Cover

1. Endlich wieder an Land

„Schatz, ich muss bald wieder gehen, sonst verpasse ich noch die Fähre“, Dad gab mir einen Abschiedskuss. Ich seufzte tief und sah ihn traurig an. „Ich weiß, dass du traurig bist, aber ich werde dich anrufen, sobald ich wieder in London bin“, tröstete er mich und nahm mich in den Arm, „Außerdem ganz alleine bist hier auch nicht. Wo sind denn all deine Freundinnen und dein Freund?“ „Von denen habe ich auch nichts gesehen“, erwiderte ich. „Wahrscheinlich sind sie noch nicht angekommen“, vermutete Dad. „Doch, sie sind schon vor mir angekommen. Rosy und Oli haben ihre Kleider schon in ihre Schränke eingeräumt“, nickte ich. Dad wünschte mir alles Gute und ging in Richtung Tür.

 

„Ich wünsch dir viel Erfolg für das Bezirksturnier in zwei Wochen. Mom wäre stolz auf dich, wenn sie sähe, wie grandios du reitest“, rief er mir hinterher und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb alleine in meinem Zimmer zurück. Seufzend setzte ich mich auf mein Bett und dachte einen Moment an Mom. Sie lebte seit über zwei Jahren nicht mehr, sie war bei einem Reitunfall ums Leben gekommen. Ich würde alles dafür tun sie noch einmal zu sehen oder mit ihr zu sprechen. Manchmal kam es vor, dass ich noch von ihr träumte. Das Internat, meine neuen Freunde, Fintan und mein Lieblingspferd Hermine hatten mir sehr geholfen ihren Tod zu verkraften und wieder glücklich zu sein. Trotzdem fiel es mir jedes Mal nicht leicht, mich von Dad zu verabschieden. Zwar hatte er eine neue Freundin, aber seit Moms Tod waren Dad und ich uns viel näher als zuvor.

 

Ich erhob mich langsam und machte mich an die Arbeit meine Kleider in meinen Schrank zu hängen. Jedes Kleidungsstück hatte dort seinen angestammten Platz. Meine beste Freundin Oli ordnete ihre Kleidungsstücke wahllos ein und warf sie auf einen Haufen, sie war nicht annähernd so ordentlich wie Rosy und ich. Mit einem lauten Knall wurde die Tür aufgerissen, sodass ich erschrocken zusammen zuckte. „Emily ist wieder an Land! Na endlich, ich hätte es nicht mehr erwartet“, hörte ich die laute durchdringende Stimme von Oli. Hinter ihr tauchten die Gesichter von Rosy und Isa auf. Überfallartig rannten meine Freundinnen auf mich zu und umarmten mich stürmisch. Ich war wieder glücklich, dass ich nicht mehr alleine war. „Ich hätte nie gedacht, dass drei Wochen Weihnachtsferien ohne euch so lange dauern“, sagte Isa mit einem Strahlen in ihrem Gesicht. „Hi, ich bin erst seit einer halben Stunde da“, nickte ich und räumte weiterhin meine Sachen ein.

 

„Frohes Neues, Mädels!“, nun stand auch Greta mitten im Raum. „Dir euch ein frohes neues Jahr!“, erwiderte ich fröhlich. „Was habt ihr in den Ferien gemacht?“, fragte Isa interessiert. „Wir waren in einer Berghütte in Lappland und konnten dort jeden Tag Ski fahren“, berichtete Oli mit leuchtenden Augen. Bald tauschten wir munter durcheinander unsere Ferienerlebnisse aus. „Wisst ihr, was das Beste überhaupt war?“, setzte Isa erneut an, als sie bereits einige Male überhört wurde. „Erzähl ruhig, Isa!“, forderte Greta sie auf. „Mom und Dad scheinen sich besser zu vertragen. In den Ferien haben sie sich kaum gestritten, nur einmal als der Apfelkuchen im Backofen leicht anbrannte. Vielleicht wollen sie bald wieder dauerhaft zusammen in einem Haus leben“, erzählte Isa. „Das ist super!“, freute ich mich, „Ich wünschte auch aus vollem Herzen, dass Mom und Dad wieder zusammen leben könnten“ „Deine Mom lebt doch gar nicht mehr“, mischte sich Rosy ein. „Leider!“, seufzte ich traurig. Greta legte mir tröstend ihre Hand auf meinen Rücken. „Können wir über ein anderes Thema sprechen, ihr wisst doch garantiert, dass Emmi nicht über den Tod ihrer Mutter reden möchte“, wandte sie sich an unsere Freundinnen.

 

„Was hält ihr davon, wenn wir in den Gemeinschaftsraum gehen?“, schlug Oli vor und sprang von ihrem Bett auf. „Lass mich eben noch meine Kulturbeutel ins Bad bringen!“, rief ich. „Dafür ist noch genügend Zeit“, sagte Rosy gelassen. „Wir sollten doch wieder nach unten gehen“, meinte Oli, „Ich habe dort ein Kilo Schokolade auf den Tisch gestellt und bestimmt sind die Jungs schon darüber hergefallen“ „Was? Ein Kilo Schokolade!“, rief Greta mit weit aufgerissenen Augen. „Ein guter Freund meiner Mutter ist Besitzer einer Schokoladenfabrik in Südschweden und er hat uns zu Weihnachten einen riesigen Karton voll Weihnachtsschokolade geschenkt. Selbstverständlich haben meine Brüder und ich nicht alles aufbekommen und deshalb habe ich eine Schachtel voll mit hierher gebracht“, erzählte Oli. „Nichts wie hin! Ich will auch noch etwas abhaben, bevor alles weggefuttert ist“, rief Isa und huschte zur Tür hinaus. „Hey, warte auf uns!“, rief ich ihr hinterher.

 

Unten im Gemeinschaftsraum war viel los. Es viel durcheinander geredet und laut gelacht. Als erstes hielt ich Ausschau nach Fintan und seinen Freunden. „Huhu!“, winkte uns May zu. „Beeilt euch, die Schokolade ist schon zur Hälfte weggegessen“, rief uns Alison entgegen. „Endlich sind wir wieder alle zusammen“, seufzte Greta zufrieden und ließ sich neben May nieder. „Halt, du hast Sandrina vergessen“, entgegnete ihr Rosy. „Eigentlich müsste sie auch hier sein“, meinte Oli, „Sie kümmert hat sich doch jeden Tag um die Pferde gekümmert“ „Vielleicht kommt sie doch noch vorbei und stattet uns einen kurzen Besuch ab“, sagte May leise. Als ob sie es geahnt hätte, im nächsten Moment stand ein hübsches schlankes Mädchen mit langen schwarzen Zöpfen im Raum. „Sandrina!“, riefen Oli, Greta und Isa außer sich. „Ich habe gar nicht gewusst, dass du so gut vorausschauen kannst“, sagte ich zu May und musste grinsen. „Vielleicht werde einmal eine Bude als Wahrsagerin aufmachen“, scherzte May. „Oh ja, dann werde ich mir von dir meine Handlinien lesen lassen und mir von dir voraussagen lassen, was aus meinem Liebesleben wird“, lachte ich. „Hey Mädels, frohes neues Jahr! Hattet ihr genauso wunderbare Ferien wie ich?“, begrüßte uns Sandrina freudestrahlend. „Danke dir, die hatten wir auf alle Fälle und es war sehr erholsam einige Wochen die Beine hochzulegen“, nickte Greta.

 

„Magst du noch etwas von meiner Schokolade abhaben?“, fragte Oli und hielt Sandrina einen kleinen Schokonikolaus hin. „Danke, aber erst möchte ich mich irgendwo hinsetzen“, bedankte sie sich freundlich. „Du kannst dich mit auf meinen Stuhl setzen“, sagte ich und rutschte ein Stück zur Seite. „Danke!“, lächelte meine Freundin und hängte ihren schweren Mantel über die Lehne. „Wie war eigentlich die tägliche Arbeit im Stall?“, wollte Alison wissen. „Es war fabelhaft“, begann Sandrina fröhlich zu erzählen, „Zwar war meistens nur Jenny im Stall, aber ich hatte all die Pferde um mich herum. Ich kann euch mitteilen, dass allen Pferden fabelhaft geht und ich einige Male reiten durfte“ „Welche Pferde hast du geritten?“, fragte Oli neugierig. „Beinahe jedes Pferd, aber am meisten immer noch Colorado. Natürlich bin ich auch Esparado, Hermine, Molly und Felicitas geritten“, antwortete Sandrina. „Wollt ihr noch ein paar Lebkuchen?“, fragte Darcy, die von Tisch zu Tisch ging und ihre Lebkuchen anpries. „Nein danke, ich habe das Gefühl, ich platze jetzt schon aus allen Nähten“, lehnte May ab. „Ach, mir kannst du ruhig einen geben und im Gegenzug bekommst du ein Täfelchen Schokolade von uns“, rief Oli. „Vielen Dank!“, lächelte Darcy. „Langsam bekomme ich den Eindruck, dass ein fröhliches Süßigkeitenschlachten nach Weihnachten hier dazugehört“, grinste Rosy. „Da sagst du was!“, lachte ich, „Wisst ihr noch, wie wir vor einem Jahr mit Weihnachtsplätzchen voll gestopft haben und danach sogar noch das Abendessen verdrücken konnten?“ „Das ist dieses Mal genau das Gleiche“, sagte Oli lachend.

 

„Wo sind eigentlich unsere Jungs?“, fragte Sandrina, „Ich habe Shane seit Silvester nicht mehr gesehen und seitdem hat er auch nicht mehr auf meine SMS reagiert“ „Kommt, lass uns sie suchen gehen“, schlug Oli vor. Sie griff Sandrinas und meinen Händen. Lars saß mit Shane, Alexander, Lucien und Tiago an einem Tisch am Fenster. Die Jungs hatten eine Schachtel Weihnachtskekse auf dem Tisch stehen und spielten Karten. „Na Mädels, seid ihr auch wieder an Land?“, begrüßte uns Lars lässig. „Klar, schon länger als zwei Stunden“, erwiderte Oli und setzte sich auf seinen Schoß. Shane nahm Sandrina in den Arm. „Tut mir leid, dass ich deine SMS erst gerade eben erst gelesen habe“, entschuldigte sich Shane und gab ihr einen Kuss. „Hauptsache, wir sind wieder zusammen“, murmelte Sandrina und schmiegte sich noch enger an ihren Freund.

 

„Habt ihr schon Fintan gesehen?“, fragte ich die Jungs. „Nein, er ist noch nicht da“, schüttelte Alex den Kopf. „Wir wissen auch nicht, warum er nicht gekommen ist. Er hätte schon mindestens vor einer halben Stunde kommen müssen und um halb sieben gibt es Abendbrot“, fügte Lucien hinzu. „Weiß jemand von euch, was mit ihm ist oder ob er krank ist?“, bohrte ich weiter nach. Es war knapp eine Woche her, dass ich meinen Freund zum letzten Mal gesehen hatte. Damals hatte ihn Dad einen Tag nach Neujahr zum Flughafen gebracht und er machte nicht den Eindruck, dass er angeschlagen oder krank war. Nein, er war sogar putzmunter und versprach, dass wir uns am ersten Schultag sehen werden.

 

„Vielleicht steht er im Stau oder er hat den Zug verpasst“, vermutete Shane. „Quatsch, Fintan wohnt gar nicht mal so weit weg“, entgegnete ihm Lars, „Ich war schon einige Male bei ihm gewesen und mit dem Auto dauert es gerade einmal etwas mehr als eine Stunde“ „Wieso hat er mir nicht bescheid gesagt, dass er verspätet oder gar nicht kommt“, sagte ich geknickt zu Oli. „Er hat niemanden bescheid gesagt, noch nicht einmal mir und Alex. Wir haben ihn vorhin versucht zu erreichen, aber entweder ist sein Handy ausgeschaltet oder er geht schlichtweg nicht dran“, sagte Lars. „Eigentlich ist das total untypisch für ihn, Finn ist korrekt und meldet sich immer, sofern etwas ist“, mischte sich Alex ein. „Hoffentlich ist ihm nichts Schlimmes passiert“, murmelte ich und ohne es zu wollen, mischte sich Angst unter meine Stimme. „Quatsch, so schlimm wird es nicht gekommen sein“, schüttelte Oli entrüstet den Kopf.

 

Zum Abendessen zauberte die Köchin Pizzabrötchen mit Schmant, die wirklich ausgezeichnet schmeckten. „Noch ein paar Kalorienbomben mehr und wir können uns gegenseitig wie Tonnen durch die Gänge rollen“, scherzte Greta. „So fühle ich mich gerade!“, stöhnte Oli, „Ich habe jetzt schon vier Pizzabrötchen verdrückt“ „Ist nicht langsam genug, schließlich möchte ich nicht schon wieder Tee für dich kochen wie in der Nacht nach der Weihnachtsfeier, als du so heftige Bauchscherzen hattest“, Rosy ihre Freundin davor zu bewahren, dass sie sich nicht noch einmal überfraß. Alex gesellte sich zu uns und holte sich einen Stuhl vom Nachbartisch. „Emily, ich habe Neuigkeiten für dich! Ich bin gerade Miss Greene über den Weg gelaufen. Sie hat mir erzählt, dass Fintan eine heftige Grippe mit Husten, Schüttelfrost und hohem Fieber hat und erstmal für eine gewisse Zeit zuhause bleibt“, erzählte er. „Wirklich?“, ich machte ein langes Gesicht und ergänzte ungläubig, „Vor wenigen Tagen war er wirklich noch kerngesund“ „Bei diesem Wetter schlagen Erkältungs- und Gruppeviren gerne zu“, bemerkte Alex, „Ich hoffe auch, dass er so schnell wie möglich gesund wird. Schließlich ist er ein angenehmer Zeitgefährte, den man gerne um sich hat“ „Nimm es nicht so schwer, schließlich bist hier nicht alleine“, versuchte Lucien, der auf einmal hinter Alex Stuhl stand, mich aufzumuntern. 

 

Nach dem Essen beschloss ich auf mein Zimmer zu gehen und meine Ruhe zu haben. Auf dem Flur begegnete mir Priscilla mit zwei ihrer Freundinnen. „Frohes Neues!“, wünschte sie mir. „Danke, dir ebenfalls“, antworte ich ohne aufzublicken. „Ist etwas mit dir nicht in Ordnung? Sonst lässt du nie so den Kopf hängen“, nun wurde meine Cousine stutzig. „Ja, es alles okay“, brummte ich. „Nein, ich sehe doch, dass du traurig bist“, entgegnete mir Priscilla. Manchmal konnte sie der hartnäckigste Mensch auf der Erde sein. „Ja, du hast es erraten“, seufzte ich. „Wieso was ist denn um alles in der Welt los?“, fragte Priscilla und legte ihre Hand auf meinen Arm. „Mein Freund hat eine Grippe und wird erstmal für eine bestimmte Zeit nicht kommen“, antwortete ich. „Oh!“, machte meine Cousine und sah mich voller Mitleid an. „Ich bin mir sicher, dass er bald wieder gesund wird. An deiner Stelle würde ich ihn anrufen und ihn fragen, wie es geht. Er wird sich sicherlich freuen, wenn du an ihn denkst“, fügte sie hinzu und ging mit ihren Freundinnen weiter. Obwohl meine Cousine mir ab und zu ein bisschen zu sehr auf die Pelle rückte, traf sie immer wieder voll ins Schwarze. Ich beschloss ihren Rat anzunehmen. Als ich die Zimmertür hinter mir geschlossen hatte, machte ich mir es auf der Couch bequem und suchte Fintans Nummer auf meinem Handy. „Hoffentlich geht er dran“, bettelte ich innerlich. Ich wählte seine Nummer und wartete einige Sekunden, doch es ging nur seine Sprachbox dran. „So ein Mist!“, fluchte ich leise. Nach einer Viertelstunde probierte ich es zum zweiten Mal, doch es meldete sich wieder die Sprachbox. Entmutigt lehnte ich mich nach hinten und starrte einen Moment lang gedankenverloren die Decke an. Meine Stimmung war nun endgültig im Eimer. „Sollte ich ihm doch lieber eine SMS schreiben, die kann er später noch lesen“, ging mir durch den Kopf. Gedacht getan, ich schrieb ihm eine lange SMS und bat dringend darum, dass er sich bei mir meldete. Ich legte mein Handy zur Seite und versuchte mich mit fröhlicheren Gedanken abzulenken. Doch die Sehnsucht nach einer Antwort von ihm blieb hartnäckig bestehen.

 

Die Tür flog auf und Oli stand im Raum. „Mensch, wir haben dich schon im ganzen Gebäude gesucht!“, rief sie. Erschrocken zuckte ich zusammen, ich war mit meinen Gedanken an einem ganz anderen Ort und hatte nicht mit dem stürmischen Temperament meiner besten Freundin gerechnet. „Komm lass uns eine Runde Tischtennis spielen, wir schulden Greta und May noch ein Rückspiel“, fuhr sie fort. „Wirklich?“, brummte ich. „Ja, warum denn nicht?“, Oli war wegen meiner Lustlosigkeit irritiert. „Wir können gerne an einem anderen Abend Tischtennis spielen, aber gerade ist mir nicht danach. Ich bin wegen Fintan immer noch ziemlich enttäuscht“, rechtfertigte ich mich und fügte hinzu, „Dann geht dieser Idiot noch nicht mal an sein Handy, geschweige denn er liest meine SMS“ „Vielleicht ist er so schwer krank, dass nicht in der Lage ist zu telefonieren oder SMS zu schreiben“, vermutete sie. „Das kann natürlich auch sein“, sagte ich geknickt. Oli ließ mich alleine zurück. Plötzlich klingelte mein Handy. Mein Herz machte einen Freudensprung. „Hey Finn, wie geht es dir?“, meldete ich mich überschwänglich. Am anderen Ende der Leitung hört ich es lachen. „Nein, mein Darling, ich bin immer noch dein Dad“, lachte mein Vater, „Ich habe doch versprochen, dass ich dich anrufe, wenn ich wieder da bin“ „Hi Dad, bist du gut wieder in London angekommen?“, fragte ich. „Blendend“, antwortete er. Insgeheim war ich mehr als glücklich, dass er anrief und meine schlechte Laune vertrieb.

 

2. Heißer Flirt auf der Bowlingbahn

„Habt ihr schon mitbekommen, dass demnächst in Riverview eine brandneue Bowlingbahn eröffnet?“, erzählte Patrick während des Abendessens. „Was? Davon habe ich noch gar nichts gehört?“, rief Tom vom Nachbartisch. „Tom, ließt du eigentlich nie die Plakate am Straßenrand?“, warf Tiago ein. „Eher selten“, gab Tom zu. „Die Eröffnung ist schon am Donnerstagabend und der Eintrittspreis soll um die Hälfte reduziert sein“, fuhr Patrick fort. „Geil, da müssen wir unbedingt hin“, rief Alexander begeistert. „Wann würden wir da überhaupt hingehen?“, mischte sich Lucien in die Gesprächsrunde ein. Immer mehr Schüler scharrten sich um Patricks Tisch und hörten interessiert zu. „Natürlich nach dem Abendessen und dann könnten wir bis elf Uhr bleiben“, sagte Patrick.

 

„Bis elf Uhr? Das ist doch ein wenig zu spät“, erwiderte May skeptisch. „Außerdem haben wir freitags in den ersten beiden Stunden Französisch und die Mamsell steigt uns aufs Dach, wenn wir unausgeschlafen im Unterricht erscheinen und lässt sie uns bestimmt zur Strafe Vokabeltests schreiben“, gab Rosy zu Bedenken. „Es ist doch eure Entscheidung, ob ihr mitkommen wollt oder nicht“, meinte Alex. „Wir könnten unsere Klasse und dann auch noch unsere Parallelklasse fragen“, schlug Tom vor. „Das hatte ich vornherein vor“, nickte Patrick, „Je mehr von uns dabei sind, desto cooler wird es“ „Wenn wir genug Leute haben, stellt sich nur noch die Frage, ob wir eine oder zwei Bahnen für uns reservieren müssen“, meldete sich Lars zu Wort. „Natürlich müssen wir eine Bahn reservieren, wir werden voraussichtlich mit zehn bis zwanzig Personen kommen“, antwortete Patrick, „Das Reservieren werde ich schon übernehmen, schließlich war es meine Idee“ „Gehst du da mit?“, flüsterte mir Rosy ins Ohr. „Ja klar, warum nicht?“, erwiderte ich. „Eine Bowlingbahn, das klingt nach Spaß und ich werde es mir auf gar keinen Fall entgehen lassen“, meinte Oli.

 

Am Donnerstagabend beeilten wir uns mit dem Abendessen. Die Köchin und die Küchenhilfe warfen sich verwunderte Blicke zu, wieso wir es so eilig hatten. „Wer kommt denn überhaupt aus unserer Klasse mit?“, fragte Rosy mich und Oli. „So einige, aber ich kann dir nicht genau sagen wer“, antwortete Oli. „Es kommen auf jeden Fall Alex, Shane, Sandrina, Lucien, Tom und die Burton-Schwestern mit“, wusste ich. „Habt viel Spaß, ich schlage mich noch mit Chemie herum und lese die Französischlektüre zuende!“, wünschte uns Rosy und ging die Treppe hoch in unser Zimmer. Draußen versammelten sich welche aus unserer Parallelklasse. „Ich bin sehr gespannt, wer von denen mitkommt“, meinte Alison. „Kommt endlich, Mädchen! Wie lange wollt ihr noch im Flur rumgammeln?“, rief Alex ungeduldig und drängte uns in Richtung Haustür. Geschlossen gingen wir zum Fahrradunterstand und holten unsere Fahrräder.

 

„May ist übrigens nicht dabei. Sie hat mir gerade gesagt, dass sie zu müde dafür ist“, rief uns Greta aus der Distanz zu und näherte sich uns mit ihrem Fahrrad. „Dafür habe ich Elaine mitgebracht“, fuhr sie fort und zeigte auf ein Mädchen mit kurzen braunroten Haaren und einer Brille. „Hi!“, begrüßte uns Elaine schüchtern. „Hallo Elaine!“, grüßte Oli freundschaftlich zurück. Obwohl wir Elaine vom Sehen kannten, hatten wir noch nie ein Wort mit ihr gewechselt. „Elaine ist genauso wie Sandrina eine externe Schülerin und wohnt sogar in Riverview, genauso wie Sandrina auch“, sagte Greta. „Ich kenne Elaine, denn wir teilen uns zusammen ein Arbeitszimmer“, warf Sandrina ein, die nur einen Meter hinter uns stand. „Schön, euch endlich kennen zu lernen. Sandrina kenne ich auch, aber den Rest von euch noch nicht“, lächelte Elaine. „Hi, mein Name ist Emily Dean“, stellte ich mich vor und gab mir die Hand. „Mädels, quatscht euch nicht fest, sonst stehen wir in einer Stunde immer noch hier!“, hörten wir Alex laut rufen. „Sei doch nicht dauernd so ungeduldig!“, entgegnete ihm Oli. Patrick und Tom schwangen sich auf ihre Räder und gaben den Weg vor. In einer langen Kolonne fuhren wir die geschlängelte Landstraße entlang. Obwohl es an vielen Stellen bergab ging, mussten dennoch kräftig in die Pedale treten, da uns der Wind entgegen blies. Ich war froh, dass ich Mums alten Lederhandschuhe trug und daher keinen kalten Finger bekam. Dafür peitschten mir feine Regentröpfchen ins Gesicht und ich hatte das Gefühl, dass meine Nase beinahe abfror. Mir kam der Weg eindeutig länger vor als bei gutem Wetter. Es war so als ob er sich wie ein Kaugummi in die Länge zog. Erleichterung machte sich in mir breit, als endlich das Ortsschild von Riverview auftauchte.

 

Im Bowlingcenter war es so warm, dass wir sofort unsere Jacken auszogen und unsere Mützen absetzten. Nachdem wir unsere Bowlingschuhe angezogen hatten, wurden wir zu unseren beiden Bowlingbahnen gewiesen, die etwas abseits von den anderen Bahnen lagen. „Was wollen wir zuerst spielen?“, rief Patrick gegen die laute dröhnende Musik an. „Wie bitte? Ich habe kein einziges Wort von dir verstanden“, brüllte Alex zurück. „Was hält ihr davon, wenn wir eine Runde Mädchen gegen Jungs spielen?“, schlug Lars vor. „Wir sind aber nur sieben Mädchen und ihr seid zu zehnt“, entgegnete Oli ihrem Freund sofort. „Das macht doch nichts, denn setzen drei von uns aus“, zuckte Lars mit der Schulter. Das erste Spielen verloren wir knapp. Oli erbettelte sich eine Revanche für uns. „Jetzt wollen wir den Kerlen es richtig zeigen!“, schwor sich Isa. „Genau, wir Mädels können es mindestens genauso gut oder sogar noch besser“, pflichtete ihr Elaine bei. „Alle für einen, einen für alle!“, stimmte Greta unseren Schlachtruf an.

 

Bei den Jungs spielten nun Mike, Emil und Ivan. Lars, Tom und Patrick setzen eine Runde aus und bestellten sich die ersten Biere des Abends. Diesmal gelang es uns die Jungs haushoch zu schlagen. „Gewonnen!“, jubelte Greta und gab mir einen Highfive. Oli zeigte Lars eine lange Nase. „Jetzt haben wir euch die Hosen ausgezogen!“, neckte Elaine die Jungs. „Was heißt bitteschön die Hosen auszogen?“, entgegnete ihr Tiago, „Ihr habt nur gewonnen, weil Lucien überhaupt nicht bowlen kann“ „Das stimmt nicht, wir haben gerade generell besser gespielt!“, erwiderte Isa empört. „Das nennt man auch Frauenpower, ihr Dödel!“, rief Alison frech und legte relaxt ihre Arme um Gretas und Sandrinas Schultern. „Jetzt wollen wir aber auch eine Revanche!“, bettelte Lars. „Nein, das wird uns schlichtweg zu langweilig“, schüttelte Oli den Kopf. „Eigentlich wollten wir ein Spiel gegen die andere Klasse machen“, mischte sich Shane ein. „Dafür wäre ich allerdings auch, dann können wir unsere Parallelklasse mal so richtig abziehen“, pflichtete ihm Alex bei. Lucien war zuerst an der Reihe, dennoch stellte er sich wieder ungeschickt an und warf zwei Pumpen hintereinander.

 

„Emmi, du musst gleich unbedingt die richtige Wurftechnik beibringen“, wandte er sich an mich. „Na klar, das zeige ich dir nach diesem Spiel“, nickte ich. Auf der benachbarten Bahn räumte Lars im zweiten Anlauf alle Kegel ab. Alex, Shane, Oli und ich schafften es den Rückstand aufzuholen, trotzdem lagen wir immer ein paar Punkte hinten. Zwischenzeitlich schaffte es Tom mit seinem Strike uns mit einem Punkt in Führung zu bringen. Doch unsere Gegner waren einfach zu gut für uns, Elaine und Patrick erzielten zwei Strikes hintereinander. Am Ende gewann unsere Parallelklasse mit nur drei Punkten Vorsprung. „Puh, das war aber eine knappe Kiste!“, bemerkte Alex und fuhr sich mit seiner Hand über die Stirn. „Wollen wir nicht erstmal eine Pause machen und etwas trinken?“, fragte Shane in die Runde. „Gute Idee, ich habe nach drei Runden ziemlich großen Durst“, meinte Tom. „Kommt, lasst uns den großen Tisch dahinten schnappen!“, rief Greta und eilte uns voraus.

 

Lucien ließ sich auf den freien Platz neben mich nieder. „Na, was möchtest du trinken?“, fragte er lächelnd. „Wieso fragst du?“, erwiderte ich verwundert. „Ganz einfach, weil ich für dich zahle. Du darfst dir aussuchen, was du willst“, flüsterte er mir ins Ohr. „Wirklich?“, fragte ich und schaute ihm in seine sanften grünbraunen Augen. In meinem Bauch kribbelte es wieder und je länger ich ihn ansah, desto schneller schlug mein Herz. „Hast du dir schon etwas ausgesucht?“, holte er mich in die Wirklichkeit zurück. „Kleinen Moment“, murmelte ich und durchstöberte die Karte. Ich entschied mich für einen Cocktail namens Green Apple. Lucien bestellte für sich einen Crazy Berry. „Ihr seid die Einzigen, die Cocktails bestellen“, fiel Oli auf. „Magst du mir das Bowlen beibringen bis unsere Cocktails da sind?“, stupste mich Lucien an. Zu zweit gingen wir zur Bowlingbahn. Ich erklärte ihm, wie er die Kugel halten sollte und demonstrierte ihm die richtige Wurfhaltung. „Ah, jetzt weiß ich, warum ich vorhin so schlecht geworfen habe“, ging ihm ein Licht auf. Lucien probierte es einige Male. Beim vierten Mal schaffte er sogar einen Strike. „Geht doch!“, lächelte ich. „Danke, dass du es mir gezeigt hast“, sagte er und legte mir seinen Arm um die Schulter. „Hey ihr Turteltauben, wollt ihr eure Cocktails nicht trinken?“, rief Lars. „Wir kommen doch schon“, erwiderte Lucien und griff nach meiner Hand. „Wie schmeckt dir dein Cocktail?“, fragte er mich, als wir wieder am Tisch saßen.

 

„Der ist richtig lecker!“, nickte ich. Mein Cocktail schmeckte nach grünem Apfel, Vanille und Ananas. Lucien probierte bei mir und ich nahm einen Schluck von seinem Crazy Berry. Nach einer Weile bekamen wir mit, wie unsere Mitschüler über uns tuschelten. Es war mir unangenehm so beobachtet zu werden, die Blicke unserer Klassenkameraden durchbohrten uns. „Wenn das nur der Fintan sieht!“, zog mich Lars auf, als Lucien kurz auf die Toilette verschwand. „Na und? Schließlich ist er gerade nicht anwesend“, erwiderte ich gereizt. „Ist es dir etwa egal, dass du deinen Freund hintergehst?“, fiel mir Oli in den Rücken. „Wisst ihr was, Lucien und ich sind gute Freunde und mehr nicht“, antwortete ich genervt. „Das sah aber schon nach mehr aus“, stichelte Oli weiter. „Sei du endlich mal ganz still!“, blaffte ich sie an. „Mach dir keine Sorgen, wir werden es ihm nicht weitersagen“, versicherte mir Lars und legte mir beschwichtigend den Arm auf die Schulter. „Welche Laus ist dir über die Leber gelaufen?“, fragte Lucien, als er wiederkam. „Das kann ich dir nur draußen sagen“, flüsterte ich ihm zu. Wir standen auf und schnappten unsere Jacken. „Wo wollt ihr hin?“, wollte Lars wissen. „Ich muss einen Augenblick frische Luft schnappen, ich habe Kopfschmerzen“, antwortete ich, obwohl es gelogen war. Lars, Greta, Oli, Shane und Tom schauten uns ungläubig an. „Ihr geht es momentan wirklich nicht gut“, versicherte ihnen Lucien. Er nahm meine Hand und zog mich nach draußen.

 

Draußen war es immer noch am Nieseln. „Sag mir, was gerade eben los war“, sagte er sanft und rückte näher an mich heran. „Meine Freunde werfen mir vor, dass ich Fintan hintergehe und das nur, weil du mir einen Cocktail spendiert hast“, erzählte ich. „Ich muss erstmal gestehen, dass ich dich liebe“, fuhr Lucien leise fort und zog mich noch näher an sich. Meine Knie begannen weich zu werden, trotzdem war ich verunsichert, was ich nun sagen sollte. „Ich will dir mein Geheimnis offenbaren“, sagte er leise, „Ich habe seitdem ich elf bin keine Eltern mehr, sie sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen und seitdem habe ich bei einem von Papas Cousins gewohnt. Er heißt Pierre und ist mein Stiefvater. Von Anfang an wollte er das Beste für mich und schickte mich auf eine teure Privatschule in Genf. Dort hat es mir gar nicht gefallen, wegen der strengen Lehrer und dieser Hausordnung. Ich muss zugeben, dass ich Mist gebaut habe und von der Schule geflogen bin. Es war wirklich meine Schuld, weil ich mich von meinem besten Kumpel Fabrice habe zu einem dämlichen Streich überreden zu lassen und mit einem Gartenschlauch unseren Klassenraum unter Wasser gesetzt habe. Dann war ich auf einer normalen Schule gelandet und dort bin ich nicht mit meinen Mitschülern zurrecht gekommen. Sie haben mich ständig aufgezogen und mir unterstellt, dass ich ein reiches und arrogantes Arschloch sei. Freunde hatte ich kaum welche gehabt und deswegen habe ich mich sehr zurückgezogen. Pierre wusste schon immer, dass ich ein Ass in Reiten, Schwimmen und Fußball bin. Aus diesem Grund hat er mich auf Saint Malory angemeldet, da es eines der besten Reit- und Sportinternate Europas ist. Ich war der glücklichste Mensch auf Erden als ich erfuhr, dass ich meine Aufnahmeprüfung erfolgreich absolviert habe“

 

„Weißt du, meine Mutter lebt seit mehr als zwei Jahren auch nicht mehr“, murmelte ich bedrückt, nachdem wir eine Weile nichts gesagt haben. „Warum lebt sie nicht mehr?“, fragte er. „Sie ist bei einem Reitunfall gestorben und wurde von ihrem Pferd zu Tode getreten“ „Jetzt wissen wir, was wir gemeinsam haben“, flüsterte er, „Du bist Halbweise und ich Vollweise. Dass ich keine leiblichen Eltern mehr habe, das weißt nur du aus unserer Klasse. Zu dir habe ich das größte Vertrauen überhaupt. Ob ich den Anderen alles erzählen kann ist so dahingestellt. Zumindest haben wir ein Geheimnis vor unseren Schulkameraden“ In diesem Moment spürte ich die Erleichterung, dass es außer mir noch eine Person gab, die eine geliebte Person verloren hatte. Lucien konnte sich garantiert in mich hineinversetzen, dass der Tod meiner Mutter mir noch wehtat. „Geht es dir genauso, dass du manchmal von deinen Eltern träumst oder sie sehr doll vermisst“, fragte ihn vorsichtig. „Selbstverständlich“, nickte er, „Das geht dir selber bestimmt auch so, dass du deine Mutter vermisst. Der Todestag meiner Eltern ist in drei Monaten sieben Jahre her, trotzdem sind sie in meinen Erinnerungen und es kommt schon mal vor, dass ich von ihnen träume“

 

„Mir ist es im letzten Schuljahr passiert, dass ich im Traum mit meiner Mutter geredet habe und dann wurde ich von Oli wachgerüttelt. Sie fragte mich, warum ich so ein wirres Zeug rede“, erzählte ich. Durch unser gemeinsames Schicksal war die Bindung zwischen uns viel enger geworden. Seit dem ich auf Saint Malory war, habe ich es gelernt Mums Tod so oft wie es geht zu vergessen, da ich genug Ablenkung durch meine Freunde hatte. Trotzdem dachte ich vor allem nachts, wenn ich nicht einschlafen konnte noch häufig an sie. Wir beschlossen wieder rein zu gehen, da uns kalt wurde. Kurz vor der Eingangstür küsste er mich aus heiterem Himmel auf den Mund. Sein Kuss schmeckte nach wahrer Liebe und purer Leidenschaft. Wieder flatterten die Schmetterlinge in meinem Bauch und mein Glücksbarometer platzte fast vor Freude.

 

„Na, ihr zwei! Was hattet ihr gerade draußen?“, empfing uns Oli mit Spott. „Wir haben gerade ohne euch beide unsere Parallelklasse besiegt“, rief uns Alex zu. Ich war kurz davor zu platzen. „Hey, lasst doch Emily und Lucien in Ruhe!“, ging Sandrina dazwischen, „Ihr seht doch, dass Emily wütend ist und daher müsst ihr sie nicht noch mehr reizen“ Oli hielt mir auf dem ganzen Heimweg vor, dass ich meinen Freund mit Lucien betrüge. „Bald wird die ganze Schule wissen, dass du etwas mit Lucien hast und das wird Fintan bald auch mitkriegen. Glaub bloß nicht, dass er blöd ist“, warf sie mir an den Kopf. „Wie oft soll ich dir und unseren Schulkameraden noch sagen, dass Lucien und ich nur gute Freunde sind“, regte ich mich auf. Ich trat noch kräftiger in die Pedale um mich von Oli, Greta und Lars abzusetzen. Nur ein wenige Meter und dann hatte ich Lucien endlich eingeholt. Er fuhr ganz vorne neben Tom. Es ging bergauf und bald war ich heftig am keuchen. „Nur noch eine Straßenbiegung und dann sind wir da“, munterte mich Lucien auf. „Wir müssen gleich nur zusehen, dass wir unbemerkt in unsere Zimmer kommen. Die Hausmutter dreht uns den Hals um, wenn wir sie aufwecken“, meinte Tom und bog in die Internatsauffahrt ein. 

3. Mein Ritt zum Erfolg

Am Sonntagnachmittag nahm unser Internat an einem Jugendbezirksturnier in einem Vorort von Galway teil. Unsere Trainerin stellte uns frei, ob wir daran teilnehmen wollten. Lucien und ich trugen uns sofort in die Liste ein. Außer uns beiden meldeten sich Priscilla, Sandrina und Emil für das Turnier an. „Dieses Turnier ist zwar kein Pflichtturnier, trotzdem möchte ich, dass ihr euer Bestes gibt. Eure Leistung spiegelt das Image von Saint Malory wieder und ihr werdet unsere Schule dort präsentieren. Saint Malory steht seit fast hundert Jahren für Disziplin, Herz, Leidenschaft und Erfolg. Am wichtigsten ist dennoch immer noch unsere Tradition, das ist der Geist von Saint Malory“, sagte Miss Hanson nach dem letzten Training zu uns.

 

Lucien und ich nutzten die kommenden Abende um zu trainieren. Jennifer baute für uns in der Reithalle einen Parcour auf. „So fleißig, wie ihr jeden Tag trainiert, werdet ihr auf jeden Fall große Preis absahnen“, meinte das Stallmädchen lachend und schaute uns amüsiert zu. Lucien hatte manchmal einige Schwierigkeiten mit Speedy Gonzales, den er erst wenige Male geritten ist. „Du galoppierst auf der falschen Hand und dann ist es klar, wieso dein Pferd ungünstig abspringt“, machte ich ihn auf sein Problem aufmerksam. Beim nächsten Versuch drosselte Lucien sein Pferd leicht vor dem ersten Hindernis, so dass Speedy Gonzales perfekt abspringen konnte und elegant über die Stangen flog. „Bravo, das sieht schon viel besser aus“, lobte ich. Lucien jubelte und streckte die Faust in die Luft, als er den Parcour fehlerfrei durchquerte. „So muss es Sonntag auch klappen“, rief ich begeistert und klatschte Beifall.

 

Der Sonntagnachmittag näherte sich unaufhaltsam. Direkt nach dem Mittagessen fuhren wir los. Zum Glück dauerte die Fahrt nur eine Stunde. Miss Hanson führte uns direkt nach der Ankunft zu den Umkleidekabinen. „Wenn ihr fertig seid, gehen wir den Parcour gemeinsam ab“, sagte unsere Trainerin und ließ uns alleine in der Umkleidekabine zurück. „Perfekt!“, zufrieden betrachtete sich Sandrina im Spiegel und drehte sich wie eine Tänzerin um ihre eigene Achse. „Ich frische eben mein Make-up auf. Ich sehe gerade, dass meine Wimperntusche verschmiert ist“, rief Priscilla und verschwand im Waschraum. „Dazu ist gar keine Zeit mehr“, entgegnete ich ihr, „Miss Hanson holt uns in genau zehn Minuten ab“ „Außerdem ist es gar nicht so wichtig, dass du gut geschminkt bist“, fügte Sandrina hinzu, „Viel wichtiger ist, dass wir etwas mit deinen Haaren machen. Sie können nicht offen herunterhängen“ „Bestimmt muss ich mir wieder so einen langweiligen Pferdeschwanz binden“, nörgelte meine Cousine.

 

„Ich habe noch etwas Besseres in petto“, sagte Sandrina, „Ich kann dir einen Fischgrätenzopf flechten“ Sandrina machte sich an Priscillas Haaren zu schaffen, während ich meine rotblonden Haare zu einem einfachen Dutt band. "Schau mal her!“, rief Priscilla, „Sieht meine Frisur nicht spitze aus?“ „Das ist Sandrina wirklich gut gelungen“, fand ich. Es klopfte an der Tür. Schnell zog ich mein dunkelblaues Jackett über. „Seid ihr bereit?“, Miss Hanson steckte ihren Kopf zur Tür hinein. Wir folgten unsere Trainerin in die Reithalle. „Wow, ist das hier groß!“, staunte Priscilla. Tatsächlich war die Halle mindestens doppelt so lang und anderthalb so breit wie unsere Halle. „Müssen wir die Pferde nicht putzen und satteln?“, fragte Sandrina irritiert als wir den Parcour abgingen. „Nein, das wird schon für euch gemacht. Ihr müsst gleich eure Pferd nur noch warm reiten, das ist alles“, meinte Miss Hanson. Manche Hindernisse sahen wirklich nicht ohne aus. „Hier darf bloß keine Angst haben, sonst patzt man wirklich“, murmelte Emil und sein Blick blieb an einem breiten Wassergraben hängen. „Mit Angst in einem Parcour hineinreiten ist sowieso der größte Bullshit überhaupt“, meinte Lucien, „Ich werde vornherein mit Zuversicht starten und gar keine Bedenken in mir aufkommen lassen“ „Hier, zwischen diesen Hindernissen müsst ihr aufpassen“, warnte uns Miss Hanson, „Der Abstand zwischen den beiden Hindernissen ist ziemlich gering, deshalb nicht mehr als zwei oder drei Galoppsprünge, sonst prallt ihr gegen das zweite Hindernis“ 

 

Im Stallgang warteten ein paar junge Stallburschen auf uns. „Hermine für Emily Dean“, rief ein junger rothaariger Mann mit unzähligen Sommersprossen im Gesicht. „Hier!“, ich hob meine Hand und ging auf ihn zu. Er überreichte mir Hermine. Ich hielt die Stute an den Zügeln fest und tätschelte sanft ihren Hals. „Emily, du kannst schon mal zum Warmreiten gehen“, rief mir meine Trainerin zu. „Wo ist der Warmreiteplatz?“, fragte ich und schaute mich ratlos um. „Ich zeige es dir, komm mit“, sagte der Mann, der mir Hermine überreicht hat. Ich folgte ihm und führte Hermine durch ein Gewirr von Menschen, Pferden und Hunden. In der kleinen Nebenhalle ritten sich schon ein paar andere Reiter warm. Ich saß auf und ließ Hermine eine Runde im Schritt gehen. Ich gab mir Mühe, damit sich meine Aufregung nicht auf mein Pferd übertrug. „Kommt eben kurz zur Mitte, ich muss noch eine Ansage machen“, trommelte uns Miss Hanson zusammen. „Ihr wisst, dass am Ende die Teamleistung zählt, deswegen ist es wichtig, dass Jeder sein Beste gibt und zudem seine Teamkameraden anfeuert. Wir reiten heute zusammen und nicht gegeneinander“, redete uns unsere Trainerin ins Gewissen. „Einer für alle, alle für einen“, schworen wir uns und setzten unser Aufwärmprogramm fort. Nachdem ich mit Hermine über ein paar Hindernisse sprang, fühlte ich mich schon viel sicherer und war bereit für die große Herausforderung.

 

Nervosität machte sich in mir breit, als mein Name aufgerufen wurde, denn ich war die erste Starterin unserer Schule. Ich ritt in die Arena ein, grüßte die Kampfrichter und brachte Hermine in die richtige Startposition. „Emily, Emily, Emily!“, hörte ich meine Teamkameraden und Miss Hanson rufen. Das Startsignal ertönte und ich gab mir Mühe, mich nicht zu verkrampfen. Vor der ersten Hürde reduzierte ich das Tempo leicht und nahm die Zügel kürzer. Im Publikum wurde geklatscht, als ich die erste Hürde problemlos überquerte. Nun konzentrierte ich mich auf die folgenden Hindernisse. Vor den beiden nah zusammenstehenden Hindernissen war mir am meisten bange. Ich musste jeden Schritt von Hermine genau kalkulieren. Zwischen den Hindernissen reichten zwei Galoppsprünge aus, um das zweite Hindernis sicher zu überqueren. Es gab einen Zwischenapplaus für mich und Hermine, dennoch hatte ich nur Augen für die bevorstehenden Hindernisse. Selbst der Wassergraben machte uns keine Probleme. Zum Schluss kam das größte Hindernis des Parcours. Ich schätzte es war knapp zwei Meter hoch. Mir war bewusst, dass wir nur mit genügend Tempo das Hindernis überqueren konnten, doch gleichzeitig musste ich wieder sehr genau auf Hermines Schrittfolge achten.

 

Ich fasste die Zügel kürzer und verlagerte mein Gewicht nach vorne. Unter mir klapperte eine Stange. „Bitte lass die Stangen liegen, Hermine!“, bettelte ich innerlich. Hermine schien meinen Wunsch erhört zu haben. „Emily Dean mit null Fehlerpunkten und mit einer sehr guten Zeit von 18:94 Sekunden“, wurde verkündet. Meine Teamkameraden jubelten mir begeistert zu, als ich auf den Abreitplatz ritt. „Hermine, du bist einfach die Beste“, flüsterte ich und küsste ihren Hals. Ich genoss es einige Runden im Schritt zu reiten. „Darf ich dir dein Pferd abnehmen?“, fragte mich ein Stallbursche. „Vielen Dank, das ist echt lieb“, bedankte ich mich. Zum Abschied schlang ich meine Arme um Hermines Hals und holte ein Leckerli aus meiner Jacketttasche.

 

Ich gesellte mich wieder zu meinen Schulkameraden, die auf der Bank hinter der Bande saßen. „Herzlichen Glückwunsch, gerade führst du die Gesamtwertung an!“, gratulierte mir Sandrina. „Emmi, du warst sensationell genial! Ich bin überzeigst, dass du dir den Sieg schnappst“, Luciens Begeisterung kannte keine Grenzen. „Emily, ich bin tief beeindruckt von deiner Leistung. Es steht schon fest, dass du an der Entscheidungsrunde teilnimmst. Wenn du genauso gut bist, wie gerade eben, dann traue ich dir Großes zu“, Miss Hanson kam auf mich zu und schüttelte mir die Hand. Nach mir waren zwei Reiter einer Elitereitschule an der Reihe, beide ritten ausgezeichnet und ich hoffte, dass sie meine bisherige Bestzeit nicht knackten. „Du liegst immer noch in Führung“, beruhigend legte mir Sandrina die Hand auf den Rücken.

 

„Bei Daniela Jackson bin ich mir aber doch nicht so sicher, sie reitet einfach zu gut“, bemerkte ich und konnte meine Augen nicht von ihr und ihrem schwarzen Hannoveraner lassen. „Wir haben eine neue Bestzeit“, wurde über Lautsprecher verkündet, „Daniela Jackson aus Belfast legt mit hundertsteln Sekunden Vorsprung vor Emily Dean und Rogan O’Neill zur Zeit auf dem ersten Platz“ Priscilla machte sich bereit. Als das Startsignal ertönte, riss Lucky nervös ihr die Zügel aus der Hand. Meine Cousine nahm blitzschnell die Zügel wieder auf und trieb ihren Wallach vorwärts. Es war bereits in der Mitte des Parcours abzusehen, dass sie nicht unter den Top Ten sein wird und somit musste sie sich mit dem elften Platz und vier Fehlerpunkte zufrieden geben. Direkt nach ihr startete Lucien und ich hoffte, dass er die Schrittlänge vor jedem einzelnen Hindernis beachtete. Vor dem Doppeloxer lies er Castaneas immer schneller werden, ich hoffte, dass er nicht zu viel Fahrt drauf hatte und den richtigen Absprungspunkt erwischte. Obwohl er seine Stute eine halbe Schrittlänge zu früh abspringen ließ, berührte Castaneas keine der Stangen. „Bravo, weiter so!“, feuerte ich ihn weiter an. Vor dem Dreifachbalken riss Castaneas erschrocken den Kopf hoch und Lucien ritt erneut an. „Schade, das kostet ihm einige wertvolle Sekunden“, seufzte Miss Hanson. Lucien beendete den Parcour als sechst Platzierter und hatte die Chance beim Stechen dabei zu sein. Ein Reiter aus Dingle verwies mich auf den Rang und bei jedem einzelnen Ritt hoffte ich, dass ich nicht weiter abrutschen würde. Emil und Sandrina waren die letzten Reiter im Vorentscheid.

 

Während Sandrina eine fehlerfreie Leistung erbrachte und eine Zehntelsekunde langsamer war als ich, lief für Emil der Parcour miserabel. Er riss mit Flower drei Stangen eines Hindernisses und raste am Wassergraben vorbei. „Shit, er hat jetzt schon acht Fehlerpunkte“, raunte mir Lucien zu, „Wahrscheinlich werden noch zwei oder drei Punkte wegen Zeitüberschreitung hinzukommen“ „Zehn Fehlerpunkte für Emil Johansson und damit der vierundzwanzigste Platz“, ertönte die Durchsage. Miss Hanson kam mit einer Liste auf uns zu. „Wir haben drei Teilnehmer, die am Stechen teilnehmen werden“, verkündete sie mit zufriedener Miene, „Sandrina wird in einer Viertelstunde als Erste starten, Lucien startet als Sechster und Emily als Vorletzte“ „Wollen wir wieder zum warm reiten gehen?“, tippte mich Sandrina von hinten an. „Du kannst schon gehen, ich komme später“, murmelte ich und nippte an meiner Wasserflasche.

 

Als Sandrina in den Wettkampf startete, ging ich zu den Ställen. Die Stute hob den Kopf als sich mich sah und zehrte an dem Strick, mit dem sie an einem Holzbalken festgebunden war. Von Schweiß und nassen Fell war nichts mehr zu sehen, offenbar hatten sich die Stallburschen in der Zwischenzeit gut um sie gekümmert und sie mit frischem Wasser versorgt. „Hier bin ich wieder!“, behutsam tätschelte ich ihren Hals und hielt ihr zur Begrüßung einen Apfel hin. Ich zäumte Hermine auf und führte sie an unzähligen anderen Reitern vorbei in die kleine Nebenhalle. „Auf in die nächste Schlacht, aber diesmal bleibt der erste Platz bei uns!“, flüsterte ich ihr zu und schwang mich in den Sattel. Hermine schnaubte zustimmend und tat so, als hätte sie meine Worte genau verstanden. „Soll ich Hermine führen, damit du dich noch ein wenig entspannen kannst?“, bot Priscilla an, die aus dem Nichts neben mir auftauchte. „Danke, das wäre lieb von dir“, lächelte ich dankbar und ließ mich zwei Runden durch die Halle führen. „Wenn du fehlerfrei reitest, hast du echt gute Chancen auf den Sieg“, meinte meine Cousine, „Sandrina hat vier Strafpunkte und bis jetzt hat noch kein Reiter den Parcour fehlerfrei beendet“ „Bestimmt haben sie das Zeitlevel hinauf gesetzt“, sagte ich und zog die Stirn kraus. „Nur um anderthalb Sekunden. Aber was soll’s, das werdet ihr schon ohne Probleme schaffen“, zuckte Priscilla mit der Schulter.

 

Meine Cousine wünschte mir noch viel Glück und verschwand wieder. Ich nutzte die restliche Zeit um Hermine auf Betriebstemperatur zu bringen. „Emily!“, meine Trainerin winkte uns zu sich rüber. „Du sollst dich schon einmal in Position bringen, du bist als Übernächste dran“, teilte sie mir mit. Vor Aufregung begann es in mir zum Kribbeln als wären in mir ein Volk Ameisen auf Wanderschaft. „Ganz ruhig, Emily! Nur keine Panik, ich bin mir sicher, du wirst es noch besser packen als vorhin und sieh nur, Hermine ist heiß darauf den Parcour zum zweiten Mal zu reiten“, beruhigend legte Miss Hanson ihre Hand auf meinen Unterarm. Die Reiterin vor mir startete in den Parcour, ich sah wie ihr Pferd vor dem Doppeloxer scheute und sie noch mal einmal anreiten musste. Für meine aufgeregte Seele war es Balsam zu sehen, dass auch andere Reiter Fehler machten. „Ich wünsch dir viel Glück, toi toi toi“, wünschte mir meine Trainerin. Ich atmete tief durch, als mein Name aufgerufen wurde und ritt zur Startposition.

 

Zeitgleich mit dem Startzeichen spannte sich meine Oberschenkelmuskulatur an und Hermine preschte los. Ich spürte, dass sie vor Energie strotzte und über die ersten beiden Hindernisse flog als wäre sie ein Vogel. Vor dem Doppeloxer hatte ich am meisten Respekt und deshalb berechnete ich genau, mit wie vielen Schrittlängen ich heran reiten durfte. Kurz vor Hermines Absprung fasste ich die Zügel kürzer und verlagerte mein Gewicht nach vorne. Der Sprung klappte tadellos. Die Zuschauermenge johlte und klatschte, doch ich blendete alle Nebengeräusche aus und hörte nur Hermines Hufen unter mir donnern. Vor der Backsteinmauer kam meine Stute fast ins Stolpern und ich musste eine kleine Kurve nach links reiten, damit sie wieder in der richtigen Schrittfolge war.

 

„Super korrigiert!“, rief mir Miss Hanson zu. Vor mir lag noch die Hälfte des Parcours und bei den nächsten Hindernissen, die sehr eng aneinander standen, musste ich besonders acht geben, dass jeder Bewegungsablauf saß. Hermine setzte meine Schenkelhilfen perfekt um. Dass Gefühl, dass ich den Wettbewerb gewinnen könnte, stieg mit jedem gemeisterten Hindernis. Hermine hatte immer noch Kraft und beschleunigte vor dem Wassergraben noch mehr, sodass ich sie leicht drosseln musste, damit sie keinen Huf in den Graben hineinsetzte. „Nur noch ein Hindernis, das ich bestehen muss!“, lautete mein Hauptgedanke. Ich sammelte noch einmal meine volle Konzentration und rechnete mir aus, wie ich anreiten musste. Hermine setzte eine halbe Schrittlänge zu früh zum Sprung an. Ich hörte die oberste Stange klappern, doch zum Glück blieb sie liegen. „Endlich geschafft!“, ging mir erleichtert durch den Kopf.

 

„Emily Dean mit null Fehlerpunkten und einer neuen Bestzeit von 17:63 Sekunden hat die Führung übernommen“, wurde mitgeteilt. Ich streckte meine geballte Faust in den Himmel und stieß ein gedämpftes „Yeah“ hervor. Immer noch leicht vor Freude benommen, ritt ich zum Abreitplatz. „Ganz tolle Leistung! Ich wette um eine Million Euro, dass du dieses Turnier gewinnst“, gratulierte mir Luciens und lief auf mich zu. „Es steht noch ein Ergebnis aus“, erinnerte ich ihn. „Egal, derjenige wird dich sicherlich nicht mehr toppen. Komm lass dich ein paar Runden von mir führen, Prinzessin!“, sagte er und nahm mir die Zügel aus der Hand. „Du hast gewonnen, Emmi!“, jubelnd rannten Sandrina und Priscilla auf uns zu. „Wirklich?“, ich konnte es kaum glauben. „Ja!“, riefen sie zweistimmig. Ich ließ mich aus dem Sattel gleiten und wurde beinahe in ihrer Umarmung erdrückt. „Soll ich Hermine einen Stalljungen übergeben?“, fragte Lucien. „Nicht bevor sie die passende Belohnung erhalten hat“, sagte ich und holte aus meiner Jacketttasche ein Haferplätzchen. „Hier für dich, meine Liebe!“, raunte ich Hermine zu und umarmte sie. „Du bist die Siegerin des Turniers, herzlichen Glückwunsch!“, Miss Hanson kam auf mich zu und gab mir gratulierend die Hand. Wir gingen zum Getränkestand. „Dreimal Fanta und zweimal Cola, bitte!“, rief Lucien einem jungen Mädchen zu. „Einen Moment Geduld!“, erwiderte sie nickend. Bis zur Siegerehrung war es noch eine halbe Stunde.

 

Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter und drehte mich um. „Daddy!“, schrie ich und mir fielen vor Überraschung fast die Augen aus dem Kopf. „Herzlichen Glückwunsch zum Sieg, Kleine!“, Dad umarmte mich. „Wo kommst du her?“, fragte ich ihn und war immer noch perplex. „Ich wollte dich einfach nur überraschen“, sagte er grinsend, „Hätte ich dir es schon vorher erzählt, dass ich komme, wäre es wohl keine Überraschung mehr und außerdem habe ich morgen einen Geschäftstermin in Galway“ Dann wandte er sich an Lucien, der neben mir stand. „Du bist doch nicht Fintan oder?“, meinte Dad und scannte sein Gesicht. „Freilich nicht, ich bin Lucien Frey und komme aus der Schweiz“, stellte Lucien sich vor und fügte hinzu, „Es kann gut sein, dass ich ihm ein wenig ähnlich bin, doch bis jetzt konnte uns jeder auseinander halten“ „Ich habe mich schon gewundert. Ich habe immer gedacht, Fintan sei der Junge an deiner Seite“, lachte Dad und fügte hinzu, „Ich habe gestern Fintans Mutter zufällig in der Stadt getroffen, Fintan hat anderthalb Wochen wegen einer Lungenentzündung im Krankenhaus gelegen. Aber nun geht es ihm wieder besser und er wird bald zurückkehren“ „Wirklich?“, ich machte ein betretendes Gesicht. „Das hätte ich nicht gedacht, Miss Greene hat uns nur erzählt, dass er längerfristig krank ist“, Lucien klang genauso getroffen wie ich. „Wahrscheinlich dürfen eure Lehrer nicht erzählen, was jeder einzelne Schüler hat, denn es gibt immer noch die so genannte Schweigepflicht“, meinte Dad.

 

Zwanzig Minuten später führte ich den Siegesritt an. Hermine wurde dafür besonders hübsch gemacht, ihre schwarze Mähne flatterte im Wind, ihr kastanienbraunes Fell glänzte wie Seide und an ihrem Kopf war unsere verdiente goldene Medaille befestigt. Noch nie war ich in meinem Leben dermaßen stolz gewesen. Leider konnte es Mom nicht miterleben. Dies trübte meine Freude leicht. Sie hätte gejubelt und getanzt, wenn sie gesehen hätte, dass ich eines Tages doch in ihre Fußstapfen treten werde. Dennoch war ich mir sicher, dass Mom von oben zuguckte und sich im Himmel über den Erfolg ihrer einzigen Tochter freute. Die Musik verstummte wieder und wir ritten zur Mitte der Reitbahn. Wir stellten uns nebeneinander auf. Einige Fotografen von der Zeitung kamen nach vorne und machten Fotos. „Hoffentlich grinse ich nicht wie ein Honigkuchenpferd“, dachte ich insgeheim. Bevor wir aus der Halle ritten, drehten alle Reiter eine Ehrenrunde im Galopp und winkten den Zuschauern zu. „Gleich kommt die Mannschaftsehrung. Ich bin schon sehr gespannt, an welcher Stelle wir stehen werden“, raunte mir Sandrina zu, die den dritten Platz gemachte hatte. „Ich auch“, nickte ich und wir übergaben unsere Pferde an die Stalljungen. „Da geht’s lang!“, Sandrina hakte sich bei mir unter und zog mich zu unseren Plätzen. Die Mannschaftsehrung fing an und als erstes wurden die hinteren platzierten Mannschaften aufgerufen. Mit jeder aufgerufenen Mannschaft stieg die Chance auf den Gesamtsieg. „Das wäre toll, wenn wir die Turniersiegerin stellen und gleichzeitig noch das beste Team wären“, wisperte uns Priscilla zu. „Vergiss es, wegen meinem Katastrophenritt könnten wir uns freuen, wenn wir überhaupt auf die ersten fünf Plätze kommen“, brummte Emil. „Jetzt sind wir schon bei Platz drei“, flüsterte Sandrina und trippelte nervös auf dem Boden herum. „Der zweite Platz geht an das Reit- und Sportinternat Saint Malory“, wurde verkündet. „Schade, es hat nicht ganz gereicht“, hörte ich Lucien neben mir. Unter Applaus gingen wir zur Mitte der Reitbahn und nahmen unsere Trophäe entgegen.

 

Später fand in einem Festzelt eine kleine Party für die Reiter statt. Nachdem wir uns mehrfach vom Büffet genommen hatten, schlug Lucien vor zu tanzen. „Nein, ich bin zu voll dazu“, lehnte ich ab. „Nein, nur ein kleiner kurzer Tanz, das ist mein Lieblingslied, welches unsere Beziehung widerspiegelt“, versuchte er mich zu überreden. Das Wort Beziehung schoss mir wie ein glühender Pfeil durch den Kopf. „Waren nicht einfach nur gute Freunde?“, fragte ich sanft. „Aber es ist zwischen uns noch wesentlich mehr drin als eine gute Freundschaft. Du bist mein Mädchen!“, hauchte er und zog mich auf die Tanzfläche. Er legte seine Arme um mich und kurz bevor das Lied zuende war, küsste er mich auf meine Lippen. Ich erwiderte seinen Kuss und ließ mich in seine Arme fallen. „Na, ihr beiden!“, Dad stand wie es dem Nichts vor uns. Erschrocken stoben wir auseinander und sahen uns einen Augenblick ertappt an. „Hast du jetzt doch einen neuen Freund?“, wollte Dad wissen und zog seine Augenbrauen hoch. „Nein, es ist so…“, versuchte ich ihm zu erklären, doch weiter kam ich nicht. „Wie beurteilen Sie den Ritt ihrer Tochter? Haben Sie früher auch geritten?“, kam mir Lucien zur Hilfe und lenkte vom Thema ab. „Meine Frau, also Emilys Mutter war Springreiterin. Ich habe nur wenige Male überhaupt auf einem Pferd gesehen. Stellt euch vor, ich würde reiten, das würde glatt wie ein Roderitt ausgehen“, Dad musste lachen und steckte uns an. 

4. Das Gefühlschaos ist perfekt

„Wen liebst du mehr Fintan oder Lucien?“, fragte mich Oli während wir an unseren Schreibtischen saßen und verzweifelt versuchten die Mathematikhausaufgaben zu lösen. „Fintan“, antwortete ich, obwohl es nicht ganz stimmte. Ich liebte in Wirklichkeit beide Jungen und mir fiel es schwer mich für einen zu entscheiden. Meine Freunde machte es beinahe schon aggressiv, wenn ich ihnen von Luciens Zuneigung erzählte. Fast alle von ihnen standen auf Fintans Seite. „Emily und Finn gehören schlichtweg zusammen“, sagte Lars jedes Mal, wenn wir auf dieses brisante Thema zu sprechen kamen. „Wenn ich noch eine Aufgabe mehr rechnen muss, platzt mir gleich der Schädel. Ich kann jetzt nicht einmal mehr einfache Kopfrechenaufgaben lösen“, stöhnte Oli. „Na, wie viel sind einmal eins?“, neckte ich meine beste Freundin. „Haha, bist du witzig!“, Oli verdrehte die Augen.

 

„Wollen wir nicht eine kleine Pause einlegen und in den Gemeinschaftsraum gehen, es soll wohl Tee und Kuchen geben“, schlug Rosy vor. „Ich bleibe hier, schließlich bin ich noch nicht einmal mit der Hälfte der Aufgaben durch“, bestimmte ich und wandte mich wieder dem Mathebuch zu. Meine Freundinnen huschten auf leisen Sohlen aus dem Raum und schlossen die Tür hinter sich. Ich stand auf und warf einen Blick in Rosys Heft. Sie war schon deutlich weiter als ich und hatte schon die schwerste Aufgabe geknackt. Ein wenig schlechtes Gewissen hatte ich schon, als ich die Lösungen von meiner Freundin abschrieb. Rosy war ein Ass in Mathe, während Oli und ich uns mit mittelprächtigen Noten zufrieden geben mussten. Gerade als ich fertig war mit Abschreiben war, hörte ich wie die Klinke heruntergedrückt wurde. „Na, bist du fertig mit den Aufgaben?“, Oli beugte sich über meine Schulter. „Noch nicht ganz, mir fehlt nur eine Aufgabe“, murmelte ich. „Was? Du hast diese Horroraufgabe herausbekommen? Emmi, seit wann bist du ein Mathegenie wie Rosy?“, entfuhr es ihr, „Darf ich bei dir abschreiben, sonst werde ich bis Ostern nicht fertig“ Ich nickte nur und behielt es für mich, dass ich die Aufgaben von Rosy abgeschrieben habe.

 

Ich bekam langsam Hunger von der ganzen Rechnerei. Hoffentlich war von dem Kuchen noch etwas übrig. Ich schloss die Tür hinter mir und ging die Treppe hinunter in den Gemeinschaftsraum. Dort war es ungewöhnlich still. Dave und Matthew saßen am vordersten Tisch und waren in ein Schachspiel vertieft. Francis, Rachel, Stefanie und Natascha machten es sich auf der Couch bequem und blätterten in ihren Modezeitschriften. Erst nach dem ich meinen Blick mehrmals durch den Raum wandern ließ, entdeckte ich Fintan. Er stand plötzlich und unerwartet mitten im Raum. Mein Herz begann schneller zu schlagen und mit drei großen Schritten eilte ich auf ihn zu. „Finn!“, rief ich so laut, dass die Mädchen auf der Couch erschrocken zusammen zuckten. Wir schlossen uns so fest in die Arme, als hätten wir uns Jahrzehnte lang nicht gesehen. „Ich habe dich so vermisst! Wieso hast du nicht auf meine Anrufe und meine SMS reagiert?“, flüsterte ich. „Ich hatte mein Handy fast die ganze Zeit ausgeschaltet, weil ich es nicht mit im Krankenhaus hatte. Ich habe euch auch tierisch vermisst. Es war kein Zuckerschlecken eine Lungenentzündung zu haben und ich frag mich, woher ich sie mir geholt habe“, antwortete er, „Trotzdem habe ich mitbekommen, dass du den ersten Platz beim Reitturnier gemacht hast. Herzlichen Glückwunsch, Schatz!“

 

Beim genaueren Hinsehen entging mir nicht, dass er dünner und blasser geworden war. Sein Gesicht wirkte viel kantiger als sonst und seine Wangenknochen traten leicht hervor. „Wollen wir rausgehen?“, schlug ich vor. „Gerne, dort sind wir unter uns“, nickte Fintan und setzte sich seine dunkelblaue Strickmütze auf. Ich nahm seine Hand, die sich kalt anfühlte. „Warum hast du so kalte Hände?“, fragte ich ihn. „Ich hatte letztens als ich krank war oft kalte Hände und ich kann mir es nicht erklären“, seufzte er. Ohne viel zu reden gingen wir an den Weidezäunen entlang. Ich war froh ihn wieder zu haben, obwohl Lucien die Sehnsucht nach ihm in letzter Zeit etwas gemindert. Trotzdem war Lucien nicht Fintan und umgekehrt Fintan nicht Lucien. Sie waren sehr unterschiedlich, doch beide erfüllten mein Herz mit Wärme und Zuneigung. „Habe ich außer eurem Turnier viel verpasst?“, wollte er wissen, „Schließlich war ich zweieinhalb Wochen krank“ „Nicht viel, nur dass wir mit der Klasse im neuen Bowlingcenter waren“, erwiderte ich. „Was? Riverview hat ein Bowlingcenter? Seit wann das?“, mein Freund schaute mich überrascht an. „Vor knapp zwei Wochen hat es eröffnet und wir waren gleich am ersten Abend da gewesen“, sagte ich. „Das klingt gut. Schatz, dort müssen wir zusammen hin“, Fintan zog mich an sich und küsste mich.

 

Beim Abendbrot wurden Fintan und ich sofort von unseren Mitschülern umringt. „Finn, seit wann bist du wieder da?“, rief Greta. „Ich bin erst vor zwei Stunden angekommen. Meine Mutter hat mich gebracht, während sie mit Miss Greene gesprochen hat, habe ich hier Emily getroffen und wir haben einen kleinen Spaziergang gemacht“, erwiderte Fintan. „Na, du alter Vogel! Bist du etwa auch wieder an Land gekommen?“, neckte Shane seinen Kameraden und puffte ihn leicht gegen die Schulter. „Wir haben gar nicht mehr zu hoffen gewagt, dass du überhaupt noch wieder kommst“, fügte Alex hinzu. „Ich wollte euch nur überraschen, mehr nicht“, meinte Fintan und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Mein Blick haftete an seinen smaragdgrünen Augen, die ich an ihm mit am liebsten mochte.

 

„Hey, altes Haus! Ohne dich hat uns echt etwas gefehlt“, Lars klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter. Während viele Mitschüler Fintan freundlich begrüßten, hielt Lucien Distanz. Ich konnte an Luciens Gesicht ablesen, dass sich seine Begeisterung über Fintans Ankunft mehr oder minder in Grenzen hielt. Direkt nach dem Abendbrot fing mich Lucien auf dem Flur ab. „Magst du kurz mit in mein Zimmer kommen?“, fragte er mich. „Wieso das?“, erwiderte ich perplex. „Hm…ja, ich will mit dir ein bisschen reden, was Persönliches“, druckste Lucien herum. „Okay, wenn es nicht länger als eine Viertelstunde dauert, ich muss noch mit Oli, Alison und Isa an unserem Erdkundereferat weiterarbeiten“, willigte ich ein. „Keine Sorge, so lange dauert es nun auch nicht“, meinte er. Wir gingen die Treppe hoch zu seinem Zimmer,  schlossen die Tür hinter uns und setzten uns nebeneinander auf Luciens Bett.

 

„Was gibt’s?“, drängte ich. „Ich wollte dich seit längerem etwas fragen, auf wen stehst du? Auf Fintan oder mich?“, stellte er mir die Frage, die ich mittlerweile am meisten hasste. „Ich weiß es ehrlich nicht“, zuckte ich mit den Achseln. „Hast du überhaupt Gefühle für mich?“, bohrte er weiter. „Ja, die habe ich“, nickte ich und schaute ihn verlegen an. „Ich fühle mich wie das fünfte Rad am Wagen, seitdem Fintan wieder da ist. Zuvor hatte ich dich nur für mich alleine, aber seitdem er wieder da ist, bist du meistens bei ihm“, äußerte Lucien seine Bedenken. „Ich mag euch beide. Ihr seid unterschiedlich. Du bist charmant, gefühlsvoll und weißt wie du Mädchen beeindrucken kannst. Fintan ist mir beinahe zu rational, er ist ein Realist und kein Träumer. Trotzdem bin ich glücklich, sobald ich mit euch zu tun habe. Zwar kenne ich Fintan länger als dich, doch du hast mehr Charme als er“, erklärte ich ihm. „Ich kann dich noch mehr beeindrucken“, lächelte Lucien verschmitzt und zog zuerst seine Strickjacke und dann sein T-Shirt aus. Mit freiem Oberkörper stand er vor mir und mein Blick blieb an seinem Waschbrettbauch hängen. Die Türklinke wurde heruntergedrückt. „Mist, ich habe vergessen abschließen!“, raunte Lucien und fügte hinzu, „Doch meine Mitbewohner mögen es gar nicht, wenn ich das tue“

 

„Darf ich fragen, was ihr beide hier macht?“, räusperte sich Fintan. Sein Schatten fiel bedrohlich direkt auf mich und Lucien. „Ich erkläre Emily das Future Compose“, versuchte sich Lucien raus zu reden. „Aha, wirklich?“, Fintan sah seinen Zimmergenossen ungläubig an. „Ja, Emily möchte in der nächsten Klausur unbedingt eine bessere Note schreiben“, nickte Lucien. „Warum lernt ihr in Luciens Bett und warum sitzt du mit nacktem Oberkörper da, Lucien?“, bohrte Fintan weiter nach. „Erstens liegen meine Unterlagen zum Lernen auf meinem Nachttisch und zweitens ist es mir in diesem Zimmer eindeutlich zu warm“, rechtfertigte sich Lucien. „Aha, soll ich das glauben? Ich finde, hier ist es gar nicht zu warm, die Heizung steht gerade mal auf eins“, Fintan zog seine Augenbrauen hoch und durchbohrte mich mit seinen Augen. „Stimmt das, Emily?“, raunte er mir leise zu.

 

„Doch das stimmt, die letzte Französischklausur habe ich wirklich vergeigt und Lucien gibt mir Nachhilfe“, nickte ich und spürte, wie mir die Röte ins Gesicht schoss. Bevor einer der beiden Jungen noch ein Wort sagen konnte, nahm ich meine Beine in die Hand und stürmte aus dem Zimmer. „Wie peinlich!“, lautete mein einziger Gedanke, während ich über den Flur rannte. Ich übersah einen großen Blumentopf und warf ihn mit einem lauten Rumms um. „Verdammt!“, fluchte ich leise und füllte die verschüttete Erde zurück.  Außer Atem öffnete ich die Tür. „Was ist mir dir los? Was ist um Himmels Willen passiert“, wunderte sich Oli als sie mich mit hochrotem Kopf sah. „Stimmt, deine Gesichtsfarbe gleicht deiner Haarfarbe“, bestätigte Isa. „Ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll? Ich bin gerade zu verwirrt“, jammerte ich. „Komm setz dich erst mal zu uns“, beruhigte mich Oli und stellte mir einen Stuhl hin. Ich atmete mehrmals tief durch, bevor ich das erste Wort über die Lippen brachte.

 

„Lucien forderte mich auf mit in sein Zimmer zu kommen, weil mit mir über etwas Persönliches sprechen wollte. Er fragte mich, ob ich Fintan oder ihn lieber möge. Ich erklärte ihm, dass ich beide genauso viel liebe und das ist die Wahrheit. Plötzlich sich Lucien sein T-Shirt aus und stand halbnackt vor mir. In dem Moment kam Fintan rein und fragte uns, was wir machen. Lucien gab vor mir Französisch zu erklären, was Fintan ihm nicht glaubte. Dann fragte Fintan mich, ob das stimmte. Ich bejahte es und wurde dabei rot im Gesicht. Verdammt noch mal, er hat mich beim Lügen ertappt und nun wird er kein Vertrauen in mich haben“, erzählte ich aufgebracht und spürte, wie mir die Tränen in die Augen stiegen. „Das war eine ganz miese Masche von Lucien!“, zischte Oli wütend. „Wie meinst du das?“, unterbrach Isa sie. „Lucien wollte Emily aufreißen, indem er sich vor ihr ausgezogen hat. Sowas ist wirklich unterste Schubblade, denn er versucht nicht erst seit gestern Fintan Emily auszuspannen“, erklärte Oli. „Ich denke nicht, dass Fintan nur wegen dieser Sache das Vertrauen ganz in dich verloren hat, dafür ist eure Beziehung schon zu stark“, schüttelte Isa den Kopf. „Können wir endlich weiter machen, die Präsentation muss bis morgen fertig sein und das Plakat ist nicht einmal halb fertig und wenn wir jetzt gänzlich vom Thema abkommen, sitzen wir mitten in der Nacht hier immer noch“, schlug Alison ungeduldig mit der Faust auf den Tisch. „Wartet, ich hole eben meine Ausarbeitung“, rief ich und rannte zu meinem Schreibtisch und suchte in der obersten Schubblade meine Ausarbeitung zum Thema Kinderarmut in Indien.

 

„Gut, dank Emily haben wir unsere Materialien komplett und nun müssen wir zu einem Gesamtstatement kommen“, sagte Alison zufrieden. Isa nahm einen schwarzen Filzstift und schrieb mit verschnörkelter Schrift „Ansätze zur Kinderarmutsbekämpfung“ unter das Bild mit den Straßenkindern. „Der Staat müsste endlich anfangen mehr in Schulen und öffentlich Bildung zu investieren“, meinte Oli und nagte an dem Ende ihres Bleistiftes. „Das ist wohl wahr, aber viele Bundesstaaten in Indien sind nun einmal bitterarm und können sich den Bau von Schulen nicht leisten. Hinzu kommt, dass Mädchen oft nicht zur Schule gehen dürfen, da sie für ihre Familien Geld verdienen müssen“, meinte Alison. „Das trifft nur auf Mädchen in den unteren Kasten zu“, mischte ich mich ein, „Wohlhabende Eltern finanzieren ihren Töchtern auf jeden Fall eine Schulausbildung und danach ein Universitätsstudium“ „Was wird aus Kinder, die aus einer ärmeren Familie kommen?“, fragte sich Isa.

 

„Sie arbeiten einen Leben lang am Überlebenslimit, indem sie miserabel bezahlte Arbeiten wie Müllsammeln oder Schuhe putzen ausüben“, antwortete Oli. „Ich finde es so ungerecht, dass es einige Menschen gibt, die so viel Geld haben, dass sie darin ertrinken können und andere Menschen, die jeden Tag schuften, um zu überhaupt zu existieren und dabei große Schwierigkeiten haben ihre Familie ausreichend zu ernähren“, frustriert schlug Isa die Augen nieder. „Tja, so ist unsere Welt nun mal“, bemerkte Oli, „Schau dich doch mal in Europa um, dort gibt es eine Kluft zwischen Arm und Reich“ „Aber doch nicht so extrem, hier sehe ich keine bettelnden Kinder auf den Straßen“, wägte ich ab. „Trotzdem gibt es auch hier eine Trennung zwischen arm und reich“, beharrte Oli auf ihrem Standpunkt, „Wer sich es leisten kann auf unser Internat zu gehen, der kann nicht arm sein. Pro Klasse gibt es einige Ausnahmen, die sich das Internat nicht leisten können und wegen eines Stipendiums hier sind“

 

„Mädels, das hat nun aber wirklich überhaupt nichts mehr mit Indien und Kinderarmut zu tun! Wie wäre es, wenn wir jeder seine Ausarbeitung in Stichpunkten zusammenfasst und wir es als Ganzes auf das Plakat bringen“, Alison klang genervt. „Wozu habe ich dann bitteschön einen ganzen Text geschrieben, wenn es nur Stichpunkte haben wolltet?“, rief Oli entrüstet. „Eigentlich fände ich es auch besser, wenn wir unsere Texte auf das Plakat kleben und sie sind auch nicht zu lang“, pflichtete ich meiner besten Freundin bei. „Na gut, wie ihr wollt“, brummte Alison. Wir machten uns ans Werk, schnitten unsere Texte aus und klebten sie auf das Plakat. „Fertig!“, lächelte Oli zufrieden und streckte sich. „Ein bisschen schöner könnte es noch sein“, meinte Isa. „Was meinst du damit?“, Oli sah unsere Freundin fragend an. „Ach, wahrscheinlich will Isa noch ihre Verschnörkelungen und Verzierungen machen. Aber lasst sie machen, wenn sie Hand anlegt, ist das Ergebnis meist ganz gut“, sagte Alison.

 

Oli und ich beschlossen kurz in den Gemeinschaftsraum zu gehen, obwohl es nur noch eine halbe Stunde bis zur Nachtruhe war. Greta und May, die neben Rachel auf der Couch hockten, winkten uns zu uns rüber. „Ich muss dir etwas sagen, Emmi!“, flüsterte Greta und packte mich am Arm. „Was denn?“, erwiderte ich und mein Herz begann schneller zu schlagen. „Wir haben gerade Fintan zusammen mit Samantha gesehen, ausgerechnet mit dieser dummen Pute“, offenbarte mir meine Freundin. „Wirklich? Was haben sie zusammen gemacht?“, langsam wich die Farbe aus meinem Gesicht. „Erst haben sie im Nachbarraum Tischtennis gespielt und dann alberten sie direkt neben uns auf dem Sofa herum“, erzählte May. „Sah es nach einem Flirt aus?“, fragte ich besorgt. „Keine Ahnung, aber offenbar verstehen sie sich gut“, zuckte Greta mit der Schulter. Greta und May rutschten auseinander, damit wir und zwischen sie setzen konnten. Ich erzählte den beiden, was mir vorhin passiert war, als Fintan mich zusammen mit Lucien in seinem Zimmer ertappte. „Ich kann mir vorstellen, dass er ziemlich eifersüchtig und enttäuscht ist, als er dich zusammen mit Lucien in seinem Zimmer erwischt. Ich kenne Fintan viel länger als ihr und weiß, dass er seine wahren Gefühle meistens unter einer rauen Schale verbirgt“, meinte Greta. Ich seufzte und fühlte mich mit einem Schlag schuldig und hundsmiserabel. „Alles wird gut, mach dir keinen Kopf!“, munterte May mich auf und legte mir ihre Hand auf meine Schulter.

5. Ein Hahnenkampf

Während wir mit dem Hockeyschläger in der Hand durch einen Parcour aus Stangen und Hütchen dribbelten, fiel mein Blick ungewollt auf die benachbarte Sportanlage. Dort trainierten die Jungs der Fußballmannschaft. „Emily, bitte mehr Konzentration!“, ermahnte mich Mr. Jenks bestimmt zum zweiten oder dritten Mal. „Sorry!“, rief ich kleinlaut und rannte meinem Ball hinterher. „Bitte fang noch einmal von vorne an und diesmal stoppe ich die Zeit!“, wies mich unser Trainer zurück zur Startlinie. Diesmal blendete ich die Jungs aus und konzentrierte mich nur auf den Ball vor meinen Füßen. „Das sieht doch gleich viel besser aus. Die letzten Slalomstangen wirst du wohl auch noch packen“, wurde ich gelobt.

 

„Emmi, Emmi, Emmi!“, feuerten mich einige meiner Mitspielerinnen an. Keuchend sprintete ich über die Zielgerade und stützte mich auf meinen Schläger. „Manchmal bewirkt ein Straftraining echt Wunder!“, bemerkte Mr. Jenks mit einem zufriedenen Lächeln und notierte sich mein Ergebnis. „Ich komme mir gerade wie im Altersheim vor“, sagte ich zu meinen Freundinnen. „So würde ich mich auf fühlen, wenn ich so viele Extratrainings wie du gehabt hätte“, meinte Oli. „Du siehst gerade wirklich aus wie eine Oma!“, neckte mich Sandrina, „Der arme Hockeyschläger ist bestimmt beleidigt, dass du ihn als Gehstock missbrauchst“ Oli, Greta und ich konnten uns vor Lachen kaum halten. Selbst die ruhige und ernsthafte Rosy konnte sich das Kichern nicht verkneifen. Zu fünft in einer Reihe stützten wir uns gegenseitig und taten so, als wären wir gebrechliche Seniorinnen. „Seid ihr schon so kaputt, dass ihr eine Pause braucht?“, unser Trainer musste lachen als er uns sah. „Eine Pause käme mir ganz recht!“, bekräftigte Debbie, die sich den Schweiß von der Stirn wischte.

 

„Komm, lass uns den Jungen zugucken!“, raunte mir Greta ins Ohr und hakte sich bei mir und Sandrina ein. Fintan, Lucien, Shane, Lars und co schienen unsere Anwesenheit nicht zu bemerken, zu sehr waren sie in das Trainingsspiel vertieft. Fintan und Lucien spielten gegeneinander. Ich musste mir Mühe geben, um beide im Auge zu behalten. „Ihr müsst eure Gegenspieler unbedingt besser decken und bei einem Ballgewinn viel schneller umschalten“, ermahnte ihr Trainer Luciens Team. „Finn!“, rief Jeremy und passte Fintan den Ball in den Lauf. „Schieß einfach!“, hörte ich einen seiner Mitspieler rufen. Fintan nahm den Ball mit und ließ einen Gegenspieler mit einer geschickten Körpertäuschung stehen. Lucien konnte ihn noch vor der Strafraumlinie stellen und stieg hart in ihn rein. „Du Vollidiot!“, schimpfte Fintan, als sich beide auf dem Boden liegend wieder fanden. Lucien versuchte aufzustehen und den Ball zu kriegen, der in Richtung Seitenlinie kullerte. Fintan packte ihn von hinten und schubste ihn unsanft zur Seite. „Spinnst du?“, regte sich Lucien auf und versuchte seinen Konkurrenten von sich wegzudrücken. Fintan grätschte absichtlich von hinten in Luciens Beine, doch sein Rivale konnte hielt sich an seinem Arm fest. „Es reicht langsam!“, rief Lucien außer sich.

 

Der Trainer blies energisch in seine Pfeife. „Beide runter vom Feld, sofort!“, rief er streng. Anstatt auf den Trainer zu hören, gingen beide Kontrahenten aufeinander los. Sie drückten sich gegenseitig zu Boden, warfen sich Beleidigungen an den Kopf und ihre Fäuste flogen. Alex, Jeremy und Lars waren einige Zeit lang beschäftigt die Streithähne auseinander zu zerren. „Ihr könnt euch beide beim Direktor melden und nun Abmarsch, ich will euch heute hier nicht mehr sehen!“, wies der Trainer beide Jungen zurrecht. „Oh je, ist das kindisch!“, schüttelte Oli den Kopf. „Ich wette der Konflikt zwischen ihnen kommt richtig in Fahrt“, befürchtete ich. „Na klar, schließen sind sie in ein und dasselbe Mädchen verliebt. Das wird noch einen schönen Hahnenkampf geben“, zischte meine Freundin. „Leider!“, seufzte ich niedergeschlagen. Lucien und Fintan gingen an uns vorbei ohne ein Wort zu sagen und funkelten sich beide bitterböse an.

 

„Na, was ergab das Gespräch mit Mr. Scott?“, fragte ich meinen Freund und setzte mich mit meinem Tablett neben ihn. „Was soll schon großartig dabei herum gekommen sein? Mr. Scott hat uns beiden ins Gewissen geredet und wir haben beide einen Tadel bekommen, mehr nicht“, zuckte Fintan gleichgültig mit den Achseln und wandte sich wieder seinem Tee zu. „Hättest du Lust nach dem Abendessen mit Oli, Lars und mir eine Runde Tischtennis zu spielen?“, schlug ich vor, um ihn aufzumuntern. „Heute Abend nicht“, schüttelte er den Kopf, „Ich muss noch einiges nacharbeiten, was ich in den letzten Wochen verpasst habe“, antwortete er und knabberte lustlos an einem Stück Paprika.

 

„Du hast doch die letzten Abende immer an irgendwelchen Schularbeiten gesessen. Mach dir doch wenigstens heute einen netten Abend mit uns und vergiss die Prügelei mit Lucien einfach“, redete ich auf ein. „Vergiss es, du verstehst es sowieso nicht!“, funkelte er mich wütend an. „Was denn?“, ich sah ihn verletzt an. „Momentan ist mir wichtiger, dass ich mit der Schule einigermaßen klar komme und daher muss viel pauken“, versuchte mir Fintan in einem sanfteren Tonfall zu erklären. „Mach das, wenn du meinst“, murmelte ich. Während des gesamten Abendessens redeten wir kaum miteinander. Es war merkwürdig kühl und beinahe wie verhext zwischen uns beiden. Vor den Ferien war es noch nicht so gewesen, doch dann kam Fintans Krankheit und die Annäherung zwischen mir und Lucien.

 

„Will Fintan wieder ne Runde Pauken anstatt mit uns ne Partie Tischtennis zu spielen?“, fragte mich Oli entgeistert. „Er will lernen und außerdem hat er im Moment ganz miserable Laune“, nickte ich. „Schade, es steht noch eine Revanche für uns aus und es wäre blöd für dich, wenn du alleine gegen uns spielen müsstest“, sagte Lars. „Ich könnte Lucien fragen“, fiel mir ein und steuerte auf den Tisch, an dem er mit Emil und Ivan saß zu. „Hättest du Lust eine Partie Tischtennis mit mir gegen Oli und Lars zu spielen?“, fragte ich ihn. „Klar, wieso nicht?“, nickte er und brachte sein Tablett weg. Oli und Lars reservierten die letzte freie Tischtennisplatte im Hobbyraum nebenan. „Lass uns beginnen!“, rief Oli und balancierte ihren Schläger auf ihrer Hand. Lars und sie spielten den ersten Matchball, da sie das letzte Spiel verloren hatte. Luciens blitzschnellen Reflexen war es zu verdanken, dass wir nicht sofort in Rückstand gerieten. Lars nutzte eine Unsicherheit zwischen mir und Lucien aus und der Ball schoss zwischen uns durch. „Menno!“, entfuhr es mir und holte den Ball wieder. „Das packen wir noch! Keine Panik!“, zwinkerte Lucien mir zu und ließ den Ball auf der Platte springen. Er holte aus und schoss den Ball quer zu Oli. Allerdings hatte sie gute Reflexe und spielte den Ball wieder zu uns, sodass ich ohne Probleme einen Gegenangriff einleiten konnte. Es ging im rasanten Tempo hin und her.

 

„Wollen wir eine Pause machen?“, schlug Oli vor, „Ich habe das Gefühl, ich laufe heiß“ „Ich hole uns etwas zu trinken“, rief ich und huschte in den Gemeinschaftsraum. „Warum brauchst du vier Gläser für dich alleine?“, hielt mich die Hausmutter auf. „Drei Gläser sind für meine Freunde“, antwortete ich knapp. „Emily, hast du einen Augenblick Zeit?“, Arabella stellte sich mir in den Weg. „Was gibt’s?“, erwiderte ich überrascht. „Komm setz dich einen Moment hin“, sagte sie ruhig und zog mich am Arm zu einem freien Tisch. „Es ist so, dass Samantha ein Auge auf Fintan geworfen hat. Sie ist regelrecht vernarrt in ihn und er mag sie anscheinend auch“, berichtete sie. „Ich weiß“, antwortete ich und versuchte so emotionslos und kühl wie möglich zu wirken. „Ich sehe dich in letzter Zeit öfter mit Lucien zusammen. Seid ihr eigentlich schon ein Paar?“, flötete sie und klimperte neugierig mit ihren langen Wimpern. „Geht dich gar nichts an!“, raunzte ich sie genervt an. „Ach, ich wollte einfach nur mal fragen“, fuhr sie mit einem zuckersüßen Lächeln fort. „Arabella!“, hörte ich eine ihrer Freundinnen rufen. „Bis denne, man sieht sich!“, lächelte mir Arabella freundlich zu. Ich machte mich mit der Wasserflasche und den Gläsern so schnell ich konnte aus dem Staub.

 

„Wo warst du so lange?“, Lucien sah mich mit großen Augen an. „Wolltest du uns verdursten lassen?“, rief Oli mit gespielter Empörung. „Ich hatte gerade eben ein nettes Gespräch mit Arabella und deswegen hat es einen Moment länger gedauert“, erwiderte ich und verdrehte die Augen. „Wieso ausgerechnet Arabella?“, wurde Lars stutzig. „Sie wollte sich nach meinem Beziehungsstand erkundigen, aber ich habe ihr keine Auskunft geben“, fuhr ich fort und musste unwillkürlich grinsen. „Du musst der falschen Schlange sowieso keine Privatstorys hinterher werfen“, meinte Oli, „Sie benutzt es sonst am Ende noch gegen einen selbst und dann weiß es nachher das ganze Internat“ „Oli, für wie blöd hältst du mich, dass ich so einer Tratschtante meine Geheimnisse anvertraue?“, wandte ich mich mit einem schiefen Blick an meine beste Freundin. Nachdem wir mit einem Zug unsere Gläser geleert hatten, setzten wir unser Spiel fort. Oli und Lars führten mit einem hauchdünnen Vorsprung. Lucien und ich drängten auf den Ausgleich und spielten noch aggressiver als vorher. Unsere Gegner hielten bis zum Schluss tapfer gegen und besiegten uns mit 6:4.

 

Am nächsten Tag war Fintans miserable Laune wie weggeblasen. Er verbrachte die Pausen und das Mittagessen wie gewöhnlich mit seinen Freunden und lachte über Tiagos Witze. Wir trafen uns nach dem Nachmittagstee in meinem Zimmer, um gemeinsam für Englisch zu lernen. „Meine Motivation ist jetzt schon im Eimer, wir schreiben die Klausur schon übermorgen und ich habe Macbeth noch nicht einmal zur Hälfte durchgelesen. In jeder freien Minute kämpfe ich mich durch dieses verdammte Buch, was überhaupt kein Ende haben will“, stöhnte er und blätterte in seiner Lektüre. „Ich kann dir die Zusammenfassung geben, die ich mit Rosy ausgearbeitet habe“, bot ich ihm an. „Danke, ihr seid meine Rettung!“, bedankte sich Fintan, „Ich habe keine Lust wieder eine schlechte Note zu kassieren und das nur, weil ich über längere Zeit krank war“ „Du musst auch die Beziehung unter den Personen wissen, denn es ist wahrscheinlich, dass wir eine Beziehungsanalyse schreiben werden“, erinnerte ich ihn. „Oh je, da bin ich gleich schon mal raus“, brummte mein Freund resigniert und starrte aus dem Fenster. „Komm, so schwer ist das nun auch nicht. Lass uns gemeinsam ein Beziehungsgeflecht erstellen“, klopfte ich ihm aufmunternd auf die Schulter. „Was hältst du davon, wenn wir eine Runde joggen gehen?“, schlug Fintan vor, als uns nach einer Stunde Lernen die Schädel anfingen zu qualmen. „Gleich, lass uns den Rest noch zuende machen“, beharrte ich. „Na gut, einverstanden“, nickte er und griff wieder nach seinem Kugelschreiber.

 

Eine halbe Stunde später trafen wir uns umgezogen vor der Tür. Es begann bereits zu dämmern und diesig zu werden. „Denn mal los, bevor es ganz duster ist!“, klatschte Fintan in die Hände und lief los. Er legte ein ziemliches Tempo vor. Ihm war es nicht mehr anzumerken, dass er vor wenigen Wochen krank war. „Hey, nicht so schnell, sonst bin ich auf den ersten Meter k.o.!“, rief ich keuchend als wir an der ersten Straßenecke angelangt waren. „Soll ich dich ein Stück ziehen?“, bot mir Fintan an und streckte seine Hand raus. „Nicht nötig“, lehnte ich ab, „Können wir trotzdem einen Gang runterschalten?“ In einem kleinen Waldstück ließen wir es gemütlicher angehen, sodass wir uns unterhalten konnten. „Hast du dich wieder mit Lucien vertragen?“, fragte ich. „Was heißt für dich vertragen?“, erwiderte Fintan. „Geht ihr euch immer noch an die Gurgel?“, hakte ich nach. „Ne, das nicht“, schüttelte er den Kopf, „Beste Freunde werden wir in unserem Leben nicht mehr werden. Wir reden nur noch das Nötigste miteinander“ „Was war der Auslöser für eure Prügelei am Montag?“, fragte ich. „Wir geraten zurzeit immer wieder aneinander und das wegen einer bestimmten Person“, seufzte er. Mir schwante etwas, offenbar ging es um mich. Fintan zog mich zu einer Bank. „Liebst du mich noch?“, fragte er leise und sah mir fest in die Augen. „Aber natürlich liebe ich dich“, hauchte ich und küsste ihn auf die Lippen. „Manchmal war ich mir in letzter Zeit nicht mehr so sicher“, fuhr Fintan fort. Es blieb bei mir nicht unbemerkt, dass er an unserer Beziehung zweifelte. „Hör mal zu, ich kenne dich viel länger als Lucien und ich liebe…“, begann ich. „Wieso bist du dann so oft mit Lucien zusammen?“, unterbrach mich Fintan barsch. Seine sonst oft unterdrückte Eifersucht flammte auf. „Lucien und ich sind nur gute Freunde und verstehen uns gut. Wir teilen das gleiche Schicksal. Lucien hat als er elf war seine Eltern bei einem Autounfall verloren und ich vor zwei Jahren meine Mutter. Ich bin froh, jemand zu kennen, der so ein ähnliches Schicksal erlebt habe wie ich. Den Tod meiner Mutter versuche ich so oft wie möglich zu verdrängen, doch mit Lucien habe ich einen verständnisvollen Freund, mit dem ich darüber reden kann“, fuhr ich fort. „Ach so, ich hatte mal wieder düstere Gedanken“, entschuldigte sich Fintan und fügte hinzu, „Ich habe nicht gewusst, dass seine Eltern tot sind. Das hat er uns nie erzählt. Vielleicht ist das der Grund, wieso er so ist wie er ist. Irgendwo tut er mir auch leid. Ich kann mich echt glücklich schätzen, dass ich meine Eltern, meine Schwester und meine Großeltern habe“

 

Ich nickte nur und wir saßen nebeneinander auf der Bank. „Weißt du welcher Tag heute ist?“, brach mein Freund das Schweigen. „Nein, wieso?“, erwiderte ich überrascht. „Hast du vergessen, dass heute Valentinstag ist?“, zog mich Fintan auf. „Daran habe ich wirklich nicht gedacht und ich habe noch nicht einmal ein Geschenk“, gab ich zu. „Schäm dich, Emily! Schäm dich!“, tadelte er mich lachend und holte eine Tüte Bonbons aus seiner Jackentasche. „Ich habe auch kein richtiges Geschenk für dich, da ich das kitschig finde. Außerdem ist es hier viel schöner als in der Stadt in einem vollen, lauten und stickigen Cafe zu sitzen und stundenlang auf seinen Kaffee zu warten. Hier sind wir alleine und niemand stört uns“, meinte er, „Ich uns stattdessen uns etwas zum Naschen mitgenommen. Denn wie du weißt, geht Liebe durch den Magen“ Ich lehnte mich gegen seinen Oberkörper und legte meinen Kopf auf seine Schulter.

 

„Wahre Liebe ist das beste Geschenk überhaupt!“, flüsterte ich. „Und du das Geschenk meines Lebens“, lächelte Fintan. Wir fütterten uns gegenseitig Schokoladenkaramellbonbons, die in seiner Jackentasche bereits leicht zerschmolzen waren, trotzdem schmeckten sie nach Liebe, Nähe und Zuneigung. Langsam kroch die Kälte an unseren Beinen hoch und wir beschlossen weiter zu joggen. „In zehn Minuten ist Abendbrot. Komm, lass uns einen Zahn zulegen“, stellte Fintan bei dem Blick auf seine Uhr fest. Ich übersah eine Baumwurzel und schlug hart auf dem Erdboden auf. „Verflixt noch mal!“, fluchte ich leise und fühlte einen stechenden Schmerz im rechten Fuß. „Hast du dir wehgetan, Süße?“, Fintan half mir auf. „Ich bin nur umgeknickt, mehr nicht“, sagte ich mit zusammen gebissenen Zähnen und humpelte. „Soll ich dich tragen?“, bot er mir an. Diesmal hatte ich dagegen nichts einzuwenden. Er schulterte mich und lief zügig weiter. Ich spürte, wie sich seine Muskeln bewegten. „Wenn dein Fuß anschwillt, musst du unbedingt zur Krankenstation“, sagte er eindringlich. „So schlimm ist es gar nicht, mein Fuß tut gar nicht mehr so doll weh“, widersprach ich ihm. Fintan ließ mich wieder herunter. Mein Fuß tat beim Auftreten tatsächlich kaum noch weh und ich konnte die letzten Meter selbstständig zurück laufen. 

6. Noch eine Chance

Die Temperaturen sanken für mehrere Tage unter null Grad. Der See in der Nähe unseres Internates froh komplett zu. Erst nach zehn Tagen Frost wurde der See zum Schlittschuhfahren freigegeben. Donnerstag war es soweit, wir liehen uns Schlittschuhe vom Sportwart aus und machten uns mit beiden Klassen auf dem Weg zum See. Beinahe alle, bis auf wenige, die keine Lust hatten, kamen mit. „Bestimmt kann ich dieses Jahr schon viel besser laufen als ein Jahr zuvor“, rief uns May zu und schnürte ihre Schlittschuhe. Isa und Alison standen unschlüssig in Ufernähe auf dem Eis und hielten sich verkrampft an einem Ast fest. „Wir standen zuvor noch nie auf Schlittschuhen“, sagte Isa und rutschte beinahe weg. „Komm, wir zeigen es euch“, rief ich ihnen zu.

 

Oli und ich nahmen Isa an die Hand. Alison stützte sich auf Sandrinas und Gretas Schultern. Rosy und May fuhren Hand in Hand vor uns her und beobachteten, wie Isa langsam Fortschritte machten. „Ich glaube, jetzt habe ich den Dreh raus“, meinte Isa und lies meine Hand los. „Wow, du fährst gar nicht schlecht“, lobte Oli. „Und es macht Riesenspaß“, jubelte Isa und drehte sich einmal halb um ihre Achse. „Du bist doch ein verborgenes Naturtalent. Gib’s zu, Isa!“, grinste ich. In der Nähe des linken Ufers spielten die Jungen Eishockey. Lucien jagte dem Puck hinterher, den einer seiner Kameraden verschossen hatte. „Na, Emily!“, zwinkerte er mir zu und fuhr im Zickzack an mir vorbei. Er streckte seine Hand nach mir aus. Automatisch griff ich nach seiner Hand und so drehten wir zusammen eine Runde bis wir bei seinen Kumpels angelangt waren. „Hoffentlich hat es Fintan nicht gesehen“, flehte ich innerlich.

 

Wir beschlossen nach einer Stunde eine Pause zu machen und den Jungs zuzuschauen. „Lars, Tiago, Fintan und Alex spielen ganz ordentlich“, beobachtete Oli. „Aber Lucien ist immer noch der Beste von allen“, setzte ich obendrauf. Lucien spielte seine Gegner mit Leichtigkeit aus und führte mit viel Geschick den Puck vor sich her. „Mögt ihr heißen Roibuschtee? Ich habe vorhin in der Küche zwei Kannen voll für uns gekocht“, fragte Rosy in die Runde und teilte Plastikbecher aus. „Anscheinend machen die Jungs jetzt auch eine Pause“, sagte Greta auf einmal. Die Jungs steuerten auf das Ufer zu und setzten sich nebeneinander auf einen umgefallenen Baum. Greta und ich gingen zu ihnen rüber. Lucien nickte mir freundlich zu, während Fintan keine Notiz von mir zu nehmen schien. Er unterhielt sich angeregt mit Tom, Shane und Lars. „Fintan?“, fragte ich vorsichtig. Er schien mich immer noch nicht zu bemerken. Ich wiederholte seinen Namen erneut. „Was willst du eigentlich von mir?“, erwiderte er barsch. Mir blieb einen Moment lang die Spucke weg und ich musste einen Moment nachdenken, bis mir etwas Kluges einfiel, was ich zu ihm sagen konnte.

 

„Wollen wir nicht eine Runde zusammen fahren? Ich will mit dir einen Moment lang alleine sein“, wandte ich mich an ihn. „Nein, ich habe gerade keinen Bedarf. Dreh doch eine Runde mit Lucien, er wird sich sicherlich freuen mit dir Hand in Hand über das Eis zu gleiten. Aber bitte lass mich jetzt in Ruhe“, lehnte er rigoros ab und warf mir einen eiskalten Blick zu. „Ich wollte nur…“, fuhr ich stockend fort. „Halt die Klappe und verzieh dich!“, warf Fintan mir an den Kopf. Dann wandte er sich wieder seinen Freunden zu und lachte über einen von Tiagos dämlichen Flachwitzen. Es traf mich wie der Schlag, ich war unfähig etwas Passendes zu erwidern. Mir war elend und übel zugleich. Mit hängendem Kopf drehte ich mich von den Jungen weg. „Oh man, Fintan kann manchmal ein ziemlicher Idiot sein“, sprach mir Greta aus der Seele und hakte sich bei mir unter. „Greta!“, Lars winkte meine Freundin zu sich. Ich lief ohne sie zu unserem Platz zurück. „Was ist mit dir los? Du siehst total fertig aus“, besorgt legte Isa mir die Hand auf die Schulter. Ein dicker Kloß machte sich in meinem Hals breit und ich spürte, wie die Tränen in meinen Augen brannten. „Es ist wegen Fintan, er ist plötzlich so abweisend zu mir“, schluckte ich meine Tränen herunter. „Mach dir nichts aus blöden Kerlen“, tröstete mich Oli und nahm mich in den Arm.

 

„Dabei wollte ich ihn nur fragen, ob er eine Runde mit mir über den See fahren will. Daraufhin hat mir gesagt, dass ich ihn in Ruhe lassen soll“, sagte ich mit bebender Stimme und fing an leise zu weinen. „Kopf hoch, dass wird schon wieder“, versuchte Sandrina mich aufzumuntern. „Wir werden nachher mit ihm reden und ihm sagen, dass du ihn und nicht Lucien liebst“, versicherte mir Alison. „Das Problem ist, dass ich beide liebe. Ich kann mich einfach für keinen entscheiden“, schluchzte ich. „Ich kenne das Problem“, sagte Isa, „Ich hatte vor zwei Jahren auch und war gleichzeitig in einen anderen Jungen verliebt. Ich weiß, wie schrecklich das ist. Als mein Freund herausfand, dass ich in jemand Anderes verliebt war, machte er mit mir Schluss. Der andere Junge, in den ich verliebt war, fand schließlich eine andere Freundin und ich stand ganz alleine da“ Offenbar verstand mich Isa sehr gut. Nichts war besser als von einer Freundin verstanden zu werden und dies ließ mich gleich viel besser fühlen.

 

„Emily, warum weinst du?“, plötzlich stand Lucien direkt vor mir. „Ich bin gerades hingefallen“, log ich. „Ach ja?“, er schien mir nicht zu glauben. „Komm mit!“, flüsterte ich ihm leise ins Ohr. Ich zog ihn auf die Eisfläche und hielt mich an einem tief hängenden Ast fest. „Ist es wegen Fintan, weshalb du so traurig bist?“, fragte er. „Genau deswegen“, nickte ich und erzählte ihm, was gerade passiert war. „Ist Fintan überhaupt dein richtiger Freund? So wie er dich behandelt, behandelt ein Gentleman seine Freundin nicht“, meinte er. „Eigentlich schon, aber in letzter Zeit geraten wir immer wieder aneinander“, seufzte ich. Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit auf Greta und Lars gelenkt. Ich traute meinen Augen nicht, sie glitten Hand in Hand wie ein Traumpaar über den See. „Hoffentlich sieht das Oli nicht“, murmelte ich und sah dem ungewöhnlichen Pärchen nach. Zwar hatte Oli ihrem Freund nach der Affäre mit Sabrina verziehen, doch manchmal schien Oli ihm immer noch zu misstrauen, sobald Lars sich einem anderen Mädchen näherte.

 

Lucien griff nach meiner Hand und zog mich hinter sich her. „Hey, nicht so schnell!“, kreischte ich. „Komm Süße, ich zeig dir mal was“, lächelte Lucien. Wir liefen bis zur Mitte des Sees. Er ließ meine Hand los und, fuhr einen großen Bogen und drehte sich mehrmals um seine eigene Achse. Mein Blick blieb durchgehend an ihm haften. „Komm, ich bringe dir das Rückwärtsfahren bei“, versprach er mir und nahm wieder meine Hand. „Woher kannst du das alles?“, staunte ich. „In der Schweiz habe ich viele Jahre lang Eishockey gespielt und außerdem bin ich jeden Tag im Winter auf unseren Gartenteich Schlittschuhgelaufen. Mama hat mir als ich noch ein kleiner Junge war, mir manch so ein Kunststück beigebracht. Sie war in jungen Jahren Eiskunstläuferin“, erzählte er. Geduldig er erklärte mir, was ich beim Rückwärts fahren beachten musste. Ich probierte es aus und verlor dabei mein Gleichgewicht. Reflexartig klammerte ich mich am Ast fest. „Du darfst dich auf keinen Fall zu weit nach hinten lehnen“, gab Lucien mir den Tipp. Ich probierte es noch einmal, diesmal kippte ich fast nach vorne und hielt mich an Luciens Ärmel fest. „Keine Panik!“, beruhigend legte er seinen Arm um mich.

 

Auf dem Rückweg steckte ich es Oli, dass ich Greta und Lars zusammen auf dem See gesehen habe. „Das ist nichts Neues, dass er seine Arme nach anderen Mädels ausstreckt“, erwiderte sie gleichgültig, „Am Valentinstag haben wir uns im Cafe so heftig gefetzt, dass sich alle Leute zu uns umgedreht haben“ „Aber ich dachte, eure Beziehung wäre nach der Sache mit Sabrina in Berlin wieder in Ordnung“, erwiderte ich überrascht. „Wir haben euch das perfekte Paar vorgegaukelt, obwohl wir es lange nicht mehr sind. Lars intensiver Flirt mit Sabrina hat mein Vertrauen in unsere Beziehung doch ziemlich geschädigt. Ich habe immer gehofft, dass die Zeit Wunden heilt, aber um diese Wunde zu heilen, braucht es mindestens Jahre“, meinte Oli. „Aber er hatte doch seit Berlin keinen Kontakt mehr mit ihr“, widersprach ich ihr. „Oh, da täuscht du dich aber“, schüttelte meine Freundin den Kopf, „Er hat wochenlang mit ihr gemailt und sogar einmal geskypt“ „Woher weißt du das denn?“, fragte ich verblüfft. „Tiago, der sich mit ihm ein Zimmer teilt, hat es mir gesteckt“, sagte Oli. Ich schaute kurz über meine Schulter. Hinter uns liefen Lars, Greta, Fintan, Shane und Alex. Greta schien sich zwischen den Jungs pudelwohl zu fühlen und unterhielt sich am meisten mit Lars. „Macht es dir etwas aus, wenn Greta immer öfter mit Lars zusammen ist?“, fragte ich sie leise. „Schön, ist es für mich nicht“, flüsterte mir Oli ins Ohr, „Doch nachdem ich mit Lars Schluss gemacht habe, dann kann sie sie mit ihm so viel zusammen sein, wie sie lustig ist“

 

Für den Rest des Tages sprachen Fintan und ich kein Wort miteinander. Beim Abendessen setzten wir uns an verschiedene Tische. Auch Lars und Oli würdigten sich keines Blickes. Oli und ich verbrachten den restlichen Abend bei Hermine im Stall. „Manchmal sind Tiere doch die besseren Freunde?“, seufzte Oli. Ich wusste genau, wie es meine Freundin meinte. „Tiere können einen wenigsten nicht hintergehen“, stimmte ich ihr zu und kraulte Hermines Hals. „Ich werde mit Lars so schnell wie möglich Schluss machen“, beschloss Oli. „Also schon morgen?“, schlussfolgerte ich. „Das kann ich noch nicht genau voraussagen, aber es dauert nicht mehr lange“, erwiderte sie. „Jungs machen einem manchmal mehr Probleme als man sowieso schon hat und die man ohne sie nicht hätte“, ging mir laut durch den Kopf. „Punktgenau, dem kann ich nur voll und ganz zustimmen“, nickte sie. „Na Mädels, was macht ihr hier?“, überraschte uns Lucien. „Darf ich erstmal fragen, was du hier machst?“, entgegnete ihm Oli schlagfertig. „Mir war langweilig und ich musste einfach mal etwas anderes als mein Zimmer und den Gemeinschaftsraum sehen“, meinte er mit zusammengekniffenen Augen und setzte sich neben uns auf den Strohballen. Ich konnte an Luciens Augen ablesen, dass er gerade mit irgendjemanden Ärger hatte. „Hast du dich gestritten?“, fragte ich ihn. „Du hast es erraten“, nickte er gequält, „Ich habe mich gerade zum dritten Mal heute mit Fintan in die Haare gekriegt und das wegen Kleinigkeiten“

 

In der kommenden Nacht dachte ich nach, wie es zwischen mir und Fintan weitergehen konnte. War es ganz aus oder gab es eventuell noch eine Chance? Noch nie stritten wir uns so heftig, wie nachmittags am See. Kleine Streitereien lösten wir sonst immer diplomatisch oder Fintan erwiderte etwas Ironisches, was mich wiederum zum Lachen brachte. Nach drei Uhr übermannte mich der Schlaf. Es war stockduster. Ich war mit Fintan im Wald, plötzlich wurde er immer schneller. Ich bekam Probleme mit ihm Schritt zu halten. „Fintan, warum läufst du vor mir weg?“, rief ich ihm hinterher. Er antwortete mir nicht und ich beschloss ihn zu verfolgen. Doch er war schneller als ich und schüttelte mich jedes Mal wie eine lästige Klette ab. Verdammt noch mal, ich wollte ihn einfach wieder haben! Mehr nicht! Schon bald war er aus meinem Sichtfeld verschwunden. Erschöpft ließ ich mich auf den feuchten Waldboden sinken und vergrub schluchzend mein Gesicht in den Händen. Ich hatte ihn verloren, so lautete das ernüchternde Ergebnis. „Emily!“, Rosy ruckelte an meiner Schulter. „Was?“, mit einem Schlag war ich hellwach. „Du hast den Wecker nicht gehört“, redete meine Freundin auf mich ein. Jetzt leuchtete es mir ein, dass ich nur schlecht geträumt haben konnte. „Komm jetzt, sonst sind wir zu spät“, drängte Rosy, „Oli ist bereits schon unten und frühstückt“ In Windeseile zog ich mich an und huschte in Windeseile die Treppe hinunter in den Gemeinschaftsraum.

 

Während des Frühstücks beobachtete ich abwechselnd Lucien und Fintan. Beide saßen an verschiedenen Tischen. Fintan war mit seinem Müsli beschäftigt und unterhielt sich nebenbei angeregt mit Lars. Lucien saß schweigend neben Mike und belegte sich eine Brötchenhälfte mit Salami. „Guckst du deinen beiden Liebhabern hinterher?“, flüsterte mir Oli zu. Ich wusste wie es gemeint war und streckte ihr nur die Zunge raus. „Weißt du, ich habe gerade mit Lars Schluss gemacht“, fügte sie hinzu. „Was?“, ich riss vor Überraschung weit die Augen auf. „Kurz und schmerzlos“, meinte Oli. „Jetzt ist es aus mit unserem skandinavischen Traumpaar“, meinte Greta nur.

 

Aha, jetzt wusste ich offenbar worüber Lars mit Fintan redete. Obwohl Lars und Fintan in verschiedene Klassen gingen, waren sie dennoch immer noch beste Kumpels. Oli machte aus der Trennung keinen großen Hehl. „Für mich wäre die Welt zusammen gebrochen, wenn ich mit so mit meinem Freund Schluss gemacht hätte. Ich könnte gar nicht mit Shane auf diese Weise Schluss machen“, meinte Sandrina und schaute Oli schockiert an. „Es war abzusehen, dass sie sich trennen. Am Ende passte die Chemie zwischen ihnen nicht mehr“, mischte sich Greta ein. Anhand ihres verborgenen Lächelns, merkte ich ganz deutlich, dass sie sich nun bei Lars eine Chance erhoffte. Doch Oli schien es nicht zu merken oder sie wollte es nicht merken. „Wie läuft eigentlich zwischen dir und Fintan?“, erkundigte sich Greta. Ich zuckte nur mit der Schulter.

 

Warum musste sie dieses Thema ausgerechnet jetzt ansprechen? Dabei bekam bestimmt der ganze Jahrgang mit, dass wir uns am See gefetzt hatten. „Ich hoffe Mademoiselle bringt heute nicht unsere verkorksten Arbeiten mit“, brachte uns Rosy auf ein anderes Thema. „Unsere Arbeiten hat sie uns gestern schon wiedergegeben“, sagte Greta, „Aber so schlimm war es nicht, wenigstens keine Fünf oder Sechs“ „Ich habe trotzdem das Gefühl, dass es nur eine Drei geworden ist“, maulte Rosy. „Ich wäre froh, wenn ich eine Drei geschrieben hätte“, mischte sich May ein. „Hey, wollen wir nicht langsam gehen?“, rief Alison. „Oh, verdammt die erste Stunde beginnt in zwei Minuten“, merkte ich mit einem Blick auf die Uhr. Zusammen mit meinen Freundinnen lief ich den Kieselweg entlang, der auf das große alte Schulgebäude zulief.

 

Nachmittags wollten Greta, May und Sandrina mit mir eine Partie Tischtennis spielen, doch mir fiel ein, dass ich noch meine Englischhausaufgaben machen musste. Als ich die Tür zu meinem Zimmer öffnete entdeckte ich zuerst Fintan, der mit nacktem Oberkörper auf meinem Bett hockte und dann Oli, die neben ihm stand. Im ersten Moment stiegen in mir dunkle Gedanken auf. Was machte meine beste Freundin nur mit meinem „Noch-Freund“? Beim zweiten Hinschauen sah ich, dass Oli ihm etwas auf die Schulter malte. „Emily?“, Oli fiel vor Schreck fast der Edding aus der Hand. „Darf ich fragen, was ihr zu weit macht?“, ich sah beide mit meinem strengsten Blick an. „Finn will sich vielleicht ein Tattoo mit deinem Namen stechen lassen und ich soll ihm aufmalen, wie es am besten aussieht“, lautete Olis Erklärungsversuch. Ich musterte Fintan genauer, mein Name stand bereits auf seinem Rücken und auf seinem Bauch. „Ich glaube, auf der Schulter sieht es noch am besten aus“, sagte er zu Oli und betrachtete seine bemalte Schulter zufrieden im Spiegel. Mein Blick war an seinem durchtrainierten Körper gefesselt und diesmal spürte ich die Schmetterlinge noch viel heftiger in meinem Bauch als sonst. Jetzt war klar, ich gehörte zu ihm. Oli beschloss uns alleine zu lassen. „Ich wollte mit dir die ganze Zeit schon reden“, begann Fintan und strich sich mit der linken Hand durch seine gestylten dunkelblonden Haare, die zu einem Hahnenkamm aufgestellt waren. Ich spürte innerlich, wie ein Stein vor Erleichterung vom Herzen fiel.

 

„Ich will dir noch eine Chance geben“, flüsterte er beinahe schon und drückte mich an sich, „Du bist ein einzigartiges Mädchen, gerade deswegen liebe ich dich“ Ich ließ meinen Kopf auf seine Schulter sinken und strich ihm mit meinem Zeigefinger über seine Wirbelsäule. Erst nach einer Weile beschloss ich von meinem nächtlichen Traum zu erzählen. „Nein, ich würde niemals vor dir weglaufen und schon gar nicht nachts im Wald“, lachte er und wurde sofort wieder ernsthaft, „Ich kann über die Sache mit Lucien hinwegsehen. Mom meint, das man jedem Menschen, der es verdient hat, eine zweite Chance lassen soll. Du bist einer dieser Menschen. Ich liebe dich nicht erst seid gestern. Im Mai sind wir genau ein Jahr zusammen“ „Hast du den gestrigen Streit deiner Mutter erzählt?“, fragte ich ihn. „Ja, warum? Hast du etwas dagegen? Sie kann mir oft sehr gute Tipps geben und darauf ist immer Verlass. Sie meint, dass wir beide gut zusammen passen. Meine beiden vorigen Freundinnen waren aufgebrezelte Tussen, die Mom nicht besonders sympathisch fand“, erwiderte er. „Nein, natürlich habe ich nichts dagegen, dass du mit deiner Mom darüber sprichst“, stellte ich richtig, „Nur, ich weiß nicht, ob ich einfach so mit meinem Dad darüber sprechen könnte“ „Hast du etwa kein Vertrauen zu ihm?“, Fintan sah mich ungläubig an. „Quatsch, natürlich habe ich Vertrauen zu ihm, aber ich erzähle ihm halt nicht alles. Ich kann über manche Dinge einfach nicht sprechen, weil sie zu sehr wehtun“, begründete ich.

 

Nach einer Weile fragte ich ihn, ob er heute Morgen mit Lars über die Trennung mit Oli gesprochen hatte. „Aber Lars hat wieder eine Neue“, sagte er nur. „Wahrscheinlich Greta oder?“, sagte ich sofort. „Wow, woher weißt du das denn? Haben dir Lars und Greta etwa auch schon davon erzählt?“, entfuhr es ihm überrascht. „Nein, aber das hat gestern eindeutig gesehen. Lars hat Greta zu gewunken und dann sie sind zu zweit Schlittschuh gelaufen“, erwiderte ich. „Soweit ich weiß, ist er seit einigen Wochen heimlich mit Greta zusammen. Mit Oli hat es seit längerem nicht mehr richtig geklappt. Lars meint, es hätte ständig zwischen ihnen geknallt“, meinte er. „Oh je, arme Oli!“, seufzte ich, „Das ist wirklich ein gemeines Spiel“ „Hoffentlich leidet sie darunter nicht so“, murmelte er mitleidig. „Ach Quatsch, hast du Oli jemals richtig leidend gesehen“, entgegnete ich ihm. Nachdem ich kurz nachgedacht habe, fiel mir ein, dass es nicht ganz stimmte. Damals als wir vor vier oder fünf Monaten in Berlin waren, litt sie stark unter Eifersucht, da sich Lars blendend mit Sabrina verstanden hatte. Mein Wecker zeigte fünf Minuten vor sieben Uhr an. Wir mussten hinunter in den Gemeinschaftsraum, denn es gab Abendessen und die Hausmutter konnte ziemlich unangenehm werden, wir nicht pünktlich waren. Fintan setzte sich mit mir und meinen Freundinnen an einen Tisch.

 

„Habt ihr euch vertragen?“, lächelte uns Oli zu. „Sieht wohl so aus“, nickte Fintan. Lars näherte sich uns von hinten und stützte auf die Lehne von Fintans Stuhl. „Habt ihr Lust gleich mit uns ein Pärchenturnier Tischtennis zu spielen?“, fragte er, „Wir brauchen noch einige Pärchen mehr, bis jetzt spielen nur Greta und ich, Rosy und Tom und vielleicht machen auch Tiago und Francis mit“ Fintan und ich waren von der Idee begeistert, doch Oli hatte keine Lust. Wahrscheinlich ging ihr die Trennung mit Lars doch näher als ich dachte. „Ich werde nach dem Essen in unser Zimmer gehen und mein Buch weiter lesen“, sagte sie. Es fanden sich sechs Pärchen im Hobbyraum zusammen. Alex und Alison entschieden sich im letzten Moment dazu mitzuspielen. Es wurde an zwei Platten parallel gespielt, während zwei Paare pausierten. Zuerst durften Alison, Alex, Fintan und ich Pause machen. Alex holte vier Gläser und eine Flasche Cola. Die alte Couch knarrte, als wir uns zu viert niederließen. „Hoffentlich fliegen uns gleich nicht die Sprungfedern um die Ohren“, scherzte Fintan. Ich musste unwillkürlich heftig kichern.

 

„Hey, ihr Faulpelze! Ihr seid jetzt an der Reihe“, rief uns Tiago zu, „Fintan und Emily müssen jetzt gegen Lars und Greta spielen“ Lars zwinkerte uns siegesgewiss zu. „So leicht werdet ihr mit uns auch nicht fertig“, prophezeite ihm Fintan und führte den ersten Schlag aus. Ich musste ziemlich ackern, denn ständig flogen die Bälle mit einer ungeheuren Geschwindigkeit in meine Richtung. Wir hielten erfolgreich gegen Gretas und Lars angriffslustige Spielweise gegenhalten und führten, da Fintan immer wieder kleine Unsicherheiten zwischen ihnen ausnutzen konnten. Am Ende gewannen wir das Spiel knapp. Mir war heiß, sodass ich meinen Pullover ausziehen musste. „Mögt ihr auch eine Stärkung?“, fragte Francis und bot uns welche von ihren Schokoladencookies an. Dankbar nahmen wir uns einen Keks aus der Dose und setzten uns neben sie auf die Couch.

 

Im Finale mussten wir uns knapp gegen Rosy und Tom geschlagen geben. Niemand rechnete damit, dass die kleine Rosy dermaßen flink und angriffslustig sein konnte. Fintan gab mir kurz bevor ich in mein Zimmer ging einen Kuss auf die Wange. „Ich liebe dich, egal was zuletzt vorgefallen ist, Mäuschen. Gute Nacht!“, flüsterte er mir leise zu und machte sich auf den Weg in sein Zimmer. Ich begleitete ihn ein Stück und bog einen Flur früher ab. Entgegen meines Erwartens hockte May neben Oli. Beide nickten mir stumm zu, als ich das Zimmer betrat. „Und hat es Spaß gemacht?“, fragte Oli nach einer Weile und schaute zu mir auf. „Auf jeden Fall, aber Lars und Greta haben nur den dritten Platz gemacht und wir haben im Finale knapp gegen Rosy und Tom verloren“, rutschte es aus mir heraus. Olis Augen verengten sich zu Schlitzen. „Kaum mache ich mit Lars Schluss, dann kommt diese blöde Pute und grabscht sich ihn“, zischte sie. Einen Moment lang war ich mir unschlüssig, ob ich ihr erzählten sollte, dass Lars und Greta schon einige Wochen vorher heimlich zusammen waren. Schnell verwarf ich den Gedanken wieder, auf gar keinen Fall wollte ich noch mehr Öl ins Feuer gießen und die Freundschaft zwischen Oli und Greta komplett zerstören. 

7. Aus und vorbei

Da ich mitten in der Woche Geburtstag hatte, plante ich meinen Geburtstag am kommenden Samstag mit meinen besten Freundinnen im Cafe zu feiern. Eigentlich wollte ich meinen Geburtstag nicht groß feiern, aber meine Freundinnen lagen mir in den Ohren, dass ich meinen achtzehnten Geburtstag unbedingt groß feiern musste. Ich gab nach und fand die Idee von einer großen Party im Endeffekt doch toll. „Man wird im Leben nur einmal volljährig“, sagte Oli immer. Anfangs bezog ich nur Oli, Rosy, Isa und Alison in meine Pläne ein. „Wenn wir mehr als zehn Personen sind, ist euer Zimmer zu klein“, meinte Alison. „Wen willst du denn alles einladen? Doch nicht den ganzen Jahrgang oder?“, wollte ihre jüngere Schwester wissen. „Ich glaube, wenn Arabella und ihre Freundinnen einladen, hätten wir ne ziemliche Tussenfete“, erwiderte Alison.

 

„Noch besser, wenn sie dabei wären, können wir als Motto gleich pink-dressed oder Heighheel-Style nehmen und dazu noch Paris Hilton einladen“, spottete Oli und die Burton-Schwestern brachen in ein lautes Gelächter aus. „Natürlich werde ich nur bestimmte Leute, mit denen ich befreundet bin oder öfter etwas zu tun haben, einladen“, unterbrach ich die Frotzeleien meiner Freundinnen. „Wie viele wären es dann? Kannst du mir die Personen aufzählen?“, bat Rosy, die sich mit einem Zettel und einem Bleistift bewaffnet hatte. Ingesamt kam ich auf vierzehn Mitschüler, die ich einladen und vergaß beinahe meine Cousine. Rosy setzte Priscillas Namen mit auf die Gästeliste. „Ich habe eine Idee“, Isa sprang von Olis Bett auf. Gebannt starrten vier Augenpaare in ihre Richtung. „Los, rück endlich mit deinem Geheimnis raus!“, drängte Oli und schien vor Neugierde fast zu platzen.

 

„Wir könnten doch im Gemeinschaftsraum feiern“, fuhr Isa fort. „Hört sich gar nicht schlecht an“, fand Alison. „Aber ist der Gemeinschaftsraum über die Nacht nicht abgeschlossen?“, äußerte Rosy erste Bedenken. „Nein, ich weiß aus eigener Erfahrung, dass niemand den Gemeinschaftsraum abschließt“, schüttelte Isa den Kopf. „Warum spukst du nachts wie ein Gespenst im Gemeinschaftsraum rum?“, fragte Oli ihre Freundin mit großen Augen. „Ich habe nachts öfter im Gemeinschaftsraum gesessen und gelernt, wenn ich nicht schlafen konnte. Das war dort so wunderbar ruhig, wenn außer mir niemand da war“, erzählte Isa. „Wenn ich mich nicht täusche, fährt die Hausmutter am Samstagabend zu ihrer kranken Schwester und bleibt dort über Nacht“, sagte Alison plötzlich. „Was? Woher weißt du das? Das wäre genial, wenn wir sturmfreie Bude hätten?“, Oli sprang jubelnd auf und tanzte durch das Zimmer. „Ich habe es nur vorhin mitbekommen, weil die Hausmutter sich mit der Köchin unterhalten hat. Der Hausmeister soll stattdessen für uns da sein, falls es irgendetwas passiert“, antwortete Alison. „Aber er schläft doch nicht in unserem Haus?“, fragte Rosy. „Davon gehe ich nicht aus“, schüttelte Alison den Kopf.

 

„Sturmfreie Bude, sturmfreie Bude, sturmfreie Bude!“, sang Oli währenddessen und hüpfte auf und ab. „Hey, jetzt ist die Hausmutter noch da. Wenn du nicht sofort auf der Stell aufhörst zu hüpfen, glaubte die Alte, dass gerade ein Erdbeben stattfindet und dann kriegen wir wohlmöglich einen Rieseneinlauf“, ermahnte Rosy sie. Bei diesem Gedanken bekamen wir einen heftigen Kicheranfall. An meinem eigentlichen Geburtstag rief ich bei der Konditorei in der Stadt an und bestellte mir eine große Himbeer-Sahnetorte, die ich über alles liebte. Dad und meine übrigen Verwandten hatten mir neben Päckchen und Postkarten, noch Geld geschickt. Samstagabend nach dem Mittagessen sammelten wir die Speisen und Getränke, die meine Freunde mitgebracht hatten, in meinem Zimmer. Um neun Uhr schickten wir Lars und Fintan vor, die nachschauen sollten, ob noch eine Person war. „Emily, du bleibst hier, bis wir dich gleich holen werden“, bestimmte Oli und verband mir die Augen. „Was soll das?“, protestierte ich.

 

„Überraschung!“, riefen Sandrina, Greta und sie im Chor. „Na gut!“, brummte ich und kuschelte mich in meine Bettdecke. Die Tür wurde aufgestoßen, nach und nach hörte ich, wie sich die Schritte meiner Freunde entfernten. Mir kam die Zeit alleine in meinem Zimmer endlos lang vor. Nach einer gefühlten halben Stunde, hörte ich, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde. „Kann ich endlich die Augenbinde abnehmen?“, murmelte ich. „Nein, erst wenn du unten im Gemeinschaftsraum bist“, vernahm ich Fintans Stimme. „Es wäre auch zu schade, wenn die Überraschung keine Überraschung mehr wäre“, säuselte Oli. Oli und Fintan nahmen meine Hände und führten mich die Treppe hinunter. Im Gemeinschaftsraum war es mucksmäuschenstill. Bestimmt war noch niemand da. „Setz dich hin!“, raunte mir Oli zu und nahm mir die Augenbinde ab. Nur einige Kerzen erhellten den Raum und tauchten ihn in ein goldiges Licht. Ein lautes „Happy Birthday“ aus etwa fünfzehn Kehlen erklang. Ich bekam eine Gänsehaut und strahlte über das ganze Gesicht.

 

Nach und nach überreichten mir meine Freunde ihre Geschenke, die ich erst nach der Party auspacken wollte. „Let the Party start!“, rief Lucien und spielte einen meiner Lieblingssongs, die ständig im Radio liefen. Oli, Greta und Lars schoben ein paar Tische zur Seite, um Platz für eine kleine Tanzfläche zu schaffen. Während die Meisten sich auf das Sofa und die herumstehenden Stühle setzten, rockten Greta, Lars, Sandrina und Shane die Tanzfläche. „Komm her, Geburtstagkind! Auf die Tanzfläche mit dir!“, rief Sandrina und zog mich am Handgelenk hinter sich her. Greta zog in der Zwischenzeit Oli und Rosy herbei. „Können wir ein Lied auflegen, zudem man richtig tanzen kann?“, brüllte Patrick gegen die Lautstärke an. Luciens legte House Musik auf, die Tanzfläche wurde voller und Tiago tanzte zur unserer Belustigung auf einem Tische. Alex holte sein Handy aus der Hosentasche und filmte das Szenario.

 

„Vorsichtig, der Tisch wackelt!“, schrie Rosy panisch. „Ach was, das bildest dir nur ein“, entgegnete er ihr. „Tiago, Rosy hat Recht!“, rief nun auch Fintan warnend, „Der Tisch wackelt wirklich und wenn du noch länger darauf herumturnst, kracht er sicherlich zusammen“ Mit Anlauf sprang Tiago auf den Boden und verfehlte May haarscharf. „Was habt ihr ihm um Himmels Willen gegeben?“, raunte Greta. „Hat Patrick seine Drohung war gemacht und wirklich sein Wodka- und Alkoholzeugs mitgebracht?“, fragte Shane ungläubig. „Sieht wohl so aus“, nickte Lars, „Seht mal, dort hinten haben Patrick und er seine kleine Saufbar mit Bier, Alkoholpops und Wodka aufgebaut“ „Wollt ihr auch einen mit mir einen Trinken?“, rief Tiago in die Menge. „Besser nicht und du bleibst besser an diesem Abend nüchtern“, riet ihm Alison. „Aber er ist schon lange nicht mehr nüchtern“, Shane sah sie stirnrunzelnd an. „Doch ich bin noch voll nüchtern“, lallte Tiago und legte seine Arme lässig um Isa und mich. Einige Jungs und Oli nahmen seine Aufforderung zum Trinken an.

 

Patrick löste Lucien am Laptop ab, damit dieser sich ein Bier gönnen konnte. „Sind wir nicht zu laut?“, Rosy warf mir einen zweifelnden Blick zu. „Wenn es so ist, ist auch egal. Schließlich wollen wir heute Abend Emilys Geburtstag feiern“, antwortete Tom für mich und forderte die kleine Rosy zum Tanz auf. „Vielleicht wird es zwischen den Beiden noch etwas werden“, flüsterte mir May ins Ohr. „Wer weiß? Vielleicht schon“, erwiderte ich. „Wollen wir nicht langsam deine leckere Torte anschneiden?“, fragte mich Greta und schob mich in Richtung des Tisches mit den ganzen Leckereien. „Nein, erst muss sie unseren selbstgebackenen Kuchen anschneiden“, rief Oli dazwischen. Ich schnappte mir ein Messer und schnitt beide Kuchen in mehrere kleinere Stücke. „Wer möchte?“, brüllte ich gegen die Lautstärke an. Sofort bildete sich eine lange Schlange hinter mir. Priscilla half mir den Kuchen unter die Leute zu bringen. Als jeder Partygast mit Kuchen versorgt war, blieben von meinen beiden Kuchen nur noch jämmerliche Überreste übrig. Stattdessen wurde sich jetzt auf das Büffet mit Süßigkeiten, Chips und anderen Leckereien gestürzt.

 

„Wollen wir eine Runde tanzen?“, Lucien legte mir von hinten seine Hand auf die Schulter. „Gerne!“, lächelte ich und stellte meine halbleere Bierflasche zur Seite. Zu zweit bewegten wir uns im Rhythmus der Musik. Ich fühlte mich federleicht, doch das kam dadurch dass ich schon etwas getrunken hatte. Patrick legte ein anderes viel fetzigeres Lied auf, diesmal hüpften wir zum Beat. „Emily, komm her!“, May zog mich hektisch am Arm. Ich verharrte in meiner Bewegung. „Was ist passiert?“, fragte ich sie. „Tiago hat gekotzt“, rief einer der Jungen. „Oh nein!“, stöhnte ich. „Keine Panik, er hat nur in den Mülleimer gereihert“, gab Lars Entwarnung. „Trotzdem, wir müssen ihn sofort ins Bett bringen“, befahl Greta. Patrick, der gerade für die Musik zuständig war, stand auf und führte seinen Freund und Zimmernachbarn aus dem Raum.

 

Tom stand auf und kippte den Mülleimer draußen vor der Haustür aus. Nun setzte sich Lucien wieder hinter den Laptop. Ich schaute in Fintans Richtung. Er becherte mit Shane und Alex ein Gemisch aus Wodka und Cola um die Wette. „Hoffentlich setzt er das Saufgelage nicht fort“, dachte ich innerlich. Im Gegensatz zu Tiago schien er nicht angetrunken zu sein, da er vermutlich mehr vertrug als sein Kumpel. Nach einer Weile tauchte Patrick wieder auf und löste Lucien ab. Wir verzogen uns zu zweit wieder auf die Tanzfläche und tanzten mit noch mehr Körperkontakt als vorher. Wir verschmolzen förmlich ineinander. „Emily und Lucien, das neue Paar!“, jubilierte Shane angetrunken und stellte sich klatschend neben uns. Musste dieser Idiot dies so laut aussprechen? Im nächsten Moment drückte mir Lucien einen dicken Kuss auf die Lippen.

 

Jetzt stand auch Fintan wie ein drohender Donnergott neben uns und hatte seine Hände in die Seiten gestemmt. Aus seinen Augen schossen zornige Funken. „Es ist aus und vorbei!“, begann er mit lauter und betonter Stimme, „Du hast mich eindeutig mit diesem Idioten betrogen. Ich hätte nie gedacht, dass du so ein Flittchen bist! Auf wieder sehen, es war schön mit dir!“ Mit hastigen Schritten lief er in Richtung Tür und warf sie mit einem lauten Knall zu. Geschockt und mit käsebleichem Gesicht blieb ich in der Mitte des Raumes stehen, nachdem mir Fintan diese Worte an den Kopf geworfen hatte. Patrick stoppte die Musik und mir wurde schwindelig, als ich die durchbohrenden Blicke meiner Freunde bemerkte. Es dauerte einen Moment, bis wieder zu mir kam. „Ich kann verstehen, dass du verletzt bist. Es war nicht gerade freundlich, was Fintan zu dir gesagt hat“, tröstete mich Sandrina und umarmte mich. „Ich muss raus“, presste ich aus mir heraus und spürte, wie die Tränen in meinen Augen brannten. „Wo willst du auf die Schnelle hin, Emily?“, rief mir Lucien hinterher. „Ich muss eben ganz dringend zur Toilette“, log ich und schob ihn zur Seite. Ich nahm meine Beine in die Hand, als wäre ich ein Kaninchen, welches auf der Flucht vor dem Jäger war. Mein Hockeytrainer hätte es bestimmt gefallen, mich in diesem Tempo sprinten zu sehen. Dabei behauptete er manchmal, ich wäre zu langsam.

 

Mitten im Lauf stolperte ich über eine Teppichkante und schlug lang hin. Mist, ich hatte vergessen das Licht anzumachen! „Fintan, warte auf mich!“, rief ich schluchzend. Langsam rappelte ich mich auf und tappte weiter über den dunklen Flur. Mein Alptraum, den ich vor ein paar Wochen hatte, war nun Wirklichkeit. „Emily!“, hörte ich mehrere Stimmen hinter mir rufen. Das Licht wurde angemacht. Sandrina, Rosy, Priscilla und Alex tauchten hinter mir auf. Erschrocken zuckte ich zusammen und lief beinahe gegen die Wand. Meine Freunde sahen mich sprachlos an, bis Rosy mich spontan umarmte.

 

„Es ist unglaublich gemein, dich vor deinen ganzen Freunden als Flittchen zu bezeichnen und dich somit bloßstellt. Lucien hat dich geküsst und nicht andersrum, das hat wohl jeder gesehen“, ereiferte sich Priscilla. „Ich weiß“, rief ich mit tränenerstickter Stimme, „Aber das ändert auch nichts mehr daran, es ist aus und vorbei“ „Ganz ruhig, wir kriegen es schon wieder hin“, Alex legte mir beruhigend seine Hand auf die Schulter. „Ich muss sofort zu Fintan“, schnappte ich nach Luft. „Nein, das mache ich schon“, meinte Alex. „Es wird nie wieder so werden, wie es war“, heulte ich los. „Du kennst Fintan genauso gut wie ich oder?“, Alex sah mich eindringlich mit seinen dunklen Augen an, „Wie du weißt, wird er schnell sauer, aber dafür beruhigt er sich wieder schnell. Glaubt ihr, dass er sich gerade nicht verletzt fühlte? Ich gehe ihn jetzt suchen und ihr geht wieder zurück“

 

Rosy, Sandrina, Priscilla und ich schlenderten zurück in den Gemeinschaftsraum. „Was ist los? Wieso weinst du?“, besorgt trat Lucien an mich heran. „Ich habe zu viel getrunken, mir ist total schlecht“, log ich und schluchzte erneut auf. „Am besten gehen wir an die frische Luft, das hilft am besten“, aufmunternd legte er seinen Arm um mich. Draußen setzten wir uns auf eine Bank. „Fintan, Lucien, Fintan, Lucien, Fintan, Lucien…“, mein Gedankenkarussell drehte mich gerade schwindelig. Da es sehr frisch war, fing ich an vor Kälte zu zittern. Ich setzte mich auf Luciens Schoß und lies mich wärmen. „Ich liebe dich, egal was Fintan und die Anderen darüber denken“, flüsterte er mir zu und küsste mich. Ich küsste ihn zurück, worauf er mich noch einmal küsste. Seine warmen sanften Küsse wirkten wie Balsam auf meine verwundete Seele. Zumindest hatte ich ihn noch nicht verloren.

 

Einen Moment später hörten wir Jemand in unserer Nähe würgen und entsetzlich röcheln. Ich erkannte eine weibliche Silhouette im Halbdunkeln, die sich in die Rabatten übergab. „Emily, komm eben bitte. Oli geht’s schlecht“, vernahm ich Toms tiefe Stimme. Ich stand auf und schwankte leicht, sodass mich Lucien am rechten Arm festhielt. „Oli hat wohl zu viel getrunken“, jammerte Rosy, „Ich könnte denjenigen killen, der diesen ganzen Alkoholmist mitgebracht hat“ „Lass uns das machen, Emily geht es offensichtlich auch nicht gut“, wandte sich Alison an Lucien. Oli musste im nächsten Moment wieder reihern und kippte dabei nach vorne. Tom konnte noch im letzten Moment zugreifen und sie vor einem Sturz bewahren. „Rosy und ich bringen Oli ins Bett“, drehte sich Alison zu mir um. „Und wer bringt mich ins Bett?“, dachte ich insgeheim, denn plötzlich merkte ich, wie müde ich eigentlich war.

 

Kurz nachdem ich in meinem Bett lag, fiel ich in einen tiefen und traumlosen Schlaf. Betäubt wachte ich am nächsten Morgen auf. Es war schon halb elf. Rosy war schon wach und hockte an ihrem Schreibtisch. Vermutlich steckte ihre schlaue Nase wieder hinter einem Buch oder sie brütete über einer komplizierten Mathe- oder Physikhausaufgabe. Oli atmete ruhig und bewegte sich sonst nicht. Rosy schien nicht mitzubekommen, dass ich die Tür hinter mir schloss, so vertieft war sie in ihre Schularbeiten. Vielleicht hatte sie auch schon gefrühstückt, das konnte durchaus auch sein, denn sie war bekanntlich eine Frühaufsteherin. Da am Sonntag das Frühstücksbüffet bis halb zwölf stehen gelassen wurde, hatte ich noch genügend Zeit etwas zu essen. Ich spürte jeden Moment deutlicher, wie hungrig ich war. Gestern Abend hatte ich außer einem kleinen Stück Geburtstagskuchen nichts gegessen.

 

Als ich den Gemeinschaftsraum betrat, überraschte es mich, wie ordentlich es war. Es war keine Spur mehr von unserer nächtlichen Party zu sehen. Bestimmt hatten meine Freunde mitten in der Nacht Klarschiff gemacht, sonst hätte es bestimmt einen Riesenärger mit dem Hausmeister oder der Köchin gegeben. Fast niemand war anwesend, nur vereinzelt saßen ein paar meiner Mitschüler an den Tischen. Alex winkte mir zu. „Na, hast du gut geschlafen?“, fragte er mich. „Wie ein Stein“, nickte ich bestätigend und setzte mich mit meinem Tablett neben ihm. „Wahrscheinlich sind bei dir gestern bestimmt noch einige Tränen geflossen“, vermutete Alex, „Das war so bei Fintan, ich habe ihn zuvor noch nie so derbe flennen sehen“ „Wirklich?“, ich tat so, als wäre ich überrascht. Doch in Wirklichkeit hatte ich ihn schon zwei oder dreimal weinen gesehen. „Ist er schon wach?“, fragte ich ihn und merkte, wie ich herumdruckste.

 

„Nein, er schläft wie ein Toter“, verneinte Alex. „Genauso wie Oli, sie muss noch ihren Rausch ausschlafen“, auf einmal musste ich unwillkürlich grinsen. „Fintan saß total fertig auf seinem Bett, als ich gestern in unser Zimmer kam und war erstmal nicht ansprechbar. Er war die ganze Zeit am schniefen und hat sich dauernd die Nase geputzt. Ich wusste erstmal nicht, wie ich ihn trösten sollte“, fuhr er mit seiner Erzählung fort. „Ich weiß, ich möchte es wieder gut machen, aber ich weiß nicht wie. Langsam bin ich mit meinem Latein am Ende. Die Sache mit Lucien war so, dass…“, meine Stimme geriet ins Stocken und versagte vollends. Mein Mund klappte auf und zu, als wäre ich ein Fisch, der verzweifelt versuchte an Land zu atmen. „Steck doch nicht gleich den Kopf in den Sand“, meinte Alex. Kurz darauf tauchte Lucien auf und setzte sich zu uns. Sofort verstummte unser Gespräch über Fintan und unsere Beziehung. „Gut geschlafen?“, fragte Lucien uns beide. „Relativ gut“, nickte ich. „Einigermaßen okay“, erwiderte Alex und beschmierte sein Brötchen mit Butter. Es wirkte so, als würde er desinteressiert an Lucien vorbei schauen.

 

„Ich muss wohl eine miserabelste beste Freundin gewesen sein, die man sich vorstellen kann. Ich hätte dir unbedingt beistehen müssen als die Sache mit Fintan passierte, aber ich war so blöd und habe mit den Jungs ein Wetttrinken veranstaltet. Ich wollte einfach nur mal wieder männliche Aufmerksamkeit haben, seitdem es mit Lars vorbei ist. Ich hätte mich nicht in diesem Ausmaße betrinken dürfen“, jammerte Oli am späten Nachmittag, sie ihren Kater komplett auskuriert hatte. „Hättet ihr Lust auszureiten? Gerade scheint die Sonne“, May platzte ohne Vorwarnung in unser Zimmer. Oli und ich waren beide von der Idee angetan und zogen uns in Rekordtempo um. Im Stall trafen wir auf Fintan, der seine Stute striegelte.

 

Wahrscheinlich wollte er mit Felicitas auf der Rennbahn trainieren. „Schnell weg hier!“, zischte ich und machte Anstalten in die nächstgelegene freie Box zu flüchten. „Hey, bleib mal locker“, beruhigte mich Oli im Flüsterton. Wortlos gingen wir hinter seinem Rücken entlang. Nachdem wir unsere Pferde aufgezäumt und gesattelt hatten, ging es an den Wiesen und Felder vorbei. Die geraden Strecken ohne Hindernisse und Steigungen ritten wir im Galopp. Es gab nichts Schöneres als sich den Wind um die Nase wehen zu lassen und mit den besten Freundinnen draußen zu sein. „Wie geht es dir jetzt?“, erkundigte sich May nach dem Ausritt. „Schon viel besser“, strahlte ich. Zum ersten Mal an diesem Tag brachte ich ein richtiges und natürliches Lächeln über die Lippen. „Wahrscheinlich ist Freundschaft doch wichtiger als Liebe“, ging mir spontan durch den Kopf. 

8. Ein Drohbrief an Priscilla

Mit jedem Tag nahm die Wahrscheinlichkeit ab, dass Fintan und ich jemals wieder zusammen kommen würden. Mittlerweile waren wir so weit wie Stockholm und Sydney auseinander, obwohl wir immer noch das gleiche Internat besuchten. Zwar hatte ich schon öfter versucht mit ihm zu reden, doch jedes Mal wies er mich zurück oder ignorierte mich komplett. Zumindest hatte ich noch Lucien, dennoch war ich mir im Endeffekt nicht hundert Prozent sicher bei ihm. Zwar liebte ich ihn, doch ich fing jetzt schon an zu zweifeln, wie ich es bereits vorher bei Fintan getan habe. Diese Zweifel waren ein echt mieses Gefühl, deshalb war ich mir nicht ganz im Klaren, ob es zwischen mir und Lucien eine richtige Beziehung war. Knapp drei Wochen nach dem Ende der Beziehung zwischen Fintan und mir, kam Priscilla direkt nach der Schule zu mir.

 

Sie schien verängstigt, aufgelöst und wütend zugleich zu sein. „Weißt du was? Ich habe einen Drohbrief von Fintan bekommen?“, zischte sie gefährlich leise. „Einen Drohbrief? Aus welchem Grund?“, ich stutzte einen Moment lang. „Ja, er hat mir geschrieben, dass ich mich aus eurer Beziehungsgeschichte heraus halten soll und euch nicht nachspionieren soll. Das größte ist, dass er mir Schläge androht“, regte sich meine Cousine auf. „Fintan schreibt dir einen ziemlichen Schrott, das muss ich schon sagen. Die Beziehung läuft nicht mehr und ich weiß auf jeden Fall, dass du nicht in unsere Beziehungsprobleme eingemischt hast“, fand ich meine Sprache wieder. „Bitte helfe mir!“, die Stimme meiner Cousine kippte ins Ängstliche, „Ich habe ehrlich gesagt ein wenig Angst vor ihm, deswegen mag ich nicht mit ihm reden“ „Ich werde das für dich tun“, versprach ich ihr, „Doch zuerst will ich den Brief sehen“

 

In Priscillas Zimmer saßen bereits Dylan und Jennifer an ihren Schreibtischen. Priscilla kramte in ihrer Nachttischschubblade und händigte mir den Drohbrief aus. Ich musste den Brief dreimal lesen. Je öfter ich Fintans Worte las, desto mehr staute sich die Wut in mir auf. „Ihm war es zuzutrauen, er war in der letzten Zeit sowieso ein ziemliches Arschloch“, dachte ich bei mir. „Was soll ich nur tun?“, fing meine Cousine an zu jammern, „Ich habe mit ihm nichts zu tun gehabt. Wenn er mich das nächste Mal sieht, wird er mich vermöbeln“ „Quatsch, so weit wird es nicht kommen“, schüttelte ich den Kopf. „Wie kann dieser Typ nur so etwas Mieses tun?“, erzürnte sich Dylan. „Wer ist denn dieser Fintan, von dem ihr die ganze Zeit redet?“, Jennifer schaute zum ersten Mal von ihren Hausaufgaben auf.

 

„Ein Junge aus Emilys Klasse, mit dem sie einige Zeit lang zusammen war“, klärte Priscilla ihre Zimmergenossin auf. „Ach, jetzt weiß ich, wen ihr meint. Ist nicht dieser schlanke, etwas größere Typ mit dem hübschen Gesicht, auf den so einige Mädels stehen“, erinnerte sich Jennifer. „Genau der“, antworteten Priscilla und ich gleichzeitig. Ich ließ die drei Mädchen alleine. Ich wusste genau, wohin ich gehen wollte. In mir tobte die Wut dermaßen, dass ich davon Magenschmerzen bekam. Was dachte sich Fintan nur? Gleich würde ich ihm nach seinem Training abfangen und mit ihm ein ernstes Wörtchen reden, schwor ich mir. Mir kam es so vor als hätte sich mein Traumboy in einen richtigen Vollpfosten verwandelt und das innerhalb kürzester Zeit. Die Fußballmannschaft trainierte auf dem hinteren Sportplatz. Der Trainer scheuchte seine Spieler hin und her und ließ sie dabei merkwürdig aussehende Übungen machen. Es sah so merkwürdig aus, dass ich leise kichern musste. Einen Augenblick später wurden Standardsituationen geübt. Ich hatte Fintan, aber auch Lucien gut im Blick, obwohl ich zwischendrin gelangweilt auf mein Handy schaute.

 

Während ich Lucien wohl gesonnene Blicke zuwarf, hatte ich mit Fintan eine dicke Rechnung offen. „Wenn der nur wüsste, was ihn gleich erwarten wird?“, dachte ich zynisch. Sein kurz geschnittenes Haar hatte in der Sonne einen goldigen Glanz. Leichtfüßig umkurvte er einen Gegenspieler und nahm den Ball geschickt mit. Einen Moment lang war ich mir unsicher, ob ich in ihn verliebt oder sauer auf ihn war. Schließlich überwog mein Ärger und beschloss all das Schöne an ihm auszublenden, obwohl es mir zugeben schwer fiel. Gerade konzentrierten sich die Spieler auf ein Trainingsspiel. Der Trainer rief seinen Spielern pausenlos Befehle zu. Einige Spieler wirkten beunruhigt und machten wiederholt Fehler im Spielaufbau. „Wenn ihr so spielt, müsst ihr euch nicht wundern, wieso ihr bei Spielen mindestens zwei Gegentore kassiert“, ärgerte sich der Trainer. Mir kam das Trainingsspiel endlos lange vor. Mir juckte es sekündlich mehr in den Fingern, ihn meine Meinung zu geigen. Endlich hörte ich den lang ersehnten Schlusspfiff, doch die Spieler mussten erst noch die Tore abbauen, bevor sie in die Kabinen verschwinden durften.

 

Schnurstracks lief ich Fintan zu, der ein paar Worte mit Mariuz wechselte. Ich stellte mich ihm mitten in den Weg, sodass er weder rechts noch links an mir vorbei konnte. „Was fällt dir ein meiner Cousine einen Drohbrief zu schreiben und einen totalen Blödsinn zu behaupten, dass sich Priscilla angeblich in unsere Beziehung eingemischt haben soll“, blaffte ich ihn an. „Wie bitte? Was soll ich deiner Cousine geschrieben haben?“, Fintan sah mich mit großen Augen an. Offenbar wusste er nichts von einem Drohbrief, der an Priscilla gerichtet war. „Lüg mich nicht an!“, herrschte ich ihn an. Mensch, wie ich es hasste, wenn er einen auf unschuldig machte! „Wovon redest du?“, langsam wurde er ebenfalls wütend und versuchte sich an mir vorbei zu drängeln. Ich baute mich direkt vor ihm auf. Mein Blick wanderte von den Haarspitzen seiner verschwitzten Haare über seine drahtigen Beine bis zu seinen neonorangen Fußballschuhen.

 

„Lass mich gefälligst durch!“, funkelte er mich an. „Nein, erst wenn du begründest, wieso du ihr diesen Brief geschrieben hast“, blieb ich hart. „Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich das nicht getan habe?“, schrie er mich unmittelbar an. „Hör auf die Wahrheit zu verschweigen und auf unschuldig zu tun“, brüllte ich zurück. Im Eifer des Gefechtes fiel mir nicht auf, dass sich ein Zuschauerring um uns gebildet hatte. „Wie armselig ist es, einem Mädchen einen Drohbrief zu schreiben, welches du noch nicht einmal richtig kennst“, mischte sich Lucien ein und stellte sich breitbeinig vor Fintan auf. „Halt deine Klappe! Du hast dich nicht in Angelegenheiten anderer Leute einzumischen“, fuhr Fintan seinen Kontrahenten an. „Warum soll ich mich nicht einmischen, wenn du Anderen Unrecht antust?“, erwiderte Lucien spitz. Fintan geriet vor Zorn außer sich und packte Lucien an den Schultern. „Keine Schlägerei, sonst werdet ihr für das kommende Spiel aus dem Kader gestrichen!“, ging Jeremy dazwischen und versuchte vergeblich die beiden Streithähne zu trennen. „Ruhig Brauner!“, Lars legte seine Hand auf Fintans Schulter.

 

„Wie soll ich nur ruhig bleiben, wenn man mir Dinge unterstellt, die ich nicht getan habe!“, explodierte er und drückte Lars von sich weg. „Bist du völlig übergeschnappt?“, rief Lars verärgert. „Hey hey, was geht hier vor?“, mischte sich Shane ein. „Diese alte Bitch behauptet, ich hätte ihrer Cousine einen Drohbrief geschrieben“, regte sich Fintan auf und zeigte mit dem nackten Finger auf mich. „Bezeichne Emily noch einmal aus Bitch und ich schlage dir die Zähne aus“, sagte Lucien kühl. „Droh mir nur, wenn du mich versohlen willst, kannst du es gerne tun“, erwiderte Fintan herablassend und fügte im sarkastischen Unterton hinzu, „Aber dann kannst du dich auf ein paar Jahre hinter Gitter gefasst machen“ „Was ist eigentlich los? Ich versteh nicht einmal die Hälfte“, wandte sich Alex an mich. „Priscilla hat heute Mittag einen Drohbrief von Fintan bekommen. Er warf ihr vor, dass sie sich in unsere Beziehung eingemischt habe und drohte ihr Schläge an“, erzählte ich ihm. „Wirklich? Ich glaube eher nicht, dass Fintan so etwas tut und wenn er es wirklich getan hat, ist er ein ziemlich dreistes Arschloch“, meinte er und fügte hinzu, „Weißt du, wo deine Cousine den Brief gefunden hat?“ „Nein, das kann ich dir leider nicht sagen“, schüttelte ich den Kopf.

 

Als ich mich umdrehte, hagelte es Schimpfwörter und wirre Anschuldigungen. Fintan trat Lucien vors Schienbein, dieser wiederum wehrte sich mit einer heftigen Ohrfeige. Es dauerte nicht lange und die Jungs prügelten sich. „Fintan, hör auf mit diesem Scheiß!“, rief Lars und versuchte seinen besten Kumpel fortzuziehen, worauf er sich einen Schlag auf die Nase einfing. „Alles okay, Lars?“, fragte Emil besorgt. Lars hielt sich seine blutende Nase und nickte tapfer. „Hast du noch alle Tassen im Schrank?“, fuhr Patrick Fintan von der Seite an. Alex legte Fintan und Lars die Hände auf die Schultern, um eine weitere Eskalation zu vermeiden. „Hört auf euch zu streiten und zu prügeln!“, mischte sich Jeremy erneut an und wandte sich mit einem grimmigen Blick an Fintan. „Du kannst dich darauf gefasst machen, dass du Samstag bei dem Spiel nicht dabei bist“, knurrte er. „Na und? Dann spiele ich eben nicht“, zuckte Fintan gleichgültig die Schulter und ging mit hängendem Kopf alleine fort. „Bei ihm ist eine Sicherung durchgebrannt“, bemerkte Lars trocken. „Allerdings, er hat sie nicht mehr alle“, bestätigte Lucien mit einem Nicken. „Hey, hört auf diesen Streit breitzutreten. Wir sind immerhin noch eine Mannschaft und haben Samstag ein wichtiges Spiel“, ermahnte Jeremy seine Mitspieler streng. 

9. Eine Reihe verschwundener Gegenstände und noch mehr Anschuldigungen

„Hast du mein Französischwörterbuch gesehen?“, wandte ich mich an Oli und durchwühlte hastig meine Tasche. „Ich habe es nicht eingesteckt“, schüttelte sie den Kopf. „Verdammt!“, zischte ich. Warum musste sich mein Wörterbuch kurz vor einer Klausur in Luft auflösen? „Hast du es vielleicht in deinem Fach liegen lassen?“, Sandrina beugte sich zu uns rüber. „Kann auch sein“, vermutete ich und lief zu meinem Bücherfach. Ich schaute meinen Bücherstapel nicht nur einmal oder zweimal, sondern bestimmt fünfmal durch. Doch mein Wörterbuch fand sich dennoch nicht wieder an. „Was mache ich jetzt?“, jammerte ich, als ich wieder auf meinem Platz saß. „Sag es am besten gleich Mme Noire“, sagte Rosy. Mit einem flauen Gefühl im Magen, nahm ich wahr, wie unsere Französischlehrerin mit ihrem strengen Blick den Klassenraum betrat. „Bonjour, mes elèves! Ich hoffe, ihr habt euch gut und sorgfältig auf die Klausur vorbereitet“, begrüßte sie uns und ließ einen Stapel Klausurbögen auf den Tisch knallen.

 

Langsam und schüchtern hob ich meine Hand. „Was gibt es denn, Emily!“, wandte sich Mme Noire an mich. Es kam mir so vor, als würden ihre funkelnden pechschwarzen Augen förmlich durchbohren. „Ähm, ich finde mein Wörterbuch nicht“, sagte ich kleinlaut. „Wie du findest dein Wörterbuch nicht?“, unsere Französischlehrerin machte große Augen. „Es ist einfach weg“, erwiderte ich ratlos. „Habt ihr es schon gesucht?“, fragte sie. „Wir haben es schon überall gesucht und unsere Mitschüler gefragt“, mischte sich Sandrina ein. „Wenn das so ist“, räusperte sich Mme Schwarz kurz, „Dann kannst du mein Wörterbuch während der Arbeit benutzen, was ich eigentlich sonst nie brauche und nur im Notfall dabei habe“ „Vielen Dank!“, lächelte ich erleichtert. Mme Noires Wörterbuch war um Klassen besser, als unsere, die wir hatten. „Bestimmt habe ich gegenüber meinen Klassenkameraden einen Vorteil“, dachte ich und fand hinten im Buch eine Tabelle mit konjugierten Verben.

 

Die Zeit verflog blitzschnell, da wir in den letzten Tagen mehrere Klausuren schrieben und viel lernen musste. Für Spaß und Freizeit blieb kaum Zeit. Daher freute sich jeder von uns auf die verdienten Ferien. In der ersten Ferienwoche besuchte mich Oli für fünf Tage in London. Zusammen mit May und zwei weiteren Freunden, die ebenfalls in London wohnten, unternahmen wir Ausflüge in die Umgebung, zeigten Oli die wichtigsten Londoner Sehenswürdigkeiten und gingen in den bekanntesten Einkaufsstraßen shoppen. Von Fintan bekam ich während der Osterferien nichts mit, während ich mit Lucien öfter über Handy und Facebook kommunizierte. „Bist du immer noch mit dem Iren zusammen?“, fragte mich Jamsey, der bei uns in der Nachbarschaft wohnte, am vorletzten Ferientag. „Das ist schon seit ein paar Wochen Geschichte“, verneinte ich. „Weswegen? Ich dachte, ihr seid schon so lange ein Paar“, erwiderte er überrascht. „Er ist im Endeffekt ein ziemlicher Idiot“, sagte ich dazu nur. „Wirklich? Als ich ihn einmal an Silvester gesehen habe, kam er mir sehr sympathisch und aufgeschlossen vor“, stutzte Jamsey.

 

Nun brach die ganze Geschichte der letzten Woche aus mir heraus, aber hielt dennoch die Annäherung mit Lucien für mich. „Aha, so eine Flachpfeife ist das!“, bemerkte Jamsey und fügte aufmunternd hinzu, „Ach Emily, mach dir keine Sorgen, du findest bald noch den richtigen Typen“ Einen Augenblick lang sah er mich verstohlen an. War er etwa verliebt in mich? Jamsey war sonst nur der nette Nachbarsjunge von nebenan, mit dem ich gerne ein paar Worte wechselte. Doch sein Äußeres war mir bei noch nicht so in den Mittelpunkt gerückt. Er hatte kurz geschorene dunkelbraune Haare, steingraue Augen und war ein wenig kräftiger gebaut. „Willst du etwas von mir?“, fragte ich ihn mutig, nachdem er mich eine ganze Weile so anstarrte. „Ach was!“, lachte er, „Ich bin doch nur ein guter Kumpel von nebenan. Mit dir kann ich wunderbar scherzen, über Gott und die Welt sprechen und darüber hinaus mag ich dich total gerne“ Im Treppenhaus verabschiedeten wir uns voneinander. Ein wenig durcheinander setzte ich mich auf die Couch in meinem Zimmer und starrte auf ein Bild von mir und Fintan, welches neben dem Fenster hing. Doch warum hing es dort immer noch? Langsam wurde es Zeit, dass es entfernt und in der hintersten Schubblade verstaut wurde. Jedes Mal wenn ich sein Gesicht sah, wachte eine innere Sehnsucht in mir auf, die ich sofort immer verdrängen musste. Im nächsten Moment kam eine SMS von Lucien rein. „Hey, Süße! Ich kann es kaum erwarten, dich in ein paar Tagen wieder zusehen. Du hast mir in den letzten Wochen unheimlich gefehlt. In der Schweiz gibt es weit und breit kein Mädchen, welches so hübsch und interessant ist, wie du. ILY, dein Lucien“, schrieb er mir.

 

Gleich am zweiten Abend herrschte eine große Aufregung im Gemeinschaftsraum. Einige Mitschüler standen um Lars herum, welcher laut schimpfte und tobte. „Was ist um Himmels Willen passiert?“, fragte Oli ihn irritiert. „Ihr glaubt gar nicht, wozu Fintan in der Lage ist“, regte er sich auf. „Erzähl ruhig!“, forderte ich ihn auf. „Er hat mit seiner Schere ein großes Loch in mein Fußballtrikot geschnitten“, Lars Gesicht glühte immer noch vor Wut. „Woher willst du wissen, dass es Fintan war?“, mischte sich Ivan ein. „Ganz einfach, seine Schere, auf der sein Name steht, lag unter der Wäscheleine unten im Waschkeller“, schnaubte Lars. „Was machst du jetzt?“, erkundigte sich Ivan. „Ich muss es wohl unserem Trainer beichten müssen und Fintan bekommt dafür seinen berechtigten Ärger“, sagte Lars, der sich bereits ein wenig abreagiert hatte. „Kannst du dir vorstellen, dass er sowas tut? Ihr seid doch beste Freunde oder täusche ich mich in dieser Hinsicht?“, Ivan zog die Augenbrauen hoch. „Zur Zeit ist er sowieso ein wenig merkwürdig drauf“, meinte Lars trocken.

 

„Oh je, mir tut es echt Leid, dass Fintan dir sowas antut“, tröstete Greta ihn und schmiegte sich an seine Schulter. Fintan saß währenddessen mit Matthew an einem Schachspiel. Normalerweise hatten sie sich nicht viel zu sagen, doch in letzter Zeit verbrachten sie immer wieder mal mehr Zeit zusammen. Seit den Konflikten schien Fintan immer mehr ins Abseits zu rücken und war in meinen Augen beinahe schon ein Außenseiter. „Willst du nicht mit Fintan darüber reden?“, stupste Greta Lars an. „Jetzt nicht, aber ich werde ihn mir nach dem Abendbrot noch einmal vorknöpfen“, brummte er schlecht gelaunt. Während des Abendessens redeten wir nicht viel miteinander, nur Lucien versuchte vergeblich ein richtiges Gespräch mit mir anzufangen, obwohl mir nicht danach war. „Wollen wir nicht nach dem Essen kurz ausreiten?“, fragte er. „Von mir aus, können wir das gerne machen“, nickte ich und meine Stimme klang nicht mehr so reserviert, wie gerade eben. Eine dreiviertel Stunde später saßen wir in den Sätteln und ritten an den Weidezäunen entlang.

 

„Endlich mal Ruhe“, seufzte Lucien und lehnte sich ein wenig im Sattel zurück. „Oh ja, das kannst du wohl sagen, nach der Aufregung wegen Lars zerschnittenen Trikot“, bestätigte ich. „Fintan ist mittlerweile alles zu zutrauen“, sagte Lucien, „Bestimmt befürchtet er, dass Lars ihm in der Mannschaft seinen Stammplatz wegnimmt“ „Auf welcher Position spielt Lars überhaupt?“, wollte ich wissen. „Lars kann eigentlich überall spielen, obwohl er das offensive Mittelfeld bevorzugt und dort spielt Fintan meistens“, erwiderte er. „Warum hat es zuvor damit keine Probleme gegeben?“, hakte ich nach. „Lars hat überwiegend im defensiven Mittelfeld gespielt oder in der Verteidigung“, meinte Lucien, „Doch nun wollte Lars auch ein wenig offensiver spielen und mehr Tore schießen“ Ich nickte und musste Hermine daran hindern, dass sie nicht nach dem Schweif von Speedy Gonzales schnappte. Offenbar waren Hermine und Speedy Gonzales auch keine großen Freunde und das war der Beweis, dass es Missgunst und Feindschaft nicht nur bei Menschen gab.

 

„Na, wie war dein Ausritt mit Lucien?“, fragte mich Oli, als ich in unser Zimmer kam. Sie lag bäuchlings auf ihrem Bett und schmökerte in einem ihrer Lieblingsromane. „Ganz schön, Lucien und ich haben uns vorhin über die Sache mit Lars zerschnittenen Trikot unterhalten“, erwiderte ich und schlüpfte aus meiner Reithose. „Hm, irgendwie weiß ich nicht, was ich von der ganzen Sache halten soll“, murmelte meine Freundin nachdenklich, „Einerseits tut mir Lars sogar ein wenig Leid dafür, dass ihm es passiert ist. Trotzdem kann ich mir nicht vorstellen, dass Fintan sowas fieses und hinterhältiges tut. Schließlich war oder ist er mit Lars sehr dicke befreundet. Bevor wir eine Person gänzlich verurteilen, müssen wir uns ganz sicher sein, dass er es auch war und dafür brauchen wir standfeste Beweise. Überleg dir mal, wie es vor fast zwei Jahren mit Rosy und Pamela war. Diese linke Kuh hat Rosy die ganzen Diebstähle in die Schuhe geschoben, um dafür zu sorgen, dass Rosy von der Schule fliegt“ „Dennoch traue ich Fintan diese Sachen zu. Seitdem wir nicht mehr zusammen sind, hat er sich komplett geändert und ist zu einem Arschloch geworden. Erst der Drohbrief an Priscilla und dann Lars zerschnittenes Trikot. Vielleicht steckt er auch hinter dem Verschwinden meines Wörterbuches, welches sich immer noch nicht angefunden hat“, hielt ich an meiner Meinung fest.

 

Die Tür flog auf und Rosy stürmte atemlos in unser Zimmer. „Habt ihr meine Gerte gesehen?“, fragte sie keuchend. Zu dritt stellten wir unser Zimmer auf den Kopf. „Das gibt es doch nicht! Sonst verliere ich meine Dinge nicht oder verlege sie“, jammernd schüttelte unsere Freundin den Kopf. „Vielleicht wurde sie auch gestohlen, denn in letzter Zeit verschwanden einige Gegenstände auf mysteriöse Art und Weise“, vermutete ich. „Wer weiß?“, ratlos sank Rosy in sich zusammen, „Mir ist es nur wichtig, dass ich sie wieder finde. Ich habe sie vor ein paar Wochen von David O’Malley geschenkt bekommen. Ich bin ein großer Fan von ihm. Er ist Irlands bekanntester Dressurreiter und ich habe ihn auf einem Turnier gesehen. Wir sind uns hinter den Kulissen zufällig über den Weg gelaufen und wir haben kurz miteinander gesprochen, worauf er mir deine Gerte geschenkt hat“ „Wow, du hast ihn getroffen? Davon hast du uns noch gar nichts erzählt“, Olis Augen begannen zu funkeln. „Ich wollte damit nicht angeben“, meinte Rosy. „Ach Quatsch, das ist doch keine Angeberei“, fuhr Oli dazwischen, „Schließlich erzählen wir doch alle von unseren schönen Ferienerlebnissen“ Tränen sammelten sich in Rosys Augen. „Diese Gerte war so schön und sie bedeutete mir viel. Meine alte Gerte ist bloß nur so ein hässlicher Plastikstab“, fuhr sie mit tränenschwerer Stimme fort und wischte sich hastig die Tränen weg. „Nicht weinen, sie wird wohl wieder auftauchen. Ich glaube nicht, dass sich eine Gerte in Luft auflöst oder davon fliegt“, tröstete ich sie. „Aber ich suche schon zwei Stunden und das Ding ist immer noch vom Erdboden verschwunden“, schluchzte Rosy auf. Wir ließen die aufgelöste Rosy alleine im Zimmer zurück und führten unsere Suche im gesamten Haus fort und befragten jeden Mitschüler, den wir trafen.

 

Auf dem Flur trafen wir Tom, doch dieser wusste nichts von einer verschwundenen Gerte und konnte keine Auskunft geben, wer sie eventuell gestohlen haben könnte. „Habt ihr schon mitbekommen, dass Lars und Fintan vorhin nach dem Essen ganz fürchterlich aneinander geraten sind“, erzählte er uns stattdessen. „Nein, ich bin sofort in mein Zimmer gegangen und habe in meinem Buch weiter gelesen“, schüttelte Oli den Kopf. „Und ich war mit Lucien eine halbe Stunde ausreiten“, fügte ich hinzu. „Auf jeden Fall wurde es ziemlich laut und Fintan war kurz davor Lars zu verprügeln“, erzählte er. „Über was redet ihr?“, Greta gesellte sich zu uns. „Ach, wir reden gerade über den heftigen Streit von gerade eben und jetzt ist auch noch Rosys wertvolle Gerte verschwunden“, sagte Tom. „Ach du Schreck!“, entfuhr es Greta, „Irgendwie habe ich das Gefühl, dass Saint Malory von so einem merkwürdigen Fluch befallen ist. Dauernd passieren negative Sachen und fast täglich gibt es Streit. Erst hatten sich nur Fintan und Lucien in den Haaren. Nun kommt es mir so vor, als hätte Fintan überall seine Finger im Spiel und will es sich mit uns allen verderben“ „Er hat es sich schon bereits mit ihm verdorben und im Endeffekt beweist er uns allen, dass er einen schlechten Charakter hat. Er braucht sich nicht mehr zu wundern, dass er hier kaum noch Freunde hat. Die einzigen, die noch zu ihm halten, sind Alex und Matthew. In der Fußballmannschaft ist er nun auch komplett unten durch, nachdem er Lars Trikot zerschnitten hat und im Training ständig herum zickt und bei jeder Kleinigkeit aggressiv wird. Kein Wunder, dass er seit zwei Spielen nicht mehr im Kader steht, schließlich brauchen wir keine Schlägertypen, die bei jedem Mucks die Kontrolle über sich verlieren. Fintan würde momentan eh wegen seiner Aggressivität bestimmt im jeden Spiel Rot sehen“, meinte Tom.

 

„Fintan soll endlich lernen sich richtig zu beherrschen. Er verhält sich momentan wie ein Kleinkind in seiner Trotzphase. Ich frage mich, wieso ihn seine Eltern nicht im Kindergarten angemeldet haben“, lästerte Greta. Tom nuckelte an seinem Daumen und zog eine trotzige Grimasse. Greta und ich verloren vor Lachen fast unser Gleichgewicht, nur Oli blieb ruhig und genügte sich mit einem Grinsen. Hinter der Ecke tauchte urplötzlich Fintan vor uns auf, ausnahmsweise hatte er kein Gel in den Haaren und trug eine labbrige Jogginghose. Er sah müde, geschafft und vor allem unglücklich aus. Sofort verstummte unser Gespräch und drehten uns von ihm weg. Mir entging nicht, dass er uns einen feindseligen und verbitterten Blick zuwarf. „Oh man, wir können aber auch fies sein“, flüsterte Oli. „Oh ja, das können wir“, Greta brach ein prustendes Gelächter aus. „Psst, hör zu kichern, das hört man fast im gesamten Haus!“, raunte Tom. „Sorry, das war einfach zu witzig!“, Greta gluckste immer noch vor sich hin. „Komm lass uns wieder in unser Zimmer gehen, die Gerte finden wir heute eh nicht mehr“, zog mich Oli am Arm.

 

Am nächsten Tag vermisste Tom seinen Atlas und Shane seinen USB-Stick, auf dem er sein Referat für Chemie gespeichert hatte. „Wenn ich wegen diesem Idioten mein Referat nicht halten kann und eine schlechte Note bekomme, mache ich ihn kalt“, schnaubte Shane verärgert. „Hattest du sonst irgendwelche Probleme mit Fintan?“, fragte Emil ihn. „Eigentlich nicht, wir verstanden uns sonst immer sehr gut. Aber seit Wochen verhält er sich eigenartig und niemand weiß, was mit ihm los ist“, erwiderte Shane achselzuckend. „Falls du deinen Stick nicht wieder findest, kannst du ihn auf meinem Stick speichern“, bot ihm Emil freundschaftlich an. „Na toll, das Referat muss ich schon morgen halten und das wird irre viel Arbeit sein, es noch einmal neu zu schreiben. Aber trotzdem Danke für deine Hilfe“, erwiderte Shane und versuchte ein wenig freundlicher zu gucken. Miss Greene schloss den Klassenraum auf und verschwand kurz darauf wieder, um Kopieren zu gehen. „Ich habe mein Matheheft in Fintans Fach gefunden“, rief Jacob durch die Klasse. „Wie kann das nur dahin gekommen sein? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Heft freiwillig in Fintans Fach kriecht“, spottete Lucien. Einige unserer Mitschüler konnten sich ein Lachen nicht verkneifen. Fintan stand auf und verließ wortlos die Klasse. Alex trat vor Lucien. „Wie kannst du nur so einen Mist behaupten?“, funkelte er Lucien böse an. „Langsam muss jeder in dieser Klasse wissen, wer Fintan wirklich ist“, erwiderte Lucien unverfroren.

 

Abends traf mich der nächste Schlag. Fintan und Samantha aus der Parallelklasse saßen im Gemeinschaftsraum nebeneinander auf der Couch und kuschelten miteinander. Fintan ließ sich von Samantha zärtlich über die Haare streicheln und legte seinen Kopf auf ihre Schulter. Mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Wie konnte ich überhaupt noch eifersüchtig sein, obwohl wir uns total verkracht hatten? Offensichtlich war es dennoch möglich, schließlich schaffte er es in fast jedem Zustand hübsch auszusehen. Verwuschelte Haare standen ihm genauso gut wie sein gegelter Hahnenkamm oder seine Igelfrisur. „Er sieht aus wie ein kleiner Junge“, flüsterte mir Oli ins Ohr.

 

„Nein, er sieht aus wie Baby, das von seiner Mama in den Schlaf geschaukelt wird“, verbesserte Greta sie und bekam einen ihrer heftigen Kicheranfälle. „Wieso lachst du so blöd?“, giftete Samantha wütend in Gretas Richtung, die immer noch gickerte. „Sie lacht doch gar nicht über euch. Ich habe ihr nur einen lustigen Witz erzählt“, versuchte ich zu beschwichtigen. „Hör auf mich zu verarschen!“, schnaubte Samantha böse und baute sich vor uns auf. „Was ihr derzeit mit Fintan macht, kann man schon als Mobbing bezeichnen“, mischte sich Arabella ein. „Ich kann mir bald nicht mehr mit ansehen, wie dieses Rattenpack, zu dem Lars, Lucien, Greta, Oli, Emily und ein paar andere feige Mitläufer gehören, ihm das Leben hier zur Hölle macht. Es ist unfair, wenn sich die halbe Klasse gegen einen verbündet“, sagte Samantha leise zu ihrer Freundin. Fintan saß immer noch bewegungslos auf der Couch und sah uns mit leeren Augen an. „Komm, lass uns gehen“, forderte Samantha ihn auf.

 

Lucien stand mit Patrick, Tiago, Shane und Lars am Billardtisch. Er verstand sich super mit den Jungs, die sonst jede freie Minute mit Fintan verbrachten. Tiago riss wieder seine Witze, die für eine prächtige und ausgelassene Stimmung sorgten. Lucien winkte mich zu sich rüber. „Hast du Lust auch eine Runde mit uns zu spielen?“, fragte er mich lässig. „Nein, gerade ist mir nicht danach“, lehnte ich ab. Lucien schlang seine Arme um mich und küsste mich. „Hey Guys, habt ihr etwas dagegen, wenn ich mich mit Emily auf die Couch verziehe?“, wandte sich Lucien an seine Kumpels. „Geh ruhig, wir können alleine weiterspielen oder wir fragen gleich Tom“, meinte Lars. Zu zweit setzten wir uns hin. Ich war froh, dass Lucien da war. Nun fühlte ich mich nicht mehr so alleine. Zärtlich fuhr durch meine Haare. „Ich liebe dich“, flüsterte er mir ins Ohr und küsste mich erneut. Dieser Moment bestätigte, dass Lucien und ich zusammen gehörten. Er sorgte dafür, dass mir bei seiner Anwesenheit warm ums Herz wurde und ich mich gut bei ihm aufgehoben fühlte. Im nächsten Moment fiel mein Blick auf Alex und Oli, die sich prächtig miteinander unterhielten und sich eine Packung Chips teilten. Ob zwischen ihnen etwas lief? Ich beobachtete sie genauer und versuchte aus der Distanz ihrem Gespräch zu lauschen, was aufgrund der Lautstärke nicht möglich war.

 

10. Schlechte Nachrichten für May und ein Abschiedsfest

Nach dem Springtraining fanden vor auf der Bank vor dem Stall eine kreidebleiche May vor. „Ihr scheint es nicht gut zu gehen“, flüsterte mir Sandrina besorgt ins Ohr. „Lass sie uns mal fragen, was sie hat“, raunte uns Rosy zu. „Hallo May“, begrüßte ich meine Freundin und setzte mich neben sie. May nickte stumm. „Ist alles mit dir in Ordnung?“, fragte Rosy und berührte sie sanft am Arm. „Gerade ist gar nichts in Ordnung“, quetschte May aus sich heraus. Wir spürten, dass sie offenbar darüber nicht reden wollte, über das was sie im Moment bedrückte. „Hey, seid ihr eigentlich auf einer Beerdigung oder warum sitzt ihr hier wie vier Trauerklöße auf einer Bank?“, sprach uns Oli von hinten an. Sandrina warf ihr einen strafenden Blick zu, manchmal konnte Oli wirklich zu nassforsch sein. „Eigentlich will ich es euch gar nicht erzählen“, fuhr May mit gedämpfter Stimme fort. „Warum nicht? Ist es etwas Schlimmes?“, hakte Oli nach.

 

„Ja, mein Vater wurde von London nach Singapur versetzt und er wird dort in sechs Wochen seine Arbeit aufnehmen“, erzählte May und musste zwischendurch immer wieder schlucken. „Was heißt das konkret?“, wollte Oli wissen. „Unsere ganze Familie wird dort hin ziehen und sogar ich soll mit. Papa hat vor mich an einer Privatschule anzumelden, an der es auch Reitunterricht und andere tolle Kurse gibt. Aber ich will hier bleiben, bei euch. Er versucht mir den Umzug mit einem eigenen Pferd und einem Mountainbike schmackhaft zu machen, aber ich lasse mich nicht so einfach locken“ „Oh Mann, das ist wirklich schrecklich“, seufzte Rosy, die zuerst ihre Worte wieder fand. „Schrecklich ist es auf alle Fälle. Ich habe mich in den letzten beiden Jahren hier pudelwohl gefühlt und viele verschiedene Freunde kennen gelernt. So lustige und unterschiedliche Freundinnen findet man im Leben nur einmal“, sagte May weinerlich und kämpfte mit aller Macht ihre aufsteigenden Tränen zurück. Oli, Sandrina, Rosy und ich umarmten sie zu viert.

 

Für Greta brach eine Welt zusammen, als sie erfuhr, dass ihre einzige richtige Freundin und Zimmernachbarin, in wenigen Wochen Saint Malory verlassen wird. „Wirst du wenigstens bis zum Ende des Schuljahres bleiben?“, fragte sie May mit bebender Stimme. „Wahrscheinlich nicht ganz“, erwiderte May, „Ich muss Papa noch mal fragen, wann genau mein letzter Schultag ist“ „Warum seid ihr gerade so geknickt?“, fragte Alison, die mit Isa den Gemeinschaftsraum betrat und sich zu uns an den Tisch setzte. „Ich werde in wenigen Wochen nach Singapur ziehen“, schniefte May los und konnte ihre Tränen nicht länger zurückhalten. „Das hört sich wirklich nicht gut an. Auf jeden Fall werden wir deine Freundinnen bleiben, egal wie viele Kilometer uns trennen“, Isa nahm May in den Arm. „Ganz genau, Freundschaft kennt keine Grenze“, bestätigte Oli. „Ich werde euch auf jeden Fall einmal im Monat eine Karte oder ein Päckchen schicken“, versprach May unter Tränen.

 

„Weißt du erst seit kurzen davon bescheid?“, wunderte sich Alison. „Eigentlich weiß ich davon seit einem halben Jahr, aber es ist erst seit gestern in trockenen Tüchern. Papa soll den Posten eines kürzlich verstorbenen Managers einer großen Firma übernehmen und noch viel mehr Geld verdienen als in London. Zuerst werden wir dort in eine Wohnung ziehen, aber Papa möchte uns am Stadtrand eine riesige Villa mit Tennisplatz, Swimmingpool und Stall für mein zukünftiges Pferd bauen“, fuhr May mit belegter Stimme fort. „Was hältst du davon, wenn wir zweimal pro Woche mit dir skypen und wir dir in Form einer Nachrichtensendung berichten, was bei uns gerade Sache ist?“, schlug Oli vor, „Natürlich muss es lustig, spannend und informativ zugleich sein“ „Die Idee ist nicht schlecht. Als Moderatorinnen kommen Oli, Emmi und ich in Frage“, meinte Greta. „Das stelle ich mir echt witzig vor, wie ihr drei zusammen eine Fernsehsendung berichten wollt und euch gegenseitig ins Wort fallt“, kicherte May und wischte ihre letzten Tränen weg.

 

„Das finde ich aber unfair, wenn nur ihr moderieren dürft“, fand Isa. „Natürlich können wir uns auch abwechseln, so dass jeder mal eine Sendung für May moderieren kann“, verbesserte sich Greta. „Trotzdem wird es ohne May langweilig werden und vor allem dann muss ich mir das Zimmer mit Samantha alleine teilen. Das wird der reinste Horror. Bis jetzt hat May immer geschlichtet, wenn wir aneinander gerieten. Wenn May nicht mehr da ist, werden Samantha und ich uns wegen jeder Kleinigkeit gegenseitig die Augen auspicken“, fiel Greta in ihre Melancholie zurück. „Ach so schlimm wird es auch nicht werden“, versuchte Oli sie aufzumuntern, „Bis zu den Sommerferien sind es nur noch wenige Wochen und die kannst du gut überstehen, wenn du Samantha so gut ignorierst, wie es nur geht“ „Wie soll ich die Zicke ignorieren, wenn sie sich dauerhaft darüber aufregt, dass es in unserem Zimmer wegen mir so dreckig und unordentlich ist“, entgegnete ihr Greta gereizt. „Aber so unordentlich bist du gar nicht“, meinte Oli. „Bin ich auch nicht, aber Samantha ist so eine verdammte Erbsenzählerin“, beklagte sich Greta.

 

Während des ganzen Abends wollte es mir nicht aus dem Kopf gehen, dass May in Kürze Saint Malory verlassen wird. Zwar war ich mit ihr nicht so eng befreundet wie mit Oli, Rosy und Sandrina, aber sie war ein festes Mitglied unserer Mädchenclique und ich mochte sie echt gerne. „Wir werden sie auf jeden Fall vermissen“, dachte ich schwermütig. „Was bedrückt dich gerade so?“, fragte Lucien auf unserem Abendspaziergang durch den Wald. Ich überlegte einen Moment, ob ich ihm es sagen sollte, dass May bald unsere Schule verlässt. Schließlich erzählte ich ihm es doch, da ich seinen fragenden Blick nicht länger aushielt und bat ihn, dass er es keinem weiter erzählte. „Ihr könnt doch auch Freunde bleiben, auch wenn ihr so weit voneinander weg wohnt“, meinte er, „Ich habe auch gute Freunde, die in Frankreich, Italien, Deutschland und in der Schweiz leben. Ich halte mit ihnen Skype, Facebook und Email Kontakt“ „Trotzdem ist es nicht das Gleiche“, fand ich, „Bis jetzt haben wir May jeden Tag gesehen und mit ihr gesprochen. Es wird ungewohnt sein, dass wir sie eines Tages gar nicht mehr sehen werden und somit ein Stück unserer Clique verloren geht“

 

„Ich denke nicht, dass sie euch verloren geht“, entgegnete mir Lucien, „Schließlich mögt ihr sie nach ihrem Weggang genauso gerne, wie vorher und werdet sie nicht vergessen. Eine Person existiert auch noch, auch wenn man sie nicht mehr sieht. Meine Eltern sind immer noch meine Eltern, obwohl sie seit einigen Jahren nicht mehr leben. Vergessen werde ich sie nicht, sie leben in meinem Kopf weiter werden dort für immer lebendig sein“ Warum musste er ausgerechnet jetzt den Tod seiner Eltern ansprechen? Dies erinnerte mich jedes Mal schmerzhaft daran, dass Mom ebenfalls nicht mehr lebte und dies bereitete mir nach über zweieinhalb Jahren immer noch ab und zu Kummer. „Nein, wir werden May auf keinen Fall vergessen“, sagte ich leise. „Vielleicht kommt sie euch bald besuchen, wenn sie Ferien hat oder vielleicht besuchst du sie in Singapur, dort soll es auch echt schön sein“ „Bestimmt wird uns May besuchen kommen“, nickte ich. Am anderen Ende der Koppel tauchten Alex und Oli auf. „Sind die Beiden neuerdings ein Paar?“, raunte mir Lucien zu. „Ich weiß es nicht, darüber spricht Oli nicht mit mir“, zuckte ich mit der Schulter. „Was macht ihr hier?“, fragte uns Alex überrascht. Offenbar fühlte er sich ein wenig ertappt, da sein Gesicht eine leichte Rotfärbung annahm. „Wir gehen einfach nur ein wenig spazieren“, erwiderte Lucien, „Das ist viel besser als in einem stickigen Gemeinschaftsraum zu sitzen oder vor dem PC zu hocken“ „Das Gleiche haben wir uns auch gedacht“, lächelte Oli und ging mit Alex weiter. „Hast du gesehen, wie Alex gerade rot geworden ist?“, flüsterte ich. „Na klar, anscheinend steht er auf schwedische Blondinen“, erwiderte er.

 

Von Tag zu Tag rückte Mays Abschied immer näher und wir planten ein einzigartiges Abschiedsfest für sie. Zuerst wollten Oli und Greta eine Abschlussdisco im Gemeinschaftsraum planen, doch Rosy hatte noch eine bessere Idee. Sie schlug vor, ein Überraschungspicknick am See während ihres letzten Abends zu machen. Zunächst machten wir uns darüber Gedanken, wer dabei sein sollte. „Auf jeden Fall muss Elaine auch dabei sein“, bestimmte Greta, „Sie ist total nett und versteht sich super mit May“ „Auf jeden Fall muss es auch richtige Sachen zu essen und zu trinken geben“, meinte Oli. „Aber natürlich, ohne Essen wäre es auch kein Picknick“, meinte Rosy, „Aber es muss nicht irgendwas sein, wie Chips und Süßigkeiten, sondern schon anspruchsvollere Dinge“ „Klar, ich könnte Sandwichs machen“, rief Oli begeistert dazwischen. „Sandwichs sind immer gut“, fand Greta, „Ich werde Blaubeermuffins backen“

 

Ich nahm mir einen Zettel und einen Stift auf, wer was zum Picknick mitbringen wollte. Bald hatte ich eine lange Liste mit Brownis, Frikadellen, Bockwürstchen, Lachssanndwichs, Obstsalat, Käsespieße mit Weintrauben und vielen anderen leckeren Sachen zusammen. „Gut, dann haben wir zumindest schon mal das Essen“, zufrieden hakte ich das Thema ab. „Jetzt müssen wir uns nur noch um das Abschiedsgeschenk kümmern“, meldete sich Sandrina zu Wort. „Ich hab’s!“, rief Isa laut. „Dann lass uns an deiner Idee teilhaben“, Oli drehte sich mit einem neugierigen Blick zu ihr um. „Als wir unsere alte Schule verlassen haben, schenkten uns unsere Freundinnen zwei langweilig aussehenden Schuhkartons. Zuerst wussten wir nichts damit anzufangen, doch als ich meinen Schuhkarton öffnete, blieb mir vor Freude fast das Herz stehen. Jede Freundin legte mir ein kleines persönliches Geschenk in diesen Karton“, erzählte Isa. „Die Idee ist spitze“, fand ich, „Allerdings muss es kein Schuhkarton sein, Oli hat noch ihre große Keksdose, in der sie immer ihr Weihnachtsgebäck mitbringt“ „Ich weiß auch schon, was ich ihr schenken werde“, wusste Greta. „Sag es lieber nicht“, bremste Rosy sie, „Schließlich wollen wir alle überrascht sein, was jede von uns ihr schenkt“ Mir fiel zuerst nichts Gutes ein, was ich May gut schenken konnte. Als Lucien am nächsten Nachmittag auf meinem Bett saß und darauf wartete, dass wir zusammen für die nächste Matheklausur lernen, zeigte ich ihm ein kleines Fläschchen Parfüm. „Was willst du damit?“, fragte er mich. „Das möchte ich May zum Abschied schenken“, antwortete ich und stellte es auf meinem Nachttisch. „Darüber wird sich garantiert freuen“, meinte Lucien und setzte sich neben mich an den Schreibtisch.

 

Am nächsten Morgen fiel mir auf, dass mein Parfümfläschchen, welches ich May schenken wollte, nicht mehr auf meinem Nachttisch stand. Hatte ich es letzte Nacht etwa wieder ins Bad gestellt? Ich sah nach, aber dort war es auch nicht. Merkwürdig, seit Wochen verschwanden Dinge einfach spurlos. Insgeheim fing ich an zu philosophieren, dass es der alte Hausgeist war, an den Mme Noire besonders fest glaubte. „Vielleicht ist es auf den Boden gefallen und unter das Bett gekullert“, fiel mir ein. Ich krabbelte auf dem Boden herum und schaute unter den Teppich, doch dort versteckte sich ebenfalls kein Parfümfläschchen, sondern nur ein Centstück und ein Hustenbonbon. „Was suchst du um Himmels Willen?“, fragte mich Oli, als sie aus der Dusche kam. „Das Parfüm, welches ich May zum Abschied schenken wollte“, antwortete ich. „Merkwürdig, seit Wochen verschwinden immer Dinge und bis jetzt wurden sie noch nicht gefunden. Langsam frage ich mich, wie aus diesem Zimmer Sachen von uns entwendet werden, obwohl wir unser Zimmer immer abschließen“, bemerkte Oli und begann sich ihre Haare zu föhnen. Ich kramte in meiner Nachttischschublade, dort fand ich ein goldenes Kettchen mit einem Hufeisenanhänger, das mir Grandma zum zwölften Geburtstag geschenkt hatte und bis jetzt nur ganz selten getragen wurde. Ich entschloss mich schweren Herzens dazu, dieses hübsche Kettchen May zu schenken und legte es in Olis große Keksdose, in der bereits ein Halbedelstein aus Rosys Edelsteinsammlung lag.

 

Mays letzter Tag rückte immer näher, doch sie versuchte in der letzten Zeit mit uns besonders glücklich zu wirken und wollte nicht, dass wir unseren Kummer über ihren Weggang äußerten. Noch wusste sie noch nichts von ihrem Abschiedspicknick, welches wir schon seit Wochen planten. Am Vormittag sah beinahe so aus, als würde das Picknick ins Wasser fallen. Seit den frühen Morgenstunden schüttete es aus Eimern und eine steife Briese fügte über das Internatsgelände. „Falls es heute Abend noch regnet, gehen wir einfach auf den Heuboden, dort ist es bei schlechten Wetter sicherlich auch ganz gemütlich“, legte sich Greta einen zweiten Plan zurecht. „Ich glaube nicht, dass es den ganzen Tag regnet“, schüttelte Oli ungläubig den Kopf.

 

„Wenigstens regnet es jetzt und nachher vielleicht nicht mehr“, fügte Alison hinzu. „Vielleicht kann ich nachher ein paar Fackeln und eine Öllampe aus dem Schuppen des Gärtners stibitzen“, schlug Oli mit leuchtenden Augen. „Au ja, ich komme mit“, fügte Greta begeistert hinzu. „Aber lasst euch bloß nicht dabei erwischen“, Rosy sah die beiden Freundinnen eindringlich an. „Ach was, so einfach lassen wir uns nicht erwischen, schließlich steht eine von uns vor dem Schuppen Schmiere“, schüttelte Oli entrüstet den Kopf. Die Vorfreude stieg in uns stieg, doch außer uns wusste niemand davon. „Wenn wir May so einen schönen Abend bereiten, möchte sie garantiert nicht mehr weg von hier“, meinte Isa. „Ganz ehrlich, wer möchte schon weg von hier?“, fragte Greta. „Niemand!“, krähten Oli und ich gleichzeitig. „Warum haltet ihr euch die ganze Zeit mit gegenüber so bedeckt, gehöre ich nun etwa doch nicht mehr zu euch?“, fragte mich May beim Mittagessen und strich sich eine schwarze Strähne aus ihrem Gesicht. „Tun wir das wirklich?“, fragte ich zurück und enthielt ihr selbstverständlich vor, dass wir uns über das abendliche Picknick unterhielten.

 

Bereits am späten Nachmittag klarte der Himmel auf. Greta, Sandrina, Oli und ich bereiteten schon kurz vor dem Abendessen den Picknickplatz am See vor. Oli und Greta schafften es tatsächlich drei Wachsfackeln und zwei Öllampen aus dem Gärtnerschuppen zu stibitzen. „Hoffentlich bleibt es trocken“, flehte Oli und rammte eine der Fackeln in den aufgeweichten Rasen. „Heute Abend soll es auf jeden Fall trocken bleiben“, meinte Greta. „Wehe, es kommt noch ein Tropfen runter, dann sind unsere Vorbereitungen für die Tonne“, sagte Oli. Sandrina und ich breiteten zwei karierte Picknickdecken aus, während Greta eine der Öllampen an einem tief hängenden Zweig befestigte.

 

„Bravo, dann wären wir so weit“, zufrieden klatschte Sandrina in die Hände. Im nächsten Moment kam mir eine Idee. „Wie wäre es, wenn wir den Weg hier hin mit Holzpfeilen auslegen?“, schlug ich vor. „Eine Schnitzeljagd wäre sensationell und sorgt für ein bisschen Action“, zeigte sich Greta von meiner Idee begeistert. Der Rückweg dauerte doppelt so lange, da wir Stöcker aus dem Unterholz zusammen suchten und kleine Pfeile auf den Weg legten. Beinahe kamen wir zu spät zum Abendessen. „Zum Glück gibt es gleich noch etwas Ordentliches zu essen, mit diesem trockenen Brot könnte man beinahe schon die Enten füttern“, flüsterte mir Isa ins Ohr. Insgesamt aß jede von uns nicht mehr als eine Scheibe Brot. Oli und Greta teilten sich eine Scheibe und fingen sich verwunderte Blicke unserer Mitschüler ein. Offenbar rätselten sie, warum Oli und Greta nur so wenig aßen. May saß selenruhig neben Greta und Elaine und schmierte sich bereits ihre zweite Scheibe Brot mit Frischkäse. „Hoffentlich isst sie nicht all zu viel, damit sie nachher noch Hunger auf unsere Leckereien hat“, hoffte ich innerlich. „Wir gehen schon mal mit den Körben los, kommt in einer halben Stunde hinterher“, flüsterte Oli und ging zur Tür hinaus. Ihr folgten Greta, Alison, Isa und Rosy.

 

Ich blieb alleine mit May, Sandrina und Elaine zurück. „Lass uns einen schönen Abendspaziergang machen“, sagte ich zu May. „Oh ja, die Idee finde ich klasse. Ich muss nur eben auf mein Zimmer und mir andere Schuhe anziehen“, klang meine Freundin begeistert. In der Zwischenzeit wartete ich mit Elaine und Sandrina vor der Tür unseres Wohnhauses. „Bin bereit. Wollen wir noch einmal kurz zu den Pferden gehen?“, strahlend kam May zur Tür heraus. „Können wir machen“, nickte Sandrina und gab die Richtung vor. „Was haben die Holzpfeile für eine Bedeutung? Sollen wir ihnen folgen“, fragte May überrascht. Sandrina und ich nickten stumm. An der Koppel machten wir einen kurzen Halt. Zwei Pferde, die wir nicht kannten, kamen zum Zaun. „Und morgen werde ich hier nicht mehr sein“, seufzte May traurig. „Komm wir müssen weiter“, mahnte Sandrina zur Eile. „Warum das? Habt ihr noch etwas vor?“, May war auf einmal ganz perplex. Wieder schwiegen wir. „Menno, rückt endlich mit eurer Sprache raus“, nörgelte May. „Das ist im Moment leider nicht möglich“, sagte Sandrina affektiert. „Sonst wäre auch keine….“, ich brach den Satz in der Mitte ab. „Ich glaube, ich weiß, worauf ihr hinaus wollt“, murmelte May leise.

 

Hinter dem Gebüsch tauchte unser Picknickplatz auf. „Da sind Oli und co“, stellte May überrascht fest. „Überraschung!“, riefen unsere Freundinnen laut, als wir unmittelbar vor ihnen standen. Oli und die Anderen trugen kleine Blumenkränze auf den Köpfen. „Hier ihr braucht auf jeden Fall auch noch einen Blumenkranz“, meinte Rosy und setzte jedem von uns einen auf den Kopf. „Wow, wer hat denn die tolle Idee gehabt“, schwärmte Sandrina. „Rosy natürlich“, erwiderte Oli und verwies mit einem Seitenblick auf ihre Freundin. „Ist das ein Picknick extra für mich?“, Mays Augen sprühten Funken vor Freude. „Es ist dein Abschiedspicknick“, sagte Greta. „Komm setz dich, es ist angerichtet“, Isa klopfte auf den freien Platz neben dich. Das Essen schmeckte vorzüglich. „Lasst uns auf May anstoßen“, schlug Oli mittendrin vor und fühlte unsere Gläser mit Limonade auf. „Auf May!“, riefen wir im Chor. „Auf euch und Saint Malory“, erwiderte May. Für einen Augenblick herrschte pure Stille, nur das Zirpen der Grillen und das entfernte Quaken der Frösche zu hören. Langsam wurde es dunkel. Greta stand auf und zündete die Fackeln und Öllampen an.  Oli und Sandrina sorgten mit ihren Witzen und Albernheiten dafür, dass es viel zu Lachen gab und die Stimmung nicht einschlief. „Wir haben etwas Wichtiges vergessen“, schreckte Rosy zwischendrin auf und holte die Keksdose aus dem Gebüsch. Behutsam öffnete sie May und blieb einen Moment ruhig sitzen. „Wow, das ist voll lieb von euch. Vielen Dank!“, rief sie vor Glück außer sich und umarmte jede von uns. „Es ist nur zu schade, dass du morgen nicht mehr da bist“, jammerte Greta.

11. Eine Reihe Offenbahrungen

Mays Abschied am Samstagvormittag verlief kurz, nach dem Frühstück kamen Mays Eltern und holten ihre Tochter ab. May liefen ein paar Tränen über die Wangen, als sie von uns und den Pferden Abschied nahm. Wir hatten alle feuchte Augen, doch Greta und Elaine vergossen die meisten Tränen. „Ich werde euch in jeden Ferien besuchen kommen“, versprach uns May hochheilig als sie in das Auto stieg. „Oder wir fliegen alle zusammen nach Singapur“, rief Oli euphorisch. Langsam rollte das Auto vom Hof und wir winkten ihr solange hinterher, bis uns die Hände weh taten und das Auto komplett hinter einer Kurve verschwand. Greta war während des gesamten Tages geknickt, nicht einmal ein kleiner Ausritt konnte sie richtig aufheitern. Getuschel und unterschwelliges Gemurmel empfing uns, als wir kurz vor dem Abendessen den Gemeinschaftsraum betraten. Oli, Rosy, Greta und ich sahen uns fragend an.

 

Was ging nur hier vor? „Wenn ich diesen erbärmlichen Feigling sehe, schlage ich grün und blau“, ereiferte sich ein Mitschüler. „Habt ihr schon mitbekommen, dass man so einige gestohlene Gegenstände unter Fintans Bett gefunden?“, kam Lars auf uns zu. „Was?“, uns blieben die Münder offen stehen. „Kommt mit, ich zeige es euch“, sagte er, „Die Fundstücke haben wir auf einem Tisch dahinten ausgebreitet und dort könnt ihr euch die Sachen abholen, die euch gehören“ Mir blieb immer noch die Sprache weg. Wie konnte Fintan nur so etwas Dreistes tun? „Da liegt ja meine Gerte!“, rief Rosy voller Überraschung und nahm sie gleich an sich. Ich wiederum fand mein Wörterbuch und das Parfüm wieder, welches ich May schenken wollte. „Ich habe Fintan für einen freundlichen und ehrlichen Kerl gehalten. Aber dass er zu sowas Ungeheurem in der Lage ist, hätte ich nie und nimmer gedacht“, in Rosys Stimme machte sich grenzenlose Enttäuschung breit.

 

„Wer hat denn die Sachen unter Fintans Bett gefunden?“, fragte ich meine Mitschüler während des Essens. „Lucien hat sie gefunden, als wir unser Zimmer aufgeräumt haben“, antwortete Alex und biss von seinem Brot ab. „Ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen“, meinte Emil, „Schließlich hat er meinen Taschenrechner auch geklaut“ „Da musst du bis morgen Abend warten. Fintan verbringt das Wochenende bei seinen Eltern“, sagte Jacob. „Emily, du bist Klassensprecherin“, wandte sich Ivan an mich, „Könntest du es gleich Miss Greene melden, dass wir so Einiges an Diebesgut unter seinem Bett gefunden haben. Langsam reicht es echt, was er sich erlaubt“ „Oli und ich gehen gleich nach dem Abendessen zu Miss Greene“, sagte ich zu ihm.

 

Oli klang nicht so begeistert, als ich ihr sagte, dass ich die Vorfälle unserer Klassenlehrerin mitteilen wollte. „Nun warte es doch einmal ab. Ich glaube ehrlich nicht, dass Fintan uns bestohlen hat. Vielleicht wollte ihm einer von uns diese ganzen Diebstähle in die Schuhe schieben“, versuchte sie mich zu bremsen. „Wie lange sollen wir uns das noch gefallen lassen, dass dauernd unsere Sachen verschwinden?“, zischte ich aufgebracht. „Von mir aus geh ruhig petzen“, Oli schaute mich herablassend an. Alleine ging ich auf das große alte Schulgebäude zu. Der Verwaltungstrakt war direkt links hinter der Eingangshalle. Ich klopfte an die Tür des Lehrerzimmers, doch dort machte niemand auf. Als nächstes versuchte ich es beim Büro des Schulleiters. Ich hatte Glück, Mr. Scott war gerade am Telefonieren und winkte mich herein. „Hallo, was gibt es Wichtiges?“, fragte er mich, als er das Telefon beiseite gelegt hatte und bot mir einen Platz auf dem alten Ledersessel an. Ich wusste nicht, wie ich beginnen sollte. Verkrampft starrte ich die große Pendeluhr an und lauschte ihrem gleichmäßigen Ticken. „Ein Mitschüler hat uns über Wochen lang bestohlen“, begann ich. „Bestohlen? In welchem Sinne?“, unterbrach mich Mr. Scott.

 

„In den letzten Wochen und schon kurz vor den Osterferien verschwanden immer wieder Dinge von uns, auch ich wurde zweimal bestohlen. Die gestohlenen Gegenstände wurden unter dem Bett eines Schülers gefunden“, fuhr ich fort. Der Schulleiter machte sich Notizen. „Wie ist dein Name und wer ist deine Klassenlehrerin beziehungsweise dein Klassenlehrerin?“, wollte er wissen. „Ich bin Emily Dean aus der zweiten Klassenstufe und unsere Klassenlehrerin ist Miss Greene“, antwortete ich. „Jetzt fällt es mir wieder ein, dass Miss Greene mir vor ein paar Wochen schon einmal das Verschwinden einiger Gegenstände gemeldet hat“, sagte er und fragte mich, „Wisst ihr überhaupt, wer damit etwas zu tun haben könnte?“ „Fintan Bentley“, erwiderte ich mit gesenkter Stimme und bekam diesen Namen nur mit Mühe und Not über die Lippen. Einen Moment lang sah mich Mr. Scott wortlos an. „Ich hätte nie gedacht, dass er so etwas tut. Ich habe ihn als guten Fußballspieler und ehrlichen charakterstarken Menschen in Erinnerung“, unser Schulleiter klang sehr enttäuscht.

 

Im nächsten Moment wurde ich zur Tür heraus geschickt, da er bei Fintan zuhause und bei Miss Greene anrufen wollte. Nach zwanzig Minuten bat er mich wieder herein. „Ich habe gerade mit Fintans Vater und eurer Klassenlehrerin gesprochen“, meinte er, „Fintans Vater ist der Meinung, dass sein Sohn so etwas nicht tut und hat ihm am Telefon zu den Vorwürfen befragt. Fintan bestreitet die Diebstähle ebenfalls, angeblich hätte er damit nichts zu tun. Miss Greene hingegen meint, dass wir nicht zu voreilig handeln dürfen und erst Beweise dafür haben müssen, dass er es auch wirklich war“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte und nickte nur. „Ich melde mich wieder bei dir, wenn es Neuigkeiten gibt und du sagst mir bescheid, dass sofern du Neuigkeiten erfährst“, sagte er und verabschiedete sich von mir. Nach dem Gespräch ging ich hinauf in mein Zimmer. Drinnen saßen Oli, Rosy und Lars auf Olis Bett und diskutierten eifrig. „Hast du gerade mit Mr. Scott gesprochen?“, fragte mich Alex als erstes. „Ich habe ihn von den gestohlenen Gegenständen erzählt, die unter dem Bett eines Mitschülers aufgetaucht sind“, sagte ich. „Hast du auch Namen genannt?“, bohrte Alex weiter nach. „Als er mich gefragt hat, wen wir verdächtigen, habe ich Fintans Namen genannt“, erwiderte ich. „Emily, wie leichtsinnig und unüberlegt kannst du nur sein? Jetzt hast du ihn in eine ziemliche Scheiße geritten und wegen dir steckt er in der Klemme“, Alex schlug die Hände über seinem Kopf zusammen.

 

„Setz dich zu uns, wir müssen mit dir reden“, sagte Oli ernst. „Ist dir schon einmal aufgefallen, dass Fintan lange nicht mehr in unserem Zimmer war?“, setzte Rosy fort. „Eigentlich war er nicht mehr hier, seitdem du nicht mehr mit ihm zusammen bist“, fuhr Oli fort. Mit einem Mal schämte ich mich richtig. Was wäre, wenn Fintan wirklich nicht für die Diebstähle verantwortlich war und ich nun als naives Klatschmaul dar stand? Gar nicht auszumalen, wie peinlich das wäre! „Wie du weißt, wurde Fintan in letzter Zeit viel in die Schuhe geschoben, deswegen ist er nun ziemlich außen vor“, sagte Alex, „Ich glaube nicht, dass er solche Dinge tut. Aber ich traue Lucien zu, dass er Fintan als Konkurrenten sieht und ihn ausstechen will. Mir entgeht es nicht, dass Fintan unter dieser Situation leidet. Schließlich ist er dauerhaft müde, weil er nachts kaum schläft und deswegen sacken seine Leistungen in vielen Fächern bedrohlich ab“ „Kannst du Priscilla fragen, ob sie den Drohbrief hat, der angeblich von Fintan stammte“, bat Oli. „Ich werde sie morgen fragen“, versprach ich. „Außerdem ist mir aufgefallen, dass Fintan seine Sachen außer Bücher nicht mit seinem Namen beschriftet. Es war schon merkwürdig genug, dass auf seiner Schere sein Name stand“, fügte Alex hinzu. „Kannst du mir seine Schere zeigen?“, fragte Oli, „Ich kenne die Handschriften unserer Mitschüler bereits ziemlich gut“

 

Sonntage waren in der Regel reinste Ausruh- und Erholungstage, an denen wir meisten kaum etwas machten und die Beine hochlegten. Heute beschlossen wir der Diebstahlreihe und den anderen Anschuldigungen gegenüber Fintan  auf den Grund zu gehen. Kurz nach dem Mittagessen klopfte ich an der Tür von Priscillas Zimmer. Sie begrüßte mich einem Lächeln und einem leisen „Hallo“. Ich fragte nach dem Drohbrief, den ihr Fintan angeblich geschickt hatte. „Ich weiß gar nicht, ob ich ihn noch habe“, dachte sie laut nach. „Egal, lass ihn uns einfach suchen“, sagte ich kurz entschlossen und schaute die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch durch. Priscilla ging zu ihrem Nachtisch und öffnete die oberste Schubblade. „Hier habe ich ihn“, rief sie, „Den habe ich dort ganz vergessen“ „Gut, dass du ihn nicht in den Müll geworfen hat“, seufzte ich erleichtert. Priscilla händigte ihn mir aus. „Wieso brauchst du ihn unbedingt?“, fragte sie mich verständnislos, „Ich dachte, du hättest ihm schon deine Meinung gegeigt“ „Nein, es geht darum, dass wir diese Schrift mit den Schriften unser Klassenkameraden vergleichen wollen“, erklärte ich ihr. „Glaubst du also nicht, dass Fintan es war?“, meine Cousine sah mich fragend an. „Wir wissen es noch nicht, daher machen wir den Schriftvergleich. Schließlich wollen wir auf keine falsche Fährte geraten“, sagte ich. „Ist auch besser so, jemanden falsch zu verdächtigen ist schon eine üble Sache“, war Priscilla meiner Meinung.

 

 

12. Der wahre Täter wird überführt

Auf dem Hausflur kamen mir Oli und Alex entgegen. „Super, du hast den Brief!“, stellte Oli zufrieden fest. „Ich habe die Hefte einiger Klassenkameraden“, Alex wedelte mit einem Stapel Hefte durch die Luft. „Von allen?“, fragte ich ungläubig. „Nein, nur von ein paar wenigen, die wir verdächtigen“, erwiderte er. Zu dritt gingen wir in mein Zimmer, dort konnten wir der Sache auf den Grund gehen, ohne durch Dritte gestört zu werden. Ich schnappte mir zuerst das Englischheft von Tom, doch seine krakelige und unsaubere Handschrift unterschied sich gewaltig von der des Briefverfassers. „Seht mal her!“, raunte uns Oli aufgeregt zu. Sie hatte ein Französischheft von Fintan aufgeschlagen. „Der Verfassers des Briefes kann nicht Fintan gewesen sein“, stellte Alex sachlich fest und verglich Fintans Handschrift mit der des Briefes.

 

„Sie unterscheiden sich wie Tag und Nacht voneinander“, bestätigte Oli. Im nächsten Moment wurde ich puterrot im Gesicht. „Was ist los?“, stupste mich Oli sanft an. „Ich habe einen komplett falschen Verdacht und habe Fintan aus blinder Wut beschuldigt, ohne darüber nachzudenken“, sagte ich peinlich berührt und fühlte mich vor Schuld hundselend. „Du hast die Chance dich heute Abend bei ihm zu entschuldigen, wenn er wieder kommt“, meinte Alex. „Ob er die Entschuldigung annehmen wird?“, klang ich unschlüssig, „Schließlich war ich der Esel, der es verbockt hat. Er hat einen guten Grund mich zu hassen, schließlich habe ich ihn die letzten drei Monate wie Dreck behandelt“ „Mach dir erstmal keinen Kopf darum. Ich denke, dass ihr euch wieder vertragen werdet“, beruhigte mich Alex. „Ihr ward einfach das perfekte Paar“, bekräftigte Oli. Wir schauten in den Heften weiterer Mitschüler nach. Luciens Schrift glich der Schrift des Drohbriefes am meisten. „Ich habe es mir beinahe gedacht, dass Lucien es war“, Alex fühlte sich in seinem Verdacht bestätigt, „Das müssen wir unbedingt Miss Greene zeigen“ „Auf jeden Fall, schließlich muss Lucien einen Denkzettel verpasst kriegen“, fand Oli.

 

Draußen tobte am Ende des Flures ein lautstarker Streit. Vorsichtig öffneten wir die Tür und guckten unauffällig hinter dem Türrahmen hervor. Mitten im Gang standen Lars, Greta, Tiago und Lucien. „Ich hätte nie gedacht, dass du so dreist bist und versuchst mein Smartphone zu stehlen“, rief Lars außer sich. „Das ist doch gar nicht wahr“, verteidigte sich Lucien. Er riss die Augen vor Unschuld weit auf. „Hör auf zu lügen!“, explodierte Lars, „Ich habe mein Smartphone auf Gretas Nachttisch liegen lassen und sie hat gesehen, wie du es dir genommen hast“ Lucien wusste sich nicht zu helfen und versuchte wegzulaufen. „Halt, stehen geblieben!“, rief Greta mit Befehlsstimme. „Seid ihr völlig übergeschnappt?“, brüllte Lucien über den Flur. Lars und Tiago hielten den vor Wut außer geratenen Lucien fest. „Langsam wird es Zeit, dass etwas gegen die Diebstähle unternommen wird. Ich werde es Mr. Scott und eurer Klassenlehrerin melden“, sagte Lars, der schon wieder ein wenig ruhiger klang.

 

„Meinetwegen kannst du petzen gehen“, erwiderte Lucien verachtungsvoll, „Doch eigentlich müsstest du wissen, dass es sich nicht für Kameraden und Freunde gehört“ „Ich glaube nicht, dass wir unbedingt Freunde sind, nachdem was gerade eben vorgefallen ist. Freunde bestiehlt man nicht. Ist dir das nicht klar?“, sagte Lars kühl. Lucien erwiderte kein Wort. „Falls Lars einen Zeugen braucht, hat er mich“, meinte Greta, „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen“ „Seit wann begibst du dich auf Fintans Niveau?“, Lars sah Lucien verachtungsvoll an. Nun trat Alex auf den Flur. „Lars, Tiago und Greta, ich muss ein wichtiges Wort mit euch reden“, begann er mit klarer und selbstbewusster Stimme. Überrascht drehten sie sich zu ihm um. „Was gibt es, Alex?“, fragte Lars ruhig. „Ich habe gerade gehört, was du über Fintan gesagt hast“, fuhr Alex fort, „Kommt bitte mit in Emilys Zimmer, wir stellen gerade erste Ermittlungen an“ „Welche Ermittlungen?“, Lars verstand offensichtlich nur Bahnhof. „Wir haben gerade den wahren Verfasser des Drohbriefes an Priscilla ausfindig gemacht“, meldete sich Oli zu Wort und schloss die Tür hinter sich. Greta, Lars und Tiago hockten sich auf mein Bett. Tiago nahm sich den Brief vor. „Ich hätte euch gleich sagen können, dass Fintan es nicht gewesen sein kann. Er schreibt nie und nimmer so schräg und schnörkelig. Ich weiß genau, wie seine Handschrift aussieht, denn ich habe letztes Jahr sehr oft Mathematik, Physik und Chemie von ihm abgeschrieben. Ich schließe mich euch an, dass es Lucien geschrieben haben muss“, sagte er. „Natürlich war es Lucien, wer soll es sonst gewesen sein“, meinte Alex.

 

Lars hatte sein Kinn nachdenklich auf seine Hand gestützt und hörte unserer Diskussion zu. „Ich hab’s!“, seine hellblauen Augen blitzen auf. „Dann lass mal von dir hören, was du für einen Geistesblitz hast“, bat Oli. „Ich habe einen Moment nachgedacht“, begann er, „Gestern hat Lucien die gestohlenen Gegenstände unter Fintans Bett gefunden und im Gemeinschaftsraum präsentiert. Nun nehme ich an, dass Lucien die Sachen gestohlen hat und Fintan jeden einzelnen Diebstahl in die Schuhe schieben wollte. Bestimmt wollte er mein Smartphone auch unter Fintans Bett verstecken. Jetzt weiß ich es, er wollte mich gezielt gegen Fintan ausspielen. Kann ich mal Fintans Schere sehen? Ich möchte nur zu gerne wissen, wer mein Trikot zerschnitten hat. Vielleicht war es auch nicht“ „Das ist nicht Fintans Schere. Zwar steht da sein Name drauf, aber Fintan hat eine andere Schere, das weiß ich ganz genau“, sagte Alex und hielt ihm das Beweisstück hin.

 

„Wirklich?“, erwiderte Lars und runzelte die Stirn. „Fintans Schere liegt auf seinem Schreibtisch und die von Lucien ebenfalls“, war sich Alex ganz sicher. „Wessen Schere soll es sonst sein?“, fragte Tiago. „Irgendeiner muss es doch gewesen sein“, sagte Lars. „Wenn ihr mir nicht glauben wollt, kann ich euch beweisen, dass die Scheren von Fintan und Lucien auf ihren Schreibtischen liegen“, rief Alex. „Hey hey, mal ganz ruhig! Wir glauben dir doch“, Greta klopfte ihm beruhigend auf die Schulter. „Kann ich bitte die Schere haben? Ich möchte sehen, welche Schrift Fintans Namen hat“, bat Oli. Alex reichte ihr das Beweisstück rüber. „Auf jeden Fall sieht die Schrift ziemlich krakelig und verschmiert aus“, stellte Greta fest. „So schreibt Fintan auf keinen Fall“, wusste Tiago. Lars sah ihn skeptisch an. Zum Beweis holte ich Fintans Heft und schlug es auf. „Siehst du nicht, dass es nicht seine Schrift ist?“, fragte ich Lars. Einen Moment lang ratterte es bei Lars im Kopf. „Jetzt sehe ich es auch, dass Fintan es nicht geschrieben hat“, gestand er sich. „Eben, außerdem beschriftet er seine Sache nicht“, nickte Alex. „Tom hat den Namen auf die Schere geschrieben“, ging mir ein Licht auf. „Wirklich?“, fünf Augenpaare starrten mich geschockt und ungläubig an.

 

„Es war wirklich Tom Parshley“, wiederholte ich und wunderte mich, dass ich seinen vollen Namen aussprach. Oli klappte Toms Heft auf. Wir beugten uns zu fünft über ihre Schulter. „Das sieht wirklich nach Toms Schrift aus und es wird bestimmt auch Toms Schere sein“, entfuhr es Alex fassungslos. „Ich schäme mich langsam, wieso wir nicht früher darauf gekommen sind. Stattdessen beschuldige ich Fintan, ohne ein Detail zu hinterfragen. Langsam komme ich mir richtig dämlich vor“, Lars klang peinlich gerührt. „Ich frage mich, warum Tom sowas macht“, sagte Tiago ratlos. „Ich kapiere es auch nicht, schließlich war er lange Zeit gut mit Fintan befreundet“, fügte Lars hinzu. „Auf alle Fälle waren Lars, Fintan, Patrick, Tom und ich ziemlich gute Kumpels und sind es eigentlich immer noch“, bestätigte Tiago, „Ich verstehe immer noch nicht, was alles schief laufen musste, dass Fintan zu so einem Außenseiter geworden ist. Ehrlich gesagt, ich habe auch Schuld, ich habe ihn nicht unterstützt und mich stumpf der Mehrheitsmeinung angeschlossen“ „Es ist okay, dass du dich rechtfertigst, aber du solltest dich lieber bei Fintan selbst entschuldigen“, meinte Alex.

 

Tom saß in seinem Zimmer, als wir den Kopf zur Tür hineinsteckten. „Tag, was gibt es?“, brummte er und sah von seinem Heft auf. Alex legte ihm kommentarlos die Schere auf den Schreibtisch. „Was kannst du dazu sagen?“, begann Lars. „Was soll ich dazu sagen?“, zuckte Tom gleichgültig mit den Schultern und tippte eine Rechnung in den Taschenrechner ein. „Du weißt sehr wohl, was du dazu sagen kannst“, zischte Lars. „Das ist deine Schere, die du mit Fintans Namen beschriftet hast“, ergänzte Greta schnippisch. „Wovon redet ihr? Macht zu, dass ihr verschwindet!“, wurde Tom wütend. „Wir bleiben, solange hier, bis du dich zu der Sache mit der Schere und meinem Trikot äußerst“, blieb Lars hart. „Du kannst nicht verleugnen, dass es deine Schere ist und du sie beschriftet hast, deine Schrift ist unverkennbar“, ergänzte Alex. Einen Augenblick wurde kein Wort gewechselt, nur Toms Wecker tickte wie eine Bombe leise vor sich hin. „Ich gebe es zu, dass ich es war, der dein Trikot zerschnitten hat, Lars“, gab sich Tom nach einer gefühlten Viertelstunde geschlagen.

 

„Aber warum tust du so etwas?“, mit einem Mal klang Lars sehr enttäuscht und verletzt. „Ich war sauer auf Fintan, da Lucien mir erzählt hat, dass er überall Schlechtes über mich erzählt. Ich dachte Fintan wäre ein guter Kumpel, aber dass er hinter meinem Rücken über mich lästert, hätte ich nie gedacht. Irgendwie musste ich meine Wut rauslassen und wollte Fintan dabei eins auswischen“, rechtfertigte sich Tom und sank in sich zusammen. „Du musst dich nicht bei mir entschuldigen, sondern bei Finn“, sagte Lars. „Moment mal, Fintan hat über niemanden schlecht geredet. Ich habe in letzter Zeit viel Zeit mit ihm gebracht und er hat generell sehr wenig gesprochen. Seine seelische Verfassung kann einem schon Sorgen bereiten, da er seit Wochen niedergeschlagen und depressiv wirkt“, griff Alex den Faden wieder auf. „Ist dir eigentlich nicht bewusst, dass Lucien die ganze Schule gegen Fintan aufbringen will? Luciens Ziel ist, dass Fintan im hohen Bogen von der Schule fliegt“, warf Oli Tom an den Kopf. „Nein, das habe ich nicht gepeilt, weil ich zu sehr auf Luciens Seite war. Ich dachte Lucien wäre ein netter und aufrichtiger Kerl“, gab Tom ehrlich zu. „Bist du immer noch auf seiner Seite?“, hakte Oli nach. „Hm, ich bin mir da nicht mehr so ganz sicher“, dachte Tom laut und fügte hinzu, „Eigentlich weiß ich überhaupt nicht, wem ich noch trauen sollte“

 

„Es ist wohl klar, dass man Lucien nicht trauen kann“, erwiderte Oli mit messerscharfer Stimme. „Wir haben den Fehler auch gemacht, dass wir ihm vertraut haben“, erzählte Lars, „Lucien wollte vorhin mein Handy stehlen, als es bei Greta auf dem Nachtisch lag. Zum Glück hat es Greta gemerkt und mich gerufen, als er mit meinem Handy davon gelaufen ist. Von da an ist mein Vertrauen zu ihm im Eimer“ „Oh man, wie sehr man sich nur in Leuten täuschen kann. Langsam merke ich, wie falsch ich bin“, Tom sah mit leeren Augen aus dem Fenster. „Aber das kannst du auf der Stelle ändern, denn eigentlich bist du nicht so“, meldete ich mich zu Wort. „Wenn ich du wäre, würde ich gegenüber Fintan und den Lehrern die Aktion mit dem zerschnittenen Trikot zugeben“, meinte Lars. „Werde ich wohl schweren Herzens müssen“, seufzte Tom. „Zumindest beweist das Stärke und Ehrlichkeit“, munterte Tiago ihn auf.

 

Fintan kam erst sehr spät abends wieder. Alleine saß er auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum und blätterte in einer Zeitschrift. Oli, Alex, Lars, Tom und ich umringten ihn. Er schien uns nicht zu bemerken oder wollte ihn uns absichtlich ignorieren. „Wir müssen einen Moment mit dir reden“, räusperte sich Oli. Fintan schwieg und sah uns fragend an. In seinen Augen lag ganz deutlich das Misstrauen, welches sich in den letzten Wochen entwickelt hatte. Alex und Tom schleppten Stühle herbei, damit wir uns setzen konnten. „Was wollt ihr eigentlich von mir?“, Fintans Stimme klang genervt. „Es ist so“, begann ich leise, „Du warst nicht der derjenige, der den Drohbrief an meine Cousine geschrieben, Lars Trikot zerschnitten und die ganzen Gegenstände gestohlen hat“ „Wer war es denn gewesen? Ich hätte euch sofort sagen können, dass ich sowas Widerwärtiges nicht tue. Stattdessen beschuldigt ihr einfach mich und macht mir das Leben hier zur Hölle“, seine Stimme überschlug sich fast vor Wut.

 

„Es tut mir wirklich Leid“, versuchte ich ihn zu besänftigen. „Lucien hat den Drohbrief an Emilys Cousine geschrieben. Wir haben es anhand eines Schriftvergleiches herausgefunden. Außerdem war er auch für die Diebstähle verantwortlich, die er dir in die Schuhe schieben wollte“, erzählte Lars. „Ich muss dir etwas gestehen“, Toms Stimme klang reuevoll, „Ich war derjenige, der deinen Namen auf die Schere geschrieben hat und damit Lars Trikot zerschnitten hat“ „Warum hast du das getan? Ich dachte, wir wären seit fast zwei Jahren gute Kumpels“, Fintan sah ihn tief enttäuscht an. „Lucien hat erzählt, dass du angeblich schlecht über mich geredet hättest und Lügen verbreitest, die mich in ein schlechtes Licht stellen“, rechtfertigte sich Tom und fügte hinzu, „Doch Oli und Alex sind fest überzeugt, dass es nicht stimmt und ich glaube ihnen“

 

Nach und nach entschuldigten wir uns. „Ich verstehe nicht, warum es euch erst jetzt Leid tut“, Fintans Stimme bebte vor Wut, „Ihr habt mich drei Monate lang wie einen Verbrecher behandelt, beinahe die ganze Schule auf mich gehetzt und mit mir kein Wort gewechselt. Ihr ward es, die Lucien stark gemacht haben und nur deswegen konnte er mich die ganze Zeit über dermaßen schikanieren. Ich habe nicht einmal die geringste Lust eure mickrige Entschuldigung anzunehmen“ Er ließ die Zeitschrift liegen und lief mit schnellen Schritten davon. Sprachlos sahen wir ihm nach. „Ich glaube er will einfach nicht uns reden“, sagte Oli enttäuscht, „Aber ich kann ihn irgendwie auch verstehen, dass er stink sauer ist, schließlich muss der Dorn der Enttäuschung noch ziemlich tief in ihm sitzen“ „Keine Panik, ich werde gleich noch mit ihm reden“, beruhigte uns Alex, „Schließlich war ich eine der wenigen Personen, die in den letzten Wochen zu ihm gehalten hat. Ich bin mir sicher, er wird sich abreagieren. Die letzten Wochen waren für ihn kein Zuckerschlecken, er kam mir dauernd müde, schlaff, appetitlos und traurig vor. Wenn wir ihm langsam das Vertrauen zurückgeben, wird er sich wieder öffnen“

 

Montag hatten wir kurz vor dem Mittagessen ein Gespräch mit Miss Greene und Mr. Scott im Schulleiterbüro. Alex, Oli, Tom und ich hockten uns neben Fintan auf die ledernde Couch. Lucien saß abgelegen auf einem alten Sessel und starrte geistesabwesend auf die große hölzerne Standuhr. „Es ist bedauerlich, was in den letzten Monaten in unserer Klasse vorgefallen ist. In meinem Erachten handelt es sich um Psychoterror beziehungsweise Mobbing gegenüber einen von meinen Schülern. Es fing mit einem Brief voller Drohungen an, der an Emilys Cousine adressiert war. Angeblich soll ihn Fintan geschrieben haben. Doch als mir Olivia vorhin den hinterhältigen Brief gegeben hat, war es eindeutig, dass Fintan den Brief nicht geschrieben haben kann. Da ich die Handschriften meiner Schüler mittlerweile sehr gut kenne, weiß ich genau, wer der Verfasser ist“, eröffnete Miss Greene das Gespräch. „Lucien, magst du dich dazu äußern?“, übernahm Mr. Scott. Mir entging nicht, dass Luciens Mundwinkel leicht zitterten. „Ich habe wirklich die Gegenstände von meinen Klassenkameraden gestohlen und unter Fintans Bett versteckt. Den Brief habe ich auch geschrieben, aber ich habe nicht Lars Trikot zerschnitten“, begann er. „Ich finde es ziemlich übel, was du Fintan in die Schuhe schieben wolltest. Besonders als du Samstag das gesamte Diebesgut vor der ganzen Klasse präsentiert hast und du somit Fintan als Dieb darstellen wolltest. Warum tust du sowas?“, nahm Miss Greene den Faden wieder auf.

 

„Fintan und ich waren von Anfang keine guten Freunde, wir sind arge Konkurrenten. Ich war neidisch auf ihn, da er einen Stammplatz in der Fußballmannschaft hat, eine hübsche Freundin hatte, gute Noten in den Naturwissenschaften schreibt und mit vielen Mitschülern befreundet ist. Daher war mir jedes Mittel recht, um ihn ausstechen“, Lucien fiel es extrem schwer zu sprechen. „Es ist trotzdem kein Grund einem Mitschüler das Leben hier schwer zu machen und ihn zu schikanieren. Solche Verhaltensweisen sind sehr hinterhältig und gehören nicht nach Saint Malory“, wies ihn Mr. Scott scharf zurecht. „Ich weiß, es tut mir im Endeffekt ziemlich Leid“, sagte Lucien mit herunterhängenden Schultern. „Ich muss auch noch eins sagen“, Tom stand auf und trat vor Mr. Scotts Schreibtisch. Miss Greene und der Schulleiter sahen ihn überrascht an. Offenbar wussten sie nicht, dass Tom sich ebenfalls eine Sache zu Schulden kommen ließ. „Ich habe Fintans Namen auf meine Schere geschrieben und damit Lars Trikot zerschnitten“, gab er offen zu. „Mir ist es echt ein Rätsel, wieso du so etwas getan hast. Ich dachte, ihr seid gut befreundet“, wunderte sich Miss Greene. „Eigentlich sind wir es auch“, bestätigte Tom, „Doch Lucien teilte mir vor einigen Wochen mit, dass Fintan einige unschöne Lügen hinter meinem Rücken verbreitet hat“ „Stimm das, Fintan?“, forschte unsere Klassenlehrerin nach, ohne dass sie Tom ausreden ließ. „Nein, das ist nicht wahr“, schüttelte Fintan entrüstet den Kopf, „Ich habe während der Zeit kurz vor den Osterferien nur noch sehr wenig mit meinen Klassenkameraden gesprochen, da sie mich aus heiterem Himmel wie Luft behandelt hatten. Außerdem, Lügen und Gerüchte hinter dem Rücken meiner Mitmenschen zu verbreiten ist nicht meine Art“

 

„Fintan hat wirklich nicht Schlechtes über irgendjemand gesprochen, noch nicht einmal über Emily, mit der er vor drei Monaten Schluss gemacht hat“, bekräftigte Alex. „Ich habe über ein angemessenes Strafmaß nachgedacht“, richtete sich Mr. Scott an Lucien, „Du wirst zweimal in der Woche bis zu den Sommerferien dem Gärtner helfen und du bekommst drei Wochen lang ein absolutes Ausgehverbot, das heißt keine Gänge in die Stadt oder zum Supermarkt. Das ist deine letzte Chance und Verwarnung zugleich. Lässt du dir noch eine gravierende Sache zu schulden kommen, bist du weg vom Fenster“ Lucien nickte schweigend. Er sah so aus, als könnte er mit dem Urteil leben. „Und du, Tom. Du wirst nur zwei Wochen lang dem Gärtner helfen und dein Ausgehverbot dauert nur zwei Wochen lang“, Mr. Scott wandte sich Tom zu. „Könnt ihr mit der Strafe leben, Lucien und Tom?“, fragte Miss Greene nach. Beide Jungs nickten. „Es ist gut, dass es so aufmerksame Schüler, wie euch gibt“, wandte sich Mr. Scott ganz zum Schluss an Oli, Alex und mich. „Ihr könnt gehen“, sagte Miss Greene zu uns, „Ich denke, die Hausmutter mag es nicht besonders gerne, wenn man zu spät zum Essen kommt“ „Falls sie meckert, haben wir immerhin eine gute Ausrede“, Oli konnte sich ein spitzbübisches Grinsen nicht verkneifen. 

13. Lucien im Abseits

„Hey Emily!“, Lucien klebte mir an den Fersen, ohne auf seine Worte zu hören ging ich weiter. „Emily, nun warte doch endlich!“, rief er ungeduldig und beschleunigte seine Schritte. „Ist dir immer noch nicht bewusst, dass mit dir niemand mehr etwas zu tun haben will?!“, drehte ich mich zu ihm um und knallte ihm die Worte direkt an den Kopf. Lucien blieb geplättet stehen. „Das hast du dir selber zu zuschreiben. Wir sehen ja, was für ein unehrliches und hinterlistiges Arschloch du bist“, sagte Oli, bevor er noch etwas sagen konnte. „Ich liebe dich immer noch, Emily“, sagte er unmittelbar. „Checkst du es nicht, dass es zwischen uns aus ist? Ich will nichts mehr von dir. Es ist vorbei!“, schrie ich ihn an. „Wieso? Ich habe dir doch nichts getan oder irre ich mich?“, verwundert und verletzt zugleich starrte mich Lucien einen Moment regungslos an.

 

„Du hast mich ebenfalls bestohlen und zwar mein Französischwörterbuch und mein Parfüm, welches ich May zum Abschied schenken wollte. Außerdem hast du meiner Cousine diesen Brief mit diesen gemeinen Drohungen geschickt. Hätte ich gewusst, dass du so hinterfotzig bist, wären wir nie und nimmer zusammen gewesen“, rief ich außer mir und spürte einen Moment später, wie mir die Tränen die Wangen herunter liefen. „Reg dich ab, Emmi! Es hat keinen Sinn sich wegen so einem Idioten aufzuregen“, tröstend legte Greta mir ihre Hand auf die Schulter. „Ich weiß, aber ich bin so enttäuscht. Ich habe Lucien wirklich geliebt, doch nun ist alles komplett zerstört“, heulte ich los. Greta reichte mir ein Taschentuch, damit ich mir die Nase putzen konnte. Ich begriff immer noch nicht, wie ich diesen Kerl mit seiner äußeren schönen Hülle und seinem abgründig hässlichen Charakter lieben konnte.

 

„Hey Mädels, beeilt euch, sonst geht ihr leer aus!“, Lars winkte uns zu seinem Tisch. „Was? Ist nur noch so wenig da“, entsetzt schaute Oli in die halbleere Schüssel mit den Spagettis. „Ihr könnt froh sein, dass wir euch noch etwas übrig gelassen haben“, grinste Fintan, „Greift zu, aber wahrscheinlich ist es schon ein wenig kalt“ „Macht nichts, wir haben einen gewaltigen Kohldampf“, erwiderte Oli. „Tja, vier Jungs sind gefräßiger als die Polizei erlaubt“, sagte Greta mit einem Seitenblick auf Lars. „Das war aber nicht. Wenn du wissen willst, bei wem das meiste gelandet ist, dann frag Alex und Fintan. Die futtern die ganze Zeit wie die Scheunendrescher“, unschuldig sah er seine Freundin an. „Ich habe schon gehört, dass ihr gerade ein Gespräch bei Mr. Scott hatte. Soll ich euch noch eine Schüssel neuer Nudeln bringen? Ich denke der winzige Rest in der Schüssel muss schon kalt sein“, freundlich lächelnd kam die Hausmutter an unseren Tisch.

 

Greta und ich bedankten uns. „Noch mal vielen Dank, dass ihr mir aus der Patsche geholfen habt. Hättet ihr nicht so eine gute Detektivarbeit geleistet, würde ich in riesigen Schwierigkeiten stecken und kurz vor einem Schulverweis stehen“, wandte sich Fintan an uns. „Ach, dafür brauchst du nicht bedanken, dass man sich hilft ist unter Kameraden üblich“, erwiderte Oli mit vollem Mund. Ich war erleichtert, dass Fintan beinahe wieder der Alte zu sein schien. Obwohl er immer noch ein wenig auf Distanz ging und bei Lars Scherzen nur verhalten mitlachte. Lucien hingegen saß mit Ivan an einem Tisch und stocherte lustlos in seinem Essen herum. „Das geschieht ihm ganz recht, dass er nun alleine ist“, flüsterte Oli mir mit gehässiger Stimme ins Ohr. Mein Herz erlitt einen Stich als ich sah, dass Samantha auf Fintan zukam und ihn von hinten umarmte. Ich konnte gerade noch wegschauen, als sie ihm ein Küsschen auf die Wange geben wollte. „Sind sie jetzt zusammen?“, flüsterte ich Oli ins Ohr. „Ja, seit einem Monat, das habe ich von Alex erfahren“, erwiderte meine Freundin. Resigniert sackte ich in mich zusammen und versteckte mein Gesicht hinter meinen Händen. Nun hatte ich niemanden mehr. Fintan war weg und Lucien ebenfalls. „Manchmal kann ein Singleleben auch sehr entspannend sein“, tröstete mich Rosy, „Ich habe mir noch nie viel aus Liebe gemacht, aber das kommt bestimmt noch“

 

Nach den Hausaufgaben ließen wir den Nachmittag am Pool ausklingen. Es war bisher der heißeste Nachmittag des Jahres, trotzdem wollte ich nach einer Runde Schwimmen gemütlich auf der Liege dösen und mir die Sonne auf den Pelz brennen lassen. „Emily, ich glaube du brauchst eine Abkühlung!“, rief Alison und berührte mich ihrer eiskalten Hand am Arm und zog mich hoch. „Nein, ich will nicht“, wehrte ich mich, doch vergebens. Im nächsten Moment landete ich mit einem lauten Kreischen in den eiskalten Fluten. „Das war fies!“, beschwerte ich mich und spuckte das verschluckte Wasser aus. „Aber ein bisschen Abwechselung muss doch sein oder?“, Alison sah mich grinsend an, „Wir dachten schon, du verbrennst in der Sonne“ „Hast du dich eigentlich mit Sonnencreme eingerieben?“, erinnerte mich Sandrina. „Oh nein, das habe ich ganz vergessen“, stellte ich erschrocken fest. „Auf jeden Fall bist du schön rot“, stellte Isa fest. „Falls du noch Sonnenmilch brauchst, ich habe eine XXL Flasche davon“, meldete sich Rosy zu Wort. Nachdem ich mich abgetrocknet hatte, cremte mich meine Freundin ein. „Bleib am besten unter dem großen Sonnenschirm“, riet sie mir. Lucien kam in einer blauweiß karierten Shorts auf die Terrasse und legte sich zwei Liegen links von mir hin. Er ließ sich die Sonne auf den Bauch scheinen. Da er eine olivfarbene Haut hatte, war er mir gegenüber beim Sonnenbaden eindeutig im Vorteil. Ich schloss meine Augen und träumte vor mich hin. Erst als neben mir laut geredet und gelacht wurde, fuhr ich hoch. Fintan und Samantha saßen auf der Liege neben mir und cremten sich gegenseitig ein. Schnell drehte ich mich wieder und nickte ein.

 

Die kommenden Tage wurden die schlimmsten Tage für Lucien. Es wurde kaum ein Wort geredet, nur Emil und Jacob hielten manchmal zu ihm. Genau eine Woche nach dem Gespräch mit Mr. Scott fing die wichtigste Klausurenphase des Schuljahres an, die bei manchen Mitschülern entschied, ob sie versetzt wurden oder nicht. In der ersten Woche der Klausurenphase standen hauptsächlich Klausuren in den sprachlichen Fächern an. Zusammen mit Oli, Sandrina und Rosy wiederholte ich für Englisch und Französisch den gesamten Inhalt der letzten zehn Monate. Zwar hätte mich Lucien in Französisch am besten auf die Klausur vorbereiten können, doch ich wollte um keinen Preis seine Hilfe annehmen. Insgesamt büffelte ich fünf Tage für diese Klausur. Mein Ziel war es mindestens eine Drei zu schreiben, da meine vorigen Klausuren eher im Viererbreich lagen. „Warum lernen wir nicht am See?“, schlug Rosy einen Tag vor der Klausur vor.

 

„Die Idee finde ich prima“, rief Oli begeistert, „In diesem warmen stickigen Raum kann ich mich eh nicht mehr konzentrieren“ Zu dritt packten wir unsere Sachen und gingen den kleinen Pfad zum See entlang. Lernen in der Natur bewirkte tatsächlich große Wunder. Zum ersten Mal behielt ich alle wichtigen Vokabeln merken und richtig schreiben, die wir für Morgen brauchten und ich beherrschte zum ersten Mal in diesen beiden Jahren alle Zeiten aus dem Effeff. Rosy erklärte uns die Zusammenhänge der beiden Lektüren, die wir dieses Jahr gelesen hatten. „Nur zu blöd, dass Mamsell uns nicht verraten, über was wir genau schreiben?“, grummelte Oli, „Sonst hätten wir uns nur auf eine der beiden Lektüren konzentrieren müssen“ „So ist halt die Alte, sie lässt ihre Schüler gerne hart schuften“, seufzte ich. „In Französisch gibt es nur vier Schüler, die Chancen auf gute Noten haben. Das sind Rosy, Lucien, Matthew und Stefanie. Der Rest kann froh sein, wenn er besteht“, meinte Oli.

 

Am nächsten Morgen saßen wir pünktlich um halb neun im Klassenraum. Mme ging von Tisch zu Tisch und teilte die Klausurenbögen aus. Nervosität machte sich im Klassenraum breit. „Ich bitte einen Moment um Aufmerksamkeit“, klopfte Mme Noire mit ihrer Hand auf ihr Pult, „Bitte vergesst nicht eure Handys vorne bei mir abzugeben, sofern ihr es noch nicht getan habt. Dann lest euch jetzt schon mal in Ruhe die Aufgabenstellungen durch und meldet euch, wenn ihr Fragen habt oder etwas nicht versteht“ Ein Stein fiel mir vom Herzen, als ich auf den Text und den Aufgabenzettel sah. Zum Glück schrieben wir nicht, über die Lektüre, mit der die ganze Klasse Probleme hatte. Offensichtlich kannte Mamsell doch ein Erbarmen mit uns. Um mich herum war das Rascheln von Papier zu hören.

 

„Viel Glück!“, zwinkerte mir Sandrina zu. „Danke, dir auch“, erwiderte ich. „Ich bitte doch die Privatgespräche einzustellen, sonst muss ich den betreffenden Schülern aufgrund eines Täuschungsversuches die Klausur wegnehmen“, fuhr Mamsell sofort dazwischen. Ich konzentrierte mich auf die Klausur und markierte mir die wichtigsten Stellen im Text. Die ersten beiden Aufgaben erledigte ich mit großer Sorgfalt. Mit einem Riesenschrecken stellte ich mittendrin fest, dass ich nur noch etwas mehr als eine halbe Stunde Zeit für die letzte Aufgabe hatte. „Nimm zu der Meinung der Hauptperson Stellung und erörtere deine Ansicht“, hieß die Aufgabe. Angestrengt kramte ich in meinem Gedächtnis nach, doch mir fiel nichts Intelligentes ein und die Zeit raste unaufhaltsam vorwärts. Deswegen schrieb ich alles hin, was mir gerade einfiel. 

14. Böses Spiel

In den nächsten Tagen folgten im Abstand von zwei Tagen die übrigen Klausuren. Uns blieb kaum Luft zum Beine hochlegen und Spaß haben, da wir uns vorbereiten und Lernzettel mussten. Am Tag vor der Matheklausur traf ich Fintan alleine vor unserem Wohnhaus. „Na, wie ist es so?“, zwinkerte er mir zu. „Anstrengend“, gab zu ehrlich zu. Ich stutzte einen Augenblick. Wieso saß er dort nicht alleine? „Falls du wissen willst, ich habe mit Samantha Schluss gemacht“, sagte er. „Wirklich? Einfach so?“, hakte ich nach. „Wir passten einfach nicht zusammen, da wir nicht auf der gleichen Wellenlänge sind“, meinte Fintan, „Außerdem war sie nur auf mein Aussehen aus und konnte sonst mit mir wenig anfangen. Warum sollte weiterhin mit diesem oberflächlichen Girl zusammen sein? Man soll sein Herz nicht mit einer falschen Liebe betrügen, dies sagen Mom und Grandma immer zu mir“

 

Ich setzte mich einen Moment neben ihn und holte meine Lernzettel aus der Hosentasche. Ich wusste, dass Fintan ein Ass in Mathe war und meist eine der besten Noten hatte. „Verstehst du, wie man die Binomialverteilung ausrechnet?“, fragte ich ihn. Ohne Probleme konnte er mir es genau erklären und wandte ein Beispiel daran an. „Danke, jetzt verstehe ich es endlich“, bedankte ich mich mit einem Lächeln. Im nächsten Moment lief Lucien an uns vorbei, der uns beiden einen eifersüchtigen Blick zuwarf. Offenbar dachte er, dass Fintan und ich wieder zusammen waren, obwohl wir nur zusammen für die morgige Klausur lernten. „Was macht ihr denn hier zusammen?“, aus dem Nichts tauchte Oli vor uns auf. „Wie du siehst, lernen wir gerade zusammen“, erwiderte Fintan. „Gott sei Dank, das ist morgen die letzte Klausur diese Schuljahres“, sagte Oli erleichtert. „Oh ja, darum bin ich auch froh“, pflichtete er ihr bei. „Wie Chemie vorgestern bei dir gelaufen? Hattest du bei der einen Aufgabe genauso große Probleme wie ich?“, fragte Oli. „Die Klausur war voll in Ordnung, damit hatte ich keine großen Probleme“, meinte Fintan.

 

Am nächsten Morgen schloss Miss Greene den Klassenraum eine halbe Stunde vorher auf, damit wir in Ruhe unsere Arbeitsplätze vorbereiten konnten. Es wurde die Gelegenheit genutzt um noch einmal auf Toilette zu gehen und sich vor der Tür zu unterhalten. Unruhig knetete ich meine Hände. Bei Matheklausuren hing es bei mir meist von der Tagesform, ob ich gute oder eher mittelmäßige Noten schrieb. „Viel Glück!“, wünschten wir uns gegenseitig als wir uns wieder auf unsere Plätze setzten. Miss Greene legte einen Stapel Klausurenbögen auf den Tisch und forderte uns auf, unsere Handys abzugeben. „Lest euch in Ruhe die Aufgaben durch, vielleicht tauchen noch Fragen auf. Beginnen dürft ihr erst, nachdem ich die Start- und Abgabezeit an die Tafel geschrieben habe“, sagte sie. Die Klausur schien gut lösbar zu sein, keine der Aufgaben schien für mich besonders kompliziert oder unlösbar zu sein.

 

Mit den ersten beiden Aufgaben war ich bereits nach einer Viertelstunde fertig. Den Mittelwert und die Zufallsgröße einer Stichprobe zu ermitteln war nicht wirklich schwer. In der dritten Aufgabe sollten wir das Urnenmodell anwenden und berechnen, wie sich die Wahrscheinlichkeit veränderte, wenn die Kugeln nach dem Ziehen nicht zurückgelegt wurden. Dank Fintans Erklärung von gestern, war die Aufgabe kein größeres Hindernis mehr. Ohne Vorwarnung sackte Fintan auf einmal in sich zusammen und fiel vom Stuhl. Dort blieb er bewegungslos liegen. Sofort standen Stefanie und Ivan, die hinter ihm saßen, auf und knieten sich über ihn. Überall machten Unruhe und Ungewissheit breit. „Was hat er?“, Angst stand in Miss Greenes Gesicht geschrieben. „Offenbar ist er nicht ansprechbar“, sagte Ivan und berührte Fintans bleiches Gesicht. Die junge Lehrerin kniete sich neben ihm nieder und fühlte nach seinem Puls. „Auf jedem Fall kann ich seinen Herzschlag fühlen und er atmet, auch wenn ein wenig schleppend“, stellte sie fest. Sanft legte sie ihm die Hand auf die Stirn. Uns fiel trotzdem ein Stein vom Herzen, offenbar hatte Fintan keinen Herzkreislaufstillstand erlitten und war nicht in akuter Lebensgefahr.

 

Doch es blieb uns ein Rätsel, wieso er mitten in der Klausur bewusstlos vom Stuhl fiel. „Wir werden ihn zur Untersuchung ins Krankenhaus bringen“, beschloss Miss Greene. Zwei Mitschüler trugen den immer noch bewusstlosen Fintan zur Tür hinaus. Unsere Lehrerin begleitete sie. Als die Tür hinter uns geschlossen wurde, brach eine laute Diskussion aus. „Wie kann es sein, dass Fintan plötzlich ohnmächtig wird?“, rief Jacob. „Vielleicht hat er wirklich eine Herzkreislaufschwäche“, vermutete Shane. „Quatsch, das hätten wir schon längst gewusst“, fuhr Oli dazwischen. „Normal ist es trotzdem nicht, dass jemand einfach so bewusstlos zu Boden fällt“, mischte sich Alison ein. „Das stimmt, er war zuvor kerngesund“, pflichtete Isa ihrer Schwester bei. „Es kann sein, dass ihm etwas ins Essen gemischt wurde“, äußerte Rosy einen ersten Verdacht. „Aber wer tut denn schon so etwas?“, entgegnete ihr Emil. „Mir würde sowas nicht in den Sinn kommen“, meinte Lucien. „Mir auch nicht“, schloss sich Tom an.

 

Nach einer gefühlten halben Stunde kam Miss Greene wieder. Sie schien deutlich ruhiger zu sein. „Falls ihr wissen wollt, wie es Fintan geht. Ich kann euch beruhigen, ihm geht es gut. Gerade wird er untersucht und bald werden wir die Ursache für sein Ohnmächtigwerden erfahren“, teilte sie uns mit. Ein erleichtertes Raunen ging durch die Reihen. „Wollt ihr die Klausur an dieser Stelle abbrechen und an einem anderen Termin noch einmal schreiben oder wollt ihr die jetzige Klausur zuende schreiben?“, fragte sie uns. Die Mehrheit von uns entschied, dass die Klausur zuende geschrieben werden sollte. Miss Greene gab uns noch eine Stunde zusätzlich mehr Zeit, sodass wir keine Probleme hatten mit der Arbeit fertig zu werden. Während des Mittagessens gab es kein anderes Thema als Fintans Ohnmächtigwerden. „Vielleicht ist er auf deswegen ohnmächtig geworden, da er während der Klausur die Nerven verloren hat, da er mit den Aufgaben nicht zurechtkam. Ich kenne es von meiner Tante, die auf wegen so etwas ähnlichen ohnmächtig wurde, als sie ein Blackout während ihrer Examensarbeit hatte“, reimte sich Ivan zusammen. „Ach, Quatsch! Fintan hatte noch Probleme mit Mathe und so dünn ist sein Nervenkostüm auch nicht, dass er wegen jeder Kleinigkeit ohnmächtig wird“, tippte sich Tom gegen die Stirn.

 

„Er hat mir gerade eine SMS geschickt“, Alex kam zu unserem Tisch. „Lass hören“, rief Oli aufgeregt. „Hey, keine Bange, Leute! Ich bin gerade aufgewacht und mir geht es soweit gut, außer meinem Brummschädel, einem flauen Gefühl im Magen und so einem merkwürdigen Schwindelgefühl. Ich war gerade eben mehr als erstaunt, dass ich in einem Krankenzimmer aufgewacht bin und wusste nicht, was Sache war. Eine Krankenschwester erzählte mir, dass ich während der Klausur bewusstlos zusammengebrochen bin. Ich kann mich auch nicht mehr erinnern, wie es passiert ist. Meine Erinnerungen wurden aus meinem Gedächtnis gelöscht. Dad und Grandma stehen momentan an meinem Krankenbett und mir wurde mitgeteilt, dass ich heute Abend entlassen werde. Dir und der ganzen Klasse einen lieben Gruß! Euer Finn“, las er vor. „Wenigstens geht es ihm wieder besser“, klang Sandrina erleichtert. „Auf jeden Fall, ich dachte im ersten Moment, dass er gleich stirbt“, sagte Rosy. „Wie kamst du darauf?“, fragte Oli mit hochgezogenen Augenbrauen. „Vor ein paar Jahren brach mein Opa im Sessel zusammen und war kurz darauf tot. Der Notarzt konnte ihn nicht wiederbeleben“, erwiderte Rosy. In mir stieg ein düsterer Verdacht auf. Gab es unter uns jemanden, der Fintan vergiften oder absichtlich außer Gefecht setzen wollte? Ich wusste ganz genau, dass er an keiner Herzkreislauferkrankung oder an einer sonstigen Vorerkrankung litt. Daher kann er nicht ohne Grund zusammen gebrochenen sein.

 

Nach den Hausaufgaben sollte ich noch eine Liste im Lehrerzimmer abgeben. Mitten auf dem Verwaltungstrakt standen Miss Greene und Mrs. Bentley, die lautstark miteinander redeten. Unauffällig ging ich vorbei und klopfte an die Tür des Lehrerzimmers, da ich ihr Gespräch nicht stören wollte. Ein fremder Lehrer kam raus und versprach mir die Liste in Miss Greenes Fach zu legen. Hinter mir ging das Gespräch zwischen unserer Lehrerin und Fintans Mutter munter weiter. „Wie kann es möglich sein, dass ein Schüler während einer Klausur Schlafmittel verabreicht bekommt?“, fuhr Mrs. Bentley hitzig fort. „Ich habe nicht mitbekommen, wie es passiert ist. Ich war selbst geschockt, als er bewusstlos auf dem Boden lag. Ich weiß nicht…“, Miss Greene kam mit einem Mal verunsichert rüber. „Natürlich können Sie es nicht wissen! Sie waren auf nicht dabei, als es passiert ist. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Fintan vor einer wichtigen Klausur mit Schlaftabletten zudröhnt. So unvernünftig ist er nie und nimmer“, brauste Fintans Mutter auf, „Wieso trifft es ausgerechnet nur meinen Sohn und niemand Anderes?“

 

Ich versteckte mich hinter einer Ecke, damit die beiden Frauen mich nicht bemerkten. Trotzdem wollte ich das Gespräch unbedingt mitbekommen. „Wir gehen nun ebenfalls auf, dass Fintan gezielt als Opfer ausgesucht worden ist. Nur ist es noch nicht bekannt, wer dafür verantwortlich ist und aus welchem Grund derjenige so gehandelt hat“, meinte unsere Klassenlehrerin. „Es trifft seit Monaten ständig Fintan“, geriet Mrs. Bentley in Rage, „Anscheinend gibt es hier Einige, die sich gegen ihn verschwören. Zuerst wird er von einigen Jungen beim Fußballtraining so heftig provoziert, dass er aus für zwei Spiele aus dem Team suspendiert worden ist. Dann kamen nach und nach irgendwelche falschen Anschuldigungen, weswegen mit ihm wochenlang von Seiten der Mitschüler kaum ein Wort gesprochen wurde“

„Jetzt beruhigen Sie sich doch, die Sache mit den Anschuldigungen ist schon lange vom Tisch. Ich habe den Eindruck, dass Fintan nun wieder besser mit seinem Klassenkameraden klar kommt und nicht mehr so dermaßen im Abseits steht, wie noch vor zwei Wochen“, versuchte Miss Greene ihr wütendes Gegenüber zu beschwichtigen. „In letzter Zeit ist einfach zu viel Negatives passiert. Es geht einfach zu weit, wenn ein Schüler einem Mitschüler Schlafmittel verabreicht und das auch noch während einer Klausur“, Fintans Mutter gab sich Mühe besonnener zu klingen, obwohl ihre Augen immer noch gefährlich funkelten. Zuvor hatte ich sie noch nie so wutentbrannt gesehen, wie in diesem Augenblick. „Wir werden alles in die Wege leiten, um die schuldigen Person zu finden“, versprach Miss Greene.

 

Ich lief wieder zu unserem Wohnhaus hinüber und erzählte die Neuigkeiten meinen Schulkameraden. „Was will Fintans Mutter hier?“, fragte Jacob. „Wahrscheinlich will sie sich beim Direktor beschweren“, vermutete ich. „In letzter Zeit ist auch all zu viel passiert. Die Stimmung unter uns leidet darunter ziemlich“, stellte Oli seufzend fest. „Wäre auch zu schön, wenn jeder mit jedem auskäme“, meinte Rosy, die immer nach einer harmonischen Lösung suchte. „Wir werden niemals alle Freunde werden, aber jeder von kann sich Mühe geben freundlich zu den Mitschülern zu sein, mit denen man seine Probleme hat“, sagte Greta. „Dann würde ich mir bei Arabella und Samantha dauerhaft Mühe geben müssen“, lästerte Oli. „Ich gebe zu, ich müsste mir bei Samantha auch sehr viel Mühe geben, gerade wo ich mir das Zimmer mit ihr alleine teile. Doch momentan ist es nicht mehr so schlimm mit ihr, wie es noch vor ein paar Monaten war“, erwiderte Greta.

 

Mitten auf dem Flur fiel Lucien eine Packung Tabletten aus der Hosentasche. Ich hob sie auf und schaute sie mir genauer an. Es waren Schlaftabletten. Mir ging ein Licht auf. Er war derjenige, der Fintan am Morgen das Schlafmittel verabreicht hatte. „Hey, warte mal!“, rief ich ihm hinterher. „Was willst du eigentlich noch von mir?“, fragte er barsch. Ich winkte Alex, Greta und Lars herbei und hielt ihnen die Tablettenschachtel hin. Gerade als sich Lucien aus dem Staub machen wollte, stellte sich Alex ihm mitten in den Weg. „Du kannst dich nicht einfach so verdünnisieren“, sagte er mit fester Stimme. „Warum trägst du Schlafmittel mit dir herum?“, fragte ich und sprach jedes Wort betont aus. „Ach, das nehme ich jeden Abend vor dem Einschlafen, damit ich vor den Klausuren ausgeschlafen bin“, versuchte sich Lucien heraus zu winden. „Willst du uns wieder Lügengeschichte auftischen?“, bemerkte Lars verächtlich. „Dir ist es durchaus zu zutrauen, dass du Fintan während einer Klausur Schlafmittel verabreicht hast. Du wolltest bloß nur deinen Konkurrenten ausschalten“, rief ich laut und wunderte mich, dass ich beinahe schrie.

 

Immer mehr Mitschüler versammelten sich im Flur, offenbar hatten sie den Klamauk mitbekommen. „Wie soll ich ihm das Schlafmittel verabreicht haben?“, explodierte Lucien, „Ich kann doch nicht einfach hingehen und zu ihm sagen, dass er einer meiner Tabletten schlucken soll“ „Zufällig hat man das Wasser aus Fintans Wasserflasche ebenfalls untersucht und dort konnte eine hohe Dosis Schlafmittel nachgewiesen werden. Bestimmt lassen sich deine Tabletten perfekt in Wasser lösen“, sagte Alexander. „Es stellt sich nur die Frage, wie meine Tabletten angeblich in Fintans Trinkflasche gekommen sind“, echauffierte sich Lucien weiter. „Ich habe gesehen, wie du vor der Klausur immer wieder in den Klassenraum gegangen bist“, meldete sich Shane zu Wort, „Du bist immer um die Tische herum geschlichen und ganz besonders um Fintans Platz“ „Ich habe nichts mit Fintans Schlafmittelvergiftung zu tun“, verteidigte sich Lucien vehement. „Oh doch, das magst du bloß nicht zugeben“, rief Rosy mit schriller Stimme. Immer mehr aufgebrachte Schüler zwangen Lucien dazu, dass er die Wahrheit zugab. „Ich habe es getan“, sagte er mit bebender Stimme. Mehr konnte Lucien nicht aus sich heraus quetschen. Ängstlich dreinschauend versuchte er verzweifelt den bösen Blicken seiner Mitschüler auszuweichen. „Wir wollen zwar nicht petzen begann“, begann Oli, „Dennoch müssen wir den Vorfall schleunigst Miss Greene und Mr. Scott melden. Einem Mitschüler auf heimtückischer Art ein Schlafmittel zu verabreichen, verstößt nicht nur gegen die Schulregeln, sondern auch gegen die Kameradschaftlichkeit“

 

„Es ist kaum zu glauben, wozu ein Mensch nur fähig sein kann. Einer Person unbewusst Schlafmittel zu verabreichen, ist für mich eine Straftat“, klang Miss Greenes Stimme tief enttäuscht. „Auf jeden Fall wird es harte Konsequenzen nach sich ziehen“, kündigte Mr. Scott an und räusperte sich kurz. „In zwei Tagen wird es ein anschließendes Gespräch mit Luciens Stiefvater geben“, fuhr Miss Greene fort. Als Oli und ich in den Gemeinschaftsraum kamen, hatten unsere Mitschüler bereits Fintan informiert, der gerade eben zurückgekommen war. Anstatt sich aufzuregen, nickte er nur und biss von einem Schokoriegel ab. „Wartet ab, Lucien wird schon sein Fett weg kriegen. Lügen und Intrigen haben nur kurze Beine. Außerdem darf ich die Klausur am Samstagvormittag noch mal schreiben und bis dahin kann ich die Aufgaben auch im Schlaf lösen“, wandte sich Fintan grinsend an seine Freunde. „Dann versuch es doch gleich mal“, forderte Shane ihn lachend heraus. Fintan nahm einen Zettel und einen Kugelschreiber, schloss die Augen und malte einige krakelige Ziffern auf das weiße Papier. „Bravo, es geht doch!“, stellte Greta fest, „Allerdings hätte ich auch schon in der ersten Klasse gewusst, dass drei plus vier sieben ergibt“ „So leicht darfst du dir die Nachschreibklausur nicht vorstellen, Finn!“, bemerkte Alex und klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter. Ein lautes und lang anhaltendes Gelächter brach unter uns aus.  

15. Eine gerechte Strafe für Lucien

Luciens Stiefvater thronte neben seinem Sohn und starrte uns misstrauisch mit seinen kleinen schwarzen Knopfaugen an. „Soll dieses Sportinternat das wirklich das Beste in ganz Irland und Großbritannien sein?“, fragte er skeptisch. Ich sah, wie Mr. Scott tief Luft holte, um zu einer passenden Antwort auszuholen. „Monsieur Dupont, es steht außer Zweifel, dass wir eines der besten Sportinternate Europas sind“, begann unser Schulleiter ruhig und betont, „Luciens Verhalten in den letzten Monaten hatte mit Sportlichkeit und Fairness wenig zu tun. Er ließ sich bereits einige Male etwas zu Schulden kommen, doch wir haben ihm die Chance gegeben, dass er sich hier einlebt und in unserer Schulgemeinschaft etablieren kann. Diese nutzte Ihr Sohn offenbar nicht und änderte trotz einer Verwarnung nichts an seiner Einstellung und an seinem Verhalten. Es ist das Beste für uns alle, dass sich Luciens Weg von unserem trennt“

 

Leise schniefend saß Lucien zusammengesunken auf der ledernen Couch und fuhr sich immer wieder mit einem Taschentuch über die rot geweinten Augen. „Wollen Sie meinen Sohn von der Schule verweisen, obwohl er doch so ein großes Talent in Reiten, Tennis und Fußball hat?“, regte sich sein Stiefvater auf. „Ich bin dazu gezwungen auf diese Art und Weise zu handeln“, fuhr Mr. Scott in einem besonnenen Ton fort, „Niemand hier kann es tolerieren, dass einem Mitschüler während einer wichtigen Klausur ein Schlafmittel in einer hohen Dosis verabreicht wird. Das geht eindeutig zu weit und da hört der Spaß sofort auf. Lucien, ist es dir nicht bewusst, dass eine zu hohe Dosis Schlafmittel zu langfristigen gesundheitlichen Schäden und sogar bis zum Tod führen kann?“

 

Oli, Alex, Fintan und ich warteten sehnlichst darauf, dass Lucien mit einer Antwort heraus rückte. Miss Greene warf uns einen mahnenden Blick, damit wir Lucien nicht zu sehr einschüchterten. „Es war so, dass ich Fintan nicht vergiften oder gar umbringen wollte“, sagte Lucien mit gebrochener Stimme. „Wieso hast du ihm trotzdem das Schlafmittel in seine Trinkflasche getan?“, wollte unser Schulleiter wissen. „Ich wollte ihm eins auswischen, da er mein ärgster Konkurrent ist“, gestand Lucien schluchzend. „Wieso wolltest du ihm eins auswischen? Ich kann nicht verstehen, wieso du ihn als Rivalin siehst“, Mr. Scott sah ihn verwundert an. „Fintan hatte einfach alles. Er war beliebt, hatte viele Freunde, einen Stammplatz in der Schulmannschaft, ein gutes Rennpferd und eine hübsche Freundin. Ich kam mir neben ihm wie ein kleiner billiger Loser vor. Da ich mit ihm ein Zimmer teile, ist es nicht möglich ihm aus dem Weg zu gehen. Es tat einfach weh, wie er mir meinen Platz in der Mannschaft wegnahm und ich anfangs nur auf der Ersatzbank hockte. Noch viel mehr schmerzte es mich, dass er mit dem hübschesten Mädchen der gesamten Schule zusammen war. Irgendwann konnte ich diesen Schmerz und diesen Neid nicht mehr ertragen, daher musste ich handeln. Ich wollte nicht mehr der kleine Bube sein, der sich dauernd hinten anstellen muss“, Luciens anfängliche Reue schlug in pure Wut um.

 

Sein Stiefvater und Miss Greene mussten ihn beschwichtigen. „Ich finde es sehr schade, dass du mit deiner Eifersucht auf diese Art und Weise umgehen musstest“, meinte unser Schulleiter, „Du hättest dich auch mit Fintan anfreunden können. Ich kann mir vorstellen, dass ihr euch vom Menschlichen her versteht. In manchen Dingen seid ihr euch wirklich sehr ähnlich. Im Grunde ist Fintan ein sehr ehrlicher und anständiger Kamerad. Wäret ihr befreundet gewesen, hätte sich der Neid nach und nach gelegt. Er hätte dir helfen können deinen Platz in unserer Mitte zu finden. Meines Erachtens braucht hier niemand neidisch auf irgendjemanden zu sein, wir sind hier in Saint Malory wie eine große Familie, die zusammenhält und sich gegenseitig unterstützt. Keiner ist besser als alle Anderen, hier hat jeder den gleichen Status“ Lucien ging einen Moment in sich. „Ich wäre gerne mit Fintan, Lars und co befreundet, aber mein verdammtes Neidgefühl hat mir wieder alles verdorben. Nun kann ich nicht mehr mit einer einzigen Person befreundet sein, sie sind bestimmt zu wütend auf mich. Irgendwie kann ich sie auch verstehen, ich habe mich in den letzten Monaten einfach nur widerwärtig verhalten und habe nur an mich gedacht. Wie es meinen Mitmenschen ergangen ist, war mir einfach nur noch egal. Erst jetzt sehe ich es ein, dass es ein großer dummer Fehler war“, sagte er schluckend. Ich war mir für einen Moment lang nicht sicher, ob er seine Worte ernst meinte oder nur heuchelte. Obwohl er mich zuletzt tief enttäuscht hatte, schien er ehrlich hinter seinen Worten zu stehen. Da Oli und ich Klassensprecherinnen waren, durften wir uns am Ende des Gespräches kurz zu Wort melden und aus unserer Sicht erzählen.

 

Nach dem Gespräch fing Lucien Fintan vor der Tür ab. „Es tut mir sehr leid, was ich dir in den letzten Monaten angetan habe und dafür schäme ich mich ziemlich. Ich weiß nicht, wie ich es jemals wieder gut machen kann. Trotzdem möchte ich mich entschuldigen, ich hoffe du nimmst es auch an“, Lucien streckte seine rechte Hand aus. Zu meinem Erstaunen schlug Fintan ein. „Ich nehme deine Entschuldigung an, aber wir werden im Leben wohl doch keine guten Freunde mehr werden“, sagte er ohne eine Spur von Abneigung und Hass. „Ich melde mich dennoch bei dir und schreibe dir, wie es mir geht und wie mir meine neue Schule gefällt“, meinte Lucien und verabschiedete sich. Er ging mit seinem Stiefvater über den kiesigen Weg zum Parkplatz. Wenig später rollte ein elegant aussehender schwarzer Wagen vom Hof, doch niemanden winkte Lucien hinterher. „Er hat es hochgradig verdient, dass er geflogen ist“, sagte Oli voller Genugtuung. „Es war eine gerechte Strafe“, pflichtete ich meiner besten Freundin bei. „Ich werde ihn auch nicht sonderlich vermissen“, meinte Alex. Nur Fintan sagte kein einziges Wort. „Bist du nicht froh, dass dein größter Feind endlich Geschichte ist?“, stupste Oli ihn an. „Könnt ihr bitte aufhören über Lucien zu reden!“, bat uns Fintan genervt, „Ich will weder seinen Namen hören, noch wie ihr über ihn lästert. Ich will einfach nur meine Ruhe haben“

 

Während des Nachmittagtees wurde unser Tisch von unzähligen Mitschülern umringt. „Endlich ist er weg und wir müssen uns seine Lügen nicht mehr anhören“, freute sich Greta. „Ich werde ihn jedenfalls auch nicht vermissen“, ließ Arabella ihrerseits vermelden. Ausgerechnet diese blöde Kuh, die sich bei jeder Gelegenheit Aufmerksamkeit erhaschen wollte, gesellte sich zu uns und stützte sich dabei auf die Lehne meines Stuhles. „Bestimmt wird Lucien von seiner neuen Schule fliegen, bevor er sich dort richtig umgesehen hat“, lästerte Lars laut. „Oder er landet auf einer Schule für schwererziehbare Kinder“, setzte Shane obendrauf, worauf einige meiner Mitschüler laut und schadenfroh lachten. Fintan hielt es nicht mehr länger aus und setzte sich mit seinem Teller nach draußen auf die Terrasse. Ich wartete einen Moment, doch er kam nicht wieder. Ich nutzte die Gelegenheit, um mit ihm einen Moment alleine zu sein und schlüpfte zur Tür hinaus. Seitdem wir auseinander waren, hatten wir nur noch wenig miteinander gesprochen. Insgeheim war ich immer noch in ihn verknallt, obwohl ich es mir nicht anmerken ließ. „Nervt dich das Geschwätz der Anderen auch?“, fragte mich und schubste mit seiner Gabel die restlichen Krümel vom Teller. „Langsam übertreiben sie es“, nickte ich. „Lucien hat seine gerechte Strafe bekommen, doch diese Lästerorgie ist total unnötig und kann die Dinge nicht mehr umkehren, die passiert sind“, fand Fintan und steckte sich einen Kaugummi in den Mund. Ich wusste genau, was ich ihn fragen wollte, doch komischerweise brachte ich es nicht über die Lippen.

 

„Eigentlich könnten wir wieder ein Paar sein“, begann ich stockend und gab mir den nächsten Schubs, „Oli meinte letztens, wir würden so gut zusammen passen“ „Zur Zeit habe ich die Schnauze voll von Beziehungen“, sagte mir Fintan direkt ins Gesicht, „Es liegt nicht an dir, sondern ich habe in letzter Zeit einfach zu viel durchgemacht. Außerdem werde ich nach den Sommerferien ein Jahr nach Amerika gehen und daher würdest du mich bestimmt sehr vermissen, wenn du mich vierzehn Monate lang nicht siehst“ „Du gehst nach Amerika?“, entfuhr es mir fassungslos. „Das steht schon seit einigen Wochen fest und es wissen bis jetzt nur die Wenigsten davon. Ich wollte unbedingt die Chance nutzen, um mal etwas anderes von der Welt zu sehen“, meinte er und fügte hinzu, „Außerdem haben sie eine perfekte Leistungsförderung für junge Fußballspieler, dort wo ich hingehen werde. Ich will später im Profibereich Fußball spielen und vielleicht habe ich auch eine ganz geringe Chance in die Nationalmannschaft zu kommen. Leider müssen Reiten, Tennis und jener anderer Sport in den Hintergrund rücken“ „Willst du wirklich mit dem Reiten aufhören?“, fragte ich ihn besorgt. „Nein, aber ich werde es nicht mehr so oft tun wie früher und ich darf mich nicht verletzen. Meine Mutter hat es sich auch anders vorgestellt, doch jetzt überlässt sie mir die Entscheidung, was ich aus meinem Leben machen möchte“, meinte er. „Kommst du später wieder nach Saint Malory?“, fragte ich ihn verunsichert. „Aber selbstverständlich“, nickte er und fügte, „Trotzdem können wir in der Zwischenzeit über Facebook und Skype Kontakt halten“

16. Die großen Ferien stehen vor der Tür

Kurz vor den Sommerferien wurden unsere Noten bekannt gegeben. Ich hatte in den meisten Fächern Zweien und Dreien, nur mein Resultat in Geschichte enttäuschte mich ein wenig. Dort hatte ich in der Klausur nur eine Vier zurückbekommen. Fintan, Matthew und Rosy freuten sich in Mathematik über ein Sehr Gut und bekamen wegen ihrer tadellosen Leistung ein Lobwort unseres Schulleiters während der Zeugnisübergabe zu hören. Im Gegensatz zu letztem Schuljahr blieb niemand sitzen. Selbst die schwächeren und lernfauleren Schüler rutschten mit durch.

 

Nach der Zeugnisvergabe lud Fintan mich und ein paar weitere Schulkameraden kurzerhand zu seiner Abschiedsfeier ein, die am Abend des ersten Ferientages stattfinden sollte. Das Beste kam allerdings zum Schluss. Am letzten Abend kam Greta aufgeregt in unser Zimmer gestürmt. „Was gibt es? Hast du überraschender Weise im Lotto gewonnen?“, wollte Oli wissen. „Kommt mit in mein Zimmer, ich habe etwas für euch“, drängte sie. „Das muss ja wirklich etwas Spannendes sein“, murmelte Rosy und blickte von ihrem Buch auf. Greta machte ein Handzeichen und forderte uns zum Mitkommen auf. Während wir über den Flur liefen, munkelten wir darüber, was der Auslöser für Gretas Aufregung gewesen sein könnte. „Vielleicht hat Greta eine Million von einem verstorbenen Verwandten geerbt“, flüsterte Oli. „Quatsch, sowas Spektakuläres wird es wohl nicht sein“, tippte sich Rosy gegen die Stirn.

 

Auf Gretas Bett saßen bereits Sandrina, Elaine und die Burton-Schwestern. Greta hob ein Päckchen hoch, welches auf ihrem Nachttisch lag. „Gib mal her“, bat Oli und stieß einen Freudenschrei aus. „Das ist ja ein Paket von May“, freute sich Rosy, „Offenbar hat sie uns doch nicht vergessen“ Wir waren aus dem Häuschen und fieberten mit als Greta das Papier abwickelte. Zum Vorschein kam eine dunkelblaue Kiste. Behutsam nahm Greta den Deckel ab und stellte die Kiste vor unsere Füße auf den Boden. Sie entfalteten den Brief, der obendrauf lag.

 

Liebe Freundinnen von Saint Malory! Seit einigen Wochen lebe ich nun in Singapur und besuche meine neue Schule. An das Leben hier musste ich mich erst gewöhnen, es war doch eine ziemliche Umstellung. Noch wohnen wir in einer gemieteten Wohnung mitten in der Stadt, denn unsere Villa befindet sich noch im Bau und wird erst am Ende des Jahres fertig sein. In meiner neuen Schule fühle ich mich ziemlich wohl, die Lehrer sind freundlich, ich komme gut mit meinen neuen Mitschülern klar und ich habe Reiten und Segeln als Schulfach. Am besten verstehe ich mich mit Lia, Kim und Sally, die einen australischen Vater hat. Trotzdem vermisse ich euch, die Pferde und Saint Malory ganz doll, ihr seid mir in den letzten beiden Jahren echt ans Herz gewachsen. Leider kann ich in diesem Jahr nicht mehr kommen, da wir mit unserer Villa viel um die Ohren haben und Dad jede Menge Geschäftskram für seine neue Firma regeln muss. Vielleicht tröstet euch mein Geschenk und dass wir miteinander skypen können. Gerne wäre ich wieder für einen Moment bei euch, aber das wäre frühestens in den Osterferien des kommenden Jahres möglich. Ich wünsche euch viel Spaß mit meinem Geschenk und schöne Sommerferien! Liebe Grüße und eine feste Umarmung, eure May! PS: Vielleicht hat Greta im nächsten Schuljahr Glück und teilt sich ein Zimmer mit einer freundlicheren Mitbewohnerin“, las Greta vor.

 

Für jeden von uns lag ein Muschelarmband mit unseren eingravierten Spitznamen in der Kiste. „Seit wann heiße ich Sanny?“, stellte Sandrina lachend fest. „Der Name passt echt gut zu dir, Sanny“, fand Greta. „Eigentlich mag ich meinen richtigen Namen lieber“, meinte Sandrina, „Ihr dürft mich Sanny nennen, aber bitte nicht zu oft“ „Okay, abgemacht“, nickte ich. Unter den Armbändern lag noch eine Tüte mit asiatischen Süßigkeiten. „Oh man, während der Klausurenphase haben wir kein einzige Mal mit May geschrieben oder telefoniert. Man kann sagen, wir hätten sie glatt vergessen“, fiel Oli beschämt ein. „Während der Sommerferien hat jeder von uns Zeit ihr eine Karte zu schreiben“, meinte Greta. „Dann werde ich ihr eine Karte von Madeira schicken“, rief Oli fröhlich und wirbelte durch das Zimmer.

 

„Wo macht ihr eigentlich Urlaub?“, erkundigte sich Alison bei uns, „Wir werden mit unseren Eltern zwei Wochen in den Highlands wandern“ „Ich werde meine Tante in Nordfrankreich besuchen, sie hat mich und meine Familie eingeladen. Das wird mein erster richtiger Urlaub im Ausland seit acht Jahren sein“, erzählte Rosy stolz. „Dann hast du die Chance dein Französisch aufzubessern“, zwinkerte ich ihr zu. „Wohlmöglich kannst du nachher unsere geliebte Mamsell beeindrucken oder sogar noch toppen“, setzte Greta obendrauf. „Wahrscheinlich wird sie gar nicht erbaut darüber sein, dass du am Ende besser Französisch sprichst“, gab Isa zu Bedenken. „Ach was, Mamsell spricht mit so viel Leidenschaft Französisch, dass sie keiner toppen kann“, widersprach Oli.

 

Am nächsten Morgen musste es ganz schnell gehen, um acht Uhr gab es Frühstück und eine Stunde später kamen die ersten Eltern. „Wieder ein Jahr rum und ich kann es kaum glauben, dass es schon zwei Jahre her ist, als ich zum ersten Mal einen Fuß auf dieses Gebiet gesetzt habe“, bemerkte Oli nebenbei, während sie ihre Klamotten in ihre Taschen stopfte. „Und ich habe gedacht, ich würde hier niemals Freunde finden“, ergänzte Rosy. „Wieso das? Ich dachte, du wärst nur wegen einem Stipendium hier“, schaute Oli verdutzt auf. „Ja das schon, aber in den ersten Wochen hatte ich großes Heimweh und hinzu kam, dass ich mir das Zimmer mit Pamela teilen musste“, sagte unsere Freundin. „Erinnere uns nicht an diese alte Schnepfe“, stöhnten Oli und ich gleichzeitig. Ich wusste noch ganz genau, wie Pamela Rosy die ganzen Diebstähle in die Schuhe schieben wollte und alles daran setzte, dass sie von der Schule flog. Zum Glück war diese Zeit schon lange vorbei. Nun war Rosy einer meiner besten Freundinnen. „Bereit zum Abmarsch!“, Greta marschierte unangekündigt in unser Zimmer. „Warte, ich muss eben meine Pullis zusammenfalten“, rief ich hastig. „Nur mit der Ruhe, Mom kommt eh in zehn Minuten“, meinte Greta. „Wieso packst du deine Sachen nicht so in deine Tasche, wie sie sind?“, fragte Oli. „Ich möchte zur Fintans Abschiedsfeier nicht völlig zerknittert erscheinen“, gab ich zur Antwort. „Typisch Engländerin!“, spottete Oli. „Waliserin!“, korrigierte ich meine beste Freundin. „Aber du wohnst doch in London“, widersprach mir Greta. „Aber ursprünglich komme ich aus Wales“, sagte ich. „Egal, die Briten sind immer gleich“, meinte Oli. „Heißt es auch, dass alle Schwedinnen genauso unordentlich sind wie du?“, entfuhr es mir unmittelbar, wobei ich mir den provokanten Unterton nicht verkneifen konnte.

 

„Ach, wisst ihr was, jede von uns ist okay, wie sie ist und es ist egal aus welchem Land jede von uns kommt“, meldete sich Rosy zu Wort. „Wir sind wirklich ein bunter Flickenteppich“, pflichtete ihr Greta bei, „Doch es fällt mir langsam überhaupt nicht mehr auf, dass wir alle aus verschiedenen Ländern kommen“ Das stimmte wirklich. Greta war Irin, Rosy ebenfalls, Oli kam aus einer Stadt in Südschweden und ich aus Wales. „Verflixt noch mal!“, fluchte Greta, die aus dem Fenster guckte. „Was ist los?“, Rosy und ich horchten auf. „Mein Dad ist da“, fluchte Greta. „Warum ist das so schlimm? Freust dich nicht deine Eltern wieder zu sehen?“, wollte Rosy wissen. „Eigentlich schon, aber er ist immer so schrecklich ungeduldig und wir werden gleich keine Zeit haben uns zu verabschieden, weder von den Pferden noch von unseren Mitschülern“, erwiderte Greta, die wieder etwas besonnener klang. „Schade, dass ich nicht mitkommen kann, Greta. Ich wäre so gerne bei Fintans Abschiedsfest dabei gewesen. Doch das geht leider nicht“, wechselte Rosy das Thema, „Wir fahren schon am Nachmittag los und am Abend werden wir bei meiner Tante in Frankreich sein“

 

Zu viert hievten wir unser schweres Gepäck die Treppe hinunter. „Mist!“, Greta stolperte, fiel fast hin und ließ eine ihrer Taschen vor meine Füße fallen. „Ich kann sie leider nicht aufheben, ich habe meine Hände voll“, sagte ich entschuldigend. Unten im Foyer wartete bereits Gretas Vater auf uns. Mit einem Handschlag begrüßte er und sagte nebenbei, „Ist Greta wieder einmal die Letzte?“ Rosy, Greta und ich nickten bestätigend. „Gretas ist gerade fast die Treppe hinunter gefallen und hat dabei die Hälfte ihres Gepäcks verloren“, erzählte Oli nebenbei. Mit hochrotem Kopf kam Greta auf uns zu. „Diese verdammte Treppe, um ein Haar hätte ich mich auf die Klappe gelegt und dann musste ich die Hälfte meines Gepäcks einsammeln“, stöhnte Greta. Ihr Vater umarmte sie und gab ihr einen Kuss auf die Wange.

 

„Ich hoffe, die Zeit ohne uns war zu langweilig“, sagte er im trauten Gespräch mit seiner Tochter. „Definitiv nicht!“, lachte Greta, „Wir haben viel erlebt und wurden in den letzten Wochen ziemlich eingespannt“ Mir fiel ein, dass ich mich noch wenigsten von Fintan und Alex verabschieden wollte. „Seid ihr bereit, Mädels?“, fragte Mr. Neill. „Dad, aber…“, schnitt Greta ihm das Wort ab. „Tut mir leid, wir haben keine Zeit mehr“, fuhr ihr Vater ungebremst fort, „Ich habe für heute die Schicht extra mit einem Kollegen getauscht und in anderthalb Stunden muss ich auf der Wache sein“ Ohne Widerrede folgten wir ihm nach draußen. Vor seinem Auto verabschiedeten wir uns von Rosy. „Viel Spaß in Frankreich“, wünschte ihr Greta. „Versuche nach den Sommerferien Mademoiselles Sprachkenntnisse zu übertrumpfen“, setzte Oli oben drauf. „Ich werde mein Bestes versuchen“, rief uns Rosy nach. Greta, Oli und ich stiegen in das Auto. Greta hockte neben ihrem Vater auf dem Beifahrersitz, während Oli und ich es uns auf der Rückbank bequem machten.

 

Gerade als wir vom Hof rollten, kamen uns Alex, Fintan, Lars, Tiago und Tom entgegen. Wir winkten den Jungs eifrig zu. Zuerst winkte nur Alex zurück. „Jungs sind wirklich ab und zu blind“, stellte Oli fest. Greta drückte auf einen Knopf und ließ die Fensterscheibe herunter fahren. „Auf wieder sehen, ihr Blindfische!“, rief sie laut. Im Nu drehten sich die Jungs um und ein mehrstimmiges „Tschüss“ antwortete ihr. „Mensch, Greta!“, bemerkte ihr Vater, „Du bist immer noch nicht auf den Mund gefallen“ „Das bin nicht und werde ich auch nicht“, antwortete sie grinsend. „Seht mal, da sind unsere Pferde“, raunte ich und berührte mit meinem Zeigefinger die Scheibe. Hermine, Colorado, Speedy Gonzales und all die anderen Vierbeiner standen grasend auf der Koppel und schienen nicht mitzubekommen, dass wir uns mit einem Winken von ihnen verabschiedeten. „Wie immer ist das Gras interessanter als wir“, stellte Oli trocken fest. „Immer diese verfressenen Zeitgenossen“, setzte Greta eine beleidigte Miene auf, worauf wir in schallendes Gelächter ausbrachen. „Ihr habt vielleicht eine Bombenlaune“, schmunzelte Mr. Neill. „Aber selbstverständlich“, nickten wir zu dritt. „Schließlich haben gerade die Ferien angefangen“, vollendete Oli unseren Satz.

 

Nachdem wir bei Greta zuhause angekommen sind, gönnten wir uns einen kalten Eistee und setzten uns auf die Terrasse. „Auf die Ferien!“, hob Greta ihr Glas. „Auf uns!“, erwiderte Oli. „Auf unsere Freundschaft!“, triumphierte ich. Da die Sonne auf uns herab brannte, war der Eistee eine Wohltat für unsere trockenen Kehlen. „Schade, dass gleich zwei Beziehungen dieses Schuljahr nicht überlebt haben“, sagte Oli plötzlich. „Leider, es war doch so perfekt gewesen, als du mit Lars zusammen warst und ich mit Fintan“, seufzte ich. „Dafür bin ich mit Lars zusammen“, murmelte Greta leise, da sie Oli nicht provozieren wollte. „Ich glaube, ihr passt viel besser zusammen“, lächelte unsere Freundin Greta zu. Mittlerweile machte es Oli nichts aus, dass Greta mit ihrem Ex-Freund zusammen war, obwohl sie anfangs ziemlich eifersüchtig auf ihre Freundin gewesen war. „Wollt ihr eine Abkühlung?“, riss uns Kellys Stimme aus unseren Träumereien. Hinter ihr tauchte Fianna auf. Die beiden jüngeren Mädchen richteten ihre Wasserpistolen auf uns. „Neeeeiiiin!“, schrie Greta als sie von dem ersten Wasserstrahl getroffen wurde. Oli riss aus Versehen einen Blumentopf vom Gartentisch, als sie vor Fianna flüchtete. Einen Augenblick später war eine wilde Wasserschlacht im Gange.

 

17. Fintans Abschiedsfeier

Zwei Stunden bevor wir aufbrachen, fing ich an mich zurrecht zu machen. „Du siehst aus, als ob du bei einer Filmpremiere in Hollywood oder Cannes eingeladen bist!“, zog mich Greta auf, als ich mein Spiegelbild noch genauer betrachtete. Eine lose Strähne rutschte aus meiner Hochsteckfrisur. Sofort nahm ich eine silberne Spange und klemmte sie wieder fest. „Uhhh, du könntest als Britney Spears durchgehen“, hörte ich Oli rufen, worauf sie und Greta in Gelächter ausbrachen. „Welche Kette und welche Ohrringe soll ich nehmen?“, fragte ich meine Freundinnen nach Rat. „Nimm am besten nichts, was zu bombastisch und aufgetakelt aussieht“, gab mir Oli den Tipp. Mein Blick fiel auf ein Paar Diamantenohrstecker und eine einfache Silberkette mit einem Halbedelstein, die mir Mom ein halbes Jahr vor ihrem Tod geschenkt hatte.

 

Perfekt! Nun hatte ich an meinem Aussehen nichts mehr auszusetzen. „Ich glaube, du möchtest doch heute Abend zu einer Gala. Ich bringe dich gerne dorthin, schließlich bin ich unser Chauffeur“, witzelte Greta auf der Treppe und strich über den Stoff meines dunkelblauen Abendkleides. „Hätte Emmi nicht zwei Stunden vor dem Spiegel gestanden, wären wie vermutlich schon seit einer Stunde da“, flüsterte Oli hinter meinem Rücken Greta halblaut zu. Ich war viel zu gutgelaunt, um mir ihre spitze Bemerkungen zu Herzen zu nehmen. „Tada! Ihr könnt einsteigen!“, rief Greta. „Ich wollte immer schon sehen, wie du Auto fährst“, grinste Oli und setzte sich auf die Rückbank. „Ich habe erst seit einem halben Jahr den Führerschein und ihr seid die ersten Freundinnen, die meine Fahrkünste bewundern können“, erwiderte Greta und fuhr den Wagen rückwärts aus der Garage.  

 

Greta wohnte nur zwei Ortschaften entfernt von Fintan. Mit jedem Kilometer wurde ich aufgeregter und knetete meine Hände. „Du willst wohl bei deinem Ex Eindruck schinden, nicht wahr?“, beugte sich Oli zu mir nach vorne. Sie hatte mich ertappt. Zwar waren Fintan und ich seit vier Monaten kein Paar mehr, aber dennoch sehnte ich mich nach ihm zurück. Seine Gegenwart machte mich immer noch fuchsig. Greta sang zu einem Lied mit, welches gerade im Radio lief. Ihre gute Laune übertrug sich auf Oli und mich. Zu dritt lachten und sangen wir, dass unsere Hörnerven um einiges strapaziert wurden. „Ist es noch weit?“, wollte Oli wissen. „Nein, wieso fragst du?“, erwiderte Greta. „Ich muss ganz dringend“, sagte sie und rutschte unruhig hin und her. „Warum bist du nicht vorher auf Toilette gegangen? Aber egal, gleich haben wir unser Ziel erreicht“, brummte Greta und konzentrierte sich auf die Straße. Hinter einer Kreuzung kam in der Ferne Fintans Hof in Sicht. „Yippie, gleich sind wir da!“, jubelten wir und Greta ließ ihr Fenster herunter fahren. „Hey, mach das Fenster zu! Der Fahrtwind verwirbelte meine Haare“, beschwerte ich mich. „Oh lala, wir haben eine Diva an Bord!“, zog Oli mich auf. Ich drehte mich um und streckte meiner Freundin frech die Zunge raus. Greta fuhr durch ein steinernes Hoftor und stellte den Wagen zwischen zwei anderen Autos ab. „Hey Mädels, ich habe euch schon vermisst!“, hörten wir eine bekannte Stimme. Lars rannte auf uns und wirbelte ein paar Kieselsteinchen hoch. Er nahm Greta in den Arm und gab ihr einen Begrüßungskuss. „Wir wären schon um acht Uhr da gewesen, wenn Emily nicht drei Stunden im Bad gebraucht hätte“, meinte Greta. „Du siehst aber schick aus, Emily!“, bemerkte Lars, „Willst Fintan betören?“ „Mal sehen“, zuckte ich mit den Schultern.

 

„Kommt, die Party steigt im Garten“, forderte Lars uns zum mitkommen auf. Wir kamen der Musik und dem Stimmengewirr immer näher. Lars öffnete das Gartentor und ließ uns einen Fuß in den Garten setzten. Der Duft von Würstchen und Steaks kroch uns in die Nase. Offenbar wurde gegrillt. Mehrere Fackeln, die überall in den Beeten aufgestellt waren, tauchten den Garten in ein goldiges Licht. Auf dem Rasen standen zwei Biertische, an denen die Gäste platz nahmen. Zu unserer Überraschung entdeckten wir zwischen den Leuten Sandrina. Oli schlich sich heimlich von hinten an und tippte ihr gegen die Schulter. „Aaahh!“, Sandrina ließ vor Schreck ihre Gabel fallen. „Hi, wie bist du hier her gekommen?“, fragte ich meine Freundin überrascht. „Shane hat mich mit dem Auto mitgenommen, er wohnt nur dreißig Kilometer entfernt von hier“, meinte sie. Oli, Greta und ich nahmen gegenüber von ihr platz. „Wo ist eigentlich Fintan?“, drehte ich mich zu Lars um. „Da kommt er“, raunte er mir zu. Fintan kam mit einer Kiste Bier zu unserem Tisch. „Na, habt ihr doch noch hier her gefunden?“, begrüßte er uns lächelnd, „Lars wollte schon eine Vermisstenanzeige bei der Polizei aufgeben“ „Wir haben nur etwas länger gebraucht, besonders Emily“, versuchte Oli ihm zu erklären. „Du siehst wirklich aus, als ob du einen Opernball besuchen willst“, wandte sich Fintan an mich, „Aber du bist wirklich hübsch!“ „Danke!“, brachte ich strahlend über die Lippen.

 

„Wollt ihr auch eine Wurst?“, fragte ein großer schlaksiger Junge mit kurzen sandfarbenen Haaren, den ich vom Sehen her kannte. „Klaro, wir krepieren schon vor Hunger!“, antwortete Oli für uns drei. „Wer bist du eigentlich?“, fragte ich den Jungen vorsichtig. „Meinst du mich?“, horchte er auf. „Genau dich, denn ich habe dich schon einmal gesehen“, nickte ich. „Ich bin Donal, Fintans Cousin“, erwiderte er, „Du kennst mich noch sicherlich von Saint Malory, dort habe ich letztes Jahr meinen Abschluss gemacht“ „Was machst du jetzt?“, fragte ich interessiert. „Ich studiere Wirtschaft in Manchester“, antwortete er. Donal und ich unterhielten uns noch eine Weile, bis er sich neben mich setzte. „Wie heißen deine Freundinnen?“, erkundigte er sich. „Das Mädchen mit den langen schwarzen Haaren heißt Sandrina, die Blondine neben ist Oli und Greta ist das Mädchen mit den braunen Locken“, stellte ich meine Freundinnen vor. „Jetzt erinnere ich mich an dich“, meinte Donal, „Du warst doch Finns Freundin oder?“ „Ja, das war ich“, nickte ich und spürte einen schmerzhaften Stich in meinem Herzen. Wieso musste dieses Thema heute Abend angesprochen werden. „Ich will dir eins sagen“, wurde Donals Stimme leiser und er rückte an mich heran, „Er ist immer noch vernarrt an dich“ „Wieso das?“, stutzte ich.

 

„Er redet seit ein paar Tagen dauernd von einer gewissen Emily“, meinte er. „Ich dachte, er wollte gar keine Beziehung mehr“, rutschte es unkontrolliert aus mir heraus. Mit einem Mal war ich richtig verwirrt. Wollte Fintan wieder etwas von mir? Doch wieso hatte er mich vor ein paar Wochen noch abgewiesen? „Er will vor dem Amerikaaufenthalt keine Beziehung mehr eingehen, weil er seine Freundin dann über ein Jahr nicht sehen wird“, fuhr Donal fort und zündete sich eine Zigarette an. „Ach so, ist auch besser so, bevor man eingeht, weil man so eine große Sehnsucht nach ihm hat“, sagte ich leise. Oli hatte sich in der Zwischenzeit neben Alex gesetzt und legte einen Arm um seine Schultern. Mir blieb es immer noch ein Rätsel, ob die Beiden gut befreundet waren oder schon ein Paar. Ich versank einen Moment lang in meinen eigenen Gedanken und führte mir Donals Worte noch mal zu Gemüt.

 

Wieso war Fintan immer noch interessiert, obwohl er keine Beziehung wollte? Manchmal musste man Jungs nicht verstehen. Ich stand auf und hielt nach ihm Ausschau. Er stand neben Patrick, der gerade ein paar Würstchen auf dem Grill stand. Ich betrachtete ihn von oben bis unten und spürte wieder die Schmetterlinge in meinem Bauch. Das hellblaue T-Shirt und die karierte Shorts passten wirklich gut zu ihm. Seine dunkelblonden Haare standen wirr von seinem Kopf ab. Ein Anblick der mein Herz zum Schmelzen brachte! „Emily, geh auf ihn zu und hole ihn dir zurück!“, befahl eine innere Stimme. Ich ging mehrere Schritte auf ihn zu und schaute ihn mitten ins Gesicht. „Kann ich etwas für dich tun?“, lächelte er zu mir rüber. „Nein, gerade nicht“, schüttelte ich den Kopf. Mist, mir fehlten wieder die richtigen Worte! Nie fand ich kluge Worte, wenn er in meiner Nähe war.

 

Langsam neigte sich die Sonne dem Horizont entgegen und das Tageslicht schwand von Minute zu Minute. Ein Partygast legte einen fetzigeren Song auf. Zuerst standen Sandrina und Shane auf und begannen zu tanzen. Lars und Greta machten es ihnen nach. Kurz darauf folgten Oli und Alex ihrem Beispiel. Innerhalb nur einer Minute tanzten mindestens sechs oder sieben Paare über den Rasen. Patrick schnappte sich Fintans Cousine, die zufällig an ihm vorüber ging. Nur ich hatte noch keinen Tanzpartner und kam mir gewaltig fehl am Platz vor. Ich ließ meinen Blick schweifen und entdeckte Fintan, der neben einem Beet stand und den tanzenden Paaren zuschaute. Ich unternahm einen zweiten Anlauf, um an ihn heran zu kommen. Doch diesmal lächelte ich ihn verschmitzt an.

 

Ich hörte, wie er leise etwas sagte, von dem ich aufgrund der Geräuschkulisse nichts verstand. Zumindest tanzten wir zusammen. Mir wurde sofort klar, dass es nicht so war wie vor ein paar Monaten. Früher konnte ich mich eine seine Arme sinken lassen und mein Gesicht in seiner Schulter verbergen, doch nun ließ er mich nicht zu sehr an mich heran kommen. Nach dem Tanz setzte ich mich zu Donal und seiner jüngeren Schwester Ruby. Mit Oli, Sandrina und Greta konnte ich im Moment nicht reden, da sie viel zu sehr mit ihren Freunden beschäftigt waren oder bei Oli der „Beinah-Freund“. Schweigend beobachte ich den Trubel vor meinen Augen. „Irgendwie fühle ich mich ein wenig fehl am Platz“, gestand ich ihnen gegenüber. „Wieso das? Gefällt dir die Party nicht?“, wunderte sich Ruby. „Das ist es nicht, aber zwischen mir und Fintan ist es nicht mehr so, wie es einmal war“, versuchte ich ihnen zu erklären. „Mach dir keine Gedanken, es wird schon wieder“, klopfte mir Donal aufmunternd auf die Schulter.

 

„Du weißt sicher, dass Fintan für ein Jahr nach Amerika geht. Wenn er sich hier kurz vor seiner Abreise verliebt, bekommt er drüben für ein Jahr den größten Sehnsuchtsschmerz seines Leben zu spüren“, meinte Ruby. Auf einmal war mir zum Heulen zumute. Wieso musste Fintan an diesem blöden Austauschprogramm teilnehmen? „Ich werde ihn auf vermissen, wenn er ein Jahr nicht da ist“, begann ich mit zittriger Stimme und musste mir meine Tränen verbeißen. „Ach sei nicht traurig, wir werden ihn auch vermissen. Es gibt sicher die Gelegenheit, dass mit ihm über Facebook und SMS Kontakt halten kannst“, sagte Ruby einfühlend. Um kurz nach Elf traten die ersten Gäste ihren Heimweg an, darunter auch Sandrina und Shane. „Ich wünsche dir noch einen schönen Abend und erholsame Ferien“, verabschiedete sich Sandrina und umarmte mich kurz. „Machs gut!“, nickte mir Shane zu und gab mir zum Abschied die Hand. Oli, Greta und ich hatten von den Gästen, die ich kannte, das meiste Sitzfleisch. Um kurz vor ein Uhr saßen wir nur noch zu siebt an einem der Biertische.

 

„Wehe, du trinkst zu viel! Du musst dich und deine Freundinnen noch heile nach Hause bringen“, stupste Lars Greta an. „Keine Angst, ich bin alt genug, um auf mich Acht zu geben“, beruhigte ihn seine Freundin. Außer uns saßen auch noch Alex und ein fremder Typ an unserem Tisch. Oli und Alex unterhielten sich leise, während ich dem Zirpen der Grillen lauschte. „Verdammt, ich muss den Garten aufräumen!“, riss mich Fintans Stimme aus den Gedanken. „Muss das jetzt sein?“, gähnte Lars. „Lieber jetzt als“, bestand Fintan darauf, „Wenn meine Eltern den Müll und die Flaschen überall entdecken, dann bekomme ich einen Rieseneinlauf. Besonders Mom besteht darauf, dass der Garten sauber hinterlassen wird“ Schleppend und gähnend machten wir uns ans Werk. „Hier liegt wirklich viel Zeug rum“, stellte Alex fest, nachdem er die fünfte Flasche aus dem Gebüsch holte.

 

„Wegen gerade eben“, wandte sich Fintan an mich, „Das war nicht böse gemeint. Ich will mich vor meiner Abreise nicht verlieben. Stell dir vor, ich hätte ein Jahr lang Heimweh nach dir. Trotzdem bist du für mich immer noch ein wunderbares Mädchen“ Ich schaffte es in dem Moment kein Wort über die Lippen zu bringen, trotzdem schaffte ich es zu lächeln. „Wirst du in Amerika an mich denken?“, fragte ich ihn nach einer Weile. „Aber natürlich!“, beruhigte er mich. Ich malte mir gerade aus, wie er mit einem gut aussehenden Cheerleadergirl flirtete und mit ihr zusammen tanzte. „Auf jeden Fall werde ich dir täglich eine Nachricht per Facebook oder SMS schicken“, versprach er mir und legte seine Hand auf meine Schulter.

 

Vorausschau: Saint Malory – Der Weg ins Glück (4. Band der Serie)

Emily und ihre Freunde besuchen nun das dritte Jahr Saint Malory. Wie immer warten neue Abenteuer und Prüfungen auf die Schüler des Sportinternats. Zunächst ist vieles neu, als Emily aus den Sommerferien zurückkehrt. Fintan ist weg, dafür ist ein Norweger namens Fredderik da. Schnell verguckt sich Emily in den Jungen mit den halblangen weißblonden Haaren und den hellblauen Augen. Außerdem wird Hermine zu Emilys großem Entsetzen verkauft, da sie angeblich nicht mehr die Leistung für die großen Wettkämpfe bringt, da die Stute an einer Verletzung laboriert. Ob je ein anderes Pferd Hermine ersetzen kann? Außerdem bekommen es Emily und ihre Freundinnen mit zwei Cousinen zu tun, die sich untereinander nicht grün sind. Viele Gründe, weshalb sie sich nicht ausstehen können, liegen in der Vergangenheit. Die Mädchen setzen alles daran, um ihre Fehde zu beenden. Schnell geht es im Internat wieder rum und daher kommt bei den Schülern kaum Langweile auf. Zu Weihnachten erwartet Emily zudem eine große Überraschung.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 29.08.2014

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /