. „Ich leg mich noch mal hin, mir geht es nicht so gut“, klang Mathilda übernächtigt und schlich die Treppe hoch. „Was ist eigentlich los bei euch? Irgendwas scheint bei euch ziemlich im Argen zu sein“, sprach Lotta den Gedanken aus, den alle im Kopf hatten. Annemieke zögerte einen Moment, bis sie mit der Wahrheit herausrückte. In diesem Moment war es ihr egal, ob ihre Schwester etwas dagegen hatte oder nicht. „Unsere Mutter ist gestern Vormittag abgehauen und hat sich dabei nicht wieder blicken lassen. Noch nicht mal ihr Handy hat sie an“, traten Annemieke Tränen in die Augen, die sie mit aller Macht zurückkämpfen musste. „Ach du liebes bisschen! Das tut mir leid“, klappte Lotta die Kinnlade runter. „Ich weiß, wie du dich fühlst“, nahm Emily Annemieke in den Arm, „Ich habe das Gleiche erlebt wie du, allerdings war es bei mir mein Vater, der abgehauen ist“
„Das klingt ganz übel“, sagte Kiki voller Mitleid, „Jetzt kann ich auch verstehen, wieso ihr so niedergeschlagen seid“ „Bei Mathilda kommt hinzu, dass die Beziehung mit Sven momentan nicht richtig leid. Er widmet sich die ganze Zeit nur seinem Praktikum im Labor und hat dort anscheinend eine andere kennen gelernt“, fügte Annemieke mit schwerer Stimme hinzu. „Das nimmt ja Ausmaße an“, brummte Aylin, „Kein Wunder, dass Mattis Laune die ganze Zeit im Keller ist, nachdem auch ihr Praktikum im Restaurant so schrecklich war“ „Ich hoffe, eure Mutter kommt wieder“, nahm Vivien Annemiekes Hand. „Ich weiß nicht“, schluckte sie, „Gerade eben ist sie auch nicht an ihr Handy gegangen, noch nicht einmal ihre Eltern und Geschwister wissen, wo sie ist. Wenn sie bis heute Mittag nicht mehr auftaucht, ruft Papa die Polizei“ „Ich habe früher immer gedacht, dass eure Eltern eine Traumbeziehung führen“, konnte Kiki es immer noch nicht glauben.
Rosi tröstete die Zwillinge, als sie vom Verschwinden ihrer Mutter hörte und gab ihnen den Tag frei. Gleichzeitig teilte sie den Mädchen mit, dass es Fianna wieder besser ging. Trotzdem musste sie noch im Krankenhaus bleiben, da bei ihr Diabetes festgestellt wurde. Emily, Lotta und Kiki fuhren am Vormittag mit Rosi zum Krankenhaus und nahmen ihren selbst gepflückten Blumenstrauß mit. Annemieke war mehr als heilfroh, dass sie mit Mathilda im Ferienhaus bleiben konnte. Gerade bekam sie sowieso nichts auf die Reihe. Noch nicht einmal einen Artikel aus Lottas Modezeitschrift schaffte sie zuende zu lesen. Ständig schweiften ihre Gedanken ab und irrten im nirgendwo herum. Mathilda saß apathisch auf der Couch und flocht sich gedankenverloren kleine Zöpfchen in ihre Haare. Annemieke konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so elend gefühlt hat.
Warum ging bei ihren Eltern alles so plötzlich den Bach runter? Fast sechzehn Jahre ihres Lebens hatten die Zwillinge sie als ein starkes Duo gesehen und glaubten nicht, dass sie annähernd auseinander zu bringen seien. Im Endeffekt hatten sich die Schwestern doch geirrt und mussten der bitteren Wahrheit ins Gesicht sehen. Mit Grauen malte sich Annemieke aus, wie der Umzugswagen kam und all ihre Möbel mitnahm. Schon wieder brannten ihr die Tränen in den Augen. „Irgendwie ist alles blöd“, trat sie gegen das Sofabein. Mathilda saß seit knapp einer Stunde wie eine Taubstumme da und rührte sich nicht. „Sie ist noch depressiver als ich“, dachte Annemieke besorgt. Mit einem beklemmenden Gefühl ging sie draußen auf und ab und fühlte sich dabei wie ein Tiger, der durch sein Revier patrouillierte.
„Was macht eigentlich deine Mutter auf dem Hof?“, kam Aylin auf sie zu gerannt. „Glaubst du wirklich, dass es unsere Mutter ist?“, sah sie Aylin ungläubig an, die heftig nickte. Wie bitte? Wovon redete ihre Freundin nur? „Komm mit, sie wartet schon auf dem Hof auf dich“, zog Aylin sie hinter sich her. Hand in Hand rannten die beiden Freundinnen den Kieselweg entlang. Mitten auf dem Hof stand neben Rosi wirklich ihre Mutter. In diesem Moment konnte sich Annemieke nicht mehr halten und riss sich von Aylin los. „Mamaaa!“, schrie los und fiel ihrer Mutter stürmisch in die Arme. „Hallo mein Schatz!“, wurde Annemieke fast von ihr erdrückt. „Ich habe mich solche Sorgen um dich gemacht“, weinte Annemieke beinahe, aber diesmal vor Glück und Erleichterung. „Ich kann dich verstehen“, schniefte ihre Mutter, „Mein Verhalten war aber auch nicht gerade vorbildlich. Ich muss euch wohl Riesensorgen bereitet haben und bei eurem Vater habe ich mich auch noch nicht gemeldet“ „Dann wird es aber mal Zeit“, meinte Annemieke. Im nächsten Moment tat ihre Mutter etwas, womit sie gar nicht rechnete. Ihre Mutter zog eine lustige Grimmasse, sodass sie sie einen Lachflash bekam. Da Lachen ansteckend war, konnten sie sich nicht mehr halten und hielten sich gegenseitig fest. So sah richtige Wiedersehensfreude aus und Annemieke konnte sich nicht erinnern, wann sie sich so gefreut hatte, ihre Mutter wieder zu sehen.
„Wo ist eigentlich deine Schwester?“, wollte ihre Mutter wissen. „Komm mit!“, forderte Annemieke sie auf und hakte sie unter. „Das ist aber eine schöne Ferienhütte und dann noch aus Holz!“, war ihre Mutter tief beeindruckt, als sie vor dem Ferienhaus zu stehen. Mathilda saß immer noch auf dem Sofa. Langsam hob sie ihren Kopf und sah einen Moment ungläubig in ihre Richtung, bis sie realisierte, wer vor ihr stand. „Hey Mama!“, jubelte sie und sprang auf. Überschwänglich fiel sie ihr in die Arme und küsste sie auf die Stirn. Annemieke fiel mit in die Umarmung ein. Endlich waren sie wieder vereint, obwohl ihr Vater noch fehlte. Wieder zog ihre Mutter Grimmassen, diesmal noch lustiger als gerade eben. Lachend ließen sie sich auf die Couch fallen. Diesmal zeigten die Zwillinge, dass sie genauso gut ihr Gesicht verziehen konnten. Wieder hielten sie sich ihre Bäuche, bis ihnen die Lachtränen die Wangen herunter liefen. „Ihr seid die Besten“, glücklich legte Mathilda ihre Arme um sie.
Endlich waren das Leben und ihre Frohnatur in sie zurückgekehrt, ganz genauso wie Annemieke ihre Schwester sonst kannte. Eine depressive und miesepetrige Mathilda war genauso wenig auszuhalten, wie eine dicke Grippe und zehn Mathearbeiten zusammen. „Hier, das ist für dich, Matti!“, überreichte ihre Mutter Mathilda einen Umschlug. „Ist der von Sven?“, wollte sie wissen. „Die Kandidatin hat hundert Punkte“, strahlte ihre Mutter. Sprachlos vor Freude hielt Mathilda einen glitzernden Bergkristall hoch, der an einer silbernen Kette hing. „Die ist so schön!“, juchzte sie und hängte sich die Kette gleich um. „Darf ich wissen, was dir Sven schreibt?“, wurde Annemieke ganz neugierig.
„Liebe Mathilda! Es tut mir leid, dass ich mich so lange nicht mehr bei dir gemeldet habe. Ich wollte doch überraschen, deshalb habe ich deiner Mutter diesen Brief in die Hand gedrückt. Ich hoffe, dir gefallen die Ferien in den Alpen. Dort muss es richtig schön sein. Am liebsten wäre ich bei dir und hielte dich in meinen Armen, Löckchen! Mittwoch ist mein letzter Tag im Labor. Freiwillig habe ich mein Praktikum verlängert, weil es mir dort so viel Spaß gemacht hat. Meine Kollegen waren echt nett, besonders Ania. Erst vor kurzem erfuhr sie, dass sie von ihrem Freund schwanger ist und wird demnächst zu ihm nach Hamburg ziehen. Obwohl ich das Praktikum genossen habe, habe ich dich schrecklich vermisst. Deine Bilder, die du mir gesendet hast, finde ich übrigens sehr hübsch! Du bist immer noch mein Girl und daher liebe ich dich und zwar nur dich! In Liebe, dein Sven!“, las Mathilda vor die sichtlich gerührt war. „Ich habe doch gesagt, dass er dich liebt!“, umarmte Annemieke ihre Schwester. „Genau!“, fügte ihre Mutter hinzu, „Ich war in den Plan eingeweiht und sollte daher nichts verraten“ Da Kathi, die Freundin ihrer Mutter draußen auf sie wartete, zogen sie schnell ihre Schuhe und Jacken an.
„Was hält ihr davon, wenn wir in die Schnitzelhütte einkehren?“, schlug ihre Mutter vor. „Au ja!“, sagten die Zwillinge aus einem Munde. Annemieke spürte, dass sie langsam einen derben Hunger bekam, da sie nicht gefrühstückt hatte. Kathi war in dem Alter ihrer Mutter, trug ihre schwarzen Haare hochgesteckt und hatte eine angenehm dunkle Stimme. Den Zwillingen war sie sofort sympathisch. „Weiß eigentlich Rosi bescheid, dass wir weg sind?“, sicherte sich Mathilda vorsichtshalber ab, bevor ihre Mutter los fuhr. „Klar, deswegen habe ich gerade mit ihr gesprochen und sie meint, dass es okay sei. Nur heute Abend solltet ihr wieder da sein“, nickte sie und ließ den Wagen vom Hof rollen. Während der Fahrt redeten die Schwestern kaum, nur immer wieder stellte Kathi ein paar Fragen und erzählte, dass sie früher mit ihrer Mutter Abitur gemacht hatte und später hier ihren Mann geheiratet hat.
Wenig später hielten sie im Nachbarort vor einem Gasthaus. Drinnen trauten sich die Schwestern mehrere Fragen an ihre Mutter zu stellen. „Wann bist du eigentlich gestern von zuhause weggefahren?“, wollte Mathilda wissen. „Gestern bin ich direkt von der Arbeit hier her gefahren und habe bei Kathi übernachtet“, erzählte ihre Mutter. „Hast du dich vorher mit Papa gefetzt?“, hakte Annemieke nach. „Das auch, aber der Hauptgrund, weshalb ich hier bin ist, dass ich mich ohne euch zuhause echt alleine gefühlt habe. Gestern habe ich mich mit eurem Vater so heftig gezankt, dass wir seitdem kein Wort mehr miteinander gesprochen haben. Aus dem Grund hatte ich mein Handy aus, ich wollte nur meine Ruhe vor dem Idioten haben. Sonst hätte er mich hundertmal angerufen“, holte ihre Mutter aus. „Hast du ihm wenigstens bescheid gesagt, dass du hier bist?“, sah Annemieke sie eindringlich an. „Das habe ich gerade schon gemacht, ich habe ihm einfach eine Nachricht geschickt“, meldete sich ihre Schwester zu Wort. „Was hat er gesagt?“, wurde ihre Mutter neugierig. „Dass er sehr erleichtert ist und möchte, dass du bald wieder nach Hause kommst“, erwiderte Mathilda.
„Wichtiger finde ich, dass du nachher mit ihm sprichst, sonst fühlt er sich noch auf den Schlips getreten“, wandte sich Annemieke an ihre Mutter. „Klar tue ich das und ich werde mich für meinen Ausbruch und für diese blöde Aktion entschuldigen“, nickte sie, „Aber erst, wenn ich bei Kathi bin“ Der Kellner kam und brachte die Getränke. „Was haltet ihr davon, wenn wir uns nachher einen Film angucken?“, warf ihre Mutter in die Runde. „Gibt es hier überhaupt ein Kino?“, wunderte sich Mathilda. „Drüben am Marktplatz habe ich eins entdeckt“, nickte sie, „In der Nachmittagvorstellung soll ein echt guter Film kommen“ „Meinetwegen gerne“, klang Annemieke angetan. Kino, Limo und Popkorn! Das konnte noch ein richtig toller Nachmittag werden. Während sie auf ihr Essen warteten, erzählten die Zwillinge, was Fianna gestern passiert war. „Oh je, das klingt gar nicht gut“, meinte ihre Mutter, „Garantiert wird sie nicht so schnell aus dem Krankenhaus entlassen werden“ „Meine Tante hat Diabetes“, erzählte Kathi, „Sie muss sich täglich Insulin spritzen“ Die Zwillinge sahen sich unbehaglich an. „Das ist das Letzte, was ich Fianna wünsche“, sprach Mathilda den Gedanken aus, den sie beide hatten.
Im Anschluss verbrachten sie einen Nachmittag im Kino. Mathilda bestand darauf ihnen Getränke und Popkorn zu spendieren, obwohl ihre Mutter es erst nicht annehmen wollte und erst nachgab, nachdem sie über den Haufen geredet wurde. Seitdem dem Liebesgeständnis von Sven war sie wie ausgewechselt. Annemieke fiel auf, dass ihre Schwester ständig den Bergkristall an der silbernen Kette mit ihren Fingern berührte. Garantiert dachte sie wieder angeregt an Sven, diesmal ohne negativen Hintergrundgedanken. Nun war sie diejenige, die ihre große Liebe suchte. Ein Vibrieren aus ihrer Hosentasche ließ sie aufhorchen. „Darf ich sehen?“, beugte sich Mathilda über ihre Schulter.
Emily überbrachte ihnen keine Neuigkeiten. „Oh je, muss Fianna wirklich nach Hause?“, machte Annemieke ein langes Gesicht. „Gerade wo sie sich am meisten auf die Bandenferien gefreut hatte“, fügte ihre Schwester geknickt hinzu. „Geht es ihr so schlecht?“, erkundigte sich ihre Mutter und runzelte besorgt die Stirn. „Ihr geht es schon besser, aber ihre Eltern wollen, dass sie zuhause von ihrem eigenen Hausarzt behandelt wird und daher hat Fiannas Mutter sie gerade abgeholt“ Es war bereits stockduster, als ihre Mutter sie wieder auf dem Hof absetzte. Zum Abschied gaben die Zwillinge ihr einen Kuss. „Ich verspreche euch, gleich werde ich mit eurem Vater sprechen“, versicherte sie ihnen und stieg wieder ins Auto. Als Annemieke einen Moment lang den zunehmenden Mond anschaute, spürte sie die Hoffnung, dass ihre Eltern sich doch bald versöhnen würden. Schweigend nahm sie die Hand ihrer Zwillingsschwester.
Nach dem Mittagessen des darauf folgenden Tages halfen die Mädchen Rosi dabei einen großen Anhänger mit Feuerholz zu beladen. „Nicht chillen, sondern ranklotzen!“, warf Kiki Emily und Lotta einen mahnenden Blick zu, die auf einem Strohballen hockten und sich ein paar Photos auf ihren Handys ansahen. „Alter Feldwebel!“, gab Lotta augenrollend zurück und ließ ihr Smartphone in ihrer Jackentasche verschwinden. Nur Emily hielt ihr Mobiltelefon ans Ohr. Garantiert telefonierte sie mit ihrem Freund, wie sie es bereits öfter tat, auch während der Arbeit und während der Mahlzeiten. „Wenn das so weitergeht, verstecke ich eines Nachts ihr Handy und händige ihr es erst auf der Heimfahrt wieder aus. Ich habe auch einen Freund, aber ich muss ihn nicht rund um die Uhr kontaktieren“, raunte Kiki genervt und befördert den nächsten Holzklotz auf den Anhänger.
„Du hörst dich fast genauso wie unsere Lehrer an, Kiki“, grinste Annemieke spöttisch. „Aua, ich habe mir einen Splitter in den Finger gezogen“, verzog Vivien ihr Gesicht. „Lass mich mal sehen“, schaute ihr Aylin über die Schulter. „Das sieht übel aus, lass dich behandeln“, bemerkte Kiki. „Geh ins Haus, Anni ist auf diesem Gebiet Expertin“, gab Rosi Vivien den Rat. Aylin hakte sich bei Vivien unter und verließ mit ihr die Scheune. „Noch ein Holzklotz und mein Rücken ist hin“, stöhnte Mathilda, die sich ihren Rücken hielt. „Wollen wir eine Pause machen?“, schlug Annemieke vor, der es nicht anders ging. „Wäre nicht verkehrt“, nickte ihre Schwester. „Soso, wollt ihr uns etwa hängen lassen“, ließ Kiki einen halbironischen Kommentar ab. „Ach was, gleich sind wir wieder da“, versicherte ihr Mathilda. „Komm Schwesterherz“, nahm Annemieke Mathildas Hand. Draußen wehte ihnen ein frischer Wind entgegen, wie kühl es inzwischen geworden war, kein Vergleich zu den letzten Tagen. „Ich muss mich erstmal setzen“, murmelte Mathilda. „Alte Omi!“, neckte Annemieke sie, worauf sich die Zwillinge aus Spaß kabbelten.
Vor dem Haupthaus entdeckten sie Raphael mit einem dunkelhaarigen Mädchen, welches sie bisher noch nie gesehen hatten. Fast sie sah aus wie Kiki, als diese noch so lange Haare hatte. Garantiert war dieses Mädchen ungefähr in seinem Alter. Wie versteinert blieb Annemieke stehen, als hätte sie der Blitz getroffen. „Ist das Luisa?“, hielt sie ihre Schwester am Arm zurück. „Keine Ahnung, ich kenne sie nicht und von dieser Luisa habe ich noch kein einziges Wort gehört“, flüsterte Mathilda. Raphael und die Dunkelhaarige kamen sich näher, bis sie sich umarmten. Es war keine lange Umarmung, trotzdem war die Zuneigung zu erkennen. „Er hat eine Freundin!“, wisperte Annemieke tonlos und fühlte sich mit einem Schlag wie gelähmt. „Wirklich?“, hakte Mathilda nach. „Offenbar schon, das hat Lotta mir vor wenigen Tagen erzählt“, nickte Annemieke traurig. „Das hat sie niemanden gegenüber uns erwähnt“, schüttelte ihre Schwester den Kopf. „Aber mir gegenüber schon“, beharrte Annemieke.
Eine endlose Traurigkeit machte sich in ihr breit. Schweigend ging sie davon. „Hey, wo willst du hin?“, lief Mathilda ihr nach. Annemieke hörte nicht auf sie und lief einfach weiter. „Ich kann dich verstehen, dass du geschockt bist, aber du kannst nicht einfach weglaufen. In ein paar Stunden wird es dunkel sein und dann finden wir nicht mehr zurück, zudem haben wir hier oben nur eingeschränkten Handyempfang“, redete ihr Zwilling auf sie ein. „Ich will gar nicht mehr zurück“, murrte Annemieke übelgelaunt. „Na gut, wenn du gehst, dann gehe ich mit dir!“, beschloss Mathilda, „Auf keinen Fall lasse ich dich hier nicht alleine, bevor dir etwas passiert und dir niemand helfen kann“ Annemieke nickte nur, aber sagte kein Wort. Es war schlimm genug, dass sie sich unglücklich verliebt hatte.
Dass Raphael vergeben war, riss ein tiefes Loch in ihr Herz. In diesem Moment konnte niemand dieses Loch flicken, weder ihre Freundinnen noch ihre Schwester. Am liebsten hätte sie einen See mit Tränen voll geweint, aber in diesem Moment konnte sie noch nicht mal ein klitzekleines Tränchen verdrücken. Immer noch saß der Schock zu tief, der sich wie ein Stachel in sie hineinbohrte. Stattdessen füllte sie eine innere Leere und Hoffnungslosigkeit von der Haarwurzel bis zu den Fußspitzen aus, das alles Lebendige aus ihr heraus sog. „Wollen wir uns kurz setzen?“, schlug Mathilda vor. „Ich will weg von hier und diesen bescheuerten Hof nicht mehr sehen“, fauchte Annemieke und feuerte einen Stein den Abhang hinunter. Diese schwarzhaarige Tussi von gerade eben konnte ihr gestohlen bleiben! „Sei doch mal vernünftig!“, sagte Mathilda bestimmt, „Dein Vorhaben ist echt nicht ungefährlich! Wir sind schon bei den Felsen angelangt und du willst doch nicht wirklich den Bergkamm erklimmen. Ist dir nicht bewusst, dass sich in jedem Moment Steine aus der Felswand lösen könnten“ Direkt vor ihnen war ein Schild, das vor Steinschlag warnte. Annemieke störte es nicht, gerade war es ihr egal, ob sie von einem Stein getroffen wurde oder nicht.
„Meinetwegen können wir kurz Pause machen“, murmelte Annemieke, der bereits die Füße wehtaten. Der innere Schmerz war noch viel heftiger, sodass sie ihre wunden Füße nur noch nebensächlich wahrnahm. „Es muss sich schrecklich anfühlen hoffnungslos verliebt zu sein“, drückte Mathilda ihre Hand. „Tut es auch“, nuschelte Annemieke, die mit ihren Augen gedankenverloren die Umgebung scannte. Ein Gipfel reihte sich an den nächsten, dazwischen war immer ein Tal. „Warum muss ich diejenige sein, die in der Liebe andauernd Pech hat?“, sank sie niedergeschlagen in sich zusammen. „Empfindest du das wirklich so?“, sah ihre Schwester sie an, „Nur wegen diesem einen Mal?“ „Es hätte meine erste große Liebe werden können“, klang Annemieke noch deprimierter und fügte hinzu, „Offensichtlich bin ich nicht hübsch und auch nicht schlank genug“ „Was redest du für ein Blödsinn?“, fuhr Mathilda herum, „Das stimmt doch gar nicht. Du bist die wunderbarste Zwillingsschwester, die man sich nur wünschen kann und zudem siehst du natürlich aus, das macht dich insgesamt zu einer richtig hübschen Person“ „Meinst du wirklich? Ich bin sechzehn und habe noch keine lang andauernde Beziehung gehabt. Fianna, Lotta, Kiki, Emily und du ihr habt entweder schon länger einen Freund oder ihr hattet schon mal eine richtige Beziehung“, mittlerweile war Annemiekes Selbstwertgefühl am Nullpunkt angelangt.
„Und was war mit Marc?“, entgegnete ihre Schwester, „War er nicht dein Freund?“ „Klar, aber das hat nicht so lange gehalten“, seufzte Annemieke und sparte den letzten Teil aus, den sie sagen wollte. Ihrer Schwester in dieser Situation noch Vorwürfe zu machen und eventuell einen Streit mit ihr über den Zaun zu brechen, darauf hatte sie keine Lust. „Nicht jeder hat mit 15, 16 oder 17 eine längere Beziehung“, redete Mathilda ungehemmt weiter, „Unser Cousin hatte erst mit 24 seine erste Freundin und dafür die Liebes seines Lebens gefunden“ „Kann schon sein“, nickte Annemieke, „Trotzdem fühle ich mich gerade als dauerhafter Single fehl am Platz. Alle unsere Freundinnen haben mehr Erfahrung als ich“
„Das stimmt nicht“, schüttelte ihre Zwillingsschwester den Kopf, „Aylin war zwar mal kurz mit Sven zusammen, aber das hat auch nicht länger als vier Wochen gehalten, weil sie dafür zu unterschiedlich waren. Was Vivien angeht, zwar hat sie eine Internetliebe, aber sie hat den Typen in Wirklichkeit noch nie gesehen“ Sich den Schmerz von der Seele zu reden war die beste Medizin, die es gab. Annemieke war froh, dass Mathilda neben ihr saß, obwohl sie zuerst alleine sein wollte. Ihre Nähe und ihr offenes Ohr spendeten ihr den Trost, den sie im Moment bitter benötigte. „Lass uns zurück gehen, langsam wird es kalt“, blies Mathilda zum Aufbruch und zog sie hoch. „Hoffentlich laufe ich Raphael nicht noch einmal über den Weg“, sagte Annemieke voller Kummer. „Das wirst du schon überleben“, klopfte ihr ihre Schwester aufmunternd auf die Schulter. „Obwohl ich jedes Mal die Scherben meines Herzens erneut zusammen kleben darf, nachdem ich ihn gesehen habe“, schniefte sie und putzte sich die Nase. „Fang bloß nicht an zu heulen!“, im nächsten Augenblick zog Mathilda eine Grimasse, sodass sie doch kurz kichern musste.
Während die beiden Mädchen bergab wanderten, sprachen sie kaum miteinander. „Warum musstest du dich so weit vom Hof entfernen?“, brummte Mathilda, die fast über einen kleinen Stein stolperte. „Ich brauchte einen Moment lang Distanz“, gab Annmieke offen zu. Im nächsten Moment drang ein lautes Meckern zu ihnen rüber, das sich mehrmals wieder holte. „Komm, lass uns dem Geräusch folgen“, beschloss Mathilda, die ihre Schwester hinter sich herzog. „Das hört sich nach einer Ziege an“, vermutete Annemieke. „Kann ja sein, dass eine der Ziegen den Anschluss an die Herde verloren hat“, meinte ihre Zwillingsschwester. Schnaufend stiegen sie über einen Haufen Geröll. Weit hinten entdeckten sie eine schneeweiße Ziege, die auf einer Klippe stand. „Irgendwas hat sie“, murmelte Annemieke, „Sie blökt schon die ganze Zeit“ Vielleicht war die Ziege krank oder verletzt.
Leise näherten sich die Zwillinge dem Tier. Vor ihnen lag eine Spalte, die drei oder vier Meter tief sein musste. Als sie hinunter schauten, wussten sie, wieso die Ziege ununterbrochen meckerte. Ihr kleines Zicklein war in die Spalte gestürzt und kam nicht mehr hoch. „Es sieht sehr müde aus“, bemerkte Mathilda. „Wir müssen es retten“, beschloss Annemieke. „Willst du dort wirklich hinunter klettern?“, sah ihre Schwester sie stirnrunzelnd an. „Na klar“, nickte sie und nahm all ihren Mut zusammen. Eine dicke Wurzel, die herausragte gab ihr den nötigen Halt. Vorsichtig kletterte Annemieke den Hang hinab, was keine leichte Angelegenheit war. Nur im Schneckentempo kam sie voran. Beim nächsten Schritt bröckelte das Gestein unter ihrem Fuß weg. Mit einem gellenden Schrei rutschte sie in die Tiefe. „Micky, geht es dir gut?“, rief ihre Schwester panisch. „Alles im grünen Bereich“, versicherte ihr Annemieke, „Aber wie soll ich wieder hochkommen?“ „Darauf hättest du eher kommen müssen, dass es schief gehen könnte“, machte Mathilda ihr von oben Vorwürfe.
„Ich wollte doch nur das Zicklein retten“, verteidigte sie sich und kniete sich neben dem winzigen Tier nieder. Das Zicklein war schon ziemlich ausgekühlt und geschwächt, garantiert war es schon länger hier unten. „Ich versuche mit dem Ziegenbaby rauf zu kommen“, rief Annemieke ihrer Schwester zu und nahm das Zicklein auf den Arm. Wieder nach oben zu klettern, war reintheoretisch unmöglich. Kaum hatte sie ein Stück geschafft und war bei der Hälfte angelangt, rutschte sie wieder ab. „Matti, ich komm alleine nicht wieder hoch und schon gar nicht mit dem Zicklein auf dem Arm!“, rief sie verzweifelt. „Ich laufe zum Glockenhof und hole Hilfe“, versicherte ihr Mathilda. „Meinst du wirklich?“, hakte Annemieke besorgt nach, „Nicht, dass du dich noch verläufst“ „Ach was, das tue ich nicht und noch ist es hell“, meinte ihr Zwilling. Besorgt blieb Annemieke mit dem Zicklein zurück. Oben auf der Klippe wartete immer noch die Mutterziege und rief immer wieder nach dem Jungen. Zu Annemiekes Erstaunen hob das Kleine kurz seinen Kopf und antwortete. „Gleich bist du wieder bei deiner Mama“, tröstete sie es.
Wo blieb Mathilda? Seid einer gefühlten Stunde war sie schon weg und langsam wurde es kalt und ungemütlich. Annemieke hätte vor Wut und Angst heulen können. Vielleicht war es doch eine schlechte Idee gewesen ihre Schwester loszuschicken. Hoffentlich irrte Mathilda nicht orientierungslos irgendwo herum. Allein bei diesem Gedanken wurde ihr speiübel. Allerdings überwog bei ihr die Wut, dass sie ohne Sinn und Verstand davon gelaufen war. Ein Blick auf die Armbanduhr verriet, dass es mehr als zwei Stunden her war, dass sie losgelaufen war. Bestimmt machten sich Rosi und ihre Freundinnen große Sorgen um sie. Gerade als sie ihr Gesicht in ihren Händen verbarg, hörte sie mehrere Stimme. Eine davon gehörte ihrer Schwester und dann glaubte sie auch noch Raphael zu hören.
„Rettung kommt!“, rief Mathilda zu ihr runter. Hinter ihr tauchten Raphael und ein weiterer Junge auf. „Ich dachte, du kommst gar nicht wieder“, entfuhr es Annemieke erleichtert. Raphael ließ ein Seil, an dem eine komplette Bergsteigerausrüstung hing, zu ihr hinunter. Ratlos betrachtete Annemieke die zahllosen Gurte und Schlaufen. „Steig zuerst in die Beinschlaufen und ziehe den Schultergurt über die Schultern“, wies Raphael von oben an, „Du ziehst du den Beckengurt stramm und dann den Schultergurt“ Bevor die Jungs sie nach oben zogen, prüfte sie, ob jeder Gurt richtig saß. Mit dem Zicklein im Arm ließ sie sich hochziehen. Erleichtert fielen sich die Zwillinge in die Arme. „Dass du nie wieder auf solche Gedanken kommst“, raunte ihr Mathilda zu.
Das Zicklein trank währenddessen gierig bei seiner Mutter, es hatte einen Bärenhunger. „Mathilda hat mir schon erzählt, wieso du davon gelaufen bist“, wandte sich Raphael an Annemieke, die puterrot wurde. Peinlich berührt schaute sie zu Boden. Hätte sie länger in seine grünen Augen geschaut, wäre ihr noch schwindeliger geworden. „Ich bin gar nicht mehr mit Luisa zusammen, wie dir Lotta vielleicht erzählt hat“, fuhr er fort, „Vor einiger Zeit hat sie sich ziemlich verändert und ist zu einer richtigen Zicke geworden“ „Hast du momentan gerade eine Freundin?“, fragte sie nach einer Weile, nachdem sie sich dazu überwinden konnte. „Nein, gerade bin ich Single“, verneinte er und fügte hinzu, „Aber vielleicht nicht mehr lange“ „Wie meinst du das?“, errötete sie erneut.
„Mensch Micky, merkst du das nicht?“, flüsterte ihr ihre Schwester ins Ohr, „Er scheint dich sehr zu mögen“ Normalerweise war Annemieke diejenige, die ein gutes Gespür für ihre Mitmenschen und deren Intensionen hatte, doch gerade vernebelte alleine Raphaels Gegenwart ihren Verstand. „Gehört die Ziege eigentlich euch?“, traute sich Annemieke die nächste halbgescheite Frage zu stellen. „Unsere Ziegen tragen alle ein rotes Halsband mit einem Glöckchen, daher kann es nicht unsere Ziege sein“, schüttelte Raphael den Kopf. „Vielleicht kommt sie von den Nachbarhöfen“, vermutete sein Kumpel, der Rudi hieß. „Soweit ich weiß, sind wir die einzigen, die weit und breit Ziegen halten“, meinte Raphael und sagte zu Annemieke, „Wenn du Lust hast, können wir morgen zusammen spazieren gehen“ „Gerne“, nickte sie und spürte, dass ihr Herz einen Freudensprung machte.
„Warum hast du dich einfach so aus dem Staub gemacht? Ist dir nicht bewusst, wie gefährlich deine Aktion war?“, empfing Kiki sie mit lauter Vorwürfen. „Wir haben uns so große Sorgen um dich gemacht, Annemieke“, wetterte Aylin. „Und dann hast du noch nicht einmal bescheid gesagt“, fügte Vivien hinzu. „Hey Mädels, macht mal halblang“, lenkte Mathilda ein, „Das war nur ein Missverständnis und hat sich nun geklärt“ „Was für ein Missverständnis?“, wollte Emily wissen. „Raphael hat momentan keine Freundin. Das Mädchen, das vorhin auf dem Hof war, war nur eine gute Freundin von ihm“, offenbarte Mathilda ihnen. „Tut mir leid, dass ich was Falsches gesagt habe“, sagte Lotta kleinlaut. „Komm Schwamm drüber!“, meinte Kiki, „Ich hätte Lust was richtiges zu essen“ „Dem schließe ich mich an“, pflichtete ihr Mathilda bei. Annemieke spielte einen Moment mit den Gedanken, ob sie ihren Freundinnen von dem bevorstehenden Spaziergang mit Raphael erzählen sollte. „Du hast ein Date!“, sprang Emily jubelnd auf und fiel ihr um den Hals, „Ich bin so stolz auf dich, Mickymaus!“ Obwohl Kiki und Aylin sie einen Moment lang skeptisch anschauten, verbargen sie ihre Zweifel und freuten sich mit ihrer Freundin. Zufrieden lehnte sich Annemieke zurück. Was war das nur für ein Happy End in einer turbulenten Zeit voller Höhen und Tiefen! Nur ihre Sorge, dass sich ihre Eltern scheiden lassen könnten blieb. Trotzdem übertünchte das Glück jegliche negativen Gedanken.
Am nächsten Morgen traf sich die gesamte Belegschaft im Ziegenstall. Da der Besitzer der Ziege und des Zickleins nicht gefunden wurde, hatte Rosi die beiden Ziegen bei sich aufgenommen. Da die Tiere noch keinen Namen hatten, sollten die Namen gelost werden. Dazu schrieb jeder einen Namen auf einen kleinen Zettel, faltete ihn zusammen und warf ihn in einen kleinen Eimer. Lucas betätigte sich als Glücksfee, zuerst zog einen Namen für die Ziege. „Linda“, las er vor und fragte in die Runde, „Wessen Vorschlag ist das?“ „Meiner“, rief Lotta. „Dann bist du jetzt ihre Patin“, lachte Rosi und legte ihr die Hand auf die Schulter. Nun sollte der Name für das Zicklein gezogen werden. „Flöckchen“, entfaltete er den Zettel. „Das kommt von mir“, meldete sich Annemieke. „Juhu, du bist auch Patin!“, gab ihr Lotta einen Highfive.
„Manno, Blümchen wäre viel passender gewesen“, maulte Lisa. „Tja, dein Vorschlag wurde nun mal nicht gezogen“, meinte ihr großer Bruder. Rosi trat nach vorne und träufelte den beiden Tieren ein paar Tropfen Wasser auf die Stirn. „Im Namen des Herren taufen wir euch auf Linda und Flöckchen, möget ihr gesegnet sein in Gottes Namen!“, besiegelte sie die Taufe. „Micky und Lotta, ihr müsst unbedingt noch ein Foto mit ihren Patentieren machen“, rief Kiki, die bereits ihr Handy in der Hand hielt. Mit einem breiten Lächeln ließen sich die beiden Mädchen unzählige Male fotografieren. „Auf jeden Fall müssen wir Fianna auf dem Laufenden halten“, sagte Emily. „Das habe ich bereits vor wenigen Sekunden getan“, grinste Aylin. Zum Schluss wurde die Ziege mit unzähligen Karottenstücken gefüttert, das Zicklein bevorzugte nach wie vor die Muttermilch.
Pünktlich um fünf Uhr wartete Raphael vor dem Brunnen auf sie. „Was hältst du davon, wenn wir zur Jägerhütte laufen und dann wieder zurück. „Das ist eine tolle Idee“, fand Annemieke. Ohne viel zu reden liefen sie los. Zwanghaft kramte sie nach einem Gesprächsthema, worüber sie sich mit ihm unterhalten konnte. „Wenn mir nichts einfällt, dann ist das gesamte Date im Eimer“, dachte sie frustriert. „Durch Lotta weiß ich schon, dass ihr eine Bande seid. Wann habt ihr euch eigentlich gegründet?“, brach er das Schweigen, als sie die Alm bereits erreicht hatten. „In der sechsten Klasse, als wir auf Klassenfahrt waren“, erzählte sie, „Damals hatten wir ziemlichen Ärger mit einer Jungenbande, die sich die Piranhas nennen. Ständig haben sie uns gemeine Streiche gespielt und uns bei jeder Gelegenheit gehänselt. Das wollten wir uns nicht auf uns sitzen lassen, daher hat Kiki ebenfalls eine Bande gegründet, um den Jungs Paroli zu bieten“
„Habt ihr bereits schon viele Abenteuer erlebt?“, wollte Raphael wissen. Auch da konnte Annemieke mächtig ausholen und berichtete von dem Abenteuer in der alten Villa, dem Reiturlaub an der Ostsee, der Kanufahrt mit ihrer Klasse und all den anderen Erlebnissen. „Wow, ihr seid richtige hart gesottene Heldinnen!“, war er sehr beeindruckt. Während sie immer mehr von ihrer Bande erzählte, spürte sie, dass sie immer lockerer und gesprächiger wurde. Ohne Vorwarnung griff er nach ihrer Hand. Annemieke wurde ganz schummrig vor Glück. War das nur ein Traum oder ging sie wirklich mit ihrem Schwarm in den Bergen spazieren? „Das ist die Jägerhütte“, zeigte Raphael auf eine kleine unscheinbare Hütte, die von außen ziemlich verlassen aussah. „Da wohnt aber keiner drin?“, versicherte sie sich. „Ne, momentan ist da niemand“, schüttelte er den Kopf, „Früher war dort oben mein Großonkel zum Jagen, aber das ist mittlerweile auch über zehn Jahre her. Seit einem Jagdunfall rührt kein Gewehr mehr an“ „Oha! Wie geschah es?“, wollte Annemieke wissen.
„Als er seine Waffe reinigen wollte, löste sich ein Schuss und traf ihn an der Schulter. Zuvor hatte er mit einem Jagdgenossen eine halbe Flasche Schnaps leer gesoffen, leider war sein Gewehr immer noch entsichert, als er damit herumspielte und sich dann ein Schuss löste. Zum Glück konnte sein Kumpel einen Rettungswagen rufen. Somit hatte er Glück im Unglück, obwohl es ihm einen längeren Krankenhausaufenthalt eingebracht hat“, erzählte Raphael. „War zwischendurch mal wieder jemand in der Hütte?“, fragte sie. „Manchmal bin ich dort mit meinen Kumpels, um nach dem Rechten zu sehen“, erwiderte er, „Zudem stellen wir sicher, dass dort genug Holz für den Kamin da ist. Vor einigen Jahren hatten zwei Italiener dort für zwei Tage ausharren müssen, da sie in einen Schneesturm gerieten und sie komplett eingeschneit waren“ Da Annemieke nach zweieinhalb Stunden Marsch die Füße wehtaten, traten sie den Rückweg an. „Hast du noch Lust ein wenig mit zu uns zu kommen?“, fragte sie, „Nachher soll ein guter Film kommen“ „Na klar, warum nicht?“, nickte er. Zu Annemiekes Erleichterung ging es talabwärts. Das war viel entspannter als sich die ganze Zeit bergauf zu kämpfen.
„Merkwürdig, es scheint niemand da sein zu“, murmelte Annemieke und spähte durch das Küchenfenster. Drinnen in ihrem Ferienhaus war es komplett dunkel. „Vielleicht sind deine Freundinnen drüben bei meiner Familie und trinken dort Kaffee“, vermutete Raphael. Als Annemieke die Tür aufschloss, blieb ihr vor Staunen die Spucke weg. „Da waren wohl kleine Wichtel am Werk“, lachte Raphael. Der ganze Raum war geschmückt. Eine Girlande aus roten Herzen hing an der Decke. An der Kühlschranktür klebte ein rosa Herz aus Glanzpapier und auf dem Kaminsims stand eine große Vase mit Blumen. „Sieh mal der Tisch ist gedeckt!“, glänzten Annemiekes Augen, „Und man hat uns sogar einen Kuchen gebacken und eine Kanne Kakao gekocht“ „Hast du das für uns gemacht?“, wollte er wissen. „Nein, damit habe ich nichts zu tun, das waren sicherlich meine Freundinnen“, schüttelte sie den Kopf.
„Wow, das freut mich, dass du so gute Freundinnen hast“, legte Raphael ihr den Arm um die Schulter. Um es sich gemütlicher zu machten, löschten sie das Licht und zündeten alle Kerzen an, die auf dem Tisch standen. „Ich bin mal auf die Backkünste deiner Freundinnen gespannt. Aussehen tut der Kuchen schon mal richtig gut“, nahm er sich ein Messer und schnitt den Kuchen an. Es roch herrlich schokoladig, garantiert war Kiki am Werk. Sie war mit Annemieke zusammen die talentierteste Bäckerin der Bande. Bei den Bandentreffen waren sie dafür zuständig, dass es Kekse, Kuchen oder Muffins gab. „Ladys first!“, mit einem verschmitzen Lächeln legte er ihr das erste Stück auf den Teller. So fantastisch der Kuchen roch, genauso schmeckte er auch. „Ich könnte noch ein Stück vertragen“, griff Raphael zum Messer. „Dito!“, nickte Annemieke.
„Nicht dass wir noch Bauchschmerzen kriegen, weil wir den ganzen Kuchen aufgefuttert haben“, grinste er. „und man uns danach rollen kann“, fügte sie flachsend hinzu. „Dann rollen wir halt um die Wette, hier gibt es genügend Hänge. Aber mich wirst du in dieser Disziplin nicht toppen, das ist mein Metier!“, setzte er obendrauf, worauf beide einen so heftigen Lachkrampf bekamen, dass sich Annemieke an einem Kuchenkrümel verschluckte und Raphael ihr auf den Rücken klopfen musste. „Ich glaube das um die Wette rollen lassen wir heute lieber sein“, schmunzelte er. „Dafür wäre ich auch, wir hatten bereits genug Bewegung“, pflichtete sie ihm bei. Annemieke machte sich zunehmend Gedanken, wo ihre Freundinnen abblieben. Eigentlich müssten sie demnächst kommen und das Abendessen vorbereiten. „Wie fandest du unseren Nachmittag?“, wollte er wissen. „Wunderschön!“, hauchte sie und konnte es immer noch nicht fassen, dass sie nun fast mit ihrem Schwarm zusammen war. „Macht es dir etwas aus, wenn ich jetzt gehe?“, fragte er mit einem Blick auf seine Uhr, „Mama hat noch ein paar Aufgaben im Haushalt für mich“ Zum Schluss umarmten sie sich. Auch noch einige Zeit nachdem Raphael gegangen war, schwebte Annemieke auf Wolke Sieben. Summend begann sie für Ordnung zu sorgen und wusch das dreckige Geschirr ab.
In einer Kolonne kamen die anderen Roten Siebenerinnen die Treppe herunter geschlichen. „Na, wie war dein Date?“, konnte Mathilda ihre Neugierde nicht länger in Zaum halten. „Wunderbar! Raphael ist der süßeste und charmanteste Junge auf dieser Erde!“, strahlte Annemieke und schwebte vor Glück schon beinahe. „Das freut mich!“, klatschte Lotta sie ab. „Willst du wirklich eine Fernbeziehung mit ihm haben? Ich meine, ihr würdet euch dann nur sehr selten sehen“, äußerte Vivien erste Zweifel. „Ach was, natürlich geht das“, fuhr ihr Kiki über den Mund, „Schließlich können sie skypen oder sich gegenseitig Nachrichten schicken“ „Punktgenau, mit der heutigen Technik ist alles drin“, nickte Emily.
Bevor Annemieke es ganz vergaß, bedankte sie sich bei ihren Freundinnen, dass sie den Kuchen gebacken und den Raum so schön hergerichtet hatten. „Aber das ist doch eine Selbstverständlichkeit“, meinte Aylin, „Für eine Bandenschwester tun wir doch alles! Nicht wahr, Mädels?“ „Aber klar doch!“, nickten Mathilda und Emily. „Das war vor allem die Idee deiner Schwester, die das Ganze arrangiert hatte“, flüsterte Kiki Annemieke ins Ohr, die über beide Backen strahlte. Auf ihre Schwester war immer Verlass. Während die anderen Mädchen den Tisch für das Abendessen deckten, machte es Annemieke sich auf dem Sofa bequem und spielte ein Handyspiel. Ihre Freundinnen nahmen es ihr nicht übel, dass sie nicht am Abendessen teilnehmen wollte. Dazu war sie immer noch zu satt vom Kuchen und vom Kakao. Zufrieden räkelte sie sich auf der Couch und ließ ihren Gedanken freien Lauf, die selbstverständlich Raphael galten.
„Hey, was hält ihr davon, wenn wir heute Nachmittag eine kleine Wanderung machen?“, schlug Lotta vor, als sie im Stall eine kleine Verschnaufpause einlegten. „Wunderbar!“, klatschte Kiki in die Hände. „Machen wir auch ein Picknick wie vor ein paar Tagen?“, wurde Aylin neugierig. „Klar“, nickte Lotta, „Rosi gibt uns garantiert ein paar leckere Sachen mit“ „Käsesemmeln, Apfelkuchen, Pfannkuchen, Früchte, Salamiwürstchen und Tee“, begann Vivien begeistert aufzuzählen. „Hurra, das wird ein sensationeller Bandennachmittag auf der Alm!“, jubelte Emily, die ihre Arme um Lotta und Vivien gelegt hatte. „Darf Raphael auch mit?“, fragte Annemieke vorsichtig, die nicht hundertprozentig wusste, ob es ihren Freundinnen auch recht war. „Frag ihn ruhig“, ermutigte Mathilda sie und gab ihr einen sanften Stoß in die Seite. „Ich würde sehr gerne mit euch mitkommen, aber leider habe ich nachmittags noch ein wichtiges Fußballspiel gegen unsere Erzrivalen aus dem Nachbarort“, drehte sich Raphael zu den Mädchen um.
„Schade!“, zog Annemieke ein langes Gesicht. „Aber heute Abend habe ich Zeit für dich, Annemieke!“, versicherte er ihr. Mit einem Mal fühlte sich Annemieke total niedergeschlagen. Ihr war bewusst, dass es ihr letztes Wochenende auf der Alm war und in wenigen Tagen hieß es Abschied nehmen von all den Tieren und freundlichen Menschen. Am meisten würde ihr Raphael fehlen. Allein der Gedanken, dass sie ihn nicht mehr täglich sehen können würde, ließen ihre Augen feucht werden. „Nicht flennen!“, wurde sie von ihrer Schwester von hinten überfallen und ausgekitzelt. „Aaahh Matti!“, quiekte sie und sprang auf. Lachend jagten sich die Schwestern durch die Gegend, bis sich Annemieke mit Seitenstechen ins Stroh fielen ließ. „Da haben aber zwei ganz großen Spaß an der Arbeit“, stellte Rosi mit einem süffisanten Lächeln fest, „Trotzdem sollte man sich in der Gegenwart der Tiere nicht so hektisch bewegen“
Direkt nach dem Mittagessen begannen die Mädchen ihre Rucksäcke zu packen. Lotta behielt Recht, Rosi gab ihnen ziemlich viel Wegzehrung mit und erfüllte den einen oder anderen Wunsch. „Vergesst nicht eure dicken Jacken mitzunehmen“, erinnerte Kiki sie vor dem Aufbruch. „Manno, dann muss ich noch mehr tragen“, stöhnte Aylin. „Erinnert euch, das Wetter kann in den Bergen von null auf hundert umschlagen“, sah Lotta sie eindringlich an. „Obwohl ich mir nicht vorstellen kann, dass es bei dem sonnigen Wetter ein heftiges Unwetter geben kann“, brummte Mathilda, die als erste bereitwillig ihre Winterjacke in ihren Rucksack stopfte. Zu siebt machten sie sich auf dem Weg. „Viel Spaß euch! Kommt bitte heile wieder“, winkte ihnen Raphael hinterher. „Keine Panik, ich kenn mich hier aus und im Notfall haben wir auch noch unsere Handys dabei“, versicherte ihm Lotta. „Als ob wir oben auf der Alm Empfang haben, du Dödel!“, raunte Kiki. „Als ob wir die Dinger auch nur einmal gebrauchen müssen“, gab Lotta leicht pikiert zurück und schritt mit Emily an der Spitze.
„Was für ein Jammer, dass Fianna nicht dabei ist“, bedauerte Aylin, „Sie hätte an der Bergtour ihre wahre Freude gehabt und das bei so einem wunderschönen Wetter mit strahlenden Sonnenschein“ „Wahrschlich sitzt die Arme alleine zuhause und muss wegen ihrer blöden Diabetes dutzende Tests über sich ergehen lassen“, murmelte Annemieke. Dass Fianna nicht mehr dabei war, bedrückte auch sie ziemlich. Obwohl ihre rothaarige Freundin oft sehr eitel war und manchmal divenhaft wirkte, war sie wegen ihrer Flippigkeit und ihrer guten Ideen nicht selten der Spaßfaktor der Roten Sieben. „Ich glaube dahinten sehe ich ein paar Gämsen“, holte Kiki ihr Fernglas raus und deutete auf die Felsklippen, die oberhalb der Alm anfing. Sofort stellten die Mädchen ihre Gespräche ein, jedes von ihnen stammende Geräusch konnte die wildlebenden Tiere aufschrecken und vertreiben. Nachdem jede Rote Siebenerin durch das Fernglas gesehen hatte, wurde die Wanderung fortgesetzt.
Die Freundinnen überboten sich damit, was für Tiere sie entdeckten und einmal glaubte Mathilda einen Steinadler gesehen zu haben. „Das kann nicht sein. Ein Steinadler ist wesentlich größer und macht andere Flugbewegungen“, schüttelte Kiki den Kopf, die sich gut mit der heimischen Flora und Faune auskannte. „Meine Güte, müssen wir bei jedem Krobzeug anhalten und davon Fotos schießen?“, rollte Lotta genervt mit den Augen und knipste ein Selfie, auf dem sie vornehm lächelte. „Mädels, lasst uns weiter gehen, ich will hier keine Wurzeln schlagen“, beschloss Emily. An einem Wegkreuz machten die Mädchen für eine Weile Pause und nutzen die Zeit um alberne Bilder von sich und dem Kreuz zu schießen. „Wenn man das so sieht, könnte man uns als Gotteslästerer bezeichnen“, giggelte Emily, die ein Foto von den Zwillingen und Kiki knipste, die frech ihre Zungen raus streckten. „Wollt ihr ein paar Kekse?“, holte Vivien eine Packung Cookies aus ihrer Tasche. „Gerne, darauf bin ich immer scharf“, lief Mathilda auf sie zu.
Während die Freundinnen sich gegenseitig neckten, herumaltern und einen Teil von ihrem Proviant verdrückten, wurde die Sonne von dunstgrauen Wolken verdeckt. Niemand merkte, dass vom Westhang eine dunkle Wolkenfront aufzog. Ein deutliches Grollen ließ die Mädchen aufschrecken. „Mist, wir müssen sofort wieder zurück“, wurde Mathilda unruhig und stopfte alle ihre Sachen zurück in den Rucksack. „Das werden wir nicht schaffen“, schüttelte Lotta den Kopf, „Das Unwetter wird vor uns da sein“ „Und was machen wir jetzt?“, zuckte Vivien mit den Achseln, „Sollen wir das Unwetter hier aussitzen?“ „Das ist viel zu gefährlich“, lenkte Kiki energisch ein, „Vor allem, weil wir direkt neben dem Kreuz sitzen, dort schlagen Blitze besonders gerne ein“ „Und dann dürfen wir auch nicht in der Nähe von Felswänden aufhalten, die Gefahr, dass sich durch Blitzschlag Steine lösen, ist viel zu groß“, mischte sich Annemieke ein.
„Wo sollen wir uns denn sonst in Sicherheit bringen?“, jammerte Aylin, der die Angst deutlich ins Gesicht geschrieben stand. „Vielleicht zieht das Unwetter auch an uns vorbei“, blieb Emily als einzige gelassen. „Das hättest du wohl gerne“, zischte Lotta, „Los Mädels, viel Zeit bleibt uns nicht mehr!“ „Lass uns eine kleine Nische suchen, dort ist man am besten geschützt“, warf Vivien an. Ein heftiger Wind wehte Annemieke die Kapuze vom Kopf. Das Unwetter hielt direkt auf sie zu. Im nächsten Moment zuckte ein greller Blitz über den dunkelgrauen Himmel und ein kräftiger Donner zerriss ihnen fast das Trommelfell. „Oh nein, wir schaffen es nicht!“, war Aylin fast am Weinen. Aus lauter Angst hielt sie sich an Kikis und Lottas Händen fest. Kurz darauf begann ein starker Regen einzusetzen, der ihre Sicht auf wenige Meter einschränkte. „Verdammt, wir haben noch nicht mal Handyempfang! Rosi und Raphael werden sich bestimmt große Sorgen um uns machen“, schimpfte Lotta vor sich hin.
Beim nächsten Mal folgten Blitz und Donner direkt aufeinander. „Runter mit euch in die Hocke!“, rief Kiki. „Aua, meine Knie!“, stöhnte Emily. „Was soll das nur für einen Sinn machen?“, schniefte Aylin. „Das ist der beste Schutz vor Blitzschlag, den wir gerade haben“, sagte Lotta. Wieder blitzte es und in der Ferne hörten sie ein dumpfes Grollen. Wahrscheinlich hatten sich ein paar Felsbrocken von einem Hang gelöst, die nun bergabwärts rollten. Dicke Schneeflocken mischten sich unter den Regen. „Ich bin gleich bis auf meine Haut nass“, beklagte sich Vivien. „Gleich sterbe ich vor Kälte“, wimmerte Aylin, der bereits dicke Tränen über die Wangen rannen. „Hört mal zu!“, bat Annemieke um Aufmerksamkeit, „Hier in der Nähe ist die Jägerhütte, an der ich gestern mit Raphael vorbei gelaufen bin“ „Ach stimmt, die Jägerhütte, das hatte ich ganz vergessen“, fiel ihr Lotta ins Wort. „Wisst ihr auch den Weg dorthin?“, hakte Kiki nach. „Na klar, wir stehen schon fast davor“, nickte Lotta. Damit sich die Freundinnen bei der schlechten Sicht sich nicht aus den Augen verloren und nicht den Hang hinunter gepustet wurden, hielten sie sich gegenseitig an den Händen fest. „Dahinten ist eine Hütte!“, rief Emily gegen den Wind an. „Na klar, das ist auch die Jägerhütte“, erwiderte Lotta.
Zu ihrer Überraschung ließ sich die Tür der Jägerhütte problemlos öffnen und die Mädchen standen in einem Raum mit einem Kamin, einem Holzfeuerherd, einem massiven Tisch und einem großen Bett. An den Wänden hingen ein messingfarbenes Kreuz und mehrere Tiergeweihe. „Gott sei dank, haben wir nun ein Dach über dem Kopf“, klang Emily erleichtert. Erschöpft ließen sich die Mädchen auf dem Bett nieder, auf das sie zu siebt gut drauf passten. Annemieke war so müde, dass sie sich bei ihrer Schwester anlehnte und kurz wegschlummerte. Als sie hoch schreckte waren Emily, Lotta und Kiki dabei dicke Holzklötze von draußen herein zu tragen und ein Feuer im Kamin aufzustapeln. Erst jetzt merkte sie, dass es in der Hütte doch empfindlich kalt war. „Oh nein, ich habe kein Feuerzeug dabei!“, ließ Lotta frustriert den Kopf hängen. „Dafür habe ich eins in meinem Notfallpaket für alle Fälle“, sprang Vivien auf und lief zu ihrer Tasche. „Super, du bist unsere Rettung, Vivi!“, klopfte ihr Emily anerkennend auf die Schulter. Lotta und Kiki entfachten ein loderndes Feuer.
Die angenehme Wärme breitete sich im ganzen Raum aus. Draußen war das Gewitter einem Schneesturm gewichen, der laut heulend um die Bretter der Hütte jagte. „Ich sag doch, das Wetter in den Bergen ist unberechenbar“, sagte Lotta feststellend. Schweigend hockten die Roten Siebenerinnen nebeneinander auf dem Bett und starrten Luftlöcher. Zwischendrin liefen Mädchen abwechselnd zum Schuppen um Nachschub für das Feuerholz zu besorgen. Als Annemieke an der Reihe war, stellte sie mit einem Schrecken fest, dass der Schnee mittlerweile knöcheltief war. Zudem musste sie sehr gegen den starken Wind ankämpfen, der sie fast umwehte. „Dieser Sturm ist fürchterlich“, sagte Aylin voller Unbehagen, die immer noch rot geweinte Augen hatte. „Ich bin auch dafür, dass der Spuk ein Ende hat“, pflichtete ihr Vivien bei, die ihre Knie ganz nah an die Brust gezogen hatte und gelangweilt aus dem Fenster sah.
„Hat irgendeiner noch etwas Interessantes zu erzählen?“, murmelte Kiki melancholisch in den Raum. „Ich habe was zu erzählen“, richtete sich Mathilda auf, „Eigentlich wollte ich es zuerst Micky erzählen“ „Erzähl es uns doch allen“, meinte Annemieke. „Ich habe mit Papa arrangiert, dass wir mit Mama für ein paar Nächte in einem Münchner Luxushotel verbringen“, fuhr ihre Schwester fort. „Jetzt im Ernst?“, fielen Annemieke fast die Augen aus dem Kopf. „Glaubst du, ich erzähle dir Lügen?“, lachte Mathilda kurz auf und fügte ernst hinzu, „Papa hat eingesehen, dass es mit den ewigen Streitereien mit uns und Mama nicht weiter gehen kann. Er erzählte mir, dass der ständige Zoff auch an ihm nagt. Deshalb will er uns auf ein paar Verwöhntage mit gutem Essen, Sauna, Schwimmbad und Wellness einladen“ „Matti, du bist ein Genie!“, fiel Annemieke ihr um den Hals. „Freut mich, dass die Beziehung zwischen euren Eltern wieder auf einem besseren Weg ist“, strahlte Kiki und quetschte sich zwischen die beiden Schwestern, die immer noch um die Wette lächelten. Zur Feier öffnete Lotta eine Flasche Himbeerlimonade und ließ sie kreisen.
Es wurde langsam dunkel draußen. „Ach du Schreck, wir sitzen hier schon seit Stunden fest!“, stellte Kiki schockiert fest. Der Schneesturm wollte sich immer noch nicht legen. Wütend heulte er wie tausend Gespenster und rüttelte an den Fensterläden. „Wir können niemanden erreichen und Rosi macht sich garantiert schon große Sorgen um uns“, tigerte Lotta im Raum auf und ab. „Dann sitzen wir es halt aus, daran lässt sich nichts ändern“, meinte Emily. „Habt ihr noch was zu Essen dabei?“, fragte Aylin. Die Mädchen holten alles Essbare aus ihren Rucksäcken, was sie nur finden konnten und legten es auf den Tisch. „Haben wir nur noch Brote?“, konnte Aylin ihre Enttäuschung nicht verbergen. „Und ein paar Apfelspalten“, stellte Mathilda eine Plastikdose auf den Tisch. „Ich habe noch eine ganze Packung Lakritz“, hielt Vivien triumphierend eine Packung Lakritzschnecken hoch. Lotta und Kiki verzogen die Gesichter, auch Annemieke war kein großer Lakritzfan. Schwesterlich wurde das letzte Essen untereinander aufgeteilt. Zum Glück hatte Emily noch eine große Flasche Wasser dabei, sodass die Freundinnen keinen Durst leiden mussten.
Emily fand neben dem Herd eine Öllampe, die offenbar noch genug Petroleum hatte und sich problemlos anzünden ließ. Zusammen mit dem Kaminfeuer tauchte sie den Innenraum in ein goldiges Licht. Obwohl sie hier oben gefangen waren, fand Annemieke es in diesem Moment sehr gemütlich. Natürlich wagte sie es nicht diesen Gedanken laut auszusprechen, da ihre Freundinnen sie sonst für eine gedankenverlorene Schwärmerin gehalten hätten oder ihr heftig widersprochen hätten. Besonders Lotta und ihre eigene Schwester ritten gerne darauf herum, dass sie einen Sinn für Harmonie und Gemütlichkeit hatte. Draußen wich das restliche Tageslicht immer mehr der Finsternis. „So finden wir nie mehr zurück“, klang Kiki nahezu verzweifelt und kämpfte die aufsteigenden Tränen zurück. „Und zur Not schlafen wir alle in einem Bett“, brummte Emily, die am meisten bereit dazu war, sich ihrem Schicksal zu fügen. Aus lauter Langweile begannen die Mädchen mit ihren Handys zu daddeln oder Musik abzuspielen.
„Erinnert euch daran, dass wir die Handys im Notfall noch brauchen werden“, ermahnte Kiki sie. „Wozu brauchen wir unsere Handys noch? Wir haben doch eh kein Netz“, fiel ihr Lotta abrupt ins Wort. „Vielleicht können sie uns später noch als Lichtspender nützlich sein“, wusste Emily, worauf Kiki hinaus wollte. Bevor die Stimmung noch weiter in den Keller rutschte, animierten die Zwillinge ihre Freundinnen zu Klatsch- und Fingerspielen, wie sie es noch aus dem Kindergarten und der Grundschule kannten. „Irgendwie kann ich wieder etwas essen“, war Mathilda wieder hungrig. „Ich auch“, pflichtete ihr Annemieke bei. „Wir haben nur noch meine Lakritzschnecken“, sagte Vivien. „Trotzdem her damit“, forderte Lotta. Obwohl die meisten Bandengirls sich nicht sonderlich um Lakritz rissen, kauten sie sehr lange auf den Schnecken herum. Emily behauptete, dass das den Hunger lindern würde. Dennoch hatte es einen großen Nachteil, dass die Mädchen davon sehr durstig wurden und bis auf eine kleine Flasche Limonade, die Annemieke in ihrem Rucksack versteckt hielt, alle Trinkvorräte aufbrauchten.
„Meine Güte, wir können doch nicht Tage in dieser Hütte verbringen“, sagte Mathilda resigniert und schaute aus dem Fenster. Immer noch wirbelten dicke Schneeflocken gegen die Scheibe. „Vielleicht findet man hier ein Gewehr und man kann ein paar Schüsse abfeuern“, brummte Kiki. „Das Gewehr gibt es lange nicht mehr, seit Raphaels Großonkel seinen Unfall hatte“, schüttelte Lotta den Kopf. „Aber irgendwas müsste es doch geben, womit wir die Aufmerksamkeit der Dorfbewohner erregen können“, überlegte Annemieke laut und wickelte sich eine Locke um ihren Zeigefinger. Die Roten Siebenerinnen suchten die ganze Hütte nach brauchbaren Gegenständen ab. „Hier ich habe etwas!“, zog Aylin eine Kiste hinter dem Feuerholzkorb hervor. „Das sind Leuchtspurraketen!“, riss Kiki die Augen weit auf. „Und was wollen wir damit anfangen?“, fragte sich Vivien.
„Wir können sie in die Nacht abfeuern und dann sehen die Leute im Dorf garantiert, dass irgendwer noch auf der Alm ist“, erklärte Kiki ihren Plan. „Aber wie wollen wir die Raketen steigen lassen? Vielleicht können wir sie durch den Schornstein abschießen“, nagte Lotta an ihrer Unterlippe. „Toller Plan!“, kommentierte Mathilda ironisch, „Du Schlaumeier, hast du nicht gesehen, dass immer noch ein Feuerchen im Kamin brennt? Daher bleibt uns keine andere Wahl als die Raketen draußen zu zünden“ „Aber bei diesem heftigen Wind ist es viel zu gefährlich diese Dinger steigen zu lassen“, widersprach ihr Aylin. „Dann warten wir einfach, bis sich der Sturm gelegt hat“, mischte sich Annemieke ein. Mit betretenden Mienen machten es sich die Freundinnen wieder auf dem Bett bequem und saßen die Zeit überwiegend schweigend ab.
Annemieke, die zwischen Emily und Lotta saß, nickte ab und zu ein. Erst wenn neben ihr gesprochen wurde, wachte sie wieder auf. „Die Luft ist rein“, hörte sie Lotta neben sich sagen. Der Sturm hatte sich tatsächlich gelegt. „Nun können wir zur Tat schreiten“, klang Kiki hoffnungsvoll. Emily schleppte die Kiste mit den Leuchtspurraketen nach draußen. „Traut sich wer?“, fragte Mathilda vorsichtig, die sich offenbar nicht traute. „Na gut, wenn es keiner freiwillig macht, dann ich“, meldete sich Lotta freiwillig. Annemieke bewunderte sie insgeheim, dass sie den Mut aufbrauchte, diese Dinger zu zünden. Im nächsten Moment explodierte ein rotes Geschoss am Himmel. Wenn die Lage nicht so ernst gewesen wäre, hätte man es für ein Silvesterfeuerwerk halten. „Mindestens noch ein oder zwei“, forderte Kiki. Im nächsten Moment ließ Lotta zwei Raketen auf einmal starten. „Das müsste erstmal reichen“, war Emily zufrieden, „Die Leute im Dorf werden es wohl gesehen haben“ Die Mädchen traten wieder den Rückzug in die Hütte an, ohne Jacke war es hier draußen empfindlich kalt. „Bis Hilfe kommt, werden sicherlich noch ein oder zwei Stunden vergehen“, meinte Kiki mit einem Blick auf ihre Armbanduhr. „Uahh, bin ich müde“, reckte sich Aylin und lehnte sich gegen Emily. Annemieke hätte ebenfalls problemlos einnicken können, die Uhr zeigte bereits wenige Minuten nach Zehn an.
Gerade als die Freundinnen halbeingeschlafen waren, wachte Annemieke auf. Sie glaubte vor der Hütte Stimmen gehört zu haben. „Matti!“, wisperte sie und rüttelte sanft an Mathildas Schulter. „Hä, was ist los?“, schreckte diese hoch. „Draußen sind Leute“, sagte Annemieke halblaut. „Jetzt habe ich es auch gehört“, richtete sich Lotta auf und lief zur Tür. „Rosi!“, rief sie im nächsten Moment. „Ist das unsere Rettung?“, konnte Vivien ihr Glück kaum fassen. Im Nu stand die gesamte Bande unter dem Türrahmen. „Hallo, da seid ihr ja!“, winkte ihnen Rosi überschwänglich zu, die eine große Taschenlampe in der Hand hielt.
Hinter ihr standen Raphael und ein Mann, den die Freundinnen nicht kannten. „Wollt ihr einen Moment rein kommen?“, bat Lotta an. „Gerne, wir brauchen eine kleine Pause“, nahm Rosi das Angebot an. Annemieke als erstes Raphael um den Hals und schmiegte sich an ihn. „Gut, dass wir euch gefunden haben“, sagte er, „Mama und ich hatten schon eine riesige Angst um euch, dass euch etwas Schlimmes bei dem Unwetter passiert ist. Vorhin hat Lisa die Raketen gesehen, die ihr abgeschossen habt und daraufhin haben wir vermuteten, dass es ihr gewesen seid“ Der Mann, der Rosi und Raphael begleitete, hieß Hubert und kam vom Nachbarhof. Er hatte den Mädchen zwei Kannen warmen Tee mitgebracht. „Übrigens hat die Bahn den Nahverkehr eingestellt, sodass ihr frühestens Montag fahren könnt“, teilte ihnen Rosi mit, „Eure Eltern werde ich so schnell wie es geht in Kenntnis setzen“
Nachdem die Mädchen erst mitten in der Nacht wieder am Glockenhof ankamen, fielen sie todmüde in ihre Betten. Beinahe zehn oder elf Stunden schliefen sie und stellten ihren gefühlten Schlafrekord auf. Annemieke wachte erst gegen Mittag auf. „Aufwachen, gleich gibt es Frühstück“, stupste ihre Schwester sie an. „Was heißt Frühstück?“, lachte Kiki, „Gleich ist es halb eins“ „Seit ihr schon länger wach?“, hob Lotta den Kopf. „Ich schon seit mindestens einer Stunde, aber ich habe euch weiterschlafen lassen“, meinte Mathilda, „Stattdessen habe ich in Annemiekes Buch gestöbert, obwohl ich gar nicht auf Romane stehe“ „Soso, nicht mal meine Bücher sind sicher vor dir?“, wandte sich Annemieke mit gespielten Vorwurf an ihre Schwester. „Ich musste mir doch irgendwie die Zeit vertreiben, sonst wäre ich noch an Langweile krepiert“, rechtfertigte sich Mathilda.
„Aufstehen, sonst schlagen wir noch Wurzeln in unseren Betten!“, schwang sich Kiki aus den Federn. Gerade als sie sich anzogen und ihre Haare bürsteten, klopfte es an der Tür. Es war Emily, die bereits angezogen war. „Hey, ich habe gerade Raphael getroffen“, begann sie, „Er schlägt vor, dass wir heute Abend ein Abschiedsfest in der Scheune feiern“ „Das klingt spitzenmäßig!“, war Lotta sehr erfreut. „Müssen wir noch etwas vorbereiten?“, fragte Kiki. „Davon hat er nichts gesagt“, zuckte Emily mit den Schultern, „Aber er wollte wissen, ob es okay ist, dass er noch drei Kumpels einlädt“ „Dagegen habe ich nichts. Vielleicht ist da auch ein netter Kerl dabei“, sagte Lotta sofort. Annemieke wusste, dass ihre Freundin darauf aus war, neue Jungs kennen zu lernen, nachdem sie sich vor über einem halben Jahr von ihrem Freund getrennt hatte.
Der Tag verging mit viel Entspannung und Fernsehgucken. Erst am späten Nachmittag beorderten Lotta und Emily Annemieke in ihr Zimmer. „Was habt ihr mit mir vor?“, fragte sie verunsichert. „Wirst du gleich sehen“, gab Lotta eine knappe Antwort. Im nächsten Moment brachte Emily ihr Glätteisen aus dem Nachbarzimmer. „Wollt ihr mich speziell zurrecht stylen?“, sah Annemieke sie ungläubig an. „Die Kandidatin hat hundert Punkte“, strahlte Lotta und zeigte ihr ein rotweißes Dirndlkleid, das an der Schranktür hing. „Ist das euer Ernst? Soll ich heute Abend damit rumlaufen?“, fielen Annemieke fast die Augen aus dem Kopf. „Warum nicht? Raphael findest das bestimmt schick“, meinte Emily und machte sich an Annemiekes Haaren zu schaffen. Um ihren Freund zu beeindrucken nahm Annemieke es in Kauf sich in den Dirndl zu zwängen. Bestimmt war es ihr zwei Nummer zu klein, da Lotta deutlich schlanker war als sie. Trotzdem passte es ihr gerade eben noch.
„Hier hast du noch eine passende Strumpfhose und passende Schuhe“, lächelte Emily. Argwöhnisch betrachtete sich Annemieke in ihrem neuen Dress im Spiegel. „Sehe ich damit kein bisschen albern aus?“, versicherte sie sich bei ihren Freundinnen. „Quatsch, ganz im Gegenteil!“, war Lotta überzeugt, „Nun müssen wir dich nur noch schminken und deine Haare hochstecken“ „Geht es nicht mit offenen Haaren?“, sah Annemieke nicht sonderlich begeistert aus. „Wer geht schon mit offenen Haaren zur Wiesn?“, sah Lotta sie entgeistert an. Emily bekam die Erlaubnis von Aylin ihre Haarnadeln für die komplizierte Hochsteckfrisur verwenden zu dürfen. Während Lotta sie schminkte, steckte Emily sorgfältig Annemiekes Haare hoch. „Lass bitte ein paar Strähnen raushängen, das sieht einfach attraktiver aus?“, gab ihr Lotta den Tipp. „Nicht schlecht!“, fand Annemieke als sie sich erneut im Spiegel sah. Der fliederfarbene Lidschatten passte wunderbar zu ihren hellen blaugrauen Augen. Am besten gefiel ihr das Rouge auf den Wangen. „Du siehst aus wie ein kleiner pausbäckiger Apfel“, lachte Emily. „Etwas fehlt noch“, lief Lotta zu ihren Nachtisch und kam mit einem Paar auffälligen Ohrringen wieder.
„Soll ich die auch noch tragen?“, verzog Annemieke ihr Gesicht. „Klar, die passen spitzenmäßig zu deinem Outfit“, nickte Lotta. „Wenn du meinst“, gab sich Annemieke geschlagen und machte sich den Ohrschmuck rein. „Bevor du nach unten gehst, müssen wir noch ein Foto machen“, stellte sich Emily ihr in den Foto. Lächelnd ließ sich Annemieke ablichten und tat dabei, als wäre sie ein Model auf der Fashionweek. „Sauber Micky, das sieht echt klasse aus!“, lobte Lotta. „Nun kommt, Mädels! Unsere Freundinnen fragen sich bestimmt schon, was wir hier oben treiben“, blies Emily zum Aufbruch. „Ist das überhaupt meine Schwester?“, wurde Annemieke unten von Mathilda empfangen. „Nein, deine Schwester wurde gerade von einem Bösewicht entführt“, scherzte sie. „Hey, du siehst umwerfend aus“, rief Aylin begeistert und drehte sie zu sich hin. „Müssen wir uns auch noch schön machen?“, fragte Vivien. „Nein, wir doch nicht“, schüttelte Emily den Kopf, „Die Party des Abends gilt insbesondere Micky und Raphael“ „Habt ihr etwas geplant, von dem ich nichts weiß?“, fuhr Annemieke herum. „Psst, wirst du gleich sehen“, flüsterte ihr Mathilda ins Ohr.
Normalerweise hasste Annemieke, wenn ihre Freundinnen geheimnisvoll taten, obwohl sie gerade mit einem lockeren Lächeln darüber hinweg sehen konnte. In der Scheune erwartete die Mädchen eine richtige Disco. Alle Maschinen waren an den Rand geräumt. Ringsherum waren Tische und Bänke aufgebaut. Discolichter blitzen und leuchteten in allen Farben und weiter hinten hatte der DJ seine Anlage aufgebaut. Schon von draußen hörten sie die Musik dröhnen. Drinnen warteten bereits drei Jungs auf sie, die sie nicht kannten. Oder doch? Der Junge am Mischpult kam Annemieke irgendwie bekannt vor. War das nicht dieser Rudi vom Nachbarhof? Lotta steuerte zielstrebig auf ihn. „Ich unterhalte mich kurz mit ihm“, setzte sie sich von ihren Freundinnen ab. „Ich sag doch, Lotta ist auf Jungenjagd“, schielte Kiki belustigt zu ihr rüber. „Wo bleibt eigentlich Raphael?“, sah sich Emily um. Gerade als von ihm geredet wurde, kam er mit einer Schubkarre voller Essen und Getränke herein. „Was hast du Feines mitgebracht?“, bekam Mathilda ganz große Augen und leckte sich die Lippen. „Matti!“, zischte Annemieke und kniff ihre Schwester in den Arm. Manchmal war Mathildas neugieriges Verhalten wirklich extrem peinlich, wie in diesem Moment.
„Setzt euch, dahinten haben wir eine Tafel aufgebaut“, deutete er auf den hinteren Teil der Scheune. Einer seiner Kumpels war bereits dabei alkoholfreie Bowle mit Erdbeerstücken in die Gläser zu füllen. Zu Essen gab es warme Brezeln und belegte Baguettes, die noch warm waren und gerade aus dem Ofen kamen. Trotz des leckeren Essens bekam Annemieke weniger herunter als sonst, dazu war sie gerade viel zu verliebt und zu hibbelig. Was Raphael nur von ihrem Outfit hielt? Bisher hatte er noch nichts gesagt. Hoffentlich sah sie mit diesen Schleifchenohrringen und dem knallroten Lippenstift nicht zu kitschig aus. Immer wieder warf sie ihrer Zwillingsschwester unsichere Blicke zu, die es anscheinend nicht mitbekam, wie verunsichert sie sich in diesem Moment fühlte. Schon als kleines Kind gab ihr die Anwesenheit ihrer Zwillingsschwester viel Sicherheit. In diesem Augenblick Mathilda unterhielt sich lebhaft mit Kiki, Lotta und dem Typ, der vorhin am Mischpult stand. „Ist bei dir alles in Ordnung?“, erkundigte sich Raphael. „Alles okay“, nickte Annemieke und spürte, wie ihr der kalte Schweiß ausbrach. Sie war doch aufgeregter, als sie gedacht hatte. „Komm gleich tanzen wir, Süße“, flüsterte ihr Raphael ins Ohr und hielt ihre Hand. Seit wann nannte er sie „Süße“? Gleichzeitig schmeichelte es sie, dass er sie so nannte.
Raphael zog sie in die Mitte der Scheune, wo die Tanzfläche war. „Du siehst echt fesch aus“, machte er ihr ein ernst gemeintes Kompliment. „Das war nicht ich, sondern meine Freundinnen haben mich so zurrecht gemacht“, hätte sie ihm fast gesagt, wenn sie sich nicht rechtzeitig auf die Zunge gebissen hätte. „Irgendwie bist du heute ein bisschen steif, aber das können wir ändern“, stellte er fest und schnippte seinem Kumpel zu, der für die Musik zuständig war. Kurz darauf drang ein Lied mit einem heftigen Bass aus den Lautsprechern. „Jetzt geht die Post ab!“, raunte Raphael und zog sie noch näher an sich heran. Annemieke glaubte, dass er sie im nächsten Moment küssen würde, aber kam lediglich nur mit seinem Gesicht sehr nah an sie heran.
Je länger sie mit ihm tanzte, desto lockerer wurde sie und tanzte viel beschwingter als noch am Anfang. „Ich sag doch, du bist eine Dancingqueen und zwar meine“, lachte er und legte seine Arme um ihre Taille. Annemieke blickte kurz zur Seite. Neben ihn tanzte Lotta mit dem Kerl, den sie vorhin aufgegabelt hatte. Was den Umgang mit Kerlen betraf, war ihre Freundin zigfach so cool und gelassen wie sie. Zu ihrer größten Überraschung hatten sich Kiki und Emily sich die anderen beiden Jungs geschnappt. Hatten sie nicht beide einen Freund? Obwohl Kiki und Emily momentan in einer Beziehung waren, hatten sie heute Abend lediglich nur Lust auf eine Runde Tanz. Schließlich waren ihre Freunde nicht anwesend und garantiert würde niemand von der Roten Sieben sie verpfeifen. Dass ihre Geheimnisse unter den Bandenmitgliedern geheim blieben, war oberstes Gebot.
Wenig später küsste Raphael sie doch, obwohl zuerst nur ganz kurz. Ihre Lippen berührten sich gerade mal für Bruchteile von Sekunden, trotzdem durchfuhr Annemieke ein heftiges Kribbeln, sowie sie es noch nicht erlebt hatte. Noch nicht als sie sich vor einigen Tagen den Hexenschuss eingefangen hatte. Als sie mit Lotta und Rudi am DJ-Pult chillten, küsste Raphael sie noch mal. Diesmal war das Kuss viel länger und zärtlicher. „Ihr scheint wirklich sehr verliebt zu sein. Es freut mich echt, dass ihr beide jetzt zusammen seid. Ihr seid echt ein süßes Paar, daher schätzt euch glücklich“, flüsterte ihr Lotta zu. „Das sind wir auch“, strahlte Annemieke. „Rudi und ich auch“, lächelte Lotta, „Wir haben bereits schon unsere Handynummern ausgetauscht“ „Das sollten Raphael und ich auch mal tun“, meinte Annemieke.
Mit ihrem Freund an der Seite und all ihren Freundinnen fühlte sie sich so glücklich, dass sie hätte vor Glück schweben können. Nur dass Fianna nicht dabei sein konnte, war aus ihrer Sicht jammerschade. Immerhin hatte sich ihre Freundin bei ihnen gemeldet, dass sie gestern aus dem Krankenhaus entlassen wurde und nun auf die richtige Dosierung ihrer Diabetesmedikaments eingestellt worden sei. Immerhin war das schon mal ein kleiner Lichtblick. Raphael schoss noch ein paar Selfies von ihnen, auf denen sie entweder total verliebt schauten oder die schlimmsten Grimmassen schnitten. Annemieke fiel erst im Laufe des Abends auf, dass sie ihre Freundinnen ziemlich vernachlässigt hatte. Als sie sich dafür entschuldigen wollte, meinte Emily nur, „Das ist normal für frischverliebte Paare, dass man nur Augen für sich hat, also mach dir da keinen Kopf drum“ Emily war in der Hinsicht phänomenal, aber so war ihre beste Freundin einfach. Mathilda, dessen Freund nicht dabei, amüsierte sich, indem sie ein paar lustige Bilder von den Partygästen knipsen konnte und sie bearbeitete. Erst später zeigte sie es ihrer Schwester, die davon sehr angetan war. „Aus den ganzen Photos müssen wir unbedingt ein Album erstellen“, klang Annemieke begeistert. Bis tief in die Nacht wurde getanzt, bis Raphael persönlich die Musik ausstellte und verkündete, dass die Mädchen morgen einen anstrengenden Tag vor sich hätten und ihren Schlaf bräuchten.
Am nächsten Morgen wachte Annemieke mit einem unbehaglichen Gefühl auf. Während sie ihre Sachen in den Koffer packte, versuchte sie ihre stärker werdende Wehmut zu verbergen. Indem sie heftig mit ihren Freundinnen herumalberte und zu vielen Späßen aufgelegt war. „Meine Güte, hast du mit Raffi Lachwasser getrunken?“, fragte Lotta. „Kann man so sagen“, gickerte Annemieke. Unten am Frühstückstisch konnte sie ihren Herzschmerz nicht mehr so gut verbergen. Gerade mal eine Scheibe Brot mit Erdbeermarmelade bekam sie herunter.
Rosi hatte zum Abschluss noch eine Überraschung für sie und brachte sie mit dem Pferdeschlitten zum Bahnhof, da immer noch ausreichend Schnee lag. Zum Glück war der Schlitten so groß, dass alle Roten Siebenerinnen, sowie Rosi und Raphael darauf Platz fanden. Die Koffer mussten die Mädchen allerdings auf ihren Beinen balancieren. Annemieke saß die ganze Zeit neben Raphael, der sie begleitete. „Auf jeden Fall werden wir schreiben und miteinander skypen, Micky. Auf gar keinen Fall vergesse ich dich“, versprach er und nahm ihre Hand. „Das habe ich auch nicht von dir gedacht“, sagte sie mit zittriger Stimme und war mit einem Mal wieder den Tränen nah. „Was hältst du davon, wenn wir heute Abend telefonieren?“, versuchte er sie aufzumuntern. „Von mir aus“, raffte sie sich wieder auf, „Trotzdem ist es nicht das Gleiche, als wenn man sich sieht“ „Ich weiß, aber trotzdem ist es schön deine Stimme zu hören“, nickte er.
Kurz darauf hielt Rosi vor dem Bahnhof an. Da sie bei den Pferden bleiben musste, verabschiedete sie sich hier von den Mädchen und nahm jede von ihnen fest in den Arm. „Gute Heimreise! Kommt heile an und meldet euch, wenn ihr Zuhause seid“, winkte sie den Mädchen hinterher. Raphael begleitete sie bis zum Gleis. Annemieke spürte, dass sie seine Hand immer stärker festhielt, als wolle sie sie nicht mehr loslassen. „Bald komme ich dich in Freudenburg besuchen“, versuchte er sie erneut aufzumuntern. Am Bahnsteig küssten sie sich ausgiebig, bis der Zug einrollte. Die Roten Siebenerinnen stürmten das erste leere Abteil und Annemieke drängelte sich bis zum Fenster durch, welches sie sofort aufriss. Unten wartete immer noch Raphael. Sie streckte ihre Hände raus, sodass sie seine gerade eben noch berührten. Ein schriller Pfiff ertönte und die Bahn setzte sich zuckelnd in Bewegung.
Annemieke machte schnell das Fenster wieder zu und winkte ihrem Freund so lange hinterher, bis er nicht mehr zu sehen war. Im nächsten Moment überkam sie ein höllischer Schmerz, der ihr Herz zersplittern ließ und ihre Tränendrüsen zu Höchstleistungen anspornte. Schweigen vergrub sie ihr Gesicht in der Gardine. Nur gedämpft nahm sie die Stimmen ihrer Freundinnen wahr. Stumme Tränen rannen ihr über die Wangen. Mit ihrer Zunge leckte sie sich die salzigen Rinnsäle von der Oberlippe. Gut dass ihre Freundinnen nicht merkten, wie hundelend es ihr gerade ging und im Moment wollte sie mit niemand reden. Erst ein heftiges Schluchzen ließ die anderen Mädchen aufmerksam werden. „Hey, was ist denn los?“, berührte Vivien sie sanft an der Schulter. „Ich vermisse ihn jetzt schon“, weinte sie los und konnte nicht weiter sprechen. Aylin bot an mit ihr den Platz zu tauschen, damit sie zwischen ihrer Schwester und Emily sitzen konnte. Ihren Trost hatte sie gerade dringend nötig.
„Ich weiß wie es ist, Liebeskummer zu haben“, streichelte ihr Emily über den Rücken, „Ich habe es selbst schon oft genug erleben dürfen“ „Du wirst ihn sicherlich bald wieder sehen. Er hat dir doch versprochen, dass er dich besuchen kommt“, machte ihr Lotta Mut. „Ich bin so stolz auf dich, dass du endlich deinen Traummann gefunden hast, Schwesterherz!“, nahm Mathilda ihre Hand. Annemieke nickte schwach und schniefte ihr nächstes Taschentuch voll. Egal wie gut ihre Freundinnen ihr zuredeten und sich Mühe mit dem Trösten gaben, die halbe Fahrt verbrachte Annemieke mit Weinen und Jammern. Erst kurz vor München besserte sich ihre Laune. Als ihre Freundinnen die letzten Süßigkeiten unter sich aufteilten, hatte sie erstaunlicherweise wieder Appetit.
„Seht ihr, Micky kann doch wieder schmunzeln“, stellte Kiki zufrieden fest. Annemiekes Handy vibrierte, Raphael hatte ihr soeben ein großes Herz geschickt. „Ich vermisse dich jetzt schon! Ich liebe dich, deine Micky!“, schrieb sie hastig zurück. Im nächsten Moment wurde über eine Durchsage angekündigt, dass der Zug gleich den Münchner Hauptbahnhof erreichen würde. „Leider müssen wir uns gleich von unseren Lieblingszwillingen verabschieden“, machte Emily ein langes Gesicht. „Lily, wir sehen uns doch in ein paar Tagen wieder“, stupste Mathilda sie an. Kurz darauf kam der Zug zum Stehen. Eilig zogen sich die Mädchen ihre Jacken an und hievten ihre Koffer von der Gepäckablage. Draußen auf dem Gang hatte sich ein langer Stau gebildet. „Kommen wir noch rechtzeitig raus?“, sah Aylin recht besorgt aus. „Aber sicher“, nickte Lotta und öffnete die Tür zum Gang.
„Irgendwie siehst du immer noch sehr verheult aus. Nicht dass sich unsere Eltern noch wundern, was mit dir passiert ist“, tickte Mathilda ihre Schwester an. „Wenn dann ist es auch egal. Ich sag einfach, dass es mir das Herz gebrochen hat, dass ich Raphael verlassen musste“, meinte Annemieke achselzuckend. Draußen auf dem Bahnsteig verabschiedeten sie sich von ihren Freundinnen, die auf ein anderes Gleis wechseln mussten und nicht mehr viel Zeit hatten, da ihr Anschlusszug bereits in zehn Minuten abfuhr. Die Zwillinge hakten sich unter, da sie sich auf keinen Fall in der Menschenmenge verlieren wollten. „Irgendwo müssen unsere Eltern stecken“, murmelte Mathilda und sah sich unruhig in alle Richtungen um. „Dass hier so viele Menschen unterwegs sein müssen“, klang Annemieke genervt und ärgerte sich über einen jungen Mann, der ihr unabsichtlich auf den Fuß trat. „Ich sehe sie!“, sagte Mathilda auf einmal und reckte ihren Kopf. Jetzt entdeckte Annemieke sie auch. Ihre Schwester beschleunigte ihre Schritte so dermaßen, dass kaum noch mit ihr Schritt halten konnte. „Matti, nicht so schnell! Ich falle sonst noch über meine Füße“, bettelte sie und krallte sich an ihrer Hand fest. „Huhu, hier sind wir!“, begann Mathilda mit ihrer freien Hand zu winken.
Freudig fielen sich die Zwillinge und ihre Eltern in die Arme. Zu viert hielten sie sich eine gefühlte Ewigkeit in der Umarmung fest. „Ich habe euch schon sehr vermisst, Zwillingsmäuse! Ohne euch war es so unheimlich still im Haus!“, gab Herr ter Steegen seinen Töchtern einen Kuss. „Haben die Ferien euch denn wenigstens viel Spaß gemacht?“, wollte ihre Mutter wissen. „Und wie!“, sagten die Schwestern aus einem Mund. Mehr würden sie allerdings erzählen, wenn sie erst im Hotel angekommen waren. Da ihr Vater ein wahrer Gentleman war, nahm er ihnen die schweren Koffer ab. „Das nächste Taxi gehört uns“, lächelte ihre Mutter und legte die Arme um die Zwillinge, die mit der Sonne um die Wette strahlten.Unauffällig warf Annemieke einen Blick auf die Hände ihrer Eltern. „Übrigens, Mama und Papa tragen ihre Eheringe wieder“, flüsterte sie ihrer Schwester ins Ohr. „Das ist doch toll!“, freute sich Mathilda leise und hängte sich bei ihr ein.
Draußen auf dem Bahnhofsvorplatz herrschte geschäftiges Treiben. Busse und Straßenbahnen waren unterwegs und am Rande hielten die Taxis. Ihr Vater winkte sie zu einem der gelben Autos. Der Taxifahrer war so nett und half ihnen dabei ihr Gepäck im Kofferraum zu verladen. Während ihr Vater auf Beifahrersitz platz nahm, quetschten sich die Schwestern und ihre Mutter auf die Rückbank. Auf der Fahrt unterhielten sie sich ihre Eltern mit dem Taxifahrer. Mathilda und Annemieke hörten ihnen zufrieden zu. „Endlich sind wir wieder eine richtige Familie“, flüsterte Mathilda ihr ins Ohr. Annemieke nickte nur. Die Worte ihrer Zwillingsschwester trafen voll ins Schwarze und da gab es nichts hinzufügen. „Hier wären wir!“, machte der Taxifahrer vor einem prunkvollen Gebäude halt, das ihr Hotel sein musste. „Vielen Dank und Ihnen noch einen schönen Tag!“, verabschiedete sich ihr Vater.
Hallo Raphael!
Mathilda und ich sind gerade wieder in unserem Hotelzimmer und schauen Fernsehen. Momentan läuft bei Viva so ein nerviges Lied, das täglich im Radio rauf und runter gespielt wird. Gerade waren wir mit unseren Eltern im Pool und in der Sauna. Es war ein wunderbarer Tag. Vorhin waren wir in einem Nobelrestaurant und haben uns ein 3-Gänge-Menü gegönnt, einfach nur köstlich und teuflisch lecker! Besonders die Karamellcreme mit der Mangosoße war spitzenmäßig. Meine Schwester hat stattdessen lieber ihre heiß geliebte Mousse au Chocolat genommen, die auch super war.Ich bin mehr als glücklich, dass sich unsere Eltern nicht mehr so heftig streiten und kleine Verstimmungen schnell beilegen. Wenigstens sprechen sie sich jetzt aus, was sie an dem anderen stört und dies haben sie zuvor kaum gemacht. Vor einiger Zeit haben meine Schwester und ich gedacht, dass Mama und Papa sich wirklich scheiden lassen. Unsere Mutter wäre mit uns zu ihren Eltern gezogen, dabei fühlen wir uns in Freudenburg so wohl. Glücklicherweise hat es sich doch noch zum Guten gewendet, obwohl die letzten Monate wirklich nicht einfach waren.
Es gab viele Höhe- und Tiefpunkte, besser gesagt glich es wie einer Achterbahnfahrt. Jedes Mal, wenn es mir schlecht ging, waren meine Schwester, meine Freundinnen, meine Familie und natürlich auch du für mich da. Umso froher bin ich euch zu haben, ihr seid ein unersetzlicher Teil meines Lebens. Freundschaft und Liebe sind die Dinge, die das Leben lebenswert machen und mit Farbe ausfüllen, egal wie trist und öde der Tag zuvor war. So, jetzt habe ich wirklich genug geschrieben, mir fallen schon die Augen zu und ich will nicht mit dem Handy in der Hand einschlafen. Matti neben mir gähnt auch schon die ganze Zeit ununterbrochen. Daher ist es Zeit das Licht zu löschen und den Träumen den Siegeszug zu überlassen, hoffentlich träume ich von dir.
Gute Nacht, deine Micky <3
Ps: Ich vermisse dich jetzt schon sehr und kann es nicht erwarten, bis du mich in wenigen Wochen besuchen kommst. Wenn wir übermorgen zuhause sind, kann ich wieder an meinen Laptop und dann können wir skypen.
Zutatenliste
Für den Teig
Für den Guss:
So geht’s
Kaffee mit dem Kakaopulver verrühren. In einer anderen Schüssel das Öl und die Eier verrühren und in einer dritten Schüssel die anderen Zutaten für den Teig vermengen. Nun werden die Kaffee-Kakao- und die Ei-Raspöl-Mischungen löffelweise unterheben und nochmals verrühren. Den Teig in eine gefettete Springform füllen und bei 180 Grad für 40-45 Minuten backen.
Für den Guss Sahne und Kakao in einem Topf bis zum Kochen erhitzen und die Temperatur wieder etwas herunterschrauben. Die zerhakte Schokolade, die Butter und das Salz unterrühren. Wenn der Kuchen abgekühlt ist, könnt ihr den Kuchen mit dem Guss bestreichen.
Macht euch einen gemütlichen Kaffeenachmittag mit euren besten Freundinnen oder Freunden!
Dieses Buch widme ich all meinen treuen Leser und Leserinnen sowie allen, die mich dazu inspiriert haben dieses Buch zu schreiben. Ebenfalls widme ich dieses Buch allen Bandenmädchen und denen, die es im Herzen sind.
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Tag der Veröffentlichung: 22.05.2015
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