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Eine Radtour am Fluss

Kiki schnippte einen Kieselstein in das kaum getrübte Wasser des Flusses und räkelte sich gemütlich in der Sonne. „So kann ruhig jeder Nachmittag sein!“, dachte sie zufrieden und nippte an ihrem Eistee. Für einen Tag mitten im September war es immer noch spätsommerlich warm. Kiki schloss für einen Moment die Augen. Grillen zirpten, der Fluss plätscherte leise vor sich hin und im Hintergrund spielten ein paar junge Männer Frisbee. Ein kleiner Käfer, der über ihren Arm lief, ließ sie aufschrecken. Genervt schnippte sie ihn weg. „Igitt, ich will deinen Käfer gar nicht haben!“, quiekte Mathilda, die neben ihr auf dem Rasen lag. „Seit wann bist du genauso etepete wie die Tussen aus unserer Klasse“, zog Kiki sie auf und erntete prompt einen Rippenstoß.

 

Kiki und ihre beste Freundin Mathilda nutzten das schöne Wetter für eine Fahrradtour. Das Thermometer kletterte beinahe auf 25 Grad. Beide Mädchen trugen T-Shirts und Shorts. Eigentlich sollte die ganze Bande mitkommen, doch Emily und Vivien waren krank und nicht in der Schule gewesen. Lotta, Fianna und Aylin hatten wegen diversen Terminen abgesagt. Annemieke verabschiedete sich an der Schultür von ihnen, da sie lieber mit Marc aus der Parallelklasse in die Stadt gehen wollte. So blieben nur noch Kiki und Mathilda übrig. Gleich nach dem Unterricht fuhren sie stadtauswärts und radelten gemächlich am Fluss entlang. Kiki genoss es einen Augenblick mit ihrer allerbesten Freundin alleine zu sein. Kiki holte ein belegtes Baguette aus ihrem Rucksack und brach es in zwei Hälften. „Welche Hälfte willst du?“, fragte Kiki. „Mir egal“, zuckte Mathilda mit der Schulter. Sie legte die Chips, die Minisalamis, den Obstsalat und die Gummibärchen zwischen sich. Kiki fühlte sich wie im siebten Himmel, es gab für sie nichts Schöneres als sich das Essen mit der besten Freundin zu teilen.

 

„Ist mal wieder typisch! Kaum taucht Marc auf, hat Annemieke nur noch Augen für ihn und wir lösen uns in Luft auf. Selbst das letzte Bandentreffen hat sie für ihn geopfert und wie sie ins Schwärmen gerät, wenn sie von ihm erzählt“, echauffierte sich Mathilda. „Manchmal ist das so“, seufzte Kiki, „Die Jungs sind urplötzlich interessanter als die eigenen Freundinnen“ „Das ist die Schattenseite des Erwachsenwerdens. Ich verstehe nicht, warum all unsere Freundinnen den Jungs wie verliebte Hennen hinterher glotzen“, meinte ihre Freundin. „Manchmal würde ich gerne wie Peter Pan sein“, meinte Kiki und wickelte sich eine lose Haarsträhne um ihren Daumen. „Oh ja, dann wäre man für immer Kind“, nickte Mathilda und fügte nach längerem Überlegen hinzu, „Obwohl ich mich manchmal auch nach einer Beziehung sehne, aber wirklich nur manchmal“ „Ich kann dem Verliebtsein zumindest nichts anfangen, es ist schon beinahe ein Fremdwort für mich“, seufzte Kiki und griff erneut in die Gummibärchentüte.

 

Es stimmte wirklich Kiki war vierzehn, genau genommen vierzehneinhalb Jahre alt und hatte noch nie ein waschechtes Schmetterlingskribbeln im Bauch gehabt. Noch hatte sie es vermisst einem Jungen näher zu kommen, geschweige denn einen zu küssen. „Ich könnte zum Tiger werden, wenn ich sehe, wie sich immer mehr Rote Siebenerinnen in alberne verliebte Glucken verwandeln“, sprach ihr Mathilda erneut aus der Seele. Mit dem Beginn des neuen Schuljahres hatte sich viel verändert. Die meisten Roten Siebenerinnen achteten auf ihr Aussehen, probierten neue Frisuren und Make-up Trends aus. Lotta hatte seit den Sommerferien einen neuen Freund aus ihrer alten Klasse, den sie manchmal in Mannheim besuchte. Emily und Fianna unternahmen mittlerweile fast jeden Tag etwas mit ihren Freunden. Annemieke war seit kurzem mit Marc aus der Parallelklasse zusammen, den sie in der Straßenkinder-AG kennen lernte. Selbst Aylin und Vivien, die eine Klasse unter ihnen waren, redeten in der Pause über Jungs. Kiki und Mathilda kamen sich unter ihren Freundinnen langsam ein wenig fremd vor.

 

„Wollen wir langsam weiterfahren? Ich habe das Gefühl, ich wachse hier fest“, stupste Mathilda ihre Freundin an. Kiki warf einen Blick auf ihre Armbanduhr, es war schon viertel nach Vier. „Oh verdammt, wir haben total die Zeit vergessen“, rief Kiki, „Dabei wollten wir noch den Kaninchenstall sauber machen“ „Dann lass uns beeilen“, sagte Mathilda und zog Kiki hoch. Die beiden Freundinnen schwangen sich auf ihre Räder und sausten davon. Der Fahrtwind zersauste ihnen ihr Haar. Es ging an einem Getreidefeld entlang, das gerade von einem monströsen Mähdrescher abgeerntet wurde. Kikis Blick fiel immer wieder auf die bunten Blumen am Feldrand. Blumen konnten viele unterschiedliche Bedeutungen haben, dass wusste Kiki selbstverständlich. Die Rose war ein Symbol der Liebe, Vergissmeinnicht drückte Vergänglichkeit aus und die Sonnenblume stand für Freude. Kiki mochte Sonnenblumen am meisten, sie erweckten bei ihr den Eindruck, als wollten sie den ganzen Tag nur lächeln. Ein Hund, der auf die beiden Freundinnen zu rannte, wurde von seinem Herrchen zurück gepfiffen. „Ist das nicht ein perfekter Tag!“, schwärmte Mathilda und warf ihre halblangen hellblonden Locken nach hinten. „Der Tag ist genau wie für uns beide gemacht“, pflichtete Kiki ihr bei und fuhr ein Stückchen freihändig.

 

Hanni und Nanni freuten sich auf die Ankunft der beiden Roten Siebenerinnen. Erwartungsvoll schauten sie die Mädchen an und machten am Gitter Männchen. „Keine Panik, ihr bekommt gleich euren sauberen Stall“, flüsterte Mathilda den Kaninchen zu. Kiki packte Nanni am Nackenfell und trug sie zum Auslauf. Mathilda musste bei Hanni, die längst nicht so zahm wie Nanni war, mehr Geduld aufbringen. Schließlich saßen beide Kaninchen im Auslauf und mümmelten zufrieden das saftige Gras. Kiki schloss den kleinen Schuppen neben den beiden riesigen Fichten auf und holte eine Schubkarre und zwei Forken. Pfeifend machten sich die beiden Freundinnen an die Arbeit und kamen schnell ins Schwitzen. „Wollen wir nicht abwarten, bis die Sonne weg ist?“, schlug Mathilda vor und wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Das schaffen wir jetzt auch noch oder? Wenn wir jetzt Pause machen, halten wir uns derbe auf und wir sind in zwei Stunden immer noch damit beschäftigt“, widersprach Kiki ihrer Freundin. „Na gut, von mir aus können wir in der Sonne schmoren, braten beziehungsweise grillen“, brummte Mathilda und lehnte sich gegen den Wohnwagen. Kiki brachte den Mist in der Schubkarre zum Komposthaufen und nahm die Tüte mit dem frischen Heu mit, welches sie erst gestern vom Reiterhof geholt hatten.

 

„Na, ihr beiden?“, Josephine stand am Gartentor und guckte den Freundinnen amüsiert bei der Arbeit zu. „Hallo Josephine!“, grüßte Mathilda zurück. „Hättet ihr nicht Lust zu mir in den Garten zu kommen?“, fragte Josephine, „Ich habe einen Baum voller Äpfel, die langsam geerntet werden müssen“ „Wir kommen gleich, wenn wir den Stall eingestreut haben“, rief Kiki. Die Mädchen beeilten sich und wuschen sich im Wohnwagen ihre Hände, bevor sie herüber in Josephines Garten gingen. Die alte Dame bot ihnen ein Glas erfrischende Himbeerlimonade und einen leckeren Pflaumenkuchen an. „Der schmeckt köstlich!“, lobte Mathilda. „Ist da Zimt drin?“, fragte Kiki. „Klar, ich koche Pflaumen immer mit Zimt ein, so schmecken sie am leckersten“, lächelte Josephine. Sie freute sich sehr, dass die beiden Mädchen ihren Kuchen so gerne mochten.  „Wenn ihr wollt, könnt ihr noch ein paar Äpfel pflücken, dieses Jahr habe ich Äpfel im Überfluss“, bot sie den Mädchen an. „Gerne“, nahm Mathilda das Angebot an und kletterte die Leiter am Baum hinauf. Kiki stand unten und fing die Äpfel auf, die ihre Freundin ihr zu warf. „Ihr könnt ruhig den ganzen Baum abernten“, lachte Josephine. „Das geht nicht, so viel passt leider nicht in unsere Rucksäcke“, meinte Kiki.

 

Josephine und die beiden Bandenmädchen saßen einige Zeit gemütlich am Tisch und sahen der Sonne zu, wie sie zwischen den Bäumen versank. Gleichzeitig wurde es viel kühler als vorhin. Das war der Beweis, dass der eigentliche Sommer schon vorbei war. Fröstelnd wickelte sich Kiki in ihre dünne Strickjacke ein. „Oh, ich muss nach Hause! Mist, ich habe das Abendessen total vergessen und meine Eltern werden bestimmt wieder einen Riesenterz machen“, rief Mathilda plötzlich uns sprang auf. Sie umarmte Kiki und Josephine kurz zum Abschied und rannte aus dem Garten. „Ich muss langsam auch gehen“, bemerkte Kiki, „Die Kaninchen sitzen immer noch auf dem Rasen und es fängt an zu tauen“ „Tschüss, Kiki! Es war schön, dass ihr heute hier ward“, rief Josephine ihr hinterher. Kiki fing die Kaninchen ein, die eigentlich noch viel länger auf dem Rasen bleiben wollten und sich wehrten, als sie hochgehoben wurden. „Ihr seid vielleicht zwei undankbare Gestalten“, schimpfte Kiki leise, „Wir machen den Stall für euch sauber und dann wollt ihr nicht in den frisch sauber gemachten Stall gesetzt werden“ Von Minute zu Minute wurde es dunkler, deshalb beschloss sie schnell nach Hause zu fahren. 

Schlechte Nachrichten

Neugierig steckte Kiki ihren Kopf zur Küche hinein. Ihre Mutter saß zusammen gesunken am Küchentisch und schien sie noch nicht einmal zu bemerken. „Hallo Mama!“, begrüßte sie ihre Mutter. „Was ist passiert?“, setzte sie besorgt nach, als ihr ihre Mutter nicht antwortete. „Setz dich hin erstmal hin“, brummte sie melancholisch. Plötzlich fühlte sich Kiki miserabel. Was war nur mit ihrer Mutter los? Sonst war sie selten so traurig und stumm. „Mama, was ist denn los?“, bohrte Kiki nach. „Ich habe vorhin die Kündigung meines Chefs erhalten und werde schon nächsten Monat dort nicht mehr arbeiten“, schluckte ihre Mutter. „Wirklich? Warum das? Sonst war dein Chef immer mit deiner Arbeit zufrieden und hat dir vor einem halben Jahr sogar eine Lohnerhöhung in Aussicht gestellt“, entfuhr es Kiki geschockt.

 

Gleichzeitig machte sie diese Neuigkeit auch extrem wütend und traurig zugleich. „Nein, das hat damit nichts zu tun“, schüttelte ihre Mutter den Kopf, „Momentan ist die Auftragslage in unsere Firma schlecht und unser Chef muss die Hälfte des Personals entlassen“ Kiki verstand, was ihre Mutter meinte. Erst kürzlich hatten sie in Politik durchgesprochen, wie ein Unternehmen funktionierte. „Was wird aus uns, wenn du die Arbeit nicht mehr hast?“, fragte Kiki und warf ihrer Mutter einen sorgenvollen Blick zu. „Das weiß noch keiner“, seufzte sie, „Ich werde erstmal versuchen hier in der Umgebung Arbeit zu finden und notfalls müssen wir wegziehen“ „Das ist doch nicht dein Ernst!“, rief Kiki und ließ ihre Faust auf den Tisch fahren. „Beruhig dich, Kiki!“, meinte ihre Mutter, „Wir müssen erst einmal abwarten und sehen, was auf uns zukommt“ „Wenn wir umziehen müssen, ist diese Welt für mich erledigt“, sagte Kiki mit Tränen in den Augen. „Es wird sicherlich noch eine Chance geben, dass ich in der Umgebung von Freudenburg eine neue Arbeit finde“, versuchte ihre Mutter sie aufzumuntern.

 

Kiki ging mit hängendem Kopf in ihr Zimmer. Benommen setzte sie sich auf ihr Bett und fummelte an ihren Federohrringen herum. „Das konnte doch nicht wahr sein!“, sagte sie immer wieder leise vor sich hin. Immer noch fühlte sie sich von der schlechten Nachricht überrumpelt. „Wenn wir wegen Mamas blöder Arbeit wegziehen müssen, kann das Leben mich mal“, dachte sie wütend. Sie mochte nicht einmal einen einzigen Gedanken daran verschwenden, wie es wäre ihre Bande, ihre Freunde, ihre Klasse und ihre Reitgruppe zu verlassen. Schließlich war sie Anführerin der Roten Sieben, Klassensprecherin und Vertrauensschülerin für die Unterstufenschüler in ihrer Schule. „Niemals werde ich Freudenburg verlassen!“, schwor sich Kiki, „Egal, ich werde zur Not bei den Zwillingen oder bei Lotta einziehen“

 

Um sich glücklicher und optimistischer zu stimmen, legte sie ihre Lieblings-CD ein. Die Musik bewirkte Wunder. Innerhalb von wenigen Sekunden stieg Kikis Wohlbefindensbarometer auf das Doppelte. „Don’t give up!“, wiederholte der Sänger mehrmals. Kiki machte sich diese Textzeile zu ihrem Motto und fühlte sich mit einem Schlag bärenstark und unbesiegbar. Kiki schaltete ihren Laptop ein, wartete bis die Internetverbindung da war und loggte sich in den Gruppenchat der Roten Sieben ein. Von ihren Freundinnen war niemand on. Ein leiser Seufzer entfuhr ihr. Normalerweise war immer eine von den Roten Siebenerinnen online. Kiki beschloss einen Moment zu warten und häkelte an einem Schal weiter, den sie Lotta bald zum Geburtstag schenken wollte. Nach einer Viertelstunde beschloss sie eine Nachricht in den Chat zu schreiben. In großen dicken Lettern tippte sie „Redebedarf!!!“ und wartete auf die Reaktionen ihrer Freundinnen. Lange Zeit passierte nichts. Kiki machte die Musik leiser und arbeitete an ihrem Schal weiter. Aus heiterem Himmel ertönte der Signalton des Chats mehrmals. Kiki sprang auf und sprintete zu ihrem Schreibtisch.

 

Rote Zora 2000: Wieso Redebedarf?

Sweet Bear: Hey, was ist los Kiki?

Tomboy_99: Mich würde echt interessieren, was Sache ist

Adler Auge: Meine Mutter wurde heute gekündigt und wird am Ende des Monats auf die Straße gesetzt. Sie weiß nicht, wo sie demnächst eine neue Stelle bekommt und wenn es ganz schlecht kommt, müssen wir wegziehen L

Tomboy_99: Was??? Das ist doch nicht dein Ernst :O

Adler Auge: Doch, Matti! Es ist mein Ernst!

Rote Zora 2000: Wenn du umziehen solltest, ziehen wir mit dir, Kiki! Wir lassen keine Rote Siebenerin alleine!

Tigermaus: Lass uns erstmal davon ausgehen, dass es nicht so weit kommen wird. Kikis Mutter wird sicherlich in der Umgebung eine neue Arbeit finden J

Vivi_was: Lotta hat Recht, seht erstmal positiv!

Black Beauty: Der Ansicht bin ich auch

Kleine Elfe: Genau, keiner braucht sich verrückt zu machen. Es wird schon alles gut werden, da bin ich mir sicher J

Rote Zora 2000: Können wir morgen in der Schule weiter darüber sprechen, ich muss noch etwas erledigen

Kleine Elfe: Ich werde mir noch die Französischvokabeln anschauen

Tomboy_99: Oh du erinnerst mich an etwas, Schwesterherz! Das sollte ich vor dem Schlafengehen auch noch tun

Sweet Bear: Gute Nacht, Zwillinge! Viel Spaß beim Lernen!

Adler Auge: Ich packe eben noch meine Tasche und dann sehen wir uns morgen. Zum Glück ist morgen wieder Bandentag und Reiten J

Tigermaus: Gute Nacht, Kiki J

Vivi_was: Und denk daran positiv zu denken!

Adler Auge: Gute Nacht, bis morgen!

 

Dank ihrer Freundinnen konnte Kiki in Ruhe einschlafen. Am nächsten Morgen klingelte pünktlich um halb sieben ihr Wecker. Kiki gähnte und drehte sich noch einmal um. Doch dann fiel ihr die Kündigung ihrer Mutter wieder ein und mit einem Mal war sie hellwach. Sie schlug ihre Decke zur Seite, zog sich ihre Pantoffeln an und machte sich auf den Weg ins Badezimmer. „Mist!“, fluchte Kiki leise. Die Tür war verschlossen. Wahrscheinlich war es ihre 18-jährige Schwester Mirja, die das Bad besetzte. „Mirja und ihr morgendliches Schönheitsprogramm!“, dachte Kiki genervt und tippte mit ihrem rechten Fuß unruhig auf dem Boden. Die Tür blieb verschlossen und die Zeit rannte davon.

 

„Mirja, mach endlich auf!“, Kiki klopfte ungeduldig gegen die Tür. „Warum hast du es so eilig? Ich denke, du kannst doch zur Not einen Bus später nehmen. Eure Schule beginnt doch erst um acht“, kam die Stimme ihrer Schwester gedämpft durch die Tür. „Nein, kann ich nicht“, rief Kiki, „Ich fahre mit dem gleichen Bus wie Emily und dabei bleibt es, basta!“ „Ist es schlimm, wenn du einmal nicht mit Emily zusammen fährst? Wenn du…“, Mirjas Stimme kam Kiki beinahe Gleichgültig vor und der Rest ging im Getöse des Föhns unter. „Aaargh!“, wütend trommelte Kiki mit beiden Fäusten gegen die Tür. „Was ist denn das für ein Lärm?“, beschwerte sich ihre Mutter aus der Küche. „Mirja lässt mich nicht ins Bad“, beklagte sich Kiki. Kaum hatte sie den Satz zuende gesprochen, hörte sie wie der Schlüssel sich im Schloss drehte. Mirja stolzierte in Unterwäsche an Kiki vorbei und hatte ihre Haare in ein Handtuch gewickelt. Eine Strähne ihres rotbraunen Haares hing ihr ins Gesicht. Im Gegensatz zu Kiki hatte Mirja die rotbraunen Haare ihrer Mutter geerbt, während Kikis pechschwarz waren. Doch dafür hatte Mirja dieselben dunklen Augen ihres Vaters wie Kiki. Zügig schloss Kiki die Tür hinter sich ab. Die Uhr zeigte sechs Minuten vor Sieben an. Sie sputete sich und schlüpfte blitzschnell in ihre Kleidung. Die verbliebene Zeit reichte nur um ein Glas kalte Milch und zwei Scheiben Toast zu sich zu nehmen.

 

An der Bushaltestelle wartete bereits Emily, die nur zwei Straßen von ihr entfernt wohnte. „Beeil dich, Kiki! Der Bus kommt um die Ecke“, hörte sie ihre Freundin rufen. Kiki sprintete los und rannte über eine Ampel, die gerade auf Rot schaltete. Zum Glück hielt Emily den Bus für sie auf. „Hi!“, Kiki umarmte Emily kurz zur Begrüßung und stieg mit ihr ein. „Wegen meiner Schwester hätte ich um ein Haar den Bus verpasst“, keuchte Kiki als sie sich nebeneinander niederließen. „Schon wieder ihre Schönheitsorgien?“, fragte Emily. „Ja, was denn sonst?“, nickte sie. „Ich finde Körperpflege und Schönheit bis zu einem bestimmten Grad normal, aber man soll es trotzdem nicht übertreiben“, fand Emily und fuhr sich mit ihrer Hand durch ihr welliges braunes Haare, welches ihr wieder fast bis zur Schulter reichte. „Für Mirja gibt es nicht wichtigeres als das richtige Haarstyling, Make-up und Mode. Dabei sollte sie wissen, dass Schminke und Haarspray kein Hirn ersetzen“, lästerte Kiki. Die beiden Mädchen waren so in ihr Gespräch vertieft, dass sie erschrocken zusammenzuckten, als der Bus an der Haltestelle „Altstädtisches Gymnasium“ hielt. „Komm!“, Emily hakte sich bei Kiki unter als sie in Richtung Schulhof liefen.

 

Wie gewöhnlich waren sie die ersten Roten Siebenerinnen, die vor dem Klassenraum eintrafen. Außer ihnen waren schon Pauline, Sina und Thomas da. „Hallo, ihr beide!“, Fianna lief zügig auf ihre beiden Freundinnen zu. „Hi!“, grüßte Kiki zurück. „Wie ist die Kündigung deiner Mutter zustande gekommen?“, wollte Fianna wissen und zog Kiki in Richtung Treppe. „Reden wir gleich in der ersten großen Pause darüber, okay?“, bloggte Kiki ab und wandte sich wieder Emily zu. In nächsten Moment erschien Lotta. „Hi, ich hoffe, du hast den Schock einigermaßen verdauen können“, begrüßte Lotta Kiki und umarmte sie herzlich. „Was heißt verdaut?“, erwiderte Kiki, „Er ist irgendwo noch immer da, aber dank euch ist nicht mehr so schlimm“ „Mach dir nicht so einen großen Kopf!“, aufmunternd klopfte ihr Lotta auf die Schulter.

 

Jetzt fehlten nur noch die Zwillinge, die oft kurz vor dem Klingeln kamen. „Eigentlich könnten Micky und Matti auch langsam kommen“, sagte Lotta mit einem Blick auf ihr Smartphone. Kaum hatte sie die Namen der Zwillinge ausgesprochen, standen sie direkt vor ihr. „Habt ihr es doch mal geschafft vor dem Klingeln zu erscheinen?“, neckte Fianna sie. „Micky musste sich gerade eben noch fünf Minuten mit Marc fest quatschen, sonst wären wir sogar noch eher da gewesen“, meinte Mathilda spöttisch. „Du alte Spottdrossel, immer muss dir eine schnippische Bemerkung rausrutschen!“, erwiderte Annemieke und zog einen Schmollmund. Kiki und Lotta mussten unwillkürlich lachen. Die Zwillinge konnten schon ziemlich lustig sein und neckten sich häufig gegenseitig. „Erzähl mal, was genau los war“, bat Mathilda Kiki. „Jetzt nicht“, winkte Kiki ab, „Ich erzähle es euch in der Pause, wenn Vivi und Aylin auch dabei sind“ Die Piranhas näherten sich dem Klassenraum und winkten den Mädchen zu. Hinter ihnen kämpfte sich Herr Fiedler, ihr neuer Klassenlehrer durch die Schülermassen.

 

Kiki ließ die Doppelstunde Geschichte im Schnelldurchlauf vergehen und zeigte zweimal auf, als ihr Lotta die richtige Antwort ins Ohr flüsterte. Endlich ertönte der Gong. „Halt, stehen geblieben!“, rief ihr Klassenlehrer energisch. „Wieso denn?“, fragte ein Schüler. „Wir schreiben unsere Klassenarbeit eine Woche vor dem Beginn der Herbstferien anstatt nächster Woche“, erinnerte Herr Fiedler seine Klasse. Kiki sah sich auf der Treppe nach ihren Freundinnen um und wurde von einem älteren Jungen unsanft gegen die Wand geschubst. „Kannst du nicht aufpassen?“, herrschte sie ihn an. Gleichgültig ging der Junge an ihr vorbei ohne sich zu entschuldigen. Verärgert schüttelte Kiki den Kopf. „Hey, hier sind wir“, Annemieke packte Kiki am Ärmel und zog sie zu sich rüber. „Ich dachte schon, die Menschenmasse hat euch verschluckt und verspeist“, scherzte Kiki.

 

Draußen auf dem Schulhof trafen sie den Rest der Bande wieder. Kiki drängte ihre Bande hinter die Fassade der Turnhalle, dort wo sich die Freundinnen ungestört unterhalten konnten. „Wie ihr wisst, hat meine Mutter ihre Arbeit ihren Job verloren, weil der Chef wegen extrem schlechter Auftragslage und finanziellen Problemen die Hälfte des Personals entlassen muss. Mama ist schon auf  der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle, aber notfalls müssen wir umziehen“, erzählte Kiki. „Lass uns davon ausgehen, dass deine Mutter hier in der Nähe eine Arbeit findet und du nicht wegziehen musst“, versuchte Aylin sie optimistisch zu stimmen. „Es wäre schrecklich, wenn Kiki nicht mehr da wäre und deshalb drücke ich beide Daumen, dass ihre Mutter in Freudenburg eine Arbeit findet“, meinte Mathilda. „Notfalls hilft meine Mutter dabei, schließlich arbeitet sie beim Arbeitsamt“, wandte Fianna ein. Vivien stieß einen leisen Freudenschrei aus. „Was hast du nun wieder?“, drehte sich Lotta zu ihr um. „Lars hat mir geantwortet und er sagt, dass er mich ebenfalls süß findet“, freute sich Vivien. „Woher kennst du ihn und wo wohnt er?“, wollte Emily wissen. „Ich kenne ihn nur über den Chat und er wohnt in Hamburg. Vielleicht werde ich ihn dort besuchen“, erwiderte Vivien und rückte ihre grüne Strickmütze wieder gerade. „An deiner Stelle würde ich niemanden trauen, den du nur über Internet kennst und wäre sehr vorsichtig. Du weiß nie, wer wirklich hinter einem Profil steckt“, meinte Annemieke. „Unterstellst du Lars wirklich, dass er ein Fakeprofil erstellt hat?“, wandte sich Vivien empört an Annemieke. „Das nicht unbedingt, aber man weiß nie“, schüttelte ihre Freundin den Kopf. Vivien zeigte Lotta, Annemieke, Emily und Fianna Bilder von ihrem Schwarm. „Der ist ja süß“, rief Fianna.

 

„Jetzt geht das wieder los? Ich habe das Gefühl, die Rote Sieben hat sich in eine reine Hühnerschar aus lauter verliebten Glucken verwandelt“, flüsterte Mathilda Kiki ins Ohr.  Kiki nickte kichernd, ihre beste Freundin hatte das Talent voll ins Schwarze zu treffen. „Komm, wir spielen fangen“, flüsterte Mathilda Kiki und Aylin zu. Lachend und nach Luft schnappend jagten die drei Mädchen um ihre Freundinnen herum. „Mein Gott, ihr seid so kindisch!“, entfuhr es Emily genervt. „Stehen wir die ganze Zeit wie verliebte Kühe herum und glubschen den Jungs hinterher? Seid ihr alle schon vom Liebesfieber angesteckt worden“, konterte Mathilda frech und rannte davon, als Aylin sie packen wollte. „Du hast echt keine Ahnung davon, du hattest doch noch nicht einmal einen Freund“, warf Annemieke ihrer Zwillingsschwester an den Kopf. Im nächsten Augenblick klingelte es.

 

Im Matheunterricht bei Frau Zierske reichte Lotta einen Zettel weiter an Kiki. Noch bevor sie den Zettel öffnen konnte, sah es bereits die Lehrerin mit ihren Adleraugen. „Zähle ich bin zehn und dieser Zettel ist bis dahin nicht im Müll, könnt ihr eine saftige Strafarbeit lösen. Habt ihr mich verstanden, Carlotta und Kristina?“, wies Frau Zierske die beiden Mädchen zurrecht. Kleinlaut stand Kiki auf und entsorgte den Zettel. Was Lotta ihr eine Botschaft senden wollte? Leider konnte sie ihre Freundin nicht fragen, da ihre Mathelehrerin kein Getuschel unter den Schülern duldete. Bis zur zweiten großen Pause waren es immerhin noch vierzig Minuten. Zwischendurch warf sie einen sehnsüchtigen Blick zur Uhr, die über der Tafel hing. „Kristina, rechne die Aufgabe an der Tafel weiter!“, forderte Frau Zierske sie auf. Offenbar entging ihr Kikis Desinteresse nicht. Kiki musste in ihrem Gedächtnis kramen bis sie den richtigen Lösungsansatz gefunden hatte. „Geht doch, aber für eine gute mündliche Note musst du dich mehr beteiligen und nicht so oft abwesend sein“, meinte die Lehrerin. Erleichtert ließ sich Kiki wieder auf ihren Platz nieder. Diesmal reichte ihr Lotta einen Zettel unter dem Tisch, doch Kiki wagte es nicht ihn zu lesen. Immer wieder ließ Frau Zierske ihre Adleraugen über ihre Bankreihe schweifen und patrouillierte im Klassenraum auf und ab. 

Wahre Freundinnen sind unbezahlbar

In der zweiten großen Pause hockte die Rote Sieben in der Cafeteria in einem Tisch. Nur Annemieke und Emily beschlossen die Pause mit ihren Freunden in der Pausenhalle zu verbringen anstatt über Lottas kommende Geburtstagsfete mitzudiskutieren. „Ich würde gerne im Wohnwagen fahren, aber für mehr als zehn Personen reicht der Platz einfach nicht aus. Im Oktober können wir wahrscheinlich nicht mehr im Garten feiern, sondern nur noch drinnen“, meinte Lotta. „Kannst du nicht bei dir zuhause feiern?“, fragte Vivien, „Ihr habt doch so ein großes Haus“ „Das geht leider nicht, meine Mutter kriegt einen Anfall, wenn so viele Teenies unser Haus stürmen“, lehnte Lotta Viviens Vorschlag rigoros ab.

 

„Bestimmt kannst du auch einen Raum mieten“, wandte Aylin ein. „Ich weiß nicht, bestimmt ist das ziemlich teuer und meistens werden Räume an Personen vermietet, die mindestens sechzehn sind“ „Na, Mädels?“, Jannis und Sven gesellten sich zu ihnen. „Was glotzt ihr so?“, wandte sich Mathilda an die beiden Piranhas. „Dürfen wir noch nicht einmal neben euch stehen, ohne dass ihr euch schon beobachtet fühlt?“, entgegnete ihr Jannis prompt. „Eigentlich macht es uns nichts aus“, zuckte Fianna mit der Schulter. „Wir unterhalten uns gerade über Lottas Geburtstagsparty und wir wissen nicht, wo wir feiern sollen. Der Wohnwagen ist für die ganzen Partygäste zu klein und Lottas Mutter wird eine große Party in Lottas Haus nicht erlauben“, plapperte Aylin los und bekam einen seichten Rippenstoß von Kiki.

 

„Aha, ihr wisst nicht, wo ihr Lottas Geburtstag feiern sollt“, murmelte Jannis. „Ich kann euch aus der Patsche helfen“, meldete sich Sven zu Wort, „Wir bieten euch an, dass ihr in unserem Bandenquartier feiern dürft, aber nur unter einer Bedienung“ „Welche wäre das?“, unterbrach ihn Fianna. „Dass Lotta uns ebenfalls einlädt“, beendete Sven seinen Satz. „Ich hatte sowieso vor, eine große Party zu geben. Selbstverständlich seid ihr eingeladen. Außerdem kommt mein neuer Freund, Tessa und meine beste Freundin aus Mannheim“, sagte Lotta. „Dann ist das gebongt“, meinte Sven. „Danke, das ist echt großartig von euch“, bedankte sich Lotta. „Doch vor der Party will ich kein Mädchen von euch sehen, dass vor unserem Bandenquartier herum schleicht“, wandte sich Jannis an die Mädchen, „Ich wiederhole, es herrscht im Radius von hundert Metern um unsere Garage herum ein striktes Rote-Siebenerinnen- Verbot! „Wenn wir doch eine von euch dort erwischen sollten, werden wir diejenige ein paar Stunden lang als Geisel nehmen“ „Warum sollen wir immer noch unsere Freizeit damit verschwenden euch hinterher zu spionieren?“, Kiki sah den Piranhaboss verständnislos an. „Es war nicht lange her, da haben wir die Zwillinge und Fianna erwischt“, entgegnete ihr Jannis. „Was heißt lange her?“, hakte Kiki nach. Seit dem Ende der Sommerferien kam es nicht mehr oder nur noch ganz selten vor, dass die Rote Sieben die Piranhas ausspionierte. Kiki und ihren Freundinnen kam das beinahe schon kindisch vor.

 

Nachmittags sattelten die Rote Siebenerinnen und die Freundinnen von Emilys jüngerer Cousine Sarah vor der Reitstunde ihre Pferde für einen Ausritt. Das Wetter war genauso ausgezeichnet wie gestern, auch wenn es nicht ganz so sommerlich warm war. Kiki bekam Snowflake zugeteilt, die sie noch nie geritten ist. In einer langen Kolonne ritten sie einen Reitweg entlang, der in den Wald führten. An manchen Stellen war der Weg so breit, dass sie zu zweit nebeneinander reiten konnten. Kiki hörte hinter sich Sarah und Anna-Lena hinterhältig kichern. „Die Neue der Roten Siebenerinnen sieht so aus, als würde sie gleich einen Abgang machen“, gackerte Sarah und verlor vor Lachen fast ihr Gleichgewicht. Direkt vor Kiki ritt Vivien, die jedes Mal fast aus dem Sattel rutschte, wenn Lucky seinen Kopf ruckartig nach vorne riss oder unerwartet scheute. „Schaut mal, die hängt wie ein Mehl seitlich am Pferd herunter“, lästerte Anna-Lena. Wieder brachen Sarah, Jenny und Kim in ein nerventötendes Gelächter aus.

 

„Hört auf damit, ihr albernen Hühner!“, wies Kiki die jüngeren Mädchen scharf zurecht. „Eigentlich hättet ihr es verdient, gleich zu viert in den Misthaufen katapultiert zu werden“, setzte Mathilda obendrauf. „Oder wir stopfen euch eure frechen Münder mit Pferdeäpfeln voll“, fügte Fianna hinzu. Endlich waren die kleinen Mädchen wieder ruhig und hörten auf sich über Vivien lustig zu machen. Bald kam ein kleiner Bach, der ohne Probleme zu durchqueren war. Plötzlich blieb Snowflake mitten im Wasser stehen. Kiki drückte ihre Beine an ihren Bauch, doch Snowflake senkte ihren Kopf in das kühle Nass, um einen Schluck zu trinken. „Kiki, trödle nicht so!“, rief Annika, die mit ihrer Mutter die Gruppe anführte. Kiki gab ihrem Pferd einen Klaps mit ihrer Gerte. Langsam setzte sich Snowflake wieder in Bewegung und verringerte den Abstand zu den hintersten Reiterinnen. Auf einem abgeernteten Stoppelfeld galoppierten die Reiterinnen nach und nach an. Kiki liebte es wie eine Indianerin auf dem Rücken eines Pferdes zu fliegen und lies sich den Wind um die Nase wehen. „War das nicht ein toller Ausritt!“, schwärmte Annemieke und parierte Molly durch zum Schritt. „Der beste Ausritt seit langem“, konnte ihr Kiki beipflichten.

 

Später trafen sich die Roten Siebenerinnen bei Tee und Kuchen im Wohnwagen. „Tata, seht mal, was ich hier habe?“, Emily zog ein Schminkköfferchen aus ihrem Rucksack. „Was willst du damit?“, fragte Mathilda. „Ich habe ihn mir Montag in der Stadt gekauft und wollte ihn heute mit euch einweihen“, erwiderte Emily. „Boah, ist der groß!“, staunte Vivien, „Der muss dich ein ganzes Vermögen gekostet haben“ „So teuer war der auch, schließlich war dieser hier um dreißig Prozent reduziert“, meinte Emily. „Lily, schminkst du mich?“, bettelte Fianna. „Klar, ich werde euch der Reihe nach schminken“, lächelte Emily. „Ich kann gut darauf verzichten“, schüttelte Mathilda den Kopf. „Ich brauch das auch nicht unbedingt, irgendwie bin ich kein Fan von Make-up“, gestand Kiki ehrlich. „Mich brauchst du nicht mehr schminken, ich habe mich heute morgen schon geschminkt“, sagte Lotta. „Mich könntest du aber schminken“, rief Annemieke, „Ich treffe mich in einer halben Stunde mit Marc und möchte mit ihm ins Kino gehen“ „Okay, zuerst schminke ich Annemieke und dann jede von euch, die es gerne möchte“, sagte Emily und nahm wieder auf ihrem Stuhl platz.

 

„Sind wir hier etwa auf einer Modenschau? Seit wann begeben wir uns auf das Niveau des Tussenkomitees und der anderen Zicken aus unserer Schule?“, stöhnte Mathilda genervt und setzte sich auf die Couch. Kiki konnte dem Schönheitswahn ihrer Freundinnen ebenfalls nichts abgewinnen und setzte sich neben Mathilda. „Seht euch mal Micky an! Sieht sie nicht umwerfend aus?“, rief Emily nach fünf Minuten triumphierend. „Das hast du prima hingekriegt, Lily! Micky sieht aus wie eine Eisprinzessin und das wird Marc sicherlich vom Hocker hauen“, lobte Lotta. „Lass mich mal sehen!“, Fianna drehte Annemieke zu sich hin. Aylin holte ihr Handy aus der Tasche und machte ein Beweisfoto. „Die Nächste, bitte!“, rief Emily. Aylin, Fianna und Aylin stritten sich darum, wer als nächsten geschminkt werden sollte.

 

Emily nahm Vivien an die Reihe, die am wenigsten bettelte. „Mir gefällt Micky ohne Schminke doch besser“, flüsterte Mathilda Kiki ins Ohr. Kiki konnte dem nur halb zustimmen, zwar hatte Emily Annemieke wirklich gut geschminkt, aber gleichzeitig wirkte Annemieke dadurch ein wenig hochnäsig. „Alle mal herschauen!“, rief Vivien und stellte sich in Modelpose hin. Kiki fand, dass sie ohne Brille ganz anders aussah. „Wow, du hast dich völlig verwandelt, Vivi!“, rief sie verblüfft. „Tja, so viel kann eine Brille ausmachen“, meinte Emily. „Ich finde sie sieht ohne Brille richtig fesch aus“, bemerkte Lotta anerkennend. „Eigentlich habe ich vor, demnächst Kontaktlinsen zu tragen. Mit Brille sieht beinahe jeder blöd aus“, Viviens Stimme klang nachdenklich. „Ach was, du bist und bleibst der gleiche Mensch, egal ob mit oder ohne Brille“, widersprach Kiki ihrer Freundin energisch. „Genau, es kommt nicht nur auf das Aussehen an“, pflichtete ihr Mathilda bei.

 

„Marc ist da! Ich geh jetzt. Bis dann!“, rief Annemieke laut und angelte nach ihrer Jacke, die am Harken neben der Tür hing. „Tschüss!“, riefen ihr ein paar ihrer Freundinnen nach. Kiki entdeckte einen Jungen vor dem Gartentor, es war tatsächlich dieser Marc. „Woher weiß er, wo unser Bandenquartier ist?“, raunte Mathilda verärgert. „Offenbar hat sie es ihm verraten“, vermutete kiki und spürte, wie der Ärger sich in ihr breit machte. Es war oberstes Gebot, dass eine Rote Siebenerin niemand verraten durfte, wo ihr Bandenquartier war. „Was machst du als Bandenchefin dagegen, dass ein Mitglied einem Nichtmitglied verrät, wo unser Wohnwagen steht?“, fragte Mathilda erzürnt. „Ich werde sie mir zur Brust nehmen und ihr ganz deutlich verklickern, dass sie unser Bandenquartier nicht weiter verraten darf“, antwortete Kiki. „Sieh mal einer an, sie knutschen sich“, Mathildas Stimme klang verächtlich. Annemieke und Marc standen eng umschlungen vor dem Gartentor und küssten sich leidenschaftlich. „An Mickys Stelle wäre es mir peinlich, wenn mich alle meine Bandenfreundinnen dabei ertappe, wie ich mich meinen Freund küsse“, lästerte Mathilda weiter.

 

Kiki meinte einen Hauch von Eifersucht in Mathildas Augen zu erkennen. Meist irrte sie sich bei ihrer besten Freundin selten. Zwar versuchte Mathilda manchmal ihre Gefühle zu verstecken, doch wenn sie stark genug waren, gelang es ihr nicht richtig. Kiki wollte es ihr in diesem Moment nicht unter diese Nase reiben, um sie nicht zu provozieren. „Tata, ich bin jetzt auch fertig!“, Fianna drehte sich lächelnd zu ihren Freundinnen um. „Wow! Du siehst umwerfend aus, Carrot!“, rief Vivien begeistert, „Wir müssen unbedingt ein Foto von dir machen und an Ricardo schicken“ „Er wird mich heute Abend sowieso noch sehen, denn wir wollen heute Abend zusammen Pizza essen“, meinte Fianna. Aylin ließ sich als Letzte schminken. „Nun wartet doch bis Aylin auch fertig ist“, wandte sich Emily an die Freundinnen. Kiki fiel vor Staunen beinahe die Kinnlade herunter, als sie Aylin sah. Sie sah nicht mehr wie ein vierzehnjähriges Mädchen aus, sondern glich einer jungen Dame, die mindestens fünf Jahre älter war. „Lass uns endlich Fotos schießen“, rief Fianna ungeduldig. Kiki übernahm die Aufgabe des Fotografierens freiwillig. „Was ist mit Matti?“, fragte Emily. „Die hat doch zu sowieso nichts Lust“, meckerte Fianna. „Ich glaube ich muss langsam nach Hause“, Mathilda stand auf und ging in Richtung Tür. „Warum das denn?“, fragten Lotta und Aylin aus einem Munde. „Ich habe vorhin meiner Mutter versprochen, dass ich ihr beim Kochen helfe“, erwiderte Mathilda. Kiki schien es als Einzige zu merken, dass dies gelogen war. Die anderen Roten Siebenerinnen ließen sie kommentarlos ziehen. Nachdem Kiki ihre Freundinnen in allen möglichen Posen fotografiert hat, waren sie zufrieden. Nach und nach mussten die Freundinnen los. Kiki blieb bis zuletzt mit Vivien und fütterte mit ihr die Kaninchen.

 

Kiki kam fast eine Viertelstunde zu spät zum Abendbrot. Ihre Mutter, Mirja und Peter, der neue Freund ihrer Mutter, aßen bereits. „Nimm dir was, es ist noch warm“, sagte ihre Mutter als Kiki in die Küche kam. Kiki nahm ihren Teller tat sich etwas von der Nudelpfanne auf. Es roch lecker und sie hatte schon wieder Appetit, obwohl sie erst vor zwei Stunden zwei Stücke von Annemiekes Apfelkuchen verdrückt hatte. „Mama, was gibt es Neues?“, fragte sie neugierig. „Was soll es schon Neues geben? Man findet innerhalb eines Tages keine neue Arbeit. Demnächst werde ich mich bei ein paar Firmen bewerben, aber ich weiß nicht, ob sie mich nehmen werden“, zuckte ihre Mutter mit der Schulter. „Ach so“, Kiki konnte ihre Enttäuschung nicht ganz verstecken.

 

„Gehen wir davon aus, dass sie eine neue Stelle findet“, versuchte Peter sie optimistisch zu stimmen. Peter war seit einem halben Jahr der neue Freund ihrer Mutter und besuchte sie inzwischen fast jedes Wochenende. In der Woche war er selten bei ihnen, da er in Mainz wohnte. Kiki mochte ihn, obwohl sie ab und zu Sehnsucht nach ihrem Vater hatte, den sie zuletzt vor vier Monaten sah. Ihr Vater reiste im Wohnwagen durch Europa und schickte ihr monatlich eine Karte aus einem anderen Land. Vor kurzem erreichte sie eine Karte aus Bulgarien und zuvor eine aus Russland. Nach dem Essen ging Kiki in ihr Zimmer, machte Musik an und setzte sich auf ihr Bett. „Zum Glück ist Wochenende!“, dachte sie zufrieden und angelte nach ihrem Nähkorb der neben ihrem Bett stand, um an Lottas Schal weiter zu arbeiten. 

Ein anonymer Liebesbrief

In den ersten beiden Stunden am Montagmorgen schrieb Kikis Klasse eine Mathearbeit. Angestrengt brüteten die Schüler über ihren Aufgaben. Kiki verzweifelte an den letzten beiden Aufgaben. Obwohl sie zig verschiedene Lösungswege auf einen Schmierzettel kritzelte, fehlte ihr der entscheidende Geistesblitz. „Das kann doch nicht wahr sein! Warum habe ich dann das ganze Wochenende für diese verdammte Arbeit gebüffelt?“, dachte sie resigniert. Sonst war sie in Mathe immer eine Einser- und Zweierkandidatin gewesen, doch diese Klassenarbeit hatte es arg in sich und Kiki glaubte, dass es gerade einmal für eine Drei reichen wird. Im nächsten Moment klingelte es zur großen Pause. Frau Zierske ging herum und sammelte die Arbeitshefte ein. „War es bei dir auch so schlimm?“, wisperte Lotta neben ihr. „Definitiv!“, nickte Kiki und angelte ihr Frühstück aus ihrer Tasche.

 

„Kommt, lass uns rausgehen! Mein Hirn braucht dringend frische Luft“, Emily stand hinter ihrem Tisch. „Die Mathearbeit war ein reinster Horrorfilm“, stöhnte Mathilda auf dem Weg nach draußen. „Manchmal fragte ich mich, wofür ich gelernt habe“, Annemieke klang genauso resigniert. „Mensch Zwillingsmäuse, was habt ihr denn nur? Ihr habt doch in Mathe immer gute Noten“, Emily legte lässig ihre Arme um ihre beiden Freundinnen. „Habt ihr die letzte Aufgabe gelöst?“, fragte Fianna. „Nein, bestimmt konnte die niemand außer Pauline und Jacob lösen“, meinte Lotta. „Können wir bitte auf der Stelle das Thema wechseln?“, bat Kiki, „Ich kriege gleich einen Anfall, wenn ich noch einmal das Wort Mathearbeit höre“ Sie wollte so schnell wie möglich die verkorkste Arbeit vergessen und an schönere Dinge denken.

 

Unter der alten Kastanie warteten bereits Aylin und Vivien auf sie. „Ratet mal, was ich in einem Fach gefunden habe?“, lächelte Aylin geheimnisvoll und verbarg etwas in ihrer rechten Hand. „Zeig mal her!“, forderte Mathilda sie auf. „Bitte, bitte! Wir wollen es sehen!“, bettelte Fianna. Die Roten Siebenerinnen bildeten einen Kreis um Aylin und starrten sie neugierig an. Doch Aylin verschränkte die Arme vor ihrer Brust und ließ ihre Freundinnen noch länger zappeln. „Ich zeige es euch nur, wenn ihr aufhört mich anzustarren“, sagte sie seelenruhig und strich ihre schwarzen Locken nach hinten. Mit ihren schmalen Fingern entfaltete sie einen kleinen Zettel. „Liebe Aylin! Ich weiß, ich bin traue es mir nicht, es dir persönlich zu sagen. Ich finde dich total süß und mag dich unheimlich gerne. Deine hübschen schwarzen Locken wollen nicht mehr aus meinem Gedächtnis weichen, deine sanfte Stimme macht süchtig und deine ausdrucksvollen Augen machen mich verrückt. Du bist die Kleinste der Roten Siebenerinnen, doch trotzdem darf man dich nicht unterschätzen und du bist in meinen Augen ein bärenstarkes Mädchen. Dein anonymer Geliebter!“, las sie vor.

 

„Du hast einen Verehrer, das ist ja toll“, rief Lotta begeistert. „Aber ich weiß leider nicht, wer das sein könnte. Aus meiner neuen Klasse wird es bestimmt niemand gewesen sein. Erstens habe ich mit den Jungs aus meiner Klasse fast gar nichts zu tun und außerdem interessieren sie sich noch nicht für erste Liebe und Mädchen“, zuckte Aylin mit der Schulter. Mathilda nahm ihr den Brief aus der Hand und kurz darauf brach eine ungehemmte Diskussion aus, wer den Brief geschrieben haben könnte. „Unbestätigte Spekulationen bringen uns nicht weiter. Gebt mir mal den Brief!“, bat Kiki. Sie konnte von den Roten Siebenerinnen am besten die Handschriften ihrer Mitschüler erkennen. „Es könnte einer von den Piranhas gewesen sein, die Handschrift ist wirklich nicht sehr ordentlich und an manchen Stellen sogar ein wenig verschmiert. Doch Jannis kann es schon einmal nicht gewesen sein, er hat als einziger der Fischköppe eine annehmbare Handschrift“, vermutete sie und kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Wäre es okay für dich, wenn ich Lennart hole und ihm den Brief zeige, Aylin?“, fragte Emily. „Mach das, ich bin damit einverstanden“, nickte Aylin. „Ob ich einem Piranha jemals einen persönlichen Brief zeigen würde, wohl eher nicht“, dachte Kiki bei sich.

 

Emily lief mit dem Brief in der Hand in Richtung der Tischtennisplatte, auf der Lennart mit Ömer und Michael hockte. Kiki folgte ihr unauffällig. „Das kann nur Sven gewesen sein“, sagte Lennart. „Wirklich?“, erwiderten Emily und Kiki gleichzeitig. „Das ist ganz eindeutig seine Handschrift“, bestätigte Lennart. „Das hätte ich nicht gedacht“, entfuhr es Kiki überrascht, „Ich hätte nie gedacht, dass er Aylin einen anonymen Liebesbrief schreibt. Ich dachte, er steht auf Mathilda“ „Tja, anscheinend hat sich sein Geschmack in letzter Zeit geändert“, bemerkte Ömer. „Wie kommt der Zettel in Aylins Fach?“, wunderte sich Emily. „Ach, Sven weiß garantiert, wo sich der Klassenraum von Aylins Klasse befindet. Bestimmt gibt es Lehrer, die ihren Klassenraum nicht jedes Mal abschließen“, meinte Lennart. Aufgeregt liefen Kiki und Emily zu ihren Freundinnen zurück, um Aylin die Nachricht zu überbringen. „War das wirklich Sven?“, hauchte Aylin, „Oh, das ist wirklich fantastisch! Ich werde ihm ein Briefchen zurück schreiben und ihn fragen, ob wir ausgehen wollen“ „Darf ich dabei sein?“, fragte Vivien ehrfürchtig. „Ich glaube es ist besser, zwei Frischverliebte alleine zu lassen“, warf Fianna ein, die seit einem Dreivierteljahr mit Ricardo zusammen war und Erfahrung mit diesem Thema hatte.

 

Im Erdkundeunterricht versuchte Kiki sich Aylin und Sven als Paar vorzustellen. Immer noch war sie erstaunt darüber, dass Sven etwas von der kleinsten Roten Siebenerin wollte. Schließlich waren sie so verschieden wie Tag und Nacht. „Kristina!“, plötzlich riss sie Frau Richters scharfe Stimme abrupt aus ihren Gedanken. „Ja!“, antwortete sie kleinlaut. „Bitte zeig uns den Verlauf des Ganges an der Karte“, forderte die Lehrerin sie auf und drückte ihr den Bambusstab in die Hand. Mit hochrotem Kopf stand Kiki vor der Klasse und suchte verzweifelt nach einem Fluss namens Ganges. „Es muss wohl ein sehr langer und breiter Fluss sein“, dachte sie und zeigte mit dem Stock willkürlich auf einen Fluss. In der letzten Reihe kicherten Jolanda, Saskia, Katja und Anja hinterhältig und tuschelten leise. „Macht es doch besser, wenn ihr klüger seid!“, dachte Kiki zornig und versuchte sich nicht von den Ziegen aus dem Konzept bringen zu lassen. „Kristina, du bist gerade in Pakistan und wie du weißt, entspringt der Ganges im Himalajagebirge, fließt durch Indien und mündet in Bangladesh in den Golf von Bengalen“, hielt ihr Frau Richter einen Kurzvortrag. „Oh, ich habe mich vertan“, gab Kiki leise zu.

 

„Leider muss ich dir wegen deiner Unaufmerksamkeit eine schlechte mündliche Note für die heutige Stunde geben“, fügte die Lehrerin hinzu und kritzelte eine Notiz in ihr Büchlein. Peinlich gerührt setzte sich Kiki auf ihren Platz zurück. „Mach dir nichts draus, jeder wird von ihr einmal beim Träumen erwischt“, flüsterte ihr Fianna ins Ohr. Kiki warf einen Blick auf ihre Uhr, nur noch eine Viertelstunde und dann war wieder Pause. „Wollt ihr gar nicht mitschreiben?“, Frau Richter sah streng in die Richtung einiger Schüler, zu denen auch Kiki gehörte. Schnell nahm sie ihren Füller in die Hand und begann das Tafelbild abzuschreiben. Kiki wollte nicht unbedingt noch einmal negativ auffallen. Der Gong erlöste die Klasse, doch die Lehrerin ließ ihre Schüler nicht gehen, bevor sie die Hausaufgaben abgeschrieben hatten. Kiki und ihre Freundinnen wurden in der Pausenhalle direkt von Aylin und Vivien abgefangen. „Ich habe den Brief an Sven fertig“, lächelte Aylin. „Wie willst du ihn an Sven überreichen?“, fragte Annemieke neugierig. „Ich werde ihn persönlich an Sven überreichen“, sagte Aylin. „Willst du das wirklich tun?“, Mathilda warf ihr einen skeptischen Blick zu. „Warum nicht? Versuchen kann ich es wenigstens“, zuckte Aylin mit der Schulter. „Du traust dich was. Langsam machst du echt Fortschritte, Aylin“, lobte Lotta. Nicht vor all zu langer Zeit war Aylin das stillste und unauffälligste Bandenmitglied gewesen, doch bei jedem gemeinsamen Abenteuer hatte mit ihren Freundinnen hatte sie es allen gezeigt, dass man sie nicht unterschätzen durfte.

 

Kiki sah wie Aylin auf Sven zusteuerte und sich mit ihm unterhielt. Schließlich verschwanden sie zu zweit um die Ecke. „Was das wohl wird? Sven und Aylin sind so unterschiedlich“, flüsterte ihr Fianna aufgeregt ins Ohr. „Anscheinend ziehen sich Gegensätze an“, stellte Kiki fest. „Ich gönne Aylin aus ganzem Herzen, schließlich ist sie ein hübsches und liebenswertes Mädchen“, sagte Vivien, ohne eine Spur von Eifersucht zu zeigen. „Wartet doch erst einmal ab, ob es zwischen ihnen etwas wird“, bremste Annemieke die Euphorie ihrer Freundinnen. „Sie wird uns sicherlich erzählen, wie es gelaufen ist“, meinte Emily. „Micky, da bist du ja endlich! Ich habe das ganze Schulgebäude nach dir abgesucht“, Marc trat hinter seine Freundin und umarmte sie von hinten. „Ach, ich habe ganz vergessen, dass wir uns treffen wollten“, fiel Annemieke ein. „Kommst du mit in die Cafeteria?“, fragte er. Annemieke nickte und ging Hand in Hand mit Marc fort. Kiki bekam mit wie Mathilda ihrer Zwillingsschwester einen neidischen Blick hinterher warf. „Bist du also doch eifersüchtig oder was?“, ertappte Kiki ihre beste Freundin. „Quatsch! Oder bekomme ich etwas Federn und sehe aus wie ein albernes verliebtes Huhn?“, tippte sich Mathilda gegen die Stirn. „Soll ich dir das wirklich glauben?“, Kiki zog die Augenbrauen hoch. 

Ein großer Schock für Kiki

Die nächsten beiden Wochen waren besonders anstrengend. Kikis Klasse schrieb mehrere Klassenarbeiten und Tests, da bald die Herbstferien vor der Haustür standen. Viel Zeit für Besuche im Wohnwagen blieb den Roten Siebenerinnen nicht. Jeden zweiten Tag fuhr Kiki zum Bandenquartier und versorgte die Kaninchen. Einmal traf sie dort Aylin und Sven, die nebeneinander auf dem Kirschbaum saßen und vor Schreck beinahe vom Baum fielen, als sie Kiki bemerkten. Kiki konnte es immer noch nicht glauben, dass die Beziehung zwischen ihnen seit knapp zwei Wochen hielt. Fianna und Lotta schlossen bei jedem Bandentreffen Wetten ab, wie lange die Beziehung halten wird. Fianna hingegen stritt sich häufiger mit Ricardo, weshalb ihre Beziehung einmal kurz vor dem Aus stand.

 

Der Freund ihrer Mutter war zunehmend öfter da, auch in der Woche, obwohl er am nächsten Tag wieder arbeiten musste. „Alle um mich herum sind verliebt“, dachte Kiki genervt. Sie selbst hatte noch nie wegen einem Jungen ein Kribbeln im Bauch, geschweige denn das Bedürfnis einen Freund zu haben. Das Gefühl, dass sich seit den Sommerferien viel verändert hatte, bestätigte sich zunehmend. Nicht vor all zu langer Zeit waren sie noch Kinder gewesen, die die Welt mit ganz anderen Augen sahen. Seit dem Sommer rückten bei den anderen Roten Siebenerinnen Jungs, Mode und Aussehen immer mehr in den Mittelpunkt. Kiki sehnte sich nach den alten Zeiten zurück, als sie die Piranhas ausspionierten und die beiden Banden sich gegenseitig lustige Streiche spielten. Es war schon fast anderthalb Monate her, dass Kiki und ihre Bande den letzten kleinen Streich gespielt hatten. Seit über sechs Wochen trieb sich niemand mehr von ihnen in der Nähe des Bandenquartiers der Piranhas herum, noch nicht einmal Fianna, die die Spionin vom Dienst war.

 

An einem Samstag Anfang Oktober schafften die Freundinnen es sich für einen Filmpremiere im Kino zu treffen und zwar ganz ohne Jungs. „Hallo, Kiki!“, von weitem winkten ihr Lotta und Fianna zu, die auf einer roten Couch saßen. Mit einem fröhlichen Lächeln lief sie auf ihre beiden Freundinnen zu und ließ sich neben Lotta nieder. „Wir haben bereits Plätze reserviert, aber die Karten müssen wir trotzdem gleich noch bezahlen. Lass uns warten, bis wir komplett sind“, sagte Fianna. „Aylin ist schon da, aber sie ist eben auf Toilette“, murmelte Lotta. Einen Moment später kam Aylin wieder. Kiki blieb vor Staunen der Mund offen stehen. „Wow, bist du hübsch, Aylin!“, entfuhr es ihr. Aylin trug ein dunkelrotes Kleid mit einer schwarzen Strumpfhose und hatte ihre schwarzen Locken zu einer aufwändigen Hochsteckfrisur hochgesteckt, nur einige lose Strähnen umrahmten ihr ovales Gesicht. „Das hat meine Schwester gemacht“, erzählte Aylin den Freundinnen stolz. „Ist deine Schwester Frisösin?“, wollte Lotta wissen. „Man könnte es denken, aber sie ist es nicht“, schüttelte ihre Freundin den Kopf.

 

Im nächsten Moment kam Vivien mit einem riesigen Eimer Popcorn und einer Tüte Chips. „Ich habe schon mal vorgesorgt, damit wir im Kino nicht verhungern werden“, begrüßte sie die Freundinnen mit einem breiten Grinsen. „Jetzt müssen nur noch die Zwillinge und Emily kommen“, bemerkte Lotta mit einem Blick auf ihr Smartphone. Kikis Handy vibrierte. Hastig angelte sie aus ihrer selbst gehäkelten Tasche. „Nachricht von Lily“, erschien auf dem Display. „Hi, ich werde in einer Viertelstunde da sein. Es tut mir leid, dass mein Bus so wahnsinnig verspätet ist. HDL Lily“, schrieb ihre Freundin. „Na toll, in zwanzig Minuten beginnt der Film, hoffentlich schafft sie es noch“, brummte Kiki. „Was ist denn los?“, fragte Lotta. „Emilys Bus hat Verspätung und das schon wieder!“, stöhnte Kiki. „Ich mache mir hingegen Gedanken, wo die Zwillinge bleiben“, meinte Lotta, „Sie können nicht mit einer faulen Ausrede kommen, dass ihr Bus Verspätung hatte, da sie mit dem Fahrrad fahren“

 

Kaum wurde von den Zwillingen gesprochen, tauchte Annemieke auf. Doch wo war ihre Zwillingsschwester? Kikis Augen suchten das ganze Foyer nach Mathilda ab, doch nirgends war sie zu sehen. „Micky! Hier sind wir!“, riefen Lotta und Vivien. „Entschuldigung, dass ich so spät komme. Ich musste noch mein Handy von Marc holen, ich habe es gestern bei ihm zuhause liegen lassen“, sagte Annemieke außer Atem. „Aha, das sollen wir als Entschuldigung gelten lassen?“, tadelte Fianna lachend. Frech streckte ihr Annemieke als Antwort die Zunge raus. „Das sind aber keine feinen Manieren“, bemerkte Aylin spitz. Anscheinend fiel außer Kiki keinem auf, dass Mathilda fehlte. „Wo hast du deine Schwester gelassen?“, wandte sie sich an Annemieke. „Ihr geht es nicht so gut, sie hat ihre Tage bekommen“, antwortete Annemieke. Keuchend kam Emily auf die Freundinnen zu gerannt. „Ich habe gedacht, ich würde es nicht mehr schaffen“, sagte sie schnaufend. „Dann lasst uns gehen und die Karten bezahlen“, blies Kiki zum Aufbruch.

 

Das Kino war bereits ziemlich voll. Die Mädchen liefen im Gänsemarsch die Treppe hinauf bis zur vorletzten Reihe. „Mist, muss es hier so dunkel sein!“, fluchte Emily als sie über eine Stufe stolperte und sich bei Kiki abstützen musste. „Alles okay bei dir? Hast du dir wehgetan?“, besorgt drehte sich Kiki zu ihr um. „Nein, mir ist nichts schlimmeres passiert“, schüttelte Emily den Kopf. „Hier sitzen wir!“, winkte Vivien die Freundinnen zu sich rüber. Erst als sie auf ihren Plätzen saßen, setzten die Mädchen sich ihre 3D-Brillen auf. Der Vorhang öffnete sich und es wurde Werbung gezeigt. „Immer diese Werbung!“, flüsterte Lotta genervt. „Es ist das überflüssigste an Kino überhaupt“, konnte Kiki ihr beipflichten. An der Seite ging die Tür auf. Kiki erkannte im Halbdunkeln nur die Umrisse dreier Jungen, die große Popcorneimer vor sich her trugen. „Ich fass es nicht, dass sind Sven, Michi und Jannis“, wisperte Fianna. „Tja, anscheinend ziehen wir die Fischköpfe magisch an, weil sie ohne uns nicht können“, flüsterte Kiki. Fianna schnippte ein Popcorn in Jannis Richtung, welches ihm am Hinterkopf traf. Annemieke, Aylin und sie kicherte leise. „Was macht ihr denn hier? Gab es heute zufällig einen Roten-Siebenerinnen-Rabatt?“, drehte sich Jannis zu ihnen um.

 

„Das wollten wir euch gerade auch fragen“, konterte Annemieke. „Wahrscheinlich aus dem selben Grund wie ihr“, erwiderte Jannis und setzte sich mit seinen beiden Kumpeln in die Reihe vor den Roten Siebenerinnen. „Eigentlich wollte ich mich mit Sven erst nach dem Kino treffen. Ich habe sie nicht hier her bestellt“, flüsterte Aylin Kiki ins Ohr. Der Film begann und das Licht ging komplett aus. Die Freundinnen stellten die Gespräche untereinander ein. Es war nur noch das Geraschel der Popcorntüten zu hören. Lotta und Kiki hatten ihre Popcorntüte schon mitten im Film leer gefuttert, doch Vivien füllte ihnen schnell wieder Popcorn aus ihrem Jumboeimer nach. So ging ihnen nicht die Nervennahrung für die besonders spannenden Szenen aus. Nach anderthalb Stunden war der Film vorbei. „War das nicht ein schöner Film? Ich werde ihn mir auf jeden Fall noch einmal mit Matti gucken“, schwärmte Annemieke. „Auf alle Fälle war er sehenswert“, pflichtete ihr Emily bei. „Ich werde mir garantiert die DVD holen“, meinte Lotta, die leidenschaftlich gerne DVDs sammelte und manchmal die Bande zu einem Filmabend einlud. Draußen vor der Eingangstür verabschiedeten sich die Roten Siebenerinnen voneinander und gingen getrennte Wege. Emily und Vivien verabschiedeten sich zum Shoppen in die Innenstadt. Lotta wurde von ihrer Mutter abgeholt, da sie Lottas Freund vom Bahnhof abholen wollten. Fianna und Aylin hatten vor mit Sven und Ricardo auszugehen. Kiki schwang sich auf ihr Fahrrad und fuhr gut gelaunt die Hauptstraße entlang bis zum Busbahnhof und bog auf den Stadtwall ab. „So kann ein Samstagnachmittag immer sein“, dachte sie zufrieden und fuhr in eine kleine Seitenstraße rein, in der sie wohnte. Als Kiki ihr Fahrrad unter dem Carport parkte, sah sie, dass in der Küche Licht brannte. Offenbar war entweder ihre Mutter oder ihre Schwester zuhause. Sie schloss die Haustür auf und lief die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf.  

 

„Ich habe beste Neuigkeiten für dich“, empfing ihre Mutter sie im Wohnzimmer. „Was denn welche?“, nun war Kiki richtig neugierig. „Du wirst es garantiert nicht glauben, Kiki“, lächelte ihre Mutter. „Nun sag es schon, sonst platze ich vor Neugierde“, drängte sie. „Mama, will dir nur sagen, dass sie einen neuen Job hat“, funkte Mirja dazwischen. „Punktgenau!“, strahlt die Mutter, „Ich werde demnächst in Peters Firma einsteigen, er hat mit seinem Chef gesprochen und sie brauchen eine neue Sekretärin, da ihre alte in den Ruhestand bald in den Ruhestand gehen wird. Demnächst werden wir unsere Wohnung hier kündigen und nach Mainz ziehen. Bereits in ein paar Wochen soll mein erster Arbeitstag sein und deswegen ist der Umzugstermin in der ersten Novemberwoche“ „Wie bitte?“, Kiki glaubte sich verhört zu haben. Sie kam sich vor wie in einem falschen Film oder noch besser wie in einem Alptraum. „Wir ziehen zu Peter. Er wohnt ganz in der Nähe seiner Firma und ich habe jeden Morgen nur fünf Minuten Fußweg dahin. Das ist ziemlich praktisch“, sagte sie. „Ich werde nicht mitziehen, ich bleibe hier“, rief Kiki stur. „Du kannst hier nicht alleine wohnen bleiben, du bist erst vierzehn“, wandte sich ihre große Schwester an sie. „Mir egal, aber ich ziehe nicht nach Mainz!“, tobte Kiki, „Ich werde meine Schule, meine Bande und die Reitschule nicht verlassen und notfalls ziehe ich zu Lotta oder zu den Zwillingen“

 

„Reg dich doch nicht so auf, Kiki“, versuchte ihre Mutter zu besänftigen, „Du kannst zu deinen Freundinnen immer noch Kontakt halten und sie an den Wochenenden besuchen“ „Mama, du versteht es nicht. Ich bin in meiner Klasse Klassensprecherin, kümmere mich zusammen mit Annemieke als Vertrauensschülerin um die jüngeren Schüler und außerdem werde ich meine Bande nie und nimmer alleine lassen!“, Kikis Stimme überschlug sich beinahe. „Hör zu, in Mainz werde ich mehr Geld verdienen und wir werden in Peters großem Haus wohnen. Du wirst sicherlich begeistert sein, dass er einen riesigen Garten besitzt“, redete ihre Mutter auf sie ein. „Wie konntest du das nur hinter meinem Rücken planen, ohne mich mit einzubeziehen! Du hast es bestimmt längerfristig geplant, dass zu Peter ziehen willst. Wahrscheinlich hast du dir noch nicht einmal die Mühe gemacht, dir eine neue Arbeit hier in der Nähe zu suchen“, schrie Kiki und spürte Tränen in ihren Augen brennen. Wütend sprintete sie aus dem Raum und ließ die Tür hinter sich zuknallen. Auf dem Flur stolperte sie beinahe über ihren Hund Benno, der in seinem Korb lag und sie fragend anschaute. Offensichtlich verstand er ihren Wutausbruch nicht. Kiki zog sich ihre Jacke und ihre Schuhe an. „Es ist so, dass ich einfach froh bin eine neue Arbeit gefunden habe…“, rechtfertigte sich ihre Mutter, die ihr bis auf den Flur gefolgt war. „Halt einfach deine Klappe. Ich will von dir nichts mehr hören“, brüllte Kiki und riss die Wohnungstür auf. „Kristina!“, schallte die Stimme ihrer Mutter durch das Treppenhaus. Kiki ließ sich nicht aufhalten und lief zu ihrem Fahrrad.

 

Kiki raste auf ihrem Fahrrad im Dunkeln die Hauptstraße entlang. „So eine Gemeinheit!“, heftig schluchzend trat sie in die Pedale. Tränen strömten über ihr Gesicht und vor ihren Augen verschwamm die Umgebung. Ein Auto hupte und der Fahrer zeigte ihr einen Vogel, als sie ohne zu gucken über eine Kreuzung fuhr. Kiki ignorierte es, ihr war in dem Moment alles egal. Sie wurde immer schneller und versuchte vor dem Alptraum zu fliehen. Doch sie hatte das Gefühl, dass er ihr immer noch auf den Fersen war und sich nicht abschütteln ließ. Bald darauf tat ihr jeder Muskel höllisch weh. Hinter dem Stadtpark bog sie in einen kleinen Weg ein und parkte ihr Rad vor dem Schrebergarten. Hastig fingerte sie nach dem Schlüssel in ihrer Hosentasche. Mit zittrigen Fingern öffnete sie das Gartentor und eilte auf den Wohnwagen zu. „Notfalls könnte ich auch hier wohnen“, kam ihr der Gedanke.

 

Kaum als sie die Wohnwagentür geöffnet hatte, traf sie ein zusammengeknülltes Taschentuch am Kopf. Sie stieß vor Schreck beinahe einen spitzen Schrei aus. „Ich hasse sie!“, hörte sie jemanden schluchzen. Kiki traute ihren Augen nicht, Annemieke saß in Tränen aufgelöst auf der Couch. „Was ist los?“, fragte sie leise und vergaß, dass sie gerade selber weinte. „Was? Was machst du hier“, Annemieke zuckte erschrocken zusammen, als sie ihre Freundin im Türrahmen entdeckte. „Ich…“, begann Kiki stockend und konnte vor lauter Verwirrtheit nicht weiter sprechen. „Was ist denn los?“, erst jetzt bemerkte Annemieke Kikis rot geweinten Augen. „Wir ziehen nach Mainz, da Mama einen neuen Job in der Firma ihres Freundes gefunden hat. Der Umzug soll in wenigen Wochen sein“, sagte Kiki mit zittriger Stimme und brach wieder in Tränen aus. „Das ist ja schrecklich! Was soll nur aus uns werden, wenn du als Anführerin fehlst“, hauchte ihre Freundin geschockt und weinte noch heftiger als sie selbst. Arm in Arm saßen sie einen Moment lang nebeneinander und schnieften mehr als eine Packung Taschentücher voll.

 

„Was ist eigentlich mit dir los?“, richtete sich Kiki an Annemieke. „Mathilda hat mir Marc ausgespannt. Vorhin als ich nach Hause kam, saßen sie zu zweit auf dem Sofa und küssten sich. Meine Schwester sah genauso aus wie ich, sie trug meinen roten Haarreifen, meine weiße Rüschenbluse, meine Ohrringe und hatte sich geschminkt“, erzählte sie mit tränenerstickter Stimme. „Wirklich? Ich hätte niemals gedacht, dass Matti zu sowas Ungeheurem in der Lage ist“, klang Kiki geschockt und enttäuscht zu gleich. „Offensichtlich doch und jetzt habe ich Marc an meine blöde Schwester verloren. Sie wird es mir noch heimzahlen, dass sie mich vorhin angelogen hat, weil sie nicht mit ins Kino wollte. Angeblich hätte sie ihre Tage gehabt, aber nein sie wollte mir Marc wegnehmen“, Annemiekes Enttäuschung schlug in blanke Wut um.

 

Wieder nahm sie sich ein Taschentuch und putzte sich geräuschvoll ihre Nase. „Wirst du mit Marc Schluss machen?“, fragte Kiki vorsichtig. „Definitiv ja“, schniefte Annemieke, „Er hat mein Vertrauen total zerstört und offensichtlich ist er jetzt mit meinem eigenen Zwilling zusammen. Mathilda war die ganze Zeit eifersüchtig auf mich, dass ich einen Freund hatte, aber sie wollte es nicht zugeben“ Kiki wusste nicht, was sie dazu sagen sollte. So eine hinterhältige Aktion traute sie einigen Zicken aus ihrer Klasse zu, aber nicht ihrer eigenen besten Freundin. Ihr wurde deutlich, dass sie mit Mathilda darüber sprechen musste. Vor einem Jahr wurde es deutlich, was ein Streit zwischen den Zwillingen bedeutete. Um ein Haar zerbrach die Rote Sieben an dem Zwillingsstreit und Kiki wollte es mit allen Mitteln verhindern, dass es noch einmal passierte.

 

Kiki und Annemieke brachen die letzte Packung Kekse auf, die sie im Küchenregal fanden. Süßes tat zu jeder Zeit gegen sämtlichen Kummer und Schmerz. „Mach dir wegen der Bande keine Sorgen, natürlich wird die Rote Sieben bestehen bleiben, auch wenn du in Mainz wohnst“, machte Annemieke ihr Mut. „Soll ich trotzdem immer noch die Anführerin sein?“, fragte Kiki unsicher. „Aber natürlich“, nickte ihre Freundin, „Vor über zwei Jahren warst du es, die unsere Bande ins Leben gerufen hat. Damals wollten wir uns gegen die Jungs zusammenschließen und waren anfangs noch nicht einmal alle untereinander befreundet. Mittlerweile liegt der Bandenkrieg gefühlte hundert Jahre in der Vergangenheit, aber trotzdem seid ihr alle unheimlich wichtig für mich geworden. Bessere Freundinnen als euch gibt es nicht“ Kiki schaffte es zum ersten Mal an diesem Abend zu lächeln. „Ich denke, du wirst uns an den Wochenenden besuchen kommen oder nicht?“, fuhr Annemieke fort. „Aber natürlich“, nickte Kiki selbstverständlich, „Ich könnte jeden Freitag mit dem Zug kommen und bis Sonntag bleiben“ „Das ist doch toll, so kannst du immer zu unseren Bandentreffen und zur Reitstunde kommen. Du könntest auf jeden Fall bei uns übernachten“, freute sich ihre Freundin. „Und ich bin dankbar euch zu haben“, Kikis Gesicht hellte sich auf.

Die beste Schwester der Welt

Kiki spürte nicht, wie die Zeit verrann und es war ihr auch fast egal. Annemieke war wieder vor gefühlten zwei Stunden nach Hause gefahren, da sie nicht wollte, dass ihre Eltern sich Sorgen um sie machten. Aber Kiki hatte überhaupt keine Lust nach Hause zu fahren. Sie war einfach noch viel zu wütend auf ihre Mutter, die sie aus dem Hinterhalt übel überrascht hatte. Wie stellte ihre Mutter sich das vor, knall auf Fall umzuziehen? Hatte sie nicht daran gedacht, dass Kiki und ihre Schwester in ihrer Heimatstadt verwurzelt waren? Riesengroßer Frust machte sich in ihr breit, als sie die ganzen Poster und Bilder von sich und ihren Freundinnen anschaute, die an den Wänden im Wohnwagen hingen. Ein ungeheurer Schmerz machte sich in ihrem Herzen breit, als sie kurz daran dachte, dass ihre Bande bald nicht mehr zu ihrem Alltag gehören würden und sie ihre Freundinnen höchstens nur noch zweimal im Monat besuchen könnte.

 

Kiki liebte ihre Bande, die sie mit Leidenschaft anführte und in die sie die letzten zweieinhalb Jahre so viel Herzblut gesteckt hatte. An solchen Tagen wie dieser konnte das Leben ein mieser Verräter sein. Während Kiki gedankenlos auf dem Sofa saß und ihr Bandenkaninchen Nanni kraulte, merkte sie nicht, wie es später und immer später wurde. Erschrocken sah sie auf die Uhr neben den Kleiderhaken, die schon zwanzig Minuten nach ein Uhr anzeigte. „Verdammt, ich werde zuhause mächtig Ärger kriegen“, schoss es ihr durch den Kopf und ihr wurde gerade zu mulmig. Nun war es wirklich an der Zeit den Rückweg anzutreten. Egal ob sie wollte oder nicht. Hoffentlich traf sie auf keine Polizisten, die sie wohlmöglich noch fragten, warum sie um diese späte Zeit noch unterwegs sei. Seufzend brachte sie Nanni zurück in den Stall und füllte die Heuraufe und die Wassertränke auf.

 

Als Kiki sich auf ihr Fahrrad schwang, sträubte sich alles in ihr. Garantiert würde sie von ihrer Mutter eine große Standpauke bekommen, da sie Hals über Kopf abgehauen war. Je näher sie ihrem Noch-Zuhause kam, desto mehr zog sich ihr Magen zusammen. Hoffentlich hatte Mutter nicht bereits die Polizei alarmiert. Nicht einmal ihr Handy hatte sie mitgenommen und somit war sie für niemanden erreichbar gewesen. Garantiert hatten sich ihre Mutter und ihre Schwester schon ziemliche Angst geschoben. Als Kiki den Carport ihres Hauses erreichte, fingen ihre Beine leicht an zu zittern. Das letzte Mal, dass sie mit so einem Gefühl voller Angst nach Hause kam, lag schon über drei Jahre zurück. Damit hatte sie mit Mathilda und  Annemieke den Nachbarn mehrere Streiche gespielt, sodass sich eine Nachbarin bei ihrer Mutter beschwert hatte. Während sie langsam die Auffahrt entlang schritt, sprang der Bewegungsmelder von der Haustürlampe an und warf einen langen schwachen Schatten von Kikis schlanker Silhouette auf den gepflasterten Boden.

 

Ohne ein Geräusch zu machen öffnete sie die Haustür und ging die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf. Kaum hatte sie die Wohnungstür geöffnet, stürzte ihr ihre Schwester entgegen. „Oh Kiki, wir haben uns so große Sorgen gemacht, als du über sechs Stunden nicht mehr aufgetaucht bist. Ich habe geradezu auf dich gewartet, denn Mama ist vor einer halben Stunde ins Bett gegangen“, nahm Mirja sie fest in den Arm. Kiki sog den vertraulichen Duft ihres Parfüms ein. „Es tut mir leid“, sah Kiki ihre 19-jährige Schwester schuldbewusst an. „Du brauchst dir dafür nicht die Schuld geben“, tröstete Mirja sie, „Ich kann mir vorstellen, wie du dich fühlst. Du bist genauso mit Freudenburg verwurzelt wie ich und dann haben wir beide ziemlich viele Freunde in unserer Schule“ Zum Reden verzogen sich die beiden Schwestern ins Wohnzimmer. „Ich sehe, wie fertig du bist. Du musst wohl ziemlich geweint haben. Das sehe ich an deinen roten verquollenen Augen“, legte Mirja den Arm um ihre kleine Schwester.

 

„Das stimmt“, nickte sie, „Ich habe bestimmt mehrere Stunden geflennt“ „Oh je, das muss sehr hart für dich sein“, machte Mirja ein mitleidiges Gesicht, „Wenn ich ehrlich bin, finde ich es auch total bescheuert, dass wir umziehen. Wenn ich nicht im letzten Schuljahr eine Klasse zurückgegangen wäre, würde ich im nächsten Sommer Abitur machen. Ich habe auch keine Lust meine ganzen Freunde zu verlassen und schon gar nicht Verena. Sie ist seit fünfzehn Jahren meine allerbeste Freundin“ „Weißt du, dass ich Angst habe, in einen Klassenraum zu gehen, wo ich niemanden kenne?“, offenbarte Kiki ihrer Schwester. „Das hat aber jeder“, meinte Mirja, „Das wird mir genauso gehen, weil ich nicht weiß, auf was für Mitschüler ich treffen werde“ So intensiv wie lange nicht mehr kamen die Schwestern ins Gespräch und verputzten ein Stück vom Kuchen, den Mirja vorhin mit zwei Freundinnen gebacken hatte. Obwohl Kiki vorhin im Wohnwagen ziemlich viele Kekse verdrückt hatte, konnte sie jetzt wieder eine süße Kleinigkeit vertragen.

 

Nach kurzem Zögern traute sie ihrer Schwester zu erzählen, was sich zwischen den Zwillingen zugetragen hatte. „Ich weiß, dass Mathilda deine allerbeste Freundin ist, aber ich habe trotzdem schon immer den Eindruck, dass sie ein großes Mundwerk hat und manchmal auch ziemlich fies sein kann, obwohl ich sie eigentlich auch mag. Es ist dennoch krass, dass selbst zu ihrer Zwillingsschwester so gemein ist“, sagte Mirja dazu. „Matti ist wirklich ein Fall für sich. Auf der einen Seite macht sie sich durch ihre lustige, lebensfrohe, freche und quirlige Art viele Freunde. Auf der anderen Seite hat sie das Talent sich bei ihren eigenen Freundinnen unbeliebt zu machen, indem sie manche dumme und unpassende Sprüche raus haut, unüberlegt handelt, schnell aufbraust und nicht immer einfühlsam reagiert“, erklärte Kiki ihrer Schwester die Eigenarten ihrer besten Freundin. „Ja, ich kenne sie“, nickte Mirja, „Ich habe Mathilda schon oft gesehen, aber mittlerweile ist sie nicht mehr so ungestüm wie früher“

 

„Dafür scheint sie mittlerweile mehr zu verschweigen, was sie früher eigentlich kaum tat“, meinte Kiki, „Ich habe sie schon Wochen im Voraus dabei ertappt, dass sie ebenfalls in Marc verknallt war. Vor unserer Bande wollte sie das nie zugeben, aber ich habe es trotzdem gespürt, weil sie ziemlich eifersüchtig war, dass ihre Schwester einen Freund hatte. Generell haute sie gegenüber unseren Freundinnen, die einen Freund haben oder in einen Jungen verliebt waren ziemlich blöde Sprüche raus und bezeichnete sie als alberne verliebte Hühner. – Kannst du mir einen Rat geben, wie ich mit Mathilda umgehen soll?“ „An deiner Stelle, würde ich ihr eine Standpauke verpassen, denn was sie mit ihrer Schwester gemacht hat, geht gar nicht. So ein Streit kann eure ganze Bande spalten, wie es vor einem Jahr passiert war, als sich die Zwillinge so heftig gezofft hatten“, erwiderte ihre Schwester. „Bitte nicht wieder sowas!“, stöhnte Kiki und stützte ihr Kinn auf den Händen. „Ich weiß von deinen Erzählungen, dass die Zwillinge bei euch sehr beliebt sind und im Mittelpunkt stehen. Deshalb musst du etwas tun, dass ihr euch nicht noch einmal zerstreitet“, sagte ihre große Schwester. „Ich bin mir sicher, dass meine Freundinnen auf Annemiekes Seite stehen“, war Kiki überzeugt.

 

„Das glaube ich auch, nachdem was sich Mathilda da geleistet hat“, bejahte Mirja. „Warum muss es immer diese Probleme geben? Erst streitet sich Fianna ständig mit ihrem Freund, dann spannt Matti ihrer Schwester den Freund aus und wir ziehen nach Mainz. Das Leben kann einfach so gemein sein“, stiegen Kiki die Tränen in die Augen. „Nicht traurig sein, Mäuschen!“, streichelte Mirja ihr über den Rücken, „Das Leben kann nicht immer nur schöne Lieder spielen, manchmal gehört auch traurige Musik dazu“ Die Schwestern unterhielten sich bis tief in die Nacht über das Älterwerden, die Veränderungen in der Pubertät, das Verliebtsein, über ihre Lehrer, Mitschüler und Noten in den Klassenarbeiten. Irgendwann waren sie so müde, dass sie ihre Augen nicht mehr offen halten konnten.

 

„Nanu, warum habt ihr beide auf dem Sofa geschlafen? Und Kiki ist auch wieder da“, kam ihre Mutter morgens um zehn Uhr ins Wohnzimmer, um den Tisch für das Frühstück zu decken. „Wir hatten noch wichtige Dinge zu bereden“, sagte Mirja gähnend. „Kiki, mit dir habe ich auch noch Hühnchen zu rupfen“, blieb ihre Mutter vor ihr stehen, „Du hast eigentlich eine große Standpauke verdient, da du einfach so abgehauen bist“ „Mama, das hat Kiki nicht aus bösem Willen getan“, nahm Mirja sie sofort in Schutz. „Ich kann verstehen, dass sie aufgewühlt war und daher nehme ich es ihr auch nicht übel. Ich weiß doch, wie wohl sie sich hier fühlt, dass sie viele gute Freundinnen hat und ...“, brach ihre Mutter den Satz ab und konnte dabei ein Seufzen nicht ganz unterdrücken. Kiki und Mirja pressten ihre Lippen aufeinander und machten keine Anstalten ein Wort zu sagen. Mindestens drei Minuten lang saßen sie da und schwiegen sich an. „Ich glaube, so langsam kriege ich doch Appetit“, stand Mirja auf. „Dann helft mir beim Tischdecken“, meinte ihre Mutter. Zu dritt richteten sie ein reichhaltiges Sonntagsfrühstück her. Es gab frische Brötchen aus dem Ofen, Rührei aus der Pfanne, Lachsstreifen, Müsli mit klein geschnittenem Obst und Joghurt und warmen Kakao. Anders als an anderen Sonntagen gab es kleine Pancakes mit Ahornsirup.

 

Kiki hatte den Eindruck, dass ihre Mutter den Umzug nach Mainz mit einem Luxusfrühstück wieder gut machen wollte. „Mama, nimmst du mir immer noch übel, dass ich dich gestern so angeschrieen und weggerannt bin?“, fragte Kiki zwischen zwei Bissen. „Ich war gestern ehrlich gesagt schon sauer auf dich und habe mir Sorgen gemacht. Aber jetzt bin so glücklich und erleichtert, dass dir nichts passiert ist“, antwortete ihre Mutter, die sich einen Kaffee eingoss. Kiki hatte halbwegs verziehen, aber ein wenig wütend war sie immer noch. Gerade eben hatte sie die Umarmung ihrer Mutter nur halbherzig erwidert und sich rasch zu Mirja umgedreht. „Ich finde, du hättet Kiki und mir früher Bescheid sagen sollen, was Sache ist. Gestern hast du uns beide ziemlich damit überrumpelt“, äußerte Mirja ihre Meinung. „Warum hast du uns nicht gesagt, wo du dich bewirbst? Wir haben das Gefühl, dass du hinter unserem Rücken gehandelt hast“, machte Kiki ihrer Mutter einen Vorwurf. „Falls du mich vorwerfen willst, dass ich mich nicht in Freudenburg beworben habe. – Ich habe an mehrere Firmen Bewerbungen geschickt, aber entweder kamen gar keine Antworten oder Absagen“, seufzte ihre Mutter, „Ich kann verstehen, dass ihr sauer auf mich seid und ich sehe ein, dass ich mich nicht gegenüber euch beiden nicht ganz korrekt verhalten habe“

 

„Mama, die Mutter von einer meiner Freundinnen arbeitet bei der Arbeitsagentur. Sie hätte dir dabei helfen können eine neue Arbeit zu finden“, meinte Kiki. „Für mich war es am einfachsten, dass ich in Peters Firma anfange zu arbeiten, da Peter einen guten Draht zu seinem Chef hat“ „Da hast du es dir schön einfach gemacht und es war irgendwie klar für mich, dass du zu Peter ziehen wolltest“, murmelte Mirja und biss in ihr Marmeladenbrot. „In gewisser Weise stimmt das schon“, gab ihre Mutter zu. Nun saßen sie zu dritt vor dem Fernseher und schauten sich einen Film an, der immer um diese Uhrzeit lief. „Was hält ihr davon, wenn wir gleich einen langen Spaziergang machen und im Ausflugslokal einkehren. Ich spendiere diesmal einen Nachtisch. Heute wird ein toller für uns drei Mädels“, frohlockte ihre Mutter. „Benno hast du vergessen“, korrigierte Kiki sie. Benno war der Familienhund, der inzwischen in die Jahre gekommen war und ein Körbchen im Flur bewohnte. „Mama ist aber extrem auf Wiedergutmachung aus“, flüsterte Mirja Kiki ins Ohr. „Oh ja, sie tut so, als wäre nichts geschehen“, nickte sie.

 

Schulendspurt, ein Streit und ein Geständnis

Am Montagmorgen fackelte Kiki nicht lange als sie Mathilda in den Schülermassen entdeckt. Anders als sonst kämpften sich die Zwillinge einzeln über den Flur. „Komm mal mit, ich muss mit dir sprechen“, forderte Kiki ihre Freundin auf. „Was ist denn los?“, Mathilda sah sie geplättet an. Kiki erwiderte nichts und zog sie in Toilettenraum. „Ich muss mit dir dringend reden“, begann Kiki bedrohlich leise, „Ich weiß ganz genau, dass du deiner Schwester den Freund ausgespannt hast. Ich hätte nicht gedacht, dass du zu sowas fähig bist“ „Von was redest du, bitteschön?“, ihre Freundin sah sie verständnislos an. Kiki kam es so vor, als wollte ihr Mathilda etwas verheimlichen. Normalerweise war es nicht ihre Art, früher sprach Mathilda jeden Gedanken aus, den sie hatte. Offenbar hatte sie sich in der letzten Zeit geändert, das merkte Kiki besonders jetzt.

 

„Ich habe Micky vorgestern weinend im Wohnwagen getroffen, sie erzählte mir, dass du am Samstag nicht mit uns im Kino treffen wolltest, weil du mit Marc bei dir zu hause chillen wolltest. Du hast nicht nur deine Schwester angelogen und hintergangen, sondern die ganze Bande“, redete Kiki Klartext. „Warum unterstellst du mir eigentlich so eine gequirlte Scheiße?!“, brauste Mathilda auf und distanzierte sich ein Stück von ihrer Freundin. „Warum stehst du für deine Fehler nicht ein?“, warf Kiki ihr wütend an den Kopf. „Falls du wissen willst, ich bin nicht mit Marc zusammen“, antwortete Mathilda schnippisch. „Lüg nicht rum!“, platzte Kiki der Kragen, „Warum hat mir Micky erzählt, dass du ihn geküsst hast?!“ „Wie kannst du nur solche dumme Behauptungen aufstellen, die nicht stimmen, du alte Schnepfe?“, trat Mathilda nach. „Ach ja? Jetzt bezichtigst du mich auch noch der Lüge!“, giftete Kiki in Mathildas Richtung. „Hör auf, dich in unsere Angelegenheiten einzumischen!“, schrie Mathilda ihr mitten ins Gesicht. Der Gong unterbrach den Streit der Freundinnen. Hastig rannten sie die Treppe zu ihren Klassenraum hinauf. Kiki war immer noch stinksauer auf Mathilda. Warum musste sie ihr fast alles verheimlichen? Früher war es möglich mit ihr über jedes Thema sprechen, doch nun schienen sich die Zeiten geändert zu haben.

 

Die beiden Mädchen erreichten ihren Klassenraum gerade noch pünktlich. Frau Zierske schloss bereits den Klassenraum auf. Lotta bemerkte sofort, dass etwas mit ihr nicht stimmte. „Was war gerade eben los? Warum warst du solange mit Matti weg?“, flüsterte sie ihr ins Ohr, die neben ihr saß. „Ach, ich weiß gar nicht, wie ich anfangen soll?“, seufzte Kiki, „Es war einfach alles zu viel für meine Nerven. Erst der Umzug nach Mainz, dann der Zwillingsstreit und nun bin ich selber mit Matti aneinander geraten“ „Oh je, das klingt wirklich nicht gut“, Lotta legte ihr die Hand auf die Schulter. „Kristina und Carlotta! Wenn ich euch noch einmal bei einem Privatgespräch erwische, muss ich euch wohl auseinander setzen müssen und euch Extraaufgaben geben“, schrillte Frau Zierskes Stimme durch den Klassenraum. Mit einem Mal waren die beiden Freundinnen ruhig. Kiki schrieb einen Zettel an Lotta, auf dem alles draufstand, was ihr gerade durch den Kopf ging. Unauffällig reichte sie ihn ihr unter der Bank und widmete sich wieder dem Unterricht.

 

„Wer von euch konnte die letzte Nummer der Hausaufgabe lösen?“, fragte die Lehrerin in die Runde. Sofort hoben Pauline, Jacob, Jule und Finn ihre Hände. „Es sind immer die gleichen, die sich melden. Hat sonst keiner die Hausaufgaben gemacht?“, stellte Frau Zierske fest, „Wie wäre es denn mal mit dir, Mathilda?“ „Ich habe meine Hausaufgaben nicht“, schüttelte Mathilda den Kopf. Anstatt etwas zu erwidern, trug die Lehrerin eine Notiz in ihrem Büchlein ein. Kiki spürte ein wenig Schadenfreude in sich aufsteigen. Zwar freute sie sich nie, wenn ihre beste Freundin einen Dämpfer bekam. Doch in diesem Moment machte sie der Streit immer noch wütend. „Tanja, würdest du uns deinen Lösungsweg an der Tafel präsentieren?“, Frau Zierske legte ihr das Kreidestück direkt auf den Tisch. „Ich weiß nicht, ob ich es richtig gelöst habe, aber ich kann es trotzdem versuchen“, erwiderte Tanja unsicher. Mit langsamen Schritten ging Tanja nach vorne und klappte die Tafel auf. „Sieht gar nicht mal so schlecht aus, aber an einer Stelle hast du dich vertan“, sagte Frau Zierske als Tanja fertig war. Kiki zeigte auf, sie wusste welchen Fehler ihre Klassenkameradin gemacht hatte. Die Mathelehrerin winkte sie zu sich nach vorne. Kiki nahm einen Schwamm, wischte die falschen Zahlen weg und schrieb ihre Lösung hin. „Das sieht schon mal sehr richtig aus, Kristina“, bemerkte Frau Zierske anerkennend. Aus der dritten Reihe warf ihr Mathilda einen schrägen Blick zu. Kiki ließ sich nichts anmerken und ging auf ihren Platz zurück.

 

Es klingelte zur großen Pause. Die meisten Schüler stürmten aus dem Klassenzimmer, als wäre ein Käfig mit lauter Wildtieren geöffnet worden. Doch Kiki ließ sich Zeit. In aller Ruhe fischte sie ihr Frischkäsebrot, ihren Kakao und ihren Apfel aus der Tasche. „Komm, Kiki!“, rief Emily ungeduldig, die mit Annemieke und Fianna auf sie wartete. „Wo ist Lotta geblieben?“, schaute sie sich fragend um. „Ich glaube, sie ist gerade auf die Toilette gegangen“, antwortete Fianna. „Wollen wir auf sie warten?“, fragte Kiki. „Nein, das ist nicht nötig, da kommt sie schon“, sagte Emily. Zu fünft untergehakt schlenderten die Freundinnen die Treppe hinunter. In der Pausenhalle kamen sie an Mathilda vorbei. Sie verbrauchte die Pause mit Marc, Simon, Corinna und Julia aus der Parallelklasse und warf den Roten Siebenerinnen einen herablassenden Blick zu. „Das ist der Beweis, dass Mathilda mit Marc zusammen ist“, flüsterte Kiki. „Auf alle Fälle, habt ihr gesehen, wie blöd sie uns angeschaut hat?“, echauffierte sich Fianna. „Ist mir doch egal, ob sie noch mit uns etwas zu tun haben will“, schnaubte Annemieke, „Ich werde jedenfalls kein Wort mehr mit dieser Ziege reden“ „Ich stehe eindeutig auf Mickys Seite, was sich Mathilda geleistet hat, ist unter aller Sau“, bekannte sich Emily zu ihrer besten Freundin. „Dass Mathilda dazu fähig ist, ihrer eigenen Zwillingsschwester den Freund auszuspannen, hätte ich nicht erwartet“, pflichtete Fianna ihr enttäuscht bei.

 

„Na, ist bei euch dicke Luft?“, Aylin kam ihnen mit Vivien entgegen. „Ja, momentan läuft einfach zu viel falsch!“, stöhnte Kiki. „Ich habe gestern deine Nachricht gelesen, dass du wegziehst. Ist das wirklich dein Ernst?“, richtete sich Vivien an Kiki. „Ja, das ist mein Ernst. Der Umzug soll schon in ein paar Wochen sein und dann werde ich eine neue Schule in Mainz besuchen“, erwiderte Kiki bitter. „Ach manno, ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass wir dich nicht mehr jeden Tag sehen“, jammerte Fianna. „Ich frag mich generell, wie es mit uns als Rote Siebenerinnen weiter gehen soll“, überlegte Emily. „Denkt doch nicht so pessimistisch“, munterte Annemieke die Freundinnen auf, „Kiki hat mir Samstag versprochen, dass sie unsere Bandenchefin bleiben wird und uns jedes Wochenende besuchen wird“ „Das ist zumindest schon mal ein kleiner Lichtblick“, Lottas Miene hellte sich wieder auf.

 

„Trotzdem brauchen wir jemand, der Verantwortung für uns übernimmt, wenn Kiki nicht mehr da ist“, gab Emily weiterhin zu bedenken. „Ich hätte gesagt, dass Mathilda die Bande führt, wenn Kiki nicht da ist und Kiki bei jedem Besuch wieder die Führung übernimmt“, mischte sich Lotta ein. „Ist dir nicht entgangen, dass Matti anscheinend nichts mehr mit uns zu tun haben will“, erwiderte Fianna genervt. „Wie wäre es mit dir, Micky?“, zwinkerte Emily Annemieke zu. „Ich weiß nicht, ob ich dafür geeignet wäre“, gestand sie ehrlich. „Komm schon, du bist mehr dafür geeignet als wir“, stupste Lotta Annemieke an. „Eigentlich finde ich, dass du für diese Rolle perfekt wärst“, sagte Aylin an Lotta gewandt. „Hm, meinst du wirklich?“, Lotta schaute Aylin skeptisch an. „Wieso das?“, entgegnete ihr ihre Freundin. „Mir fehlt eine entscheidende Sache“, fuhr Lotta fort. „Was denn?“, wollte Vivien wissen. „Autorität“, sagte Lotta, „Kiki hat eine natürliche Autorität, Matti und Fianna auch bis zu einem bestimmten Grad“ „Kommt, macht euch erstmal darüber keinen großen Kopf!“, unterbrach Kiki die Diskussion.

 

Die Eiszeit zwischen den Roten Siebenerinnen und Mathilda dauerte drei Tage an. Nicht einmal Annemieke würdigte ihren Zwilling eines Blickes. „Oh je, die Zwillinge haben sich in den Haaren genauso wie vor einem Jahr“, stöhnte Emily jedes Mal, wenn über dieses brisante Thema gesprochen wurde. Erst warf Mathilda den Bandenmädchen noch verächtliche Blicke zu, doch ab Mittwoch schaute sie ihnen jedes Mal sehnsüchtig hinterher, als die Mädchen an ihr vorbei gingen. Kiki ärgerte sich einerseits über Mathildas Verhalten, doch insgeheim vermisste sie ihre beste Freundin, mit der sie sonst immer viel Spaß haben konnte. Donnerstag in der dritten Stunde lag ein kleiner zusammengefalteter Zettel auf ihrem Platz. Da sie Herrn Eppenberg in der Vertretung hatten, hatte sie genügend Zeit ihn durch zu lesen.

 

„Liebe Kiki! Es tut mir leid, wie ich mich in den letzten Tagen verhalten habe. Insgeheim war ich neidisch auf meine Schwester, da sie sich Marc ergattern konnte und ich mich neben ihr überflüssig und hässlich fühlte. Ich bin ebenfalls in ihn verknallt, doch ich wollte es niemanden zeigen. Stattdessen habe ich Micky die ganze Zeit als verliebtes Huhn bezeichnet und bei jeder Gelegenheit über sie gespottet. Oh je, ich weiß nicht wie ich mich bei ihr entschuldigen soll. Außerdem weiß ich nicht, ob ich es überhaupt noch würdig bin, eine von euch zu sein. Erst war mir es egal, dass ihr mich ignoriert habt, doch inzwischen fehlt ihr mir. Freundinnen wie euch lassen sich nicht einfach so austauschen und ohne euch fühle ich mich wie ein Nachthimmel ohne Sterne. Ihr seid zurrecht wütend auf mich, denn ich habe es mir selbst versaut. Heute werde ich in der zweiten großen Pause mit Marc Schluss machen, obwohl ihn liebe, aber ich halte dieses verdammte Schuldgefühl gegenüber Micky nicht länger aus. Streit mit ihr zu haben, ist das Schlimmste für mich überhaupt. Oh je, ich weiß nicht, wie ich mich mit ihr und euch vertragen kann. Hoffentlich kannst du mir helfen, Kiki! Bitte, es geht um unsere Freundschaft! Ich will nicht mehr länger wie eine Außenseiterin dastehen! Lg deine Mathilda“, las Kiki.

 

Ihre Freundin schrieb beinahe einen ganzen Roman, was normalerweise untypisch für sie war. Kiki riss einen Zettel aus ihrem Block. „Wir können uns nach der Schule treffen und über das vorgefallene reden. Eventuell können wir uns heute auch in die Stadt gehen und ein Eis essen. Lg Kiki“, antwortete sie knapp und ließ den Zettel nach hinten zu ihrer Freundin durchreichen. Gespannt wartete sie auf eine Reaktion ihrer Freundin, doch während der Vertretungsstunde kam von ihr keine Rückmeldung. Als es zur Pause klingelte stürmte Mathilda wie von der Tarantel gestochen aus dem Klassenraum. „Matti, warte auf mich!“, rief ihr Kiki über den Flur hinterher. Ihre Freundin schien sie nicht zu hören. „Mathilda!“, setzte Kiki nach. Mathildas hellblonder Lockenschopf verschwand im Strom der Schüler. „Sie ist einfach weg gelaufen“, schnaubend drehte sie sich zu Lotta, Fianna und Emily um. „Weiß der Geier, was mit der los ist!“, schnaubte Fianna verächtlich. „Wir wollen mit dieser Zicke nichts mehr zu tun haben“, setzte Emily oben drauf. „Geschieht Mathilda ganz recht, sie hat es sich selbst mit uns verdorben“, fügte Lotta bissig hinzu. Kiki zeigte ihren Freundinnen den Brief. „Aha, jetzt will sie sich wieder bei uns einschleimen“, sagte Fianna schnippisch. Annemieke, die neben ihr stand, sagte die ganze Zeit über kein einziges Wort. Kiki dachte angestrengt nach. Wo blieben nur ihre guten Ideen, für die sie bekannt war? Gerade wo sie eine gute Idee unbedingt brauchte, war keine zur Stelle und dabei musste sie die Freundschaft zwischen Mathilda und den Roten Siebenerinnen retten.

 

Die letzten Stunden zogen sich hin wie ein zähes Kaugummi. Kiki konnte das Klingeln nicht mehr erwarten und verließ nach dem Unterricht zügig den Chemiesaal. „Kiki!“, Mathildas Stimme näherte sich von hinten. Kiki blieb abrupt stehen, um auf ihre Freundin zu warten. Mathilda lächelte zaghaft. „Ich hoffe, du hast den Brief gut gelesen“, sagte sie leise, „Ohne euch war es langweilig und schrecklich. Vorhin habe ich mit Marc Schluss gemacht, obwohl es mir schwer fiel. Er hat es nicht verstanden, warum ich nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte. Aber ich muss dir etwas gestehen, doch ich muss schnell nach Hause wegen dem Essen“ „Wir können uns nachmittags zum Eisessen in der Stadt treffen und dann können wir in Ruhe reden“, schlug Kiki vor.

 

„Eigentlich müsste ich es nicht dir sagen, sondern Micky. Doch jedes Mal, wenn ich mit ihr reden will, geht sie weg und lässt mich stehen. Es ist gar nicht möglich mit ihr zu reden“, fuhr Mathilda geknickt fort. „Keine Bange, das wird schon wieder!“, versuchte Kiki ihre Freundin aufzubauen und hakte sich auf dem Weg nach draußen bei ihr ein. Die beiden Freundinnen verabredeten für drei Uhr vor dem Brunnen am Ratshaus. Während Kiki nach Hause radelte, kam ihr der nächste gute Einfall. „Wie wäre es, wenn ich Micky und ein paar unserer Freundinnen frage, ob wir uns nicht im Eiscafe treffen wollen?“, ging ihr durch den Kopf. Zuhause schrieb sie sofort eine SMS an Annemieke. Dass Mathilda auch dabei sein wird, verriet sie ihr nicht. „Darf ich Emily und Fianna mitnehmen?“, antwortete Annemieke sofort. „Natürlich, darfst du das“, tippte Kiki in ihr Handy. „Kiki, Essen ist fertig!“, rief ihre Mutter aus der Küche. „Ja, ich komme sofort“, rief Kiki laut und ließ ihr Handy in der Hosentasche verschwinden. Es gab Spinat mit Rührei. Kiki war kein großer Spinat-Fan, deshalb nahm sie nur einen kleinen Klacks, obwohl sie einen Bärenhunger hatte. „Nanu, warum hast du es so eilig?“, wunderte sich ihre Mutter. „Ich habe gleich noch eine wichtige Verabredung in der Stadt“, sagte Kiki mit vollem Mund und füllte ihr Glas mit Apfelsaft.

 

Pünktlich um drei Uhr schloss Kiki ihr Fahrrad am Rathausbrunnen ab. Aus der Ferne winkte ihr Mathilda zu, die ihre Schritte beschleunigte, als sie Kiki sah. Irgendwie sah Mathilda anders aus als heute Morgen. Kiki fiel sofort auf, dass sich ihre Freundin geschminkt hatte, silberne Sternenohrringe trug und nach einem süßlichen Parfüm roch. Über ihrer hellblauen Rüschenbluse trug sie eine schwarze Lederjacke. Kiki blieb fast die Spucke weg. Normalerweise kleidete sich ihre beste Freundin eher jungenhaft und sportlich. Bis nicht vor all zu langer Zeit zwängte sich Mathilda in ihre alten Kinderpullover rein, bis sie ihr endgültig zu klein waren. Doch in ihrem neuen Look war Mathilda kaum wieder zu erkennen. „Ich wollte nur einen neuen Style ausprobieren, damit ich annähernd so schön wie meine Schwester bin“, meinte sie, als Kiki sie von unten bis oben musterte. „Ich finde gar nicht, dass du hässlicher als deine Schwester bist. Wie kommst du nur auf diesen Gedanken? Ihr seid doch eineeige Zwillinge und seht euch zum Verwechseln ähnlich. Außerdem steht dir dieser neue Look nicht, das sieht überhaupt nicht mathildamäßig aus“, äußerte Kiki ihre Meinung. Mathilda machte eine betretende Miene. „Ich finde es nicht hässlich, aber dieser aufgetakelte Style gehört nicht zu dir“, versuchte Kiki ihr zu erklären. Zu zweit gingen sie die kleine Einkaufsstraße entlang. Das Eiscafe Di Caprio lag vor ihnen auf der rechten Seite. Kikis Herz begann zu klopfen. „Was jetzt wohl passieren wird?“, dachte sie aufgeregt.

 

Annemieke saß mit Emily und Fianna an einem Tisch in der hintersten Ecke des Eiscafes, der durch einen gigantischen Gummibaum verdeckt wurde. Auch Aylin hatte sie mitgebracht, sie hockte dicht neben Annemieke und schaute sich mit ihr ein Handyvideo an. Kiki winkte ihren Freundinnen zu. Emily und Fianna verstummten sofort, als sie Mathilda sahen. „Hey!“, grüßte Kiki die Mädchen freundlich und suchte sich den Platz neben Fianna aus. „Hallo“, grüßte Mathilda freundlich und lächelte. Emily, Fianna und Annemieke tauschten sich ungläubige Blicke aus. „Schön, dass du wieder dabei bist“, lächelte Aylin in Mathildas Richtung. Kurz darauf kam die Bedienung und notierte sich die Wünsche der Mädchen. „Ich muss ihnen etwas sagen, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll. Bitte Kiki, ich brauche gerade deine Unterstützung!“, flüsterte Mathilda Kiki aufgeregt ins Ohr. Das war ganz und gar nicht Mathilda, die vor Selbstbewusstsein strotzte, fand Kiki. Sonst scheute ihre Freundin nie davor, einem ihre Meinung an den Kopf zu werfen. Doch jetzt schien sie Angst vor dem zu haben, was sie gleich sagen wird. „Könnt ihr einen Moment ruhig sein?“, bat Kiki die Freundinnen, die in ein angeregtes Gespräch verwickelt waren. „Was gibt es denn?“, fragte Fianna neugierig.

 

„Mathilda hat euch, insbesondere Micky etwas Wichtiges zu sagen“, fuhr sie fort. Mathilda richtete sich auf und holte tief Luft bevor sie leise zu sprechen begann. „Es tut mir leid, Micky! Ich weiß nicht, wie ich mich bei dir entschuldigen soll. Ich habe tierischen Mist gebaut. Letzten Samstag als ihr im Kino ward, habe ich Marc eingeladen. Ich habe ihm erzählt, dass du Elias liebst anstatt ihn und dass du ihn mehrere Male geküsst hast. Daraufhin habe ich mir Marc geangelt. Er glaubte mir wirklich, dass du ihn mit Elias betrogen hast, als ich ihm ein Bild von euch beiden gezeigt habe. Ich schäme mich dafür, aber wie soll ich es jemals wieder gut machen? Ich war einfach nur egoistisch und habe nur mich gedacht, weil…“, Mathildas Stimme geriet immer mehr ins Stocken bis sie komplett versagte. Als Annemieke und ihre Freundinnen sie fassungslos anstarrten, begann sie leise zu weinen. Die Tränen malten in der Kombination mit der Schminke schwarze Striche auf ihr sommersprossiges Gesicht. Langsam stand Mathilda auf, dreht sich um und ging in Richtung der Toilette.

 

„Hey, warte mich!“, Annemieke sprang auf und holte ihren Zwilling ein. Kiki sah, dass Mathilda Rotz und Tränen heulte und dadurch ihre Schminke immer mehr verschmierte. „Sie sieht aus wie ein Clown“, flüsterte Fianna, „Aber wie ein trauriger Clown“ „Komm, das müssen wir wieder richten“, sagte Annemieke mit einem Blick auf Mathildas schminkeverschmiertes Gesicht und holte ihr kleines Schminkset aus ihrer Handtasche. Annemieke bat Kiki, sie mit ihrer Schwester einen Moment alleine zu lassen. Wenig später kam die Bedienung mit sechs großen Eisbechern, doch die Zwillinge blieben endlos lange weg. Gerade als Kiki sie holen wollte, kamen sie freudestrahlend auf sie zu. „Es ist alles wieder im grünen Bereich“, bestätigte Annemieke und legte den Arm um ihren Zwilling. Mathilda lächelte erleichtert, obwohl ihre Augen vom Weinen immer noch gerötet waren. „Ich finde es gut, dass du die Wahrheit gesagt hast“, lobte Fianna. „Obwohl es sauschwer war“, gestand Mathilda und tauschte mit Aylin ihren Platz, damit sie neben ihrer Zwillingsschwester sitzen konnte. „Ich hätte mich das nicht getraut und auf gar keinen Fall vor meiner Bande“, meinte Emily. Kiki saß zufrieden zwischen ihren Freundinnen und löffelte genussvoll ihren Schwarzwälderkirschbecher. Die Zwillinge unterhielten sich prächtig und kratzten die letzten Reste Eis aus ihren Eisbechern. 

Ein Wiedersehen mit Tessa und ein unhöflicher Gast

Am Freitagnachmittag wartete Kiki zusammen mit ihren Freundinnen und Fiannas Mutter am Bahngleis auf den kommenden Zug, in dem Tessa sitzen sollte. Nur Lotta und Emily fehlten. Lotta schrieb eine SMS an Kiki, dass sie vorhin eine Freundin ebenfalls vom Bahnhof abgeholt hatte und nachher mit ihr zum Wohnwagen fährt. Emily musste ihrer Mutter beim Aufbauen eines Bücherregals helfen. Ein ungemütlicher kalter Herbstwind rüttelte an den Bäumen und ebenfalls an den Jacken der Mädchen. Zehn Minuten Verspätung stand auf der Anzeigetafel. „Hoffentlich wird es nicht noch mehr“, dachte Kiki grimmig und zog ihren Schal über ihren Mund. „Bitte halten Sie Abstand von der Bahnkante, der Zug rollt in wenigen Minuten ein“, ertönte eine Ansage. In der Ferne näherte sich eine rote Lok, die endlos viele Waggons hinter sich her zog. Mit einem lauten Quietschen bremste der Zug. „In einem der vielen Waggons muss Tessa sein“, dachte Kiki.

 

Da nicht viele Leute in Freudenburg ausstiegen, war es nicht schwer Tessa zu finden. „Tessa!“, rief Fianna vor Freude außer sich und stürzte auf sie zu. Nun stürmten auch die anderen Roten Siebenerinnen auf ihren Gast zu. „Hi, ich freue mich, wieder hier zu sein“, lächelte Tessa und umarmte jedes Bandenmädchen. Kiki bemerkte, dass sich Tessa ihre Haare auf Kinnlänge abgeschnitten hatte und einen halblangen Pony trug. „Der neue Schnitt steht dir super!“, bemerkte Annemieke anerkennend. „Das ist gerade total in bei uns“, erklärte ihr Tessa und betrachtete die Roten Siebenerinnen genauer, „Ihr habt euch aber auch ganz schön verändert. Als ich euch das letzte Mal gesehen habe, saht ihr viel jünger und kindlicher aus“ „Das ist doch schon mehr als ein halbes Jahr her“, meinte Kiki, „Ist doch klar, dass wir uns im Laufe der Zeit verändern“ „Auf jeden Fall ist das kein Vergleich mit letztes Jahr, als ich euch kennen gelernt habe“, sagte Tessa. „Tessa und Fianna, kommt ihr endlich! Mein Parkticket läuft gleich ab“, rief Fiannas Mutter ungeduldig. „Wir sehen uns gleich im Wohnwagen“, rief Kiki ihnen nach.

 

Da Emilys Tante Rachel heute krank war, fiel das Reiten aus. So trafen sich die Roten Siebenerinnen bereits um vier Uhr am Wohnwagen. Mathilda und Aylin deckten den Tisch, als Kiki eintraf. Annemieke schnitt ihren selbstgebackenen Kuchen in kleine Stücke und Tessa half ihr dabei. Emily setzte Wasser für den Tee auf. Fianna zündete unzählige Kerzen an, damit es gemütlicher im Wohnwagen aussah. Vivien summte vor sich hin und fegte mit einem Besen über den Boden. Es fehlten nur noch Lotta und ihre Freundin, die sie mitbringen wollte. Ausnahmsweise hatte es ihr Kiki erlaubt eine fremde Person mitzubringen. Es war oberstes Gebot der Roten Sieben, dass kein Bandenmitglied ihr Bandenquartier verraten, geschweige denn wahllos fremde Gäste mitbringen durfte. Die Zeit verstrich, doch von Lotta und ihrem Gast fehlte jede Spur. „Lasst uns beginnen, ich sterbe gleich vor Hunger“, drängte Mathilda ungeduldig. „Aber das ist unhöflich“, hielt ihr Emily vor, „Hast du nicht gelernt, dass man erst anfängt, wenn alle Gäste da sind?“ „Aber Lotta ist schon fast eine halbe Stunde zu spät“, nörgelte Mathilda, dabei fiel ihr Blick auf die Leckereien, die auf dem Tisch standen. „Schwesterchen, du wirst doch wohl nicht auf der Stelle tot umfallen, nur weil du nichts zu essen bekommen hast“, neckte Annemieke, worauf ihre Schwester einen kleinen Keks nach ihr warf.

 

Als sich die Freundinnen hingesetzt hatten, klopfte es an der Tür. Aylin machte auf, neben Lotta stand ein umwerfend aussehendes Mädchen mit seidigem weißblondem Haar, das ihr bis zu Taille reichten. Sie war gertenschlank und sogar noch ein Stück größer als Emily und Lotta, die die größten Roten Siebenerinnen waren. „Das ist Anna Skellberg aus meiner alten Klasse“, stellte Lotta ihre Freundin vor. Anna musterte die Mädchen skeptisch und nickte stumm. „Ist der Rasen bei denen immer so feucht, dass man mit seinen Heighheels hängen bleibt?“, richtete sie sich an Lotta. Kiki fand, dass Anna gar nicht freundlich aussah. „Ist es bei euch immer so knalle eng, unordentlich und dreckig?“, fragte sie und rümpfte die Nase als sie auf einen Keks trat. Die Bandenmädchen waren einen Moment lang sprachlos. In Kiki fing an sich ein Gewitter zusammen zu brauen. „Noch ein Wort oder eine herablassende Geste und ich platze“, schoss ihr durch den Kopf. „Wie hält man hier drinnen zu zehnt aus? Hier drinnen wird es garantiert so stickig, dass man nach wenigen Minuten erstickt“, Anna zog die Augenbrauen hoch. „Da haben wir uns wohl die Prinzessin auf der Erbse eingeladen, die nichts verträgt“, stichelte Mathilda los. Annemieke, Aylin und Fianna kicherten leise. Annas hellblauen Augen wurden noch eine Spur eisiger. „Wie hast du mich genannt, du kleiner frecher Lockenkopf?“, zischte sie. „Hey, hört doch auf euch die ganze Zeit anzumachen, das vermiest total die Stimmung!“, schlug Emily mit der Faust auf den Tisch.

 

Einen Moment lang verkniff sich Anna ihre missbilligen Kommentare und nahm sich ein Stück von Annemiekes Streuselkuchen. „Ist euer Kuchen immer so trocken?“, flüsterte sie Lotta ins Ohr. Lotta wurde langsam rot, offensichtlich war ihr Annas zickiges Gehabe sehr unangenehm. „Musst dich ständig so anstellen?“, fragte Fianna genervt. Tessa saß schweigend neben ihr und konnte Annas Ansichten nicht nachvollziehen. Sie fand es angenehm mit all ihren Freundinnen im Wohnwagen zu sitzen und durch die Enge war es noch viel gemütlicher. Anna verhielt sich einen Moment lang friedlich und schaute sich die Fotos und Poster an den Wänden an. „Ihr seid wirklich eine Bande?“, fragte sie ungläubig und schaute ein bisschen angeekelt drein. „Und hast du etwas dagegen?“, herrschte Kiki sie an. „Aber in unserem Alter? Seid ihr noch im Kindergartenalter? Banden sind Kinderkram und höchsten zum Blödsinn machen da“, behauptete Anna hochnäsig. „Du hast echt keine Ahnung, was wir schon erlebt haben! Im Gegensatz zu dir haben wir zusammen so manch ein Abenteuer überstanden“, höhnte Annemieke, „Du bist wahrscheinlich Weltmeisterin im Shoppen, Schminken und im Anbaggern von Jungs“ „Kannst du wiederholen, was du gerade eben gesagt hast?“, rief Anna wütend.

 

Erst jetzt fiel ihr auf, dass es zwei Mädchen von der gleichen Sorte gab. „Seid ihr Zwillinge immer so frech, unerzogen und verhaltet euch wie Dreijährige?“, giftete sie die beiden sommersprossigen Mädchen mit den hellblonden Locken an. Mathilda war kurz davor einen Wutanfall zu kriegen, dass sah Kiki deutlich. „Anna, hör auf der Stelle mit deinen fiesen Bemerkungen auf. So redest du hier nicht mit meinen Freundinnen und mir“, verteidigte Kiki ihre Freundinnen. „Müsst ihr euch streiten?“, mischte sich Vivien ein, die die Zickereien zuvor wortlos angeschaut hat. „Eigentlich ist es viel zu schön, um sich die Laune zu verderben“, meinte Aylin und biss genussvoll in einen Heidelbeermuffin. Lotta flüsterte Anna etwas ins Ohr, worauf diese säuerlich lächelte. „Das ist ein ganz schön eingebildetes Miststück! Sie ist wahrscheinlich einer dieser Hohlbirnen, die später bei Heidi Klum auf dem Laufsteg landen wird, um sich selber vor der ganzen Nation zu blamieren“, flüsterte Mathilda ihrer Zwillingsschwester zu. Offenbar war es nicht leise genug, Annas Augen verengten sich zu zwei engen Messerschlitzen. Kiki und Annemieke konnten ein fieses Kichern nicht länger unterdrücken.

 

Kurzerhand griff Anna nach der Kanne mit dem heißen Kakao, die zuvor noch nicht angerührt wurde und tat so, als wollte sie den Inhalt in ihre Tasse gießen. Stattdessen ergoss sich ein Großteil des Inhaltes auf Kiki selbst gehäkeltes weißes Tischdeckchen. „Bist du noch ganz bei Sinnen?“, explodierte Kiki. „Wieso ich habe nur ein paar Tropfen daneben geschüttet“, sagte Anna mit einem unschuldigen Augenaufschlag. „Nur ein paar Tropfen?“, schrie Kiki außer sich, „Das war mindestens die halbe Kanne!“ „Du kannst die Tischdecke doch waschen oder zur Reinigung bringen“, lächelte Anna zuckersüß. „Aber die Kakaoflecken gehen nie und nimmer mehr raus“, ereiferte sich Kiki weiter. „Kauf dir doch eine Neue“, erwiderte ihr Gegenüber arrogant. „Das war Kikis Tischdecke, die sie selbst gehäkelt hat“, mischte sich Fianna empört ein. „Ne Neue kann auch nicht schaden, es gibt bestimmt schönere“, gab Anna ihren Senf dazu. „Verzieh dich und lass dich hier nicht mehr blicken“, zischte Kiki.

 

Lotta sah ein, dass es das Beste war, sich mit Anna davon zu machen. Ihr war anzumerken, dass die Situation für sie unangenehm gewesen sein muss. „Aber ihr kommt doch morgen zu meinem Geburtstag“, versicherte sie sich bei ihren Bandenfreundinnen. „Aber klar doch“, rief ihr Emily hinterher. „Was für eine unmögliche Zicke!“, kopfschüttelnd sah Mathilda Anna hinterher. „Viel schlimmer finde ich, dass Lotta nichts gesagt hat“, Annemieke war immer noch fassungslos. „Kommt die Schnepfe morgen auch?“, fragte Aylin ungläubig. „Aber natürlich, weshalb hätte Lotta sie sonst eingeladen“, erwiderte Emily und verdrehte die Augen. „Wollen wir die Kaninchen auf den Arm nehmen?“, Tessa war diejenige, die vom Thema ablenkte. „Klar doch, gerne“, nickte Kiki und öffnete die Stalltür. Wie immer war es Nanni, die sich besser fangen ließ und bei den Mädchen brav auf dem Schoß hockte. Bei Hanni musste die Freundinnen mehr Geduld aufbringen, immer im letzten Moment entwich sie Kikis geschickten Händen. Erst als Fianna ihren berühmten Karottentrick anwendete, konnte Kiki zupacken. „Jetzt weißt du auch, warum wir Fianna öfter Carrot nennen, Tessa“, sagte Annemieke beiläufig. Ohne Anna wurde es doch noch ein schöner und ruhiger Nachmittag. 

Ein Eklatat auf Lottas Party

Kiki, Emily, Lotta, Anna und Fianna trafen sich schon vormittags vor dem Bandenquartier der Piranhas, um die Party vorzubereiten. Die Zwillinge hatten keine Zeit, da sie ein wichtiges Hockeyspiel hatten. Vivien musste noch zu ihrer Oma und Aylin hatte einen Auftritt mit ihrer Tanzgruppe. „Na, Mädels!“, grüßte Sven die Mädchen lässig, „Jannis und Max kommen in wenigen Minuten und Michi erst in einer Stunde“ „Wollen wir hier mit über zehn Personen in dieser engen Garage feiern?“, fragte Anna skeptisch und zog die Augenbrauen hoch. „Wir lassen das Garagentor offen und stellen noch ein großes Partyzelt auf die Auffahrt, da werden wir genug Platz haben, sodass wir uns nicht gegenseitig zu Tode trampeln“, beruhigte Sven sie.

 

Kiki hoffte insgeheim, dass Anna in Svens Gegenwart nicht anfing über das Bandenquartier der Roten Sieben zu lästern. Da Sven strategisch geschickt die Aufgaben an seine Freunde verteilte, kam es kaum noch zu Privatgesprächen und Anna hielt ihre Klappe. Stattdessen wurden Tische und Bänke geschleppt, Lichterketten aufgehängt, das Partyzelt aufgebaut und die Musikanlage installiert. Nach anderthalb Stunden Schufterei sah das Ergebnis sehr zufrieden stellend aus. „Das wird heute Abend eine super Party!“, prophezeite Lotta und gab all ihren Freunden einen Highfive. „Wollt ihr noch etwas trinken?“, wandte sich Sven an die Helfer und schleppte einen Kasten Bier herbei. „Du willst doch wohl nicht jetzt das kostbare Bier jetzt schon versaufen“, Michael sah seinen Kumpel kopfschüttelnd an. „Komm, schon gib mal eins her“, forderte Anna Sven auf. Jannis, Sven, Max und Lotta bedienten sich ebenfalls. Fianna, Kiki und Emily gaben sich mit einem Glas Limonade zufrieden. „Wer kommt denn noch alles?“, fragte Anna neugierig. „Auf jeden Fall Freddy, den ich in zwei Stunden vom Bahnhof abhole“, antwortete Lotta. „Wer um alles in der Welt ist Freddy?“, wollte Max wissen. „Du bist auch nicht mehr auf dem Laufenden, Max. Freddy ist seit zwei Monaten Lottas neuer Freund“, wandte sich Jannis neckend an seinen Kumpel.

 

Kiki machte sich kurz nach halb acht auf dem Weg. Draußen an der Straße warteten schon Vivien, Aylin und Emily auf sie und gaben ein Fahrradklingelkonzert zum Besten. „Wow, Kiki hat sich schick gemacht!“, fiel Emily auf. Das stimmte wirklich. Kiki zog sich eine Röhrenjeans mit Glitzersteinen an, hatte einen langen smaragdgrünen dünnen Pullover an und trug darüber eine knappe Lederjacke. Zudem hatte sie sich heimlich die edlen Ohrringe ihrer großen Schwester ausgeliehen, sich dezent geschminkt und trug anstatt ihrer langen geflochtenen Zöpfe einen Pferdschwanz, der ihr bis zur Taille reichte. Zu viert fuhren sie los, bis zu Svens Haus war es nicht weit. Sie mussten nur dreimal abbiegen und standen direkt vor seiner Garage. Die Musik konnten die vier Roten Siebenerinnen schon von weitem hören und im Umkreis von hundert Metern roch es verführerisch nach Bratwürstchen und Steaks.

 

„Noch mehr Mädels sind da!“, rief Ömer laut, als die Mädchen ihre Räder an der Straße parkten. „Dann sind wir fast vollständig, nur die Zwillinge fehlen noch“, hörten sie Lotta gegen die Musiklautstärke anschreien. Lotta kam aus dem Partyzelt gelaufen, um jede ihrer Freundinnen zu umarmen. „Wow, Lotta!“, staunte Aylin, „Du siehst spitze aus!“ „Ist Annas Werk, sie ist die perfekte Stilistin“, lächelte Lotta. „Hey Schatz, wo bleibst du nur so lange?“, rief ein Junge mit halblangen blonden verwuschelten Haaren, der Lotta einen Kuss gab. „Das Freddy aus meiner alten Klasse“, stellte Lotta ihren Freund vor. „Wollen wir nicht lieber wieder reingehen? Gerade läuft so ein geiles Lied“, schlug Freddy vor. Die Freundinnen folgten ihr und Freddy ins Partyzelt. Fianna saß auf einer der Bänke und winkte die Roten Siebenerinnen zu sich. Offenbar war sie nicht alleine, ihr Zwillingsbruder Tom und Tessa saßen ihr gegenüber. Kiki wusste nicht, dass Lotta auch ihn eingeladen hatte. Die Roten Siebenerinnen nahmen am vorderen der beiden Tische platz. „Würstchen sind fertig!“, meldete sich Michael von draußen.

 

Es bildete sich vor dem Grill eine lange Schlange. Kiki wartete erst bis die meisten Partygäste mit ihren Tellern auf ihren Plätzen saßen und stellte sich dann erst an. Mathilda und Annemieke kamen ihr mit einem großen Päckchen entgegen. „Na, hat das Hockeyspiel so lange gedauert?“, zog Kiki die Zwillinge zur Begrüßung auf. „Haha, bist du witzig!“, tippte sich Mathilda gegen die Stirn, „Wir waren gerade noch bei Oma und Opa zum Kaffeetrinken eingeladen“ „Wir haben unseren Eltern schon eine Stunde früher in den Ohren gelegen, dass wir losfahren müssen, da wir zu einer Party eingeladen sind. Aber wie immer haben unsere Eltern Bohnen in den Ohren. Kurz nach dem wir losgefahren sind, bildete sich wegen eines Unfalls ein kilometerlanger Stau auf der Autobahn“, fügte Annemieke stöhnend hinzu. „Kommt, geht rein und sucht euch einen Platz“, nickte Kiki ihnen zu, „Lotta wird sich freuen, dass ihr auch endlich mal an Land gekommen seid“

 

Kiki war nach dem Essen beinahe schlecht, sie hatte sich dreimal von Emilys leckerem Kartoffelsalat nachgenommen und fühlte sich wie ein Luftballon, der kurz davor war zu platzen. Die anderen Partygäste tanzten im flackernden Licht der Discoleuchten. Tom blieb ebenfalls sitzen. „Na, hast du auch keine Lust zum Tanzen?“, wandte er sich an Kiki und setzte sich direkt neben sie, damit er sie besser verstehen konnte. „Ich bin einfach noch zu träge dazu, weil ich zu viel gegessen habe“, stöhnte Kiki. „Hast du Bauchschmerzen?“, fragte Tom besorgt und sanft seine Hand auf Kikis Schulter. „Ein bisschen“, murmelte sie. „Warte, ich frage Lotta, ob sie dir einen Tee macht“, rief er und wollte gerade aufspringen. „Nein, das brauchst du nicht, es wird bestimmt gleich wieder besser“, Kiki hielt ihm am Arm fest. „Na gut, wenn du meinst“, lächelte er ihr zu. Auf einmal spürte Kiki ein leichtes Kribbeln im Bauch, je länger sie in Toms blaugrünen Augen schaute. Es war ein ungewohntes Gefühl. War sie etwa verliebt? Kiki wusste es selbst nicht. „Warum guckst du mich so verlegen an?“, Toms Lächeln verwandelte sich in ein spitzbübisches Grinsen. „Tue ich das wirklich?“, versicherte sich Kiki. Ihr Gegenüber nickte bestätigend.

 

Eine lange Redepause entstand. „Ich muss echt sagen, du siehst richtig fesch aus. Hat dir eine von deinen Freundinnen gute Stylingtipps gegeben?“, brach er das Schweigen. „Nein“, schüttelte Kiki den Kopf und konnte ein geschmeicheltes Lächeln nicht länger verbergen. „Du siehst heute ganz anders aus als sonst. Jedes Mal wenn ich dich bei uns zuhause gesehen habe, hast du mich an eine Indianerprinzessin erinnert“, sagte er lächelnd. Kiki freute sich über seine Komplimente. Nachdem ihre Bauchschmerzen verflogen waren, stürmten sie zusammen die Tanzfläche. Kiki hätte es sich nie so schön vorgestellt mit einem Jungen zu tanzen. Max legte den aktuellen Nummer Eins Hit der Chats auf, diesmal flippten die Partygäste richtig aus. Kikis Augen blieben einen Moment an Anna heften, die die Partymeute richtig aufmischte und mit fast allen Jungs tanzte. Fianna, Emily und Mathilda warfen Anna dafür schräge Blicke zu. Tom zeigte nicht einmal einen Hauch Interesse an der Zicke. Kiki war insgeheim froh darüber, nun hatte sie ihn ganz alleine für ihn.

 

Wieder drängelte Anna sich in den Mittelpunkt und tanzte Lennart an. Unmittelbar vor ihm zog ihr T-Shirt aus und stand im bauchnabelfreien Top vor ihm. Verführerisch wackelte sie mit den Hüften und drehte sich wie eine Ballerina um ihre eigene Achse. Hinten in der Ecke steckten Fianna, Aylin und die Zwillinge die Köpfe zusammen. Kiki vermutete, dass sie über Anna herzogen. Ein Kuschelsong wurde aufgelegt, Tom zog Kiki näher zu sich. Einerseits fühlte sie sich geschmeichelt, doch anderseits war es ihr beinahe schon ein wenig unangenehm. Tom näherte sich mit seinem Kopf ihrem Gesicht. Bevor er auf die Idee kommen konnte sie zu küssen, zog sie ihren Kopf weg. Eigentlich hatte sie nichts dagegen zum ersten Mal einen Jungen zu küssen, doch nicht in aller Öffentlichkeit auf einer Party. Kiki fiel ein, was ihr Mirja erst kürzlich geraten hatte. Ihre große Schwester gab ihr den Tipp, sich einen ganz besonderen Moment für den ersten Kuss auszusuchen. Am besten sollte man nur zu zweit sein und keiner sollte dabei zugucken. Tom schien zu verstehen, dass Kiki ihn gerade nicht küssen wollte und tanzte unbeirrt weiter bis das Lied verstummte.

 

Aus heiterem Himmel brach Unruhe aus. Kiki wusste nicht, was gerade vor sich ging. Aus ihren Augenwinkel sah sie Emily aus dem Zelt rennen. Annemieke, Aylin und Fianna folgten ihr sofort. Ein paar weitere Partygäste gingen unauffällig hinterher. Nun schien es auch der DJ zu merken und stoppte die Musik. „Was ist mit Emily passiert?“, ratlos stand Lotta in der Partymeute. Jetzt sah es Kiki, Anna und Lennart standen eng umschlungen neben einem der Lautsprecher und knutschten. „Das kann doch nicht ihr Ernst sein?“, Kiki entgleisten die Gesichtszüge. Anna war doch die Weltmeisterin im Anbaggern von Jungs, wie Annemieke erst gestern behauptet hatte. Emily und Lennart waren seit dreizehn Monaten ein Paar und bisher schien sie nichts zu trennen. „Kommst du mit?“, wisperte Lotta Kiki aufgeregt zu und schnappte ihre Hand. Durch herumstehende Partygäste war die Sicht auf Emily verdeckt. Doch Kiki ahnte, dass es richtig zur Sache gehen musste. Lotta schob Ricardo und einen ihrer Cousins zur Seite. „Emily!“, rief sie, „Was ist passiert?“ Emily riss sich von Annemieke und Vivien los. „Warum hast du diese verdammte Bitch eingeladen?“, schleuderte sie Lotta ihren derben Wort ins Gesicht.

 

„Was denn? Ich versteh nicht, was hier los ist“, verdattert blieb sie mitten auf der Straße im Licht der Straßenlaterne stehen. „Anna, diese verdammte Schlampe, hat sich Lennart gegrabscht!“, schrie Emily, wobei ihr Tränen übers Gesicht stürzten und ihr Make-up verwischten. „Ich habe wirklich nichts davon mitbekommen“, stotterte Lotta hilflos. „Du hast deine Augen sowieso nur bei deinem Freund gehabt und von uns keine Notiz an diesem Abend genommen“, brüllte Emily weiter und schubste Lotta wie einen Kegel gegen ein Auto. „Hey, pack meine Freundin gefälligst nicht an!“, mischte sich Freddy ein und legte seinen Arm beschützend um Lotta.

 

„Ich kann es bezeugen, Anna hat Lennart wirklich mehrmals geküsst“, rief Annemieke dazwischen. „Hey, sie knutschen und knuddeln immer noch!“, rief ihnen Mathilda zu, die zur Straße gerannt kam. „Was interessiert es mich?“, sagte Emily mit belegter Stimme und wischte sich mit dem Handrücken über ihr Gesicht. „Wir werden es dieser Ziege richtig zeigen“, Fianna ballte ihre rechte Hand zu einer Faust. „Du willst doch wohl keine Schlägerei mit ihr anfangen oder?“, fragte Vivien ängstlich. „Würde ich gerne, aber ich tue es trotzdem nicht, da ich Lottas Party nicht komplett ruinieren möchte“, nun klang Fiannas Stimme scharf wie ein Messer. „Für mich ist diese Party schon ruiniert genug“, rief Emily schrill. Kiki wusste nicht, was sie sagen sollte. Um zu zeigen, dass ihr die Sache nicht egal war, schloss sie Emily in ihre Arme. Das war das Beste, was sie in diesem Moment machen konnte. Leise fing Emily an zu schluchzen. „Ich gehe nach hause, mich hält hier nichts mehr“, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. „Wenn du gehst, dann gehe ich auch“, pflichtete ihr Annemieke sofort bei. „Ich auch“, riefen Mathilda und Aylin gleichzeitig. Die Zwillinge hakten sich links und rechts bei Emily unter und zogen sie fort. Aylin trottete ihnen hinterher.

 

„Na, jetzt ist meine Party wirklich verdorben!“, stöhnte Lotta und stützte ihren Kopf auf den Tisch. Der DJ ließ die Musik wieder laufen, aber leiser als vorhin und es tanzten höchstens nur noch drei oder vier Partygäste. „Gerade mal zehn Uhr und die Hälfte unserer Bande ist nicht mehr da“, stellte Vivien mit einem Blick auf ihre Uhr fest. „Ich weiß, es blöd gelaufen, aber lass dir deswegen nicht den ganzen Abend versauen“, versuchte Kiki Lottas schlechter Laune etwas Positives entgegen zu setzen. Sie griff nach Lottas Händen und zog sie auf die Tanzfläche. Kurz darauf reihten sich Vivien, Fianna und Tessa in ihren Tanzkreis ein. Anna kicherte abfällig und zeigte auf die tanzenden Bandenmädchen. Doch keine der Roten Siebenerinnen interessierte es, was die Zicke über sie dachte. Tom zwinkerte Kiki zu. „Ich komm gleich“, nickte sie ihm zu. „Was läuft zwischen dir und Tom?“, wisperte Lotta neugierig. „Ach, nichts besonderes. Ich finde, er ist halt ein richtig netter Typ“, spielte Kiki ihre Gefühle für ihn herunter. Lotta durchbohrte sie mit einem ungläubigen Blick. „Soll ich dir das glauben?“, zwinkerte sie Kiki zu. „Glaub es ihr nicht“, rief Fianna. „Mist, meine Freundinnen haben mich ertappt“, dachte Kiki bei sich. Nach dem Lied setzten sie sich wieder hin. Kiki und Tom tauschten untereinander ihre Handynummern aus. 

Die Rote Sieben schmiedet Rachepläne

Einen Tag nach Lottas Geburtstagsfeier trafen sich Kiki, Fianna, Tessa und die Zwillinge am Wohnwagen. „Ich habe gehört, dass Anna noch ein paar Tage bleiben soll“, eröffnete Fianna das Gespräch. „Da werden wir eine gute Gelegenheit finden, um ihr eins auszuwischen“, meinte Mathilda spitzbübisch. „Die nächste Gelegenheit hätten wir auch schon. In zwei Tagen feiert Jannis seinen Geburtstag und dort sind wir auch eingeladen. Bestimmt nimmt Lotta auch Anna mit“, rief ihre Zwillingsschwester voller Elan. „Hättet ihr denn auch schon eine Idee, wie ihr den Racheplan ausführen wollt?“, wandte sich Kiki an die Zwillinge. „Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie ich es anstellen könnte“, gab Mathilda zu. „Na komm schon, Schwesterherz! Wo bleiben deine sensationellen Einfälle?“, stupste Annemieke ihre Schwester an.

 

„Bevor ihr verzweifelt, ich kann mit guten Streichen aushelfen“, mischte sich Tessa ein, „Wir haben jährlich hunderte Ferienkinder und daher kann ich euch eine riesige Liste von Streichen aufzuzählen“ „Dann leg los“, Mathildas Augen begannen vor Neugierde zu funkeln. „Ich kann euch viele Streiche aufzählen, aber wir müssen einen Speziellen für Anna finden. Wir werden ihr den Streich auf der Party spielen oder kurz davor“, fuhr Tessa fort. „Wie wäre es, wenn wir Annas Kleid kurz vor der Party ruinieren?“, schlug Fianna vor. „Wie willst du das machen?“, entgegnete ihr Kiki. „Die Idee ist gar nicht mal so schlecht“, fand Tessa, „Ihr könntet euch kurz vor der Party mit Lotta bei ihr zuhause verabreden. Während sich eine von euch mit Lotta und Anna beschäftigt, macht sich jemand anderes an Annas Sachen zu schaffen“ „Bravo Tessa, du bringst uns auf den richtigen Weg“, lobte Mathilda.

 

Mit Stift und Zettel bewaffnet machte sich Tessa ans Werk den gesamten Racheplan in jeder kleinsten Feinheit auszuarbeiten. Kiki und ihre Freundin konnten darüber nur staunen. „Könnten wir anstatt Pferdeäpfel Blaubeeren in Annas Schuhen verstecken? Wir hätten davon noch ein paar Kilo von der Ernte bei uns im Keller und die färben wesentlich besser als Pferdeäpfel“, machte Annemieke einen kleinen Änderungsvorschlag. „Meinetwegen können wir auch Blaubeeren nehmen“, erklärte sich Tessa einverstanden, „Die riechen auch nicht so streng wie Pferdeäpfel und wir können sie unauffällig in unseren Jackentaschen mitnehmen“ „Versucht euch vorzustellen, wie Lottas Mutter austickt, wenn sie mitkriegt, dass wir Pferdeäpfel in ihr Haus schmuggeln“, bemerkte Fianna, worauf die Mädchen einen heftigen Lachkrampf bekamen. Kiki spürte, wie die Vorfreude in ihr langsam stieg. Schließlich ging es um Emily, die sich seit der Party immer noch nicht bei ihr gemeldet hatte. Annemieke erzählte ihr vorhin, dass es Emily wegen Lennart und Anna immer noch schlecht ging.

 

„Eigentlich sind wir doch zu alt für Streiche und Rachepläne“, ging es Kiki durch den Kopf, doch in Härtefällen durften immer noch Ausnahmen gemacht werden und Anna war ein besonderer Härtefall. Nachdem die Mädchen ihre Sitzung beendete hatten, fuhr Kiki zügig nach Hause. Im Stadtpark tauchten Lotta, ihr Freund, Anna und Lennart auf. Sie unterhielten sich prächtig und stießen sich gegenseitig lachend an. Anna kicherte erwartungsgemäß am heftigsten und klammerte sich an Lennarts Arm fest, damit sie auf ihren hochhackigen Schuhen nicht ihr Gleichgewicht verlor. „Offenbar haben sie ihren Spaß“, verächtlich rümpfte Kiki ihre Nase. Vorweg lief Lottas Hund, der eine Ente bis zum Teich verfolgte. In Kiki brodelte es bereits. „Nicht zu fassen, nun hat sich diese blöde Kuh Lennart geangelt und Emily geht es deswegen dreckig“, regte sie sich innerlich auf und beschloss wortlos an ihnen vorbei zu fahren.

 

Zuhause im Wohnzimmer war ihre Mutter bereits damit beschäftigt die Bilder von der Wand zu nehmen und in einen Pappkarton zu sortieren. „Wir ziehen doch erst in zwei Wochen oder irre ich mich etwa?“, fragte sie irritiert. „Das schon, aber wir sollten doch langsam anfangen unsere Sachen zu packen, damit es nachher nicht so stressig ist“, meinte ihre Mutter. Kiki fand, dass es ohne die vielen Bilder sehr leer und fremd aussah. Ihr graute es davor in der kommenden Zeit zwischen Umzugkartons hausen zu müssen. Der Abschied von Freudenburg, ihrer Schule und vor allem von ihren Freundinnen rückte unaufhaltsam näher. Je mehr Kiki daran dachte, desto stärker wurde dieses stechende Gefühl in der Magengegend. In Mainz gab es keine Roten Siebenerinnen, mit denen sie ihre Freizeit verbringen und spannende Abendteuer erleben konnte. Außerdem war ihre Bande nicht nur irgendeine Bande zum bloßen Zeitvertreib oder zum Blödsinn machen. Mittlerweile waren die Roten Siebenerinnen ihre engsten Freundinnen, mit denen sie nicht nur ihre Hobbys teilte, sondern auch ihre Geheimnisse.

 

Kiki verzog sich rasch in ihr Zimmer und wählte Emilys Telefonnummer. Sie wollte sich unbedingt erkundigen, wie es ihr ging. Schließlich waren Roten Siebenerinnen in jeder Lebenssituation füreinander da. Erst beim zweiten Mal nahm Emily den Hörer ab und meldete sich mit müde klingender Stimme. „Hey, geht es dir wieder besser?“, erkundigte sich Kiki vorsichtig. „Wohl kaum“, brummte Emily. „Soll ich bei dir vorbei fahren?“, bot Kiki an. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass ihre Freundin Trost benötigte. „Wenn du magst, kannst du vorbei kommen, aber ich muss mich erst einmal vernünftig anziehen“, sagte Emily. „Okay, ich bin gleich bei dir“, Kiki legte den Hörer auf. Sie ging in die Küche, um eine Kanne mit Tee zu kochen und einen kleinen Marmorkuchen in den Rucksack zu packen. Mit dem Rad dauerte es gerade einmal fünf Minuten bis Kiki vor Emilys Haustür stand. Sie drückte auf das zweite Klingelschild von oben. Der Summer ertönte und Kiki stemmte sich gegen die Tür. Da Emily im dritten Stock wohnte, war Kiki fast außer Puste als sie vor der Wohnungstür Halt machte.

 

„Herein!“, Emily lächelte ihr müde zu. In der Wohnung zog Kiki ihre Straßenschuhe aus und hängte ihren Mantel an den Haken. „Lass uns in mein Zimmer gehen, Mama schaut gerade ihre geliebte Krimiserie“, winkte Emily Kiki zu sich in ihr Zimmer. Einen Moment lang saßen die Freundinnen schweigend auf Emilys Bett, bis Kiki die Teekanne und den Kuchen auspackte. „Es ist echt lieb von dir, dass du Tee und Kuchen mitgebracht hast“, freute sich Emily und fügte bedenkend hinzu, „Den Tee trinke ich gerne, aber ich kann nichts vom Kuchen essen, da ich meine Diät endlich durchziehen will“ „Wann bist du einmal nicht auf Diät?“, erwiderte Kiki. „Im Vergleich zu anderthalb Jahren habe ich immerhin fünf oder sechs Kilo abgenommen, aber wenn ich diese Anna sehe, komme ich mir immer noch wie eine fette Kuh vor“, murmelte Emily und fuhr sich mit der Hand durch ihre ungekämmten Haare. „Du bist doch nie und nimmer zu dick. Außerdem muss nicht jedes Mädchen so eine dürre Bohnenstange wie Anna sein“, widersprach ihr Kiki. „Trotzdem, ihr seid auch alle schlanker als ich“, brummte Emily. „Die Zwillinge nicht unbedingt“, schüttelte Kiki den Kopf, „Ich finde, du hast eine normale Figur und sollst aufhören dir Gedanken über das Essen zu machen“ Kiki machte sich selten Gedanken, wie viel sie aß und stopfte sich immer wieder mit Süßigkeiten voll. Da sie einen schnellen Stoffwechsel hatte, nahm sie kaum zu, egal wie viel sie aß.

 

Emily betrachtete sich mit einem unglücklichen Gesicht im Spiegel. „Ob mich Lennart so noch haben will?“, richtete sie sich an Kiki. „Aber sicher, Anna ist doch nur ein kurzzeitiger Gast und verschwindet wieder aus seinem Kopf, sobald sie abgereist ist“, versicherte ihr Kiki. Plötzlich hatte sie eine gute Idee. Wie wäre es, wenn sie Emily stylen würde? Wenig später hockte ihre Freundin in fescher Kleidung auf einem Bürostuhl. Kiki wandte ihr ganzes Geschick im Haaremachen und Schminken an, wobei sie Emilys blauen Augen dezent mit einem fliederfarbenen Lidschatten und schwarzer Wimpertusche betonte. „Lass uns ein Foto machen“, sagte sie und betrachtete zufrieden ihr Werk. Emily lächelte und drehte sich eine braune Locke um ihren Daumen. „Willst du das Foto an Lennart schicken?“, fragte sie unsicher. „Wieso nicht?“, erwiderte Kiki. „Es wird nicht mehr so werden, wie es war. Ich werde am Dienstag auf keinen Fall zu Jannis Party gehen“, Emily schaute geknickt nach unten. „Ach was, das kriegen wir schon hin. Vorhin haben wir uns einen Plan ausgedacht, wie wir es Anna richtig heimzahlen können“, ermunterte Kiki ihre Freundin.

 

Der Zeitpunkt der Rache rückte immer näher, wenige Stunden bevor Kiki zu Jannis Geburtstag gehen wollte, traf sie sich mit den Zwillingen bei Lotta zuhause. „Kommt rein! Im Wohnzimmer stehen Kekse und Kakao“, freute sich Lotta, als sie ihren Bandenfreundinnen die Tür öffnete. Anna saß bereits auf dem Sofa und warf den Bandenmädchen einen argwöhnischen Blick zu. Lotta wies ihre Bandenfreundinnen zur Coach und stellte ihnen Becher und Teller hin. Annemieke setzte sich als allererstes neben Anna und verwickelte sie in ein Gespräch über Make-up und Stars. Anna schien baff zu sein, dass eine von den beiden Zwillingen ihre Interessen teilte. Der Plan schien bis jetzt aufzugehen. Wenn Annemieke weiterhin ihre Rolle so gut spielte, würde niemand mitbekommen, dass sie und Mathilda aus dem Zimmer huschten. Kiki wartete einen passenden Zeitpunkt ab und huschte hinaus, Mathilda folgte ihr einen Moment später. Zu zweit schlichen sie die Treppe hoch in Lottas Zimmer. Neben Lottas Bett lag eine Gästematratze, auf der sich Kleidungsstücke und Schmuck türmte. „Besonders ordentlich scheint Anna nicht zu sein“, bemerkte Kiki trocken.

 

Mathilda deutete auf ein glitzerndes smaragdgrünes Kleid, welches an der Schranktür hing. „Das ist hundertprozentig Annas Kleid“, flüsterte sie. Kiki rieb sich vor Freude die Hände und holte eine Tüte mit Juckpulver aus ihrer Hosentasche, welche ihr Emily mitgegeben hatte und rieb das Kleid von innen damit ein. Kiki stürmte zum Badezimmer, dieses Zeug juckte bereits nach wenigen Sekunden an ihren Händen. Sie spülte die Tüte mit dem Juckpulver die Toilette herunter und schrubbte sich ihre Hände unter dem Wasserhahn rot. Mathilda versteckte in der Zwischenzeit ein paar Blaubeeren in Annas Schuhen und lockerte einen Faden an ihrer Nylonstrumpfhose. „Anna wird sich sicher über blaue Füße und die Laufmasche freuen“, grinste sie schadenfroh als Kiki wieder ins Zimmer kam.

 

„Lass uns wieder runter gehen, sonst wundern sie sich, wo wir bleiben“, raunte Kiki und zog ihre Freundin hinter sich her. Weder Lotta noch Annemieke und Anna schienen zu merken, dass sie gefehlt haben. Annemieke redete weiterhin auf Anna ein. Einen Moment lang dachte Kiki, dass Anna und Annemieke Freundinnen seien, so sehr steckten sie ihre Köpfe zusammen. Insgeheim bewunderte Kiki Annemieke dafür, dass sie gegenüber Personen sehr freundlich sein konnte, die sie überhaupt nicht leiden mochte. „Soll ich euch mal ein cooles Foto zeigen?“, Anna beugte sich zu Kiki und Mathilda rüber. „Klar, zeig nur“, nickte Kiki und setzte ihr freundlichstes Lächeln auf. „Wo hast du das Foto gemacht?“, fragte Mathilda interessiert. „Das war diesen Sommer in Italien“, erwiderte Anna. „Cool, da waren wir letztes Jahr auch“, meinte Annemieke. „Wenn du magst, kannst du dir noch mehr Bilder anschauen“, sagte Anna und reichte ihr das Smartphone.

 

Annemieke zappte im Schnelldurchgang die Bilder durch, bis sie auf ein Bild mit Anna und Lennart stießen, auf dem sie sich küssten. Kiki verkniff sich einen angewiderten Kommentar. „Habt ihr Lust eine Runde Monopoly zu spielen?“, fragte Anna. „Klar, auf jeden Fall“, nickte Annemieke begeistert und gab Anna das Handy zurück. Lotta holte das Spiel aus dem Schrank und baute es auf. „Lass uns in Teams spielen, dann geht es schneller“, schlug Anna vor. „Von mir aus“, willigte Lotta ein. „Dann will ich aber mit Annemieke spielen“, rief Anna. Lotta, Kiki und Mathilda tätigten den ersten Zug und kauften sich eine der günstigeren Straßen. Anna erklärte sich erst nach dem zweiten Mal Würfeln bereit eine Straße zu kaufen. „Diese billigen Straßen zu kaufen bringt am Ende echt nichts“, bemerkte sie. Annas strategischer Plan ging am Ende des Spieles wirklich auf. „Gewonnen!“, strahlend schlug sie bei Annemieke ein. „Pöh, ihr habt uns die ganzen guten Straßen weggekauft“, empörte sich Mathilda. „Hey, wir müssen uns fertig machen“, verwies Lotta auf die Uhr, „In einer halben Stunde bringt uns Papa zur Feier“ „Oh verdammt, wie schaffe ich es mich in der kurzen Zeit zu stylen“, schrak Anna hoch und nahm ihre Beine in die Hand. „Gott sei dank, brauchen wir uns nicht mehr zu stylen“, flüsterte Mathilda ihrer Zwillingsschwester ins Ohr. 

Widmung

 Dieses Buch widme ich all meinen treuen Leser und Leserinnen sowie allen, die mich dazu inspiriert haben dieses Buch zu schreiben. Ebenfalls widme ich dieses Buch allen Bandenmädchen und denen, die es im Herzen sind.

 

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Ein Plan, der aufgeht

Lottas Vater musste zweimal fahren, um fünf Mädchen sicher zur Party zu bringen. Zuerst brachte er Annemieke und Lotta. „Ist es normal, dass mein Kleid auf der Haut so derbe juckt?“, fragte Anna als sie im Auto saßen und kratzte sich am Rücken. „Vielleicht verträgst du den Stoff nicht“, vermutete Kiki, die neben ihr hockte. „Das kann nicht sein, das habe ich schon einmal getragen und da hat nichts gejuckt“ „Es kann sein, dass dein Kleid mit einem gewissen Waschmittel gewaschen wurde“, meinte Mathilda. „Hä? Mit was für einem gewissen Waschmittel meinst du?“, Anna verstand offenbar nur noch Bahnhof. „Vor wenigen Tagen wurde ein Waschmittel zurück gerufen, welches Hautreizungen auslösen soll und dies führt dazu, dass die Kleider auf der Haut juckten“, flunkerte Mathilda weiter.

 

Anna presste ihre roten Lippen aufeinander. „Dieses verfluchte Jucken will einfach nicht verschwinden“, jammerte sie. „Soll ich umkehren, damit du dir ein neues Kleid anziehen kannst?“, fragte Lottas Vater. „Nein danke, ich halte es immer noch so aus und außerdem würden wir zu spät zu der Party kommen“, lehnte Anna ab. Kiki und Mathilda gaben sich Mühe nicht zu grinsen. Beinahe bekamen sie einen Lachanfall als Lottas Vater vor einer roten Ampel bremste. Anna sah Kiki und Mathilda funkelnd an. Wieso pressten sie sich ihre Hände auf ihre Münder und taten so, als würden sie ihr Kichern verstecken wollen? Was war nur in sie gefahren? Vorhin waren sie noch so freundlich und offen zu ihr gewesen. Anna machte gute Miene zum bösen Spiel. Auf keinen Fall wollte sie einen Streit anfangen, bevor sie auf der Party angekommen war. Ihre Freude Lennart wieder zu sehen, verdrängte ihr merkwürdiges Gefühl im Magen.

 

Als Kiki aus dem Auto stieg wummerten bereits die Bässe aus dem Festzelt. Die Jungs legten noch härtere Lieder und Raps auf als am Samstag. Annemieke und Lotta rannten ihnen entgegen. „Kommt, wir stürmen die Party!“, rief Anna beschwingt. Gut gelaunt hakte sie sich bei Lotta und Annemieke unter und warf ihr langes seidiges Haar nach hinten. Kiki gratulierte zuerst Jannis, der einen Kasten Bier holte. „Der Bratwürstchenexpress ist da!“, brüllte Max gegen die laute Musik an. Michael machte die Musik leiser und die Gäste setzten sich an die Tische. „Der beste Teil kommt gleich, wenn das Essen vorüber ist“, wisperte Mathilda Kiki zu. „Hoffentlich hat Fianna ihre Bananenschale nicht vergessen“, meinte Kiki leise. „Noch eine Bratwurst?“, fragte Max und lief mit einem Teller voller Würstchen an ihnen vorbei.

 

„Nein Danke“, lehnten Kiki und Mathilda ab, die noch einen großen Berg Kartoffelsalat auf ihren Tellern hatten. Die beiden älteren Cousins von Jannis öffneten die ersten Bierflaschen. Von dem Geruch wurde Kiki beinahe schlecht und sie verstand wie man dieses braune bittere Zeug trinken konnte. Anna ließ sich von Lennart den Rücken massieren und streckte sich dabei wie eine Katze. Emily, die hartnäckig von Aylin und Fianna zum Mitkommen überredet wurde, konnte nicht hinsehen und stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Kiki konnte es nicht länger erwarten, dass endlich die Tanzfläche frei gegeben wurde. Zuerst spielte Michael einen Gangsterrap. Jannis führte vor den Augen seiner Gäste einen Breakdance vor. „Das kann ich auch“, rief Lennart und fing an sich auf dem Kopf zu drehen. „Hach, das sieht so toll aus“, schmachtete Anna, die neben Kiki und Lotta stand. Zur Freude der Mädchen wurden danach auch Songs aus den Charts gespielt. Anna löste sich ab und zu von Lennart und gesellte zu den Roten Siebenerinnen. Am besten verstand sie sich mit Lotta und Annemieke. „Wenn diese Ziege darauf aus ist, zu unserer Bande zu gehören, hat sie sich gewaltig geschnitten“, wisperte Mathilda hasserfüllt in Kikis Richtung.

 

Seicht stupste Kiki Fianna an, die vor ihr tanzte. Ihre Freundin wusste genau, was in dem Moment verlangt war und holte unauffällig ihre Bananenschale aus ihrer Jackentasche. Fianna ließ sie direkt vor Annas Füße fallen und rempelte sie heftig von der Seite an. Anna rechnete nicht damit, sie trat auf die Bananenschale und rutschte vor den Augen aller Anwesenden aus. Stöhnend lag sie auf dem Boden und hielt sich ihr Bein. „Alles in Ordnung, Anna?“, Lotta beugte sich besorgt über sie. „Verdammt, ich habe mir mein Knie verdreht. Diese rothaarige Tussi hat mich umgestoßen“, jammerte Anna mit Tränen in den Augen und ließ sich von einem Jungen aufrichten. „Entschuldigung, das war nicht mit Absicht“, beteuerte Fianna und riss unschuldig ihre Augen auf. „Du hättest trotzdem besser aufpassen können“, knurrte Anna. „Es tut mir auch leid. Ich war so blöd und bin über meine eigenen Beine gestolpert“, rief Fianna und versuchte die Musik mit ihrer dünnen Stimme zu übertönen. „Das nächste Mal passt du besser auf, wo du deine Beine hast, du Trottel“, giftete Anna los.

 

„Sag mal, seit wann hast du blaue Füße, Anna?“, räuspernd baute sich Mathilda vor ihr auf und versuchte so ernst wie möglich auszusehen. Anna hatte bei ihrem Sturz einen ihrer hochhackigen Schuhe verloren und nun konnte jeder einen Blick auf ihren blauen Fuß werfen. „Was?“, Anna bekam einen tierischen Schrecken und wurde blass, als sie ihren Fuß betrachtete. „Sieht gut aus! Lennart steht auf blaue Füße“, kommentierte Emily grinsend. Die Roten Siebenerinnen konnten sich nicht mehr beherrschen und explodierten vor Lachen. Nur Lotta und Tessa hielten sich zurück. „Ihr seid fürchterlich gemeine Zicken!“, schrie Anna und begann zu weinen. Ihr Make-up verlief in unregelmäßigen Striemen. Kiki, Fianna, Emily und die Zwillinge hielten sich weiterhin die Bäuchen und konnten nicht aufhören zu prusten. Kiki bemühte sich zu beruhigen, doch das Kichern brach immer wieder unkontrolliert aus ihr heraus. Anna wurde wütend und ging auf Emily und Mathilda los. „Hey, beruhig dich, Schlumpfine“, Annemieke legte feixend ihre Hand auf Annas Schulter und brach in heftiges Kichern aus.

 

„Du bist die falscheste Freundin, die ich je in meinem Leben hatte“, brüllte Anna und schlug Annemieke mit der flachen Hand ins Gesicht. Nun stürzten sich Emily, Mathilda, Vivien und Kiki auf Anna. Sie hielten das heulende Mädchen fest, sodass es nicht mehr um sich schlagen konnte. Annemieke hielt sich ihre blutende Nase. „Geht es?“, fragte Aylin besorgt und reichte ihr ein Taschentuch. Annemieke nickte stumm. „Hey, was geht hier ab?“, brüllte Michael in sein Mikro und stellte die Musik ab. „Lennarts Freundin wurde zu Boden gestoßen“, rief einer der Gäste, den Kiki nicht kannte. „Ich will nach Hause“, heulte Anna auf. Sie wurde von Lennart und Lotta gestützt. „Die Rothaarige war es!“, rief ein dürrer Kerl. Ein betrunkener Cousin von Jannis stürzte sich auf Fianna. „Hey, pack das Mädel nicht an“, schrie Sven den Kerl an und schubste den Typen gegen den Heizpilz.

 

„Ey du Spinner, lass Simon in Frieden“, brüllte ein Typ, der beinahe zwei Meter groß war und warf eine Bierflasche in die Menge. Binnen weniger Sekunden war eine heftige Schlägerei im Gange. Tische kippten um, ein Scheinwerfer ging zu Bruch und fast die Hälfte aller Anwesenden ging sich an die Gurgel. Kiki und ihre Freundinnen flüchteten nach draußen. „Na toll, ihr habt eine tolle Schlägerei angezettelt! Wäre eure fiese Aktion gegenüber Anna nicht gewesen, hätte es eine so schöne Feier werden können. Ihr hättet euch doch denken können, dass diese Saufköppe auf jeden Funken Gewaltbereitschaft anspringen und den ganzen Laden aufmischen. Ich habe keinen Bock zu einer dämlichen Kinderbande wie euch zu gehören“, fauchte Lotta Kiki und Mathilda ins Gesicht. Im nächsten Moment landete Lottas gelbrotes Armband im Dreck. Geschockt hob es Kiki auf. Dass ein Racheplan solche drastischen Folgen hatte, war niemanden von ihnen bewusst. „Jetzt ist der ganze Abend im Eimer“, schluchzte Aylin los und ließ sich von Sven trösten, auf dessen Stirn sich ein blutiger Kratzer abzeichnete. „Seid ihr noch ganz dicht?!“, Svens Vater tauchte mit einem wutentbrannten Gesicht auf und baute sich vor den Jugendlichen auf. „Ich möchte, dass hier sofort aufgeräumt wird. Ich komme in einer halben Stunde zurück und wenn es hier nicht pikobello aussieht, hole ich die Polizei. Wenn es hier aufgeräumt ist, verschwindet jeder Gast sofort“, fuhr sein Vater mit donnernder Stimme fort.

 

Sven versuchte seinem Vater zu erklären, wie es dazu gekommen war, doch er wollte kein einziges Wort mehr hören. Die Mädchen schnappten sich Besen und Handfeger, während die Jungs die gröberen Schäden beseitigten. Lotta und Anna wurden noch kurz vor halb elf abgeholt. Kiki und die restlichen Roten Siebenerinnen blieben länger, schließlich wollten sie die Piranhas nicht hängen lassen. „Das war ein Schuss in den Ofen. Nun haben wir ein Bandenmitglied verloren und die gesamte Party verdorben“, seufzte Kiki und spielte mit Lottas Armband. „Hätten wir Anna ihren Siegeszug lassen sollen?“, erwiderte Mathilda gereizt. „Nein, natürlich nicht“, rief Emily beschwörend, „Ihr seid doch meine besten Freundinnen und habt es nur für mich getan“ „Nicht nur für dich, wir konnten Anna sowieso nicht leiden“, meinte Annemieke. „Aber es hätte auch nicht so heftig sein müssen“, gab Kiki zu, „Schließlich ist Lotta stinksauer auf uns und will nichts mehr von der Roten Sieben hören“ „Was Lotta betrifft, die kriegt sich bald wieder ein“, meldete sich Vivien zu Wort, „Spätestens wenn Anna wieder fährt, sucht sie unsere Nähe“ „Da hast du auch Recht“, sagte Emily. „Lotta kann jederzeit wieder zu uns kommen, denn sie hat sich nichts zu Schulden kommen lassen“, meinte Fianna. Geknickt sahen sich die Mädchen an und wechselten minutenlang kein Wort miteinander. "Ob Lotta wohl wieder kommt", sagte Aylin leise. "Ich denke schon", versuchte Emily ihr Mut zu machen. 

Eine SMS von Tom

Der Vollmond tauchte Kikis Zimmer in ein fahles Licht. Doch dies war nicht der Grund, weshalb Kiki immer noch hellwach in ihrem Bett lag und nicht einschlafen konnte. Die Sache mit Anna ging ihr immer noch zu sehr durch den Kopf. „Wir haben es eindeutig übertrieben“, sagte sie leise zu sich selber und ärgerte sich erneut. Der fiese Streich war nun nicht mehr rückgängig zu machen und Lotta hatte der Roten Sieben die Freundschaft gekündigt. Nur wegen ihnen hatte sich eine Schlägerei entwickelt, worauf die Party abgebrochen wurde. Kiki nahm sonst selten die Schuld auf sich, doch nun fühlte sie sich gegen Jannis besonders schuldig. Schließlich war es seine Geburtstagsfeier gewesen. „Warum mussten wir schon wieder Rache an einer Person üben?“, ärgerte sie sich.

 

Kiki fand, dass sie in der neunten Klasse eigentlich schon zu alt für dumme Streiche und kindische Rachepläne waren. Die Roten Siebenerinnen sahen es vorher für nötig Anna in die Schranken zu weisen, da sie sich Emilys Freund geangelt und herablassende Bemerkungen über ihre Bande gemachte hatte. Doch dass der Racheplan in eine Schlägerei mündete und damit den Abbruch der Fete hervorrief, hatte keine von ihnen beabsichtigt. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, ob sie bei Lotta anrufen sollte. Rasch verwarf sie den Gedanken wieder, denn es war schon halb eins. Kikis Blick wanderte unfreiwillig auf die Umzugkartons, die sich an der gegenüberliegenden Wand türmten. Von Tag zu Tag wurde immer mehr Leben aus ihrer sonst so schönen und gemütlichen Wohnung gesogen. Eine unbeschreibliche Wut stieg in ihr auf, sodass sie am liebsten die Umzugkartons aus dem Fenster gepfeffert hätte. „Nur noch zwei Wochen und dann wohnen wir in Mainz“, schoss es ihr durch den Kopf, wobei ihr flau im Magen wurde.

 

Wie aus dem Nichts vibrierte ihr Handy auf dem Nachttisch. Wer um diese Uhrzeit noch etwas von ihr wollte? Kiki hoffte einen Moment lang, dass die Nachricht von Lotta stammte, die es sich nun doch anders überlegt hatte und wieder zu ihrer Bande gehören wollte. Lottas Verlust traf sie immer noch schwer, schließlich war Lotta ihre zweitbeste Freundin. „Eine Nachricht von Tom“, zeigte das Handy an. Kikis Herz machte förmlich einen Freudensprung. Wie konnte sie ihn über die Tage nur vergessen? Wahrscheinlich war sie in den letzten Tagen zu sehr mit dem Racheplan beschäftigt gewesen. Kiki las Toms SMS gleich dreimal durch und prägte sich jedes Wort messerscharf in ihr Gedächtnis ein. Er wollte sich wirklich mit ihr morgen wirklich mit ihr in der Stadt treffen und danach mit ihr ins Kino gehen. Sie konnte ihr Glück immer noch nicht fassen und bekam unbändige Lust auf ihrem Bett zu hüpfen. Nur Gedanken daran, dass sie ihre Schwester, ihre Mutter und die Nachbarn unter sie stören konnte, hinderte sie daran. Einen Augenblick später rollte sie sich auf die Seite und dämmerte weg.

 

Nach einer traumlosen Nacht wachte sie am nächsten Morgen auf, nachdem ihr ihre Mutter das Telefon ans Bett reichte. „Guten Morgen Schatz, Mathilda will dich sprechen“, sagte sie und reichte ihr den Hörer. „Guten Morgen“, gähnte Kiki. „Hallo, hast du Lust mit mir und Micky Schwimmen zu gehen?“, fragte ihre beste Freundin. „Um welche Uhrzeit?“, wollte Kiki wissen und setzte sich in ihrem Bett auf. „Mama will in einer Stunde mit uns ins Paradiso fahren, das ist ein Badeparadies in der Nähe von Ludwigshafen. Wir werden dort den ganzen Tag bleiben und um sechs nach Hause fahren“, antwortete Mathilda. „Ich habe heute Nachmittag schon etwas anderes vor“, erwiderte Kiki. „Was denn genau?“, bohrte Mathilda nach. Kiki war sich zuerst nicht sicher, ob sie ihr von Toms Treffen erzählen sollte oder nicht.

 

Da ihre Freundin sehr hartnäckig sein konnte und mit Leichtigkeit dahinter kam, wenn sie log, erzählte sie ihr vornherein die ganze Wahrheit. „Wow, du hast ein Date mit Tom. Das ist phänomenal! Ich wünsche euch beiden viel Glück“, freute sich Mathilda für sie. „Danke! Ich bin so aufgeregt, dass ich die ganze Zeit herumspringen könnte“, rief Kiki. „Ach deswegen brauchst du doch nicht aufgeregt sein“, lachte ihre Freundin und sagte in einem ernsteren Ton, „Sorry Kiki, ich muss auflegen. Wir packen unsere Sachen. Ich werde bei Fianna anrufen und sie fragen, ob sie und Tessa mitkommen wollen. Machs gut, Tschüss“ Nachdem sie sich verabschiedet hatte, schlüpfte sie in Windeseile in ihre Kleidung und ging pfeifend in Richtung Küche. „Na Schwesterchen, wieso bist du auf einmal so fröhlich?“, empfing Mirja sie in der Küche, die sich einen Tee machte. „Ach nichts, ich bin habe einfach nur gute Laune“, spielte Kiki ihre Emotionen herunter. Große Schwestern brauchten schließlich auch nicht alles wissen. „Ich dachte, bei dir hängt der Haussegen schief, seitdem es feststeht, dass wir umziehen“, erwiderte ihre große Schwester. „Man kann nicht dauerhaft schlechte Laune haben“, sagte Kiki und machte sich zwei Scheiben Toast. „Stimmt“, nickte Mirja, „Außerdem wirst du dich ganz schnell an die neue Umgebung und die Schule gewöhnen“

 

Beinahe eine Viertelstunde wartete Kiki am Brunnen auf dem Marktplatz. Wo blieb Tom nur? Ein kühler Herbstwind fuhr ihr durch ihre seidigen schwarzen Haare, die sie heute offen trug. „Hoffentlich hat er mich nicht vergessen“, ging ihr durch den Kopf. Gerade als sie seine Nummer wählte, wurde sie von hinten gepackt. Vor Schreck stieß sie einen spitzen Schrei aus. „Habe ich es doch gewusst, dass diese Nummer bei dir klappt“, grinste Tom spitzbübisch. „Du hast mich ganz erschreckt“, schnappte Kiki nach Luft. „Entschuldigung, dass ich zu spät bin, ich habe den Bus verpasst. Ich hoffe du nimmst es mir nicht übel. Zu spät zu einem Date zu erscheinen, hinterlässt keinen besonders guten Eindruck. Das Beste ist, meine Schwester kann uns nicht nachspionieren. Sie fragt schon die ganze Zeit, was zwischen uns läuft. Doch momentan ist sie mit Tessa, Martina und Annemarie im Schwimmbad“, redete er munter drauf los. „Du meinst wohl Mathilda und Annemieke“, verbesserte sie ihn. „Ach stimmt, ich kann mir eure Namen schlecht merken“, fasste sich Tom an den Kopf. „Kannst du dir denn meinen Namen merken?“, Kiki lächelte ihn zuckersüß an. „Ach Moment mal, war dein Name nicht Karen?“, stellte er sich dumm. „Blödmann!“, spielend knuffte sie ihn die Seite, „Eine zweite Chance hast du noch“ „Kristina“, betonte er ihren Namen besonders. „Das ist schon mal viel richtiger, aber Kiki wäre natürlich viel besser“, erwiderte sie.

 

Sie hieß schon solange Kiki, wie sie denken konnte. Bereits im Kindergarten nannte sie sich so, da sie ihren richtigen Namen zuerst nicht aussprechen konnte. Später fand sie, dass sich Kiki viel gewitzter und lebensfroher anhörte als Kristina. Seit der ersten Klasse nannte sie fast jeder so. „Komm!“, griff Tom nach ihrer Hand. Zu zweit schlenderten sie die Einkaufsstraße entlang. Vor einem Modekaufhaus kamen ihnen Anja, Saskia und Jolanda entgegen. Die Zicken aus ihrer Klasse hatten ihr gerade noch gefehlt! Offenbar schienen ihre Klassenkameradinnen sie und Tom nicht zu bemerken. „Hey, was guckst du so skeptisch?“, stupste er sie von der Seite an. „Da waren einige Mädchen aus meiner Klasse, die ich nicht so gerne mag“, erwiderte Kiki leise. „Stört dich das? Eigentlich können sie dir egal sein“, meinte Tom. Mitten auf der belebten Fußgängerzone kam ihnen Ricardo entgegen. Überrascht blieb er vor ihnen stehen. „Seid ihr beide jetzt zusammen?“, fragte er. „Kann man so sagen“, bestätigte Tom.

 

Kiki fand, dass es noch zu früh war, um zu behaupten, dass sie zusammen seien. „Eine Beziehung muss sich erst einmal entwickeln“, pflegte ihre große Schwester zu sagen. „Wisst ihr, ich habe mich letztens richtig derbe mit Fianna gefetzt“, erzählte Ricardo, „Ich weiß auch nicht, wieso sie in letzter Zeit so zickig geworden ist. Wir haben uns vorgestern gestritten und seitdem kein Wort mehr miteinander gewechselt. Gestern auf Jannis Party habe ich sie nicht einmal in Schutz genommen, als sie von diesem besoffenen Typen angegriffen wurde. Ich versuche sie seit Mittag auf ihrem Handy zu erreichen, aber sie geht nicht ran“ „Kunststück, sie ist mit drei Freundinnen im Schwimmbad“, meldete sich Kiki zu Wort. „In letzter Zeit teilt sie mir gar nichts mehr mit und hängt nur noch mit ihren Freundinnen ab“, sagte Ricardo frustriert. „Wie gehst du damit um?“, hakte Tom nach. „Tja, wie soll ich damit umgehen?“, seufzte Ricardo, „Langsam kristallisiert sich heraus, dass wir beide eh nicht zusammen passen“

 

Kiki ahnte nichts Gutes als Ricardo weitergegangen war. Nun wusste sie früher über das kommende Aus zwischen Fiannas und Ricardos Beziehung bescheid als Fianna selbst. Einen Moment lang spielte sie mit den Gedanken, ob sie Fianna darüber informieren sollte oder nicht. Rasch verwarf sie ihn wieder, denn sie wollte nicht den Eindruck erwecken, dass sie sich überall einmischte. Fast überall wo wie sie war, gab es Beziehungsstress: Erst spannte Mathilda ihrer Schwester Marc aus, dann machte sich Anna an Lennart heran und nun war Fianna kurz vor einem Beziehungsaus. Das konnte noch heiter werden! Tom machte sie auf einen Crepestand aufmerksam, der seit neustem vor der Bücherei stand. „Willst du auch einen?“, bot er ihr an. „Nein, sonst reicht mein Geld fürs Kino nicht“, lehnte Kiki ab. „Ach Quatsch, ich gebe dir gerne einen aus“, meinte er und bestellte sich einen Crepe mit Banane und Nutella, während sie die Variante mit Pflaumenmus und Zimt bevorzugte. Während sie auf einer Bank aßen, fragte er sie nach ihrer Bande.

 

„Seid wann seid ihr mit den Piranhas befreundet?“, wollte er wissen. „Was heißt befreundet?“, erwiderte Kiki achselzuckend, „Na ja, irgendwie gehören wir schon beinahe zusammen. Ohne eine Gegenbande macht das Bandendasein überhaupt keinen Spaß. Ganz am Anfang waren wir arg verfeindet gewesen, aber das hat sich nach einem halben Jahr gegeben. Schließlich werden wir alle erwachsener, obwohl wir uns manchmal immer noch gerne necken und gegenseitig harmlosere Streiche spielen, aber das einfach nur aus Spaß“ „Ganz so übel finde ich die Piranhas auch nicht mehr“, sagte er, „Früher haben wir uns ständig geprügelt, wenn wir ein Spiel gegen die hatten und die ihren Frust an uns ablassen mussten. Aus ihrer Sicht sind wir ihre Erzrivalen. Seit neustem schnallen sie, dass man mit Schlägereien und Beleidigungen auch nicht weiter kommt“ Tom zog sie hoch und zusammen schlenderten sie weiter. Kiki ließ sich die goldene Herbstsonne in ihr Gesicht scheinen und sog die nasskalte Herbstluft, dabei dachte an den Reiturlaub vor einem Jahr. „Na, wovon träumst du, Prinzessin?“, stupste Tom sie an. „An den Aufenthalt auf Tessas Reiterhof im letzten Jahr, der so traumhaft schön war“, erwiderte sie. „Dort ist es wirklich sehr hübsch“, bestätigte Tom, „Ich war lange nicht mehr dort gewesen, aber ich weiß, dass die Gegend dort sehr ländlich und idyllisch ist. Fianna hat mir letztens noch einmal das zusammengestellte Video gezeigt, welches ein Bandengirl von euch gedreht hat. Einmal war darauf zu sehen, wie meine Schwester wutentbrannt in die Kamera schreit und die Kamerafrau angreift“ „Ach, das war damals als sie Liebeskummer wegen Lucas hatte und nicht von Lotta gefilmt werden wollte“, erinnerte sich Kiki. „Der Liebeskummer kann ihr bald wieder blühen“, bemerkte er trocken, „Mit Ricardo ist es auch schon wieder fast vorbei“

 

Tom überließ Kiki die Wahl des Filmes. Als sie ihre Karten bezahlt hatten, gab er eine Runde Cola und Popkorn aus. Im schwach beleuchteten Kinosaal saßen bereits einige Kinder und Jugendliche, die ungefähr in ihrem Alter waren. Vorne auf der Leinwand wurde Werbung für Kinderschokolade gezeigt. „Hier sitzen wir“, flüsterte Tom ihr zu. Kiki streckte ihre Beine von sich, nachdem sie sich in den weichen Kinosessel gefläzt hatte. Es störte sie nicht, dass Tom ihr den Arm um ihre Schultern legte, sondern ganz im Gegenteil, sie genoss es. Noch vor einigen Monaten hätte sie sich standhaft geweigert einen Jungen mehr als zwanzig Zentimeter an sich heran zu lassen. Seitdem sie Tom besser kennen gelernt hatte, war die Berührungsangst vor dem anderen Geschlecht wie vom Erdboden verschluckt. Kiki war bewusst, dass diese Entwicklung zum Erwachsenwerden gehörte. Tom zog sie näher an sich heran, sodass sich ihre Gesichter beinahe berührten. Kiki wusste sofort, was er wollte. „Jetzt nicht, hier sind zu viele Leute“, flüsterte sie, „Für einen Kuss bedarf es einen besonderen Moment, den wir noch vor uns haben werden“ „Wie du willst“, erwiderte er und griff in den Popkorneimer. Es wurde dunkel und der Film begann mit einer Actionszene. Tom streichelte ihr sanft über ihren Kopf und spielte mit einer Strähne ihres langen Haares. „Ich liebe dich“, hörte sie ihn zwischendurch leise flüstern. Kiki nickte und legte ihren Kopf auf seine Schulter.

 

Freundschaft gegen Liebeskummer

Da Tessa am Samstagmorgen wieder fuhr, planten die Roten Siebenerinnen ein kleines Abschiedsfest für sie. Emily bat ihre Tante darum, dass Tessa an der Reitstunde teilnehmen durfte. Lotta hatte sich seit dem Vorfall von Dienstagabend immer noch nicht gemeldet. Kiki war es in dem Moment egal, ob sie mitkam oder nicht. Am Vormittag bekam sie einen Anruf von Fianna. „Ich werde heute Nachmittag doch nicht mitkommen, Tessa kommt alleine zum Wohnwagen“, meldete sie sich mit tränenschwerer Stimme. „Wieso? Was ist denn los?“, Kiki war ganz von der Rolle.

 

„Ricardo hat vorhin über SMS mit mir Schluss gemacht. Er behauptet, ich hätte kein Interesse mehr an ihm und würde nur noch mit meiner Bande zusammenglucken. Wir haben uns in letzter Zeit immer wieder gestritten, doch wir haben uns jedes Mal danach wieder vertragen. Wieso serviert er mich mit einem Mal knallhart ab?“, heulte Fianna los. „Oh das tut mir leid für dich“, sagte Kiki tröstend, „Über SMS Schlussmachen ist wirklich feige, so ein Mistkerl hat dich nicht verdient. Du findest bestimmt einen viel lieberen und treueren Freund“ „Ich weiß. Habt heute viel Spaß ohne mich, ich würde sowieso nur die Stimmung killen“, schniefte ihre Freundin ins Telefon. „Ach was, wieso willst heute den ganzen Tag weinend zuhause sitzen und dir die Decke auf den Kopf fallen lassen?“, widersprach Kiki energisch. „Ich überlege es mir noch einmal, eventuell entscheide ich mich doch noch um“, sagte Fianna mit dünner Stimme. Nachdem sie aufgelegt hatte, rührte sie den Tag für die Apfelmuffins zusammen. Kiki wollte für heute Nachmittag unbedingt ein neues Rezept aus ihrem Backbuch ausprobieren.

 

Pünktlich um drei versammelten sich acht Mädchen am Wohnwagen. Fianna war überraschender Weise doch gekommen, doch von Lotta fehlte jede Spur. „Sie ist immer noch wegen dieser Racheaktion mit Anna sauer, dabei hat es diese Zicke verdient gehabt“, meinte Mathilda in einem verächtlichen Tonfall. Vivien versuchte vergeblich Lotta auf dem Handy zu erreichen. „Warum telefonierst du der noch hinterher?“, fragte Emily und verdrehte die Augen. „Eigentlich gehört doch noch zu uns“, erwiderte Vivien verlegen. „Eigentlich ja, aber du siehst doch, sie will von uns nichts mehr hören“, sagte Emily. „Wartet es doch ab, bald wird sie sich abgeregt haben und zurückkommen“, versuchte Annemieke die Freundinnen zu beruhigen. „Wollt ihr nicht reinkommen? Ich habe Kakao gekocht“, rief Aylin und aus dem Wohnwagen.

 

„Kakao, das hört sich super an“, fand Tessa und stieg als die Stufen hoch. Drinnen war der Tisch bereits gedeckt. Kiki stellte ihre Dose mit den Muffins auf den Tisch. „Darf ich raten, was du gebacken hast?“, fragte Mathilda neugierig und wollte sich die Dose schnappen. „Halt Krümelmonster! Hast wieder so einen Riesenhunger? Warte doch, bis wir sitzen“, riss Kiki die Dose an sich und versteckte sie hinter ihrem Rücken. Ihre beste Freundin zog einen Schmollmund und drehte ihr den Rücken zu. Während die Roten Siebenerinnen aßen, den Kakao tranken und sich lebhaft unterhielten, saß Fianna teilnahmslos zwischen Aylin und Emily. Sie mochte weder von Kikis Kuchen essen noch ihren sonst so heiß geliebten Kakao trinken. „Mach dir nichts aus so einem Idioten. Mir geht es doch auch nicht besser, ich bin Lennart an Anna los“, tröstete Emily ihre Freundin. „Ach was, wenn Anna wieder weg ist, ist sie bestimmt aus Lennarts Kopf verschwunden“, schnitt ihr Annemieke das Wort ab. „Wenn es so sein sollte, will ich trotzdem nichts mehr mit ihm zu tun haben“, meinte Emily, „Das Vertrauen zwischen uns ist seit dem ziemlich angeknackst und das kann Jahre dauern, bis Gras drüber gewachsen ist“

 

Kiki schlich sich mit Mathilda von hinten an Fianna und Emily heran. Sie zählte bis drei und gab das Startzeichen. „Kitzelattacke!“, rief Mathilda gutgelaunt. „Aaahh!“, schrie Fianna und versuchte sich laut lachend aus den Fängen von Mathilda zu befreien, während sich Kiki Emily vornahm. Annemieke, Aylin und die übrigen Bandenmädchen sprangen von ihren Plätzen auf und stürzten sich in die Schlacht. „Wieso tut ihr das?“, rief Fianna, die vor Lachen kaum noch Luft bekam. „Ich konnte nicht länger ertragen, dass Emily und du wie Trauerklöße am Tisch sitzt“, rechtfertigte sich Mathilda. „Bitte aufhören, ich kann gleich nicht mehr!“, flehte Emily. Fianna schaffte es sich von Mathilda und Tessa loszureißen und stürmte aus dem Wohnwagen. „Hinterher!“, rief Tessa. Aus Reflex ließ Kiki Emily los, diese nutzte die Chance zu entfliehen. „Los, fangen wir sie wieder ein!“, johlte Annemieke und rutschte auf dem feuchten Rasen um ein Haar aus. Die Freundinnen jagten Emily und Fianna einige Male um den Wohnwagen, bis Emily nach einer Weile mit Seitenstechen aufgab. Fianna drehte Mathilda und Aylin eine Pinocchionase. „Ihr habt mich nicht gefangen!“, zog sie die Beiden auf. „Jetzt aber!“, Aylin packte ihre Freundin am Arm und zog sie wieder in den Wohnwagen. „Hey, wollen wir nicht langsam wieder rein gehen? Der Kakao wird sonst kalt“, unterbrach Vivien die Kabbeleien unter den Bandenmädchen.

 

Drinnen ging es wieder ernster zu. Tessa sprach ein heikles Thema an, ob Lotta jemals wieder zu der Roten Sieben zurückkehren wird. „Ich finde es schade, dass sie heute nicht gekommen ist“, fand Tessa schade. „Stimmt wohl, Lotta fehlt uns irgendwie doch“, pflichtete ihr Mathilda bei, der sonst eher freche oder manchmal auch spitzte Bemerkungen auf der Zunge lagen.

„Was machst du?“, fragte Vivien mit einem Seitenblick auf Emily. „Ich schreibe Lotta eine SMS, dass es uns leid tut, dass die Rache gegen Anna so ausgeartet ist“, murmelte diese. „Du entschuldigst dich dafür, dass Anna dir Lennart ausgespannt hat! Was bist du denn für eine?“, warf ihr Mathilda unbeherrscht an den Kopf. „Hey, beruhig dich! Du musst einsehen, dass wir wirklich sehr gemein zu Anna waren. Doch gleichzeitig war es nicht okay, dass Anna sich an Lennart heran gemacht hat“, Annemieke legte ihre Hand auf die Schulter ihres Zwillings.

 

„Ich habe eine Idee!“, sprang Aylin auf. „Dann schieß los!“, nickte Kiki ihrer Freundin zu. „Ich schreibe Lotta im Namen der ganzen Bande eine SMS, in der wir uns für den fiesen Streich und die verpatzte Party entschuldige“, fuhr Aylin mit leuchtenden Augen fort. „Die Idee hat was an sich!“, fand Vivien. „Das ist die Chance Lottas Freundschaft zu retten“, jubelte Fianna, die auf einmal ganz aus dem Häuschen war. Die anderen Mädchen nickten zustimmend. Emily widmete sich wieder dem Tippen, während der letzte Rest Kuchen und Kakao unter den Freundinnen schwesterlich geteilt wurden. „Mist, wir haben uns verquatscht!“, sprang Mathilda mitten im Gespräch auf. Ihre Freundinnen sahen sie verdutzt an. „Die Reitstunde fängt in einer halben Stunde an und vorher müssen wir die Pferde satteln“, erinnerte sie ihre Bande. „Oh verdammt!“, fluchte Emily, „Das habe ich total vergessen“ „Es wäre doch so schade gewesen, wenn ich die Pferde aus eurem Reitstall nicht kennen gelernt hätte. Ich würde gerne wissen, ob sie genauso wie unsere Vierbeiner ticken“, meinte Tessa. Kiki erinnerte sich schlagartig an Lagsi, Moala, Kraki und all die anderen Pferde. Obwohl die traumhaften Ferien schon ein ganzes Jahr zurück lagen, waren die Erinnerungen in ihr so lebendig, als seien sie gestern erst wieder vom Klaasenhof zurückgekehrt.

 

„Hopp, hopp! Bewegt eure Hintern!“, trieb Mathilda ihre Freundinnen an und klingelte mit ihrer Fahrradglocke. „Wir haben jetzt nur noch fünfundzwanzig Minuten Zeit“, bekräftigte ihre Zwillingsschwester. „Die Zwillinge könnte man echt gut als Anpeitscherinnen einsetzen“, grinste Vivien Kiki zu, „Zu zweit können sich gegen eine Armee durchsetzen“ Kiki nickte nur und trat ordentlich in die Pedale um den Anschluss an die vorderste Gruppe nicht zu verlieren. „Wie ich solche Hetzjagden hasse!“, keuchte Emily hinter ihr, die nicht gerade die Schnellste war. 

 

Die Bandenmädchen kamen tatsächlich kurz vor dem Beginn der Reitstunde. „Nun habt ihr noch genau zehn Minuten Zeit mit euren Pferden gesattelt und richtig gekleidet in der Reithalle zu erscheinen“, begrüßte Rachel sie. „Ich gebe es zu, wir haben einfach zu lange gequatscht und sind zu spät losgefahren“, rechtfertigte sich Emily vor ihrer Tante. „Macht nichts, das ist mir auch schon mal passiert“, klopfte Rachel ihrer Nichte beruhigend auf die Schulter und ließ ihren Blick über die gesamte Bande wandern. Ihr Blick blieb bei einem sympathisch aussehenden zierlichen Mädchen mit dunkelblonden Haaren hängen. „Du bist doch der Gast, von dem mir Emily neulich erzählt hat. Tessa, richtig?“, gab sie dem fremden Mädchen die Hand. „Genau“, nickte Tessa, „Emily hat mir viel von Ihren Pferden erzählt und dass Ihnen der Reiterhof gehört“ „Du brauchst mich um Himmels Willen nicht siezen“, lachte Rachel, „Hier bin ich für jeden Rachel“ Emily schob die redenden Mädchen in Richtung Umkleidekabine. „Hört auf die ganze Zeit zu quasseln, sonst werdet ihr nie fertig angezogen sein!“, wandte sich Kiki genervt an die Zwillinge und Aylin. Während sie im Spiegel den Sitz ihres Helmes kontrollierte, zwängten sich einige ihrer Freundinnen gerade in ihre Reithosen.

 

Kiki und Emily liefen zu zweit nebeneinander die Stallgasse entlang. Emily hatte gerade eben eine Liste in die Hand gedrückt bekommen, wer welches Pferd reiten sollte. Nach und nach gingen sie die Liste durch. „Kann ich euch helfen?“, bot Fianna an, dessen Gesicht hinter Emilys Rücken auftauchte. „Wo kann ich Hand anlegen?“, fragte Tessa hilfsbereit, die auf sie zugelaufen kam. Zu viert holten sie die Pferde aus dem Stall, putzten ihr Fell und kratzten ihnen die Hufe aus. „Wow, deine Tante hat echt schöne Pferde!“, bemerkte Tessa und fütterte Caruso mit einer Karotte. „Caruso wird sonst häufig von Lotta geritten“, murmelte eines der Mädchen. Kiki ärgerte sich, wieso wieder das Thema Lotta angestoßen wurde. Jedes Mal, wenn Lottas Name ausgesprochen wurde, wurde Salz in ihre offenen Wunden gestreut. Nach einer gefühlten Ewigkeit kamen Aylin, Vivien und die Zwillinge plaudernd den Gang entlang geschlendert.

 

„Was habt ihr noch so lange getrieben?“, fuhr Kiki die Mädchen von der Seite an. „Wir haben uns umgezogen, sieht man das nicht?“, erwiderte Vivien. „Dafür habt ihr uns die ganze Arbeit alleine machen lassen“, beschwerte sich Emily, „Eure Pferde haben wir schon gestriegelt, aber satteln könnt ihr sie selber“ Kiki führte Katinka auf die frisch gestreute Reitbahn. „Ihr habt es doch noch geschafft“, rief ihnen Rachel zu, „Ich habe mit den Kleinen schon einmal angefangen“ Die jüngere Cousine von Emily und ihrer Freundinnen tauschten sich verschwörerische Blicke aus. Kiki setzte eine so drohende Miene auf, dass sich die kleinen Mädchen einen jeglichen Kommentar verkniffen. Emily ritt auf Tybalt voran und bildete den Anfang der Abteilung. „Emily, übernimmst du die Führung bei deinen Freundinnen?“, fragte ihre Tante. „Klar, kann ich machen“, nickte Emily. Kiki und die anderen Mädchen fügten sich Emilys Anweisungen. Auf der Reitbahn war sie der unangefochtene Boss. „Wollen wir nicht ein Hindernis aufbauen?“, schlug Mathilda vor, die ganz am Ende der Abteilung auf Smilla ritt. „Können wir von mir aus machen“, sagte Emily, „Aber das Hindernis kann ich nicht alleine aufbauen, ich brauche eine von euch, die mir hilft und jemand muss mein Pferd festhalten“ „Lily, ich trage mit dir die Stangen“, bot Annemieke an. „Und ich halte dein Pferd“, sagte Tessa.

 

Die Reitstunde wurde ein voller Erfolg, da Emily und Annemieke nicht nur ein Hindernis aufbauten, sondern einen ganzen Parcour aus verschiedensten Gegenständen. Ein paar Trinkflaschen und Hütchen bekamen eine neue Funktion als Slalomstangen. „Wehe, meine Flasche wird umgeworfen oder platt gemacht!“, Mathilda hob warnend ihren Zeigefinger. Ihre Stute legte keinen Wert darauf, ob sie nun eine der Flaschen berührte oder nicht. „Matti, deine Flasche ist umgekippt. Dein Pferd ist dagegen getreten“, rief Annemieke von hinten, worauf Fianna einen Lachkrampf bekam und fast von Lanzelots Rücken glitt. „Na, ihr Kichererbsen!“, gut gelaunt schaute ihre Reitlehrerin zu ihnen herüber, die sich immer noch mit den jüngeren Reitschülern beschäftigte. „Caruso ist so ein tolles Pferd“, schwärmte Tessa, „Am liebsten würde ich ihm mit nach Hause nehmen“ „Aber nur wenn wir dafür Tjara oder Moala kriegen“, wandte Mathilda ein. Sarah ging mit einer Mistgabel an ihnen vorbei und grinste frech, als ob sie wieder etwas ausgefressen hatte. „Na, habt ihr euch vorhin im Wohnwagen fest gequatscht?“, fragte sie voller Schadenfreude. Emily erdolchte ihre jüngere Cousine mit einem eisigen Blick, während der Rest der Bande schwieg oder weghörte.

 

Ein gruseliges Abschiedsfest für Kiki

 Der Countdown lief unaufhörlich. Von Tag zu Tag leerte sich Kikis Zimmer immer mehr, bis es nicht mehr wieder erkannte. War es wirklich der Ort ihrer Kindheit? Zum Glück gab es den Wohnwagen, in den sie zur jeder Zeit flüchten konnte, wenn sie es zuhause in ihrer entfremdeten Wohnung nicht mehr aushielt. Heute nahm sie heimlich Tom mit in ihr Bandenquartier. Dafür musste er ihr hoch und heilig versprechen, dass er in der Gegenwart seiner Schwester und den anderen Bandenmädchen kein Wort darüber verlor. Interessiert schaute er sich um. „Hier war ich schon einmal“, stellte er fest. „Stimmt, hier haben wir Fiannas Geburtstag gefeiert und anschließend zu siebt hier drinnen übernachtet“, erinnerte sie sich. „Stimmt, ein Mädchen und ich haben uns als Gespenster verkleidet, um einen Schrecken einzujagen“, fiel Tom ein. Zu zweit schwelgten in Erinnerungen an die besondere Geburtstagsparty, die mittlerweile über zweieinhalb Jahre zurück lag.

 

„Ich bin mir sicher, dass ich in Mainz bestimmt nicht solche guten und verrückten Freundinnen finden werde“, meinte Kiki, als der Gedanke an den kommenden Umzug sich wieder in ihrem Kopf breit machte. „Meinst du wirklich?“, Tom sah sie mit großen Augen an. „Ich glaube die meisten Mädchen in unserem Alter sind anders als wir, für sie sind Banden Kinderkram. Aber wir sind nur eine Bande, weil wir sehr eng miteinander befreundet sind und zusammen halten. Oft gibt es solche innigen Freundschaften gar nicht mehr“, versuchte Kiki ihm zu erklären. Als Nächstes sahen sie bei den Kaninchen nach dem Rechten. Tom zog sie an sich, sodass sich ihre Nasenspitzen berührten. „Bist du bereit?“, fragte er leise. Sie nickte und wusste genau was er wollte. Ihre Lippen berührten sich nur ganz kurz und seicht, trotzdem war es Kikis erster Kuss mit einem Jungen in ihrem Leben. Im nächsten Moment küssten sie sich erneut, aber dafür länger und intensiver. Kiki genoss diesen Moment, in dem sie mit Tom alleine war. Ein ganz besonderer Moment!

 

„Kiki, du brauchst dich morgen Abend um nichts zu kümmern, komm einfach um acht Uhr zum Wohnwagen, aber zieh dich schaurig an. Du weißt doch, dass demnächst Halloween ist“, versicherte ihr Mathilda am Vormittag am Telefon. Kiki freute sich einerseits sehr auf eine tolle Grusel-Party mit ihren besten Freundinnen, doch gleichzeitig war es auch ihr Abschied. Ob Lotta auch kommen wird? Schließlich hatten die Roten Siebenerinnen ihr einige Male bescheid gesagt, doch von Lotta kam keine einzige Antwort zurück. Gerne hätte sie Tom und die Piranhas dabei gehabt, doch der Abend sollte nur der Roten Sieben gehören und niemand anderes. Morgen war der letzte Freitag in den Ferien. Zwar zog Kiki erst am Dienstag nach Mainz, aber nur an diesem Abend hatten alle ihre Freundinnen Zeit. Je näher der Abend rückte, desto hibbeliger wurde sie.

 

„Hast du Hummeln im Hintern?“, wurde sie von ihrer großen Schwester gefragt. „Ich habe noch etwas vor“, antwortete sie und setzte eine geheimnisvolle Miene auf. „Darf ich fragen was genau?“, hakte Mirja nach. „Eine Überraschung von meinen Freundinnen“, antwortete Kiki. Ihre Schwester gab sich mit dieser Antwort zufrieden, zumal Kiki selbst nicht wusste, was heute Abend auf sie wartete. Gerade als Mirja den Raum verließ, fiel ihr ein, dass sie ihre Schwester noch etwas fragen wollte. „Miri, du hast doch noch ein Fledermauskostüm nicht wahr?“ – „Ja, das habe ich“, nickte ihre Schwester und fragte, „Wozu brauchst du das?“ „Ich bin auf einer Halloween eingeladen“, erwiderte Kiki. „Klar, kannst du es haben“, nickte ihre Schwester. „Yeah, das ist so cool“, freute sie sich und umarmte Mirja kurz.

 

Kurz vor acht am nächsten Tag verließ Kiki verkleidet und geschminkt das Haus und radelte die düstere Straße entlang. Es war ungemütlich zu dieser Tageszeit draußen zu sein. Zwar hatte sie einen dicken schwarzen Mantel, eine graue Wollstrumpfhose und lange Baumwollstulpen an, die im Moment auch nicht viel brachten. Der kräftigte Wind rüttelte an den Zweigen der kahlen Bäume und trieb ihr unzählige Regentropfen ins Gesicht. Ihr wurde kalt und immer mehr Gefühl wurde ihr aus ihren klammen Händen gesogen. Schnell sehnte sie sich nach dem Warmen und Trockenen. Nach wenigen Minuten, die ihr diesmal wie Stunden vorkamen, erreichte sie den Schrebergarten. Mit ihrer ausgekühlten Hand drückte sie die Klinke vom Gartentor herunter und fuhr erschrocken zusammen.

 

Über ihr bimmelte ein kleines Glockenspiel, welches einer ihrer Freundinnen angebracht haben musste. Die Fenster des Wohnwagens erstrahlten in einem angenehmen Licht bildeten einen starken Kontrast zur Dunkelheit. Es geradezu einladend und gemütlich aus. Die Wohnwagentür flog auf und ein blonder Lockenkopf im Piratenkostüm lief ihr entgegen. Kiki konnte im Halbdunkeln nicht erkennen, welcher von den Zwillingen es war. „Unser Ehrengast ist da!“, vernahm sie Mathildas laute Stimme. Ihre Freundin rannte auf sie zu und warf sich in ihre Arme. Sofort spürte sie ihre Wärme. „Es ist ziemlich ungemütlich!“, stellte Mathilda fest. Der Wind rauschte durch die Bäume des angrenzenden Waldes. „Lass uns rein, mir ist kalt!“, klapperte Kiki mit den Zähnen. „Na, dann komm mit!“, Mathilda hakte Kiki bei sich unter und zog sie in Richtung Wohnwagen.

 

Drinnen sah es wie in einem Gruselfilm aus. Kikis Freundinnen hatten sich mit dem Dekorieren viel Mühe gegeben. Überall lagen abgetrennte mit Kunstblut verzierte Körperteile aus Plastik herum. An den Wänden hingen Gruselfotos und Kerzenleuchter. Ein Spinnennetz und eine Girlande mit vielen kleinen Skeletten waren an der Decke befestigt. Über dem Sofa baumelte ein Gespenst von oben herab. Auf dem Teppich lag eine Plüschratte. Ein Kürbis stand auf dem Tisch und auf dem Tischchen neben der Couch befand sich ein Goldfischglas mit rotgefärbten Wasser, in dem täuschen echt aussehende Augen schwammen. Stolz zeigte Vivien ihr die kleine Pendeluhr, die sie heimlich aus dem Kellerzimmer mitgenommen hatte. „Ihr seid so toll“, lobte Kiki ihre Freundinnen. Die übrigen Roten Siebenerinnen empfingen sie mit einem großen Hallo. Auch sie hatten sich verkleidet.

 

Vivien steckte in einem Spinnenkostüm und Fianna in einem Rabenkostüm, welches mit roten Flecken betupft war. Mathilda ging als Horrorpirat, ihre Schwester als Vampirmädchen und Emily als Gruselclown. Am niedlichsten sah Aylin aus, die sich ein Teufelchen verwandelt hatte. „Diesmal haben sich Mathilda, Vivien und Fianna sich mit dem Schmücken Mühe gegeben“, verriet ihr Aylin grinsend. Fast alle Roten Siebenerinnen waren anwesend, doch von Lotta fehlte immer noch jede Spur. Betroffen ließ Kiki die Schultern hängen. „Hey, sei doch nicht so enttäuscht, dass du von hier wegziehst“, tröstend nahm Vivien sie in den Arm. „Das ist es nicht“, sagte Kiki mit zugeschnürter Kehle. „Was denn dann?“, nun richteten sich Mathildas neugierigen Augen auf sie. „Lotta ist nicht gekommen“, murmelte Kiki traurig und enttäuscht. In einem kurzen Augenblick musste sie sich sogar zusammenreißen, dass ihr keine Tränen in die Augen stiegen. „Ärgere dich nicht über Lotta. Es ist ihre eigene Schuld, wenn sie sich diese Party entgehen lässt“, meinte Fianna. „Soll ich dir zeigen, was es zu essen gibt“, versuchte Mathilda ihre beste Freundin auf fröhlichere Gedanken zu bringen.

 

Auf dem Couchtisch war ein kleines Büfett mit gruseligen Köstlichkeiten angerichtet. Unter den kulinarischen Highlights waren Gespensternudeln mit einer Tomatensoße, schwarz gefärbte Pommes, Spinnenmuffins, ein Gruselsalat, Mumien aus Bockwürstchen in Blätterteig und ein schaurig aussehender Vanillegrießpudding mit Gummiaugen. Den Vogel schossen allerdings Vivien und Aylin ab. Vivien hatte Frikadellen gemacht und sie so verziert, dass sie wie Spinnen aussahen. Aylin tat sich währenddessen hervor, in dem sie eine Wassermelone so mit einem Messer bearbeitet hatte, dass sie aussah wie ein Gehirn. „Die Himbeerbowle könnt ihr auch trinken. Die Bowle ist alkoholfrei und die Augen sind aus Weingummi“, deutete Emily auf das Goldfischglas mit der roten Flüssigkeit.

 

„Dass ihr euch so viel Mühe gemacht habt“, war Kiki begeistert und bei diesem Anblick lief ihr das Wasser im Mund zusammen, zumal sie zuhause kein Abendbrot gegessen hatte. „Hiermit erkläre ich das Büfett für eröffnet“, verkündete sie und lud sich als Erste ihren Teller proppenvoll. Emily ließ im Hintergrund Halloweenmusik laufen, während gegessen wurde. Kiki probierte von allem und musste feststellen, dass ihr wieder leicht übel war, wie damals an Lottas Geburtstag. Die Zwillinge und Fianna sorgten für gute Stimmung, indem sie neue Witze brachten und fröhlich herumalberten. „Na, bist du schon mit Tom zusammen?“, raunte ihr Fianna ins Ohr. „Nein, noch nicht“, schüttelte Kiki den Kopf, obwohl es nicht stimmte. Noch sollte es ein Geheimnis sein, dass sie mit ihm seit Kurzem zusammen war.

 

„Gib es zu, er mag dich“, fuhr Fianna in dem Flüsterton und formte mit ihrer Hand eine Kralle, sie bedrohlich in die Nähe von Kikis Gesicht brachte. „Hey, lass das!“, rief Kiki lachend und wehrte Fiannas Hand ab. Im Nu war zwischen ihnen eine freundschaftliche Kabbelei zwischen ihnen im Gange. „Hey, genug ihr Beiden“, ging Emily dazwischen, „Ihr hättet um ein Haar meine Tassen vom Wandregal geholt und die Scherben hättet ihr entsorgen können“ Als sich die Mädchen wieder beruhigt hatten, kam Kiki auf das Windspiel von draußen zu sprechen. „Das soll eine Alarmanlage sein, falls ungebetene Gäste kommen“, klärte Aylin sie auf, die diese Idee gehabt hatte. „Nicht dass wir wieder mal die Piranhas anlocken“, meldete sich Annemieke zu Wort. „Ach was!“, schüttelte Emily den Kopf.

 

Kaum wurde über das Windspiel gesprochen, hörten sie ein leises Bimmeln. „Die Piranhas!“, zischten einige Mädchen aufgeregt. Kiki sah es dem Fenster. Wieder wurde an dem Gartentor gerüttelt. „Matti, gib mir mal deine Taschenlampe“, raunte sie. Im Lichtkegel der Taschenlampe erkannte sie eine Person in einem dunklen Anorak, mit einem spitzen Hut und wehenden langen Haaren. „Das kann nur Lotta sein“, wisperte Mathilda neben ihr. Kiki schlüpfte in ihre Schuhe und rannte durch den Garten. „Lotta!“, schrie sie in die Nacht hinein und rannte auf ihre Freundin zu, sodass sie sich in der Mitte trafen und sich stürmisch um den Hals fielen. „Hallo, ich wollte dir zum Abschied doch noch einen Besuch abstatten“, lächelte Lotta. , Kiki sah im matten Licht, dass sie schmunzelte. „Komm rein, es ist kalt“, bibberte Kiki in ihrem dünnen Sweatshirt und griff nach Lottas eisiger Hand. „Lotta!“, riefen die Mädchen fröhlich und erdrückten sie fast. „Lotta ist wieder da, Lotta ist wieder da!“, sang Mathilda.

 

Sie nahm Lottas Hände und hüpfte mit ihr durch den Raum. „Hier ist es schön warm und gemütlich, allmählich taue ich auf“, sagte Lotta lächelnd und warf einen Blick auf das Büffet. „Bedien dich ruhig!“, sagte Emily. „Oh danke, ich könnte gerade ein ganzes Pferd verschlingen“, seufzte Lotta dankbar und setzte sich an den Tisch. „Willst du doch wieder eine Rote Sieben sein?“, fragte Kiki sie. „Warum nicht? Schließlich war ich in den letzten Tagen ziemlich alleine gewesen“, erwiderte Lotta und fuhr sich mit der Hand durch ihre langen blonden Haare. Als sie ihren Mantel auszog, bekamen die Mädchen ihr schickes Hexenkostüm zu sehen, zu dem sie eine geringelte Strumpfhose trug. „Ich hatte leider keine Zeit mehr etwas zu kochen“, entschuldigte sich Lotta und zog zwei Tüten mit Chips und Flips, sowie eine Box mit Weingummi, eine Tafel Schokolade und große Flasche Cola aus ihrem Rucksack. „Knabberkram und etwas zum Naschen ist immer genial“, zwinkerte Kiki ihr zu.

 

Nach und nach bekam Kiki von ihren Freundinnen kleine Abschiedsgeschenke überreicht, die sie unausgepackt in ihrem Rücksack verstaute. „Wieso packst du nicht aus?“, fragte Vivien verwundert. „Damit ich mir sie für Mainz aufsparen kann. Schließlich muss es dort etwas für mich geben, worauf ich mich freue und das wären eure Geschenke“, erklärte sie ihrer Bande. „Bitte, du musst mein Geschenk aufmachen, es ist etwas Besonderes!“, bettelte Aylin. „Von mir aus“, murmelte Kiki und wickelte das Geschenkpapier ab. Zum Vorschein kam eine CD-Hülle mit „Hits der Roten Siebenerinnen und Kiki“. „Ich habe acht Lieder aufgenommen, jedem Bandenlied ist ein Lied gewidmet“, erzählte Aylin, „Drei Lieder hat Emily für uns komponiert und die anderen fünf Lieder sind welche, die du sehr gerne hörst. Die Zwillinge, Vivien, Fianna und Sven haben mich auf ihren Instrumenten begleitetet“ „Du bist ein Genie!“, jubelte Kiki und umarmte Aylin fest. „Hey, warum lobst du nur Aylin? Wir haben genauso an der CD mitgewirkt wie sie“, maulten Fianna und Mathilda. Kiki stand auf und umarmte alle Freundinnen.

 

Lotta schob die CD in den CD-Player. Gleich bei dem ersten Lied kam gute Stimmung auf. Die Mädchen tanzten wild und ausgelassen umher. „Aylin, deine Stimme ist der Hammer!“, jubelte Annemieke. Lotta und Fianna ergriffen Kikis Hände. Zu dritt drehten sie sich im Tempo der Musik im Kreis. „Hey, nicht so wild!“, kicherte sie leise. Zu spät! Kiki streife mit ihrem Kopf eine von Emilys Tassen. Mit einem Klirren ging sie zu Bruch. „Scherben bringen Glück“, bemerkte Annemieke trocken, während Kiki die Scherben zusammenkehrte und entsorgte. „Ist zwar ne schöne Tasse gewesen, aber es ist kein Weltuntergang“, meinte Emily. „Oh verdammt, ich muss um zehn Uhr zuhause sein!“, fiel Aylin ein und zog sich ihren dicken Mantel an. „So früh?“, Lotta sah Aylin ungläubig an. „Mein Vater macht sonst wieder Terz, wenn ich wieder zu spät komme“, rechtfertigte sie sich. Kiki entließ Aylin in die Dunkelheit. „Jedes Mal, wenn ich diese Bimmeln höre, gruselt es mir“, raunte Vivien Fianna zu. „Oh ja, für mich fühlt es sich so an, als ob bei jedem Bimmeln ein Geist uns besuchen möchte“, bestätigte ihre Freundin. „Ach was! Glaubt ihr noch an den Kinderkram!“, warf Lotta ihnen an den Kopf. „Das ist kurz vor Halloween nicht so unwahrscheinlich“, entgegnete ihr Annemieke. „Was haltet ihr davon, wenn wir uns Geistergeschichten erzählen?“, schlug Mathilda vor. „Auf alle Fälle!“, nickte Kiki, „Eine Halloweenparty ohne Geschichten zum Gruseln ist keine Halloweenparty“ „Das sehe ich genauso“, bekräftigte Vivien.

 

Überall im Wohnwagen wurde das Licht ausgemacht, sodass nur noch wenige Kerzen brannten. Die Mädchen kuschelten sich mit Decken auf den Fußboden. Mathilda war zuerst an der Reihe, sie hatte eine blühende Fantasie und konnte die schaurigen Ereignisse sehr plastisch schildern, sodass ihre Freundinnen Gänsehaut bekamen. Fianna konnte Mathilda noch toppen und bot eine schauspielerische Darbietung. Sie spielte ein Gespenst, welches in einem Verlies gefangen war. Kiki lief ein Schauer über den Rücken und konnte das herzzerreißende Geheul nicht länger ertragen. „Hier, mein liebes Gespenst, jetzt entlasse ich dich in die Freiheit“, rief sie laut und öffnete die Wohnwagentür. Ein kalter Windstoß drang in den Wohnwagen und fegte Fianna das Laken vom Kopf. Die Mädchen kullerten vor Lachen auf dem Boden herum. „Ich werde nach Hause gehen, Matti und ich haben morgen Vormittag ein Hockeyspiel und bis dahin möchte ich ausgeschlafen sein“, beschloss Annemieke um Viertel nach zehn zu gehen. „Ich bleibe noch hier. Falls du schon ins Bett gehen möchtest, kannst du es tun, Schwesterherz!“, meinte Mathilda und unterdrückte im nächsten Moment ein Gähnen. Fianna und Vivien schlossen sich Annemieke an.

 

Somit blieben nur noch Lotta, Emily, Mathilda und Kiki übrig. „Zu viert Gruselgeschichten erzählen ist auch langweilig“, fand Lotta, „Ich könnte euch Fotos und Videos von meinem Handy aus zeigen“ „Okay“, gähnte Kiki und setzte sich neben sie auf die lederne Couch. Es wurde immer später, irgendwann gingen auch Lotta und Emily. Mathilda und Kiki blieben alleine zurück. „Ich habe Idee“, unterbrach Mathildas Stimme die Stille, „Lass uns an den Ort zurückgehen, an dem unsere Freundschaft begann“ „Meinst du, als wir in der vierten Klasse die Anfangsbuchstaben in eine Birke geschnitzt haben?“, fragte Kiki. „Genau da“, nickte Mathilda, „Dieser Ort ist gar nicht weit von hier entfernt“ Die Freundinnen schwangen sich auf ihre Fahrräder. In der Dunkelheit und bei dem heftigen Wind machte Kiki der Wind sogar ein bisschen Angst. Jedes mal ein Windstoß an den Ästen rüttelte, knackte es bedrohlich.

 

„Hier ist unser Baum!“, rief Mathilda und wies Kiki mit ihrer Taschenlampe den Weg. Kiki stellte ihr Fahrrad ab und ging um den dicken Baumstamm herum. Der Kegel der Taschenlampe fiel auf ein eingeritztes K und ein M. Alte Erinnerungen stiegen in Kiki hoch. In der vierten Klasse kamen Mathilda und Annemieke in ihre Klasse. Zuerst konnte sie die beiden Mädchen nicht leiden, da sie ihr ihre damalige beste Freundin Isabelle streitig machten. Doch nach ein paar Wochen merkte sie schnell, dass die Zwillinge zwei liebenswerte und lustige Mädchen waren. Als sie auf das Gymnasium wechselte waren sie als beste Freundinnen kaum noch wegzudenken. Doch in letzter Zeit wurde Mathilda immer mehr zu ihrer besten Freundin, da Annemieke seit drei Jahren Emily hatte. „Weißt du noch, als wir uns das erste Mal verabredeten?“, flüsterte Mathilda. „Wir sind zum Spielen in den Wald gegangen. Micky war nicht dabei, weil sie krank war. Um unsere Freundschaft für immer zu besiegeln, haben wir die Anfangsbuchstaben in den Baum geritzt“, erinnerte sich Kiki.

 

Erinnerungen konnten traurig machen, auch wenn es Schöne waren. Kikis Augen begannen sich mit Tränen zu füllen. Zum Glück konnte Mathilda in der Dunkelheit nicht sehen, dass kurz davor war zu weinen. In ihrem Inneren sah sie zwei zehnjährige Mädchen, die sich nachmittags hier trafen und um den Baum tanzten. „Eine bessere Freundin als Matti gibt es nicht“, war Kiki felsenfest überzeugt, „Auch wenn wir mal Streit hatten und Tage lang kein Wort miteinander geredet haben. Doch wir haben uns nach jedem Streit versöhnt und waren noch besser befreundet als davor“ Der Gedanke, dass sie in Mainz nicht mehr jeden Tag sehen konnte, brachte das Fass zum Überlaufen. Stumme Tränen liefen ihr über die Wangen. Der grelle Lichtkegel von Mathildas Taschenlampe traf sie unmittelbar im Gesicht.

 

„Warum weinst du?“, fragte Mathilda besorgt und nahm sie in den Arm. „Es sind all diese Erinnerungen und dieser Gedanke, dass ich Diensttag fortziehe“, schluchzte Kiki in Mathildas Schal. „Wenn ich dich so weinen sehe, fange ich gleich auch an zu flennen“, sagte ihre Freundin. Kiki gab sich innerlich einen Ruck und stoppte die Tränen auf der Stelle. „Wollen wir nach Hause fahren?“, fragte sie mit belegter Stimme. „Ich hätte nichts dagegen, schließlich bin ich schon halb erfroren und es ist schon sehr spät. Hoffentlich bringen meine Eltern mich nicht um, dass ich so lange weg war und dann noch um diese Uhrzeit“, nickte Mathilda gähnend. Einen Großteil des Rückweges fuhren die Freundinnen zusammen. „Wenn du magst, kann ich dich auch ganz nach Hause bringen“, bot Mathilda ihr an. „Nein, das brauchst du nicht“, schüttelte Kiki den Kopf.

 

 

Ein schrecklicher Unfall

Schweigend fuhren die Freundinnen hintereinander her. Alle fünfzig Meter spendete eine Straßenlaterne ein wenig Licht. Es hatte zwar aufgehört zu regnen, aber die feuchte Kälte zog den Mädchen tief in ihre Glieder. Obwohl sich Kiki vorhin im Wohnwagen schläfrig gefühlt hatte, war die Müdigkeit durch die frische Luft wie weggeblasen. An einer Vorfahrtsstraße schoss ein kleiner dunkelblauer Mercedes aus einer kleineren Seitenstraße. Der Fahrer des luxuriösen Wagens machte keine Anstalten zu bremsen oder auf die Straße zu gucken. Kiki konnte ihn noch auf sich zurasen sehen. „Vorsichtig, bleib stehen!“, hörte sie Mathilda panisch hinter sich brüllen. Zu spät!

 

Das Auto erwischte das Vorderrad von Kikis Fahrrad und um nächsten Moment flog sie im hohen Bogen durch die Luft. Ein starker Schmerz durchfuhr ihren gesamten Körper, als sie auf den nassen und feuchten Asphalt knallte. „Kiki!“, schrie Mathilda außer sich und sprang von ihrem Rad. Im nächsten Moment verschwamm die Umgebung vor Kikis Augen und Sternchen begannen zu tanzen. Zwanghaft versuchte sie ihren rechten Arm zu heben oder einen Fuß zu bewegen, doch ihre Muskeln versagten ihren Dienst. Es kam ihr vor als ob würde sie in einen heftigen Strudel hineingerissen werden, aus dem sie niemals alleine mehr herauskommen kann. „Hilfe, wo bin ich? Wo bin ich? Wo bin?“, echote es in ihrem Kopf. Niemand konnte ihr eine Antwort geben, außer das Echo, welches sich dauerhaft wiederholte. Nach einigen Sekunden wurde es leiser, bis es verstummte. Einen Moment später war alles schwarz, pechschwarz! Sie merkte nicht mehr, dass Mathilda neben ihr kniete und leise schluchzte.

 

Ein VW Passat hielt hinter dem Mercedes an, aus dem eine junge Studentin stieg. „Das sieht sehr übel aus!“, sagte sie zu dem Mädchen mit den hellen halblangen Locken, welches neben seiner verletzten Freundin kniete. Es war nicht zu übersehen, dass die Situation sehr ernst war. Sofort zückte sie ihr Handy und rief den Notarzt und die Polizei. Der Fahrer des Mercedes stieg mit totembleichen Gesicht aus. Torkelnd bewegte er sich auf sie zu. „Ich hätte nicht so viel trinken sollen, Thomas“, lallte er und geriet ins Straucheln. „Setzen Sie sich hin, bevor Sie fallen“, befahl die Frau und kümmerte sich um Kiki. Sie blutete aus Wunden an den Händen, am rechten Bein und am Kopf. „Wo seid ihr um Mitternacht noch unterwegs gewesen?“, fragte sie die Freundin der Verletzten. „Ich wollte meine Freundin einfach nur nach Hause bringen“, antwortete das Mädchen weinend. „Ich habe Idee, bevor deine Freundin sich verkühlt. Ich hole meine Jacke aus dem Auto und wir legen deine Freundin auf die Jacke“, äußerte sie ihren Einfall.

 

Kiki rührte sich immer noch nicht, als sie auf die dicke Daunenjacke der Frau gelegt wurde. Die junge Frau drückte Mathilda ein Taschentuch in die Hand. Anstatt ihren pausenlos herunter laufenden Tränen zu trocknen, tupfte sie vorsichtig die stark blutende Wunde an Kikis Stirn ab. Sofort war das Taschentuch mit Blut voll gesogen. „Es will nicht aufhören zu bluten“, sagte Mathilda mit dünner zittriger Stimme. Die Studentin rannte wieder zu ihrem Auto und kam mit einem Erste-Hilfe-Koffer wieder. Zu zweit legten sie einen Druckverband an. „Aber wir hätten die Wunde vorher desinfizieren müssen“, fiel es Mathilda geschockt ein. „Das machen gleich die Sanitäter. Es geht nur darum, dass deine Freundin nicht zu viel Blut verliert“, beruhigte die junge Dame sie. Nach endlosem Warten tauchte eine Autokolonne mit Blaulicht und eingeschalteten Sirenen auf. Voran fuhr der Krankenwagen, dann folgte der Notarzt und das Schlusslicht bildete ein Polizeiwagen. Der betrunkene Fahrer, der den Unfall verursachte, saß immer noch auf dem Boden und übergab sich im nächsten Moment geräuschvoll. Angewidert traten Mathilda und die Studentin einen Schritt zur Seite. Die Heckklappe wurde geöffnet und zwei Sanitäter liefen zur Unfallstelle.

 

Im nächsten Moment wurde Kiki auf eine Trage gelegt. Eine Sanitäterin prüfte ihren Puls und ihren Atem. Anschließend bekam sie eine Sauerstoffmaske aufgesetzt und ihre Wunden wurden richtig versorgt. Stattdessen befragten die beiden Polizisten die beiden Zeuginnen. „Wie ist ihr Namen?“, wandte sich der große kräftige Polizist an die junge Frau. „Jana Heidrich“, gab sie zu Protokoll- „Wohnen Sie in Freudenburg oder sind Sie nur auf Durchfahrt?“ „Ich wohne hier, da ich hier seit zwei Monaten studiere“, erwiderte sie. „Was können Sie zum Unfallhergang sagen?“, fuhr der Polizist fort. „Ich hatte den Wagen schon länger vor mir und mir war seine unsichere Fahrweise ziemlich suspekt. Hier an der Kreuzung übersah er offenbar das Stoppschild und im nächsten Moment hörte ich es krachen. Dann folgte ein spitzer Schrei, der entweder von der Verletzten oder dessen Freundin kam. Ganz genau kann ich es nicht sagen. Ich bin aus dem Auto ausgestiegen. Das Bild, welches mir bot, war schrecklich. Ein Mädchen mit langen schwarzen Haaren lag bewusstlos und heftig blutend auf dem nassen Asphalt“, berichtete die Studentin.

 

Der Polizist notierte sich den Sachverhalt genau, während sein jüngerer Kollege sich Mathilda vornahm. „Wie ist dein Name?“, wollte er wissen. „Mathilda ter Steegen“, antworte sie mit zugeschnürter Kehle. „Und wie ist der Name deiner Freundin?“, kurz schaute er von seinem Notizblock auf und musterte das blasse Gesicht des Mädchens. Zwar hatte es aufgehört zu weinen, aber trotzdem wirkte es immer noch verstört. „Kristina Morawski“, erwiderte Mathilda knapp. „Was kannst du zum Unfallhergang sagen?“, fragte der junge Polizist. „Ich war mit meiner Freundin auf dem Heimweg und plötzlich fuhr ein Auto mit überhöhter Geschwindigkeit aus dieser Seitenstraße und bremste nicht. Für Kristina war es bereits zu spät, da sie einige Meter vor mir fuhr und nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte, obwohl ich sie gewarnt habe“, brach es Mathilda heraus, die erleichtert war, dass ihre beste Freundin professionell versorgt wurde. Der Krankenwagen fuhr los. Die Beamten, der Unfallverursacher und die beiden Zeuginnen blieben alleine zurück. „Soll ich dich nach Hause fahren?“, bot Jana Heidrich Mathilda an. „Nein, das ich nicht nötig. Außerdem bin ich mit dem Fahrrad unterwegs“, lehnte diese ab.

 

Der ältere Polizist führte einen Alkoholtest mit dem Unfallverursacher durch. „2,6 Promille, das ist wirklich nicht wenig!“, entfuhr es ihm. „Ihr Name bitte!“, übernahm sein jüngerer Kollege. „Thomas Frank!“, nuschelte er undeutlich. „Wie bitte?“, wiederholte der Polizist. „Thomas Walter“, rief der junge Mann so laut, dass alle Beteiligten zusammen zuckten. „Dann steigen Sie bitte in unseren Wagen“, forderte der ältere Beamte ihn auf. Während der Polizeiwagen und die Zeuginnen den Unfallort verließen, kam Kiki im Krankenwagen erstmals wieder zu Bewusstsein. In ihrem Kopf hämmerte es, sie konnte das helle Licht nicht ertragen und kniff ihre Augen zu. Drei fremde Gesichter beugten sich über sie. Die Schmerzen waren höllisch. Am liebsten hätte sie geweint oder laut geschrieen, doch dazu fehlte ihr die Kraft. Stattdessen stöhnte sie kurz auf.

 

„Gleich wird alles wieder gut“, tröstete eine Sanitäterin und legte ihr die Hand auf ihre schmerzende Schulter. Die Schmerzen steigerten sie ins Unermessliche. „Verabreiche dem Mädchen ein Schmerzmittel“, nahm Kiki die Stimme eines männlichen Sanitäters gedämpft wahr und spürte im nächsten Moment, wie eine Spritze ihr in den Unterarm piekte. Wieder tanzten Sterne vor ihren Augen und langsam duselte sie wieder weg. Der Strudel der Bewusstlosigkeit hatte sie voll im Griff und zog sie unaufhaltsam in eine unbekannte Finsternis. All die Farbe war aus Kikis Gesicht gewichen und das Mädchen atmete schwer und mühsam. Besorgt richteten sich die Augenpaare der drei Sanitäter auf sie. „Zum Glück sind wir in einer Minute beim Krankenhaus“, sagte ein junger Mann zu seinen Kollegen. Der Krankenwagen steuerte auf das offene Tor der Krankenhauseinfahrt zu und bremste seicht ab.

 

Am nächsten Morgen wachte Kiki mit heftigen Kopfschmerzen in einem weißen Bett auf. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie gelandet war. Als eine Krankenschwester herein kam, wurde ihr klar, dass sie im Krankenhaus lag. Ihr linker Arm lag in Gips und eine Bandage schlang sich um ihr rechtes Knie. Vorsichtig betastete sie ihren Kopf, der in einen weißen Verband eingewickelt war. Kiki ließ sich wieder zurück in ihr Kissen fallen und schlief wieder ein. Eine Stunde später vernahm sie die Stimmen von ihrer Mutter und Mirja. „Geht es dir gut, mein Engel“, streichelte sie ihrer Tochter über den heilen Arm. „So einigermaßen“, nickte Kiki und richtete sich auf. „Was machst auf nur für Sachen?“, ihre Mutter schaute sie ernst an, „Ich bin tausend Tode gestorben, als die Polizei kurz vor Mitternacht bei uns anrief und mir mitteilte, dass meine Tochter bei einem Unfall schwer verletzt worden ist. Der Arzt lief mir gerade eben über den Weg und teilte mir mit, dass du dir zwei Rippen und den linken Arm gebrochen hast und dir eine schwere Gehirnerschütterung zugezogen hast. Außerdem ist dein rechtes Knie beim Sturz verdreht worden. In ein paar Tagen kannst du voraussichtlich entlassen werden“ Kiki gähnte wieder. Ihr war gerade nicht nach einer langen Unterhaltung zumute.

 

Nach einer halben Stunde gingen ihre Mutter und Mirja wieder. Am Vormittag bekam sie noch mehr Besuch. Erst kamen der Unfallverursacher und eine Studentin namens Jana Heidrich. „Ich wollte mich bei dir entschuldigen“, begann der junge Mann stockend, „Es tut mir so leid, was gestern passiert ist. Ich kam gestern Abend betrunken von einer Party und habe gedacht, dass ich noch Auto fahren könnte. Das war ein großer Fehler. Die Nacht habe ich in einer Ausnüchterungszelle verbracht und mein Führerschein ist weg, aber zurrecht“ Er überreichte ihr eine Schachtel Cognacpralinen, auf der ein 50€-Schein klebte und verließ das Zimmer. Zwar mochte Kiki keine Pralinen mit Alkohol, aber mit dem Geld konnte sie auf jeden Fall etwas anfangen. Jana Heidrich stellte den mitgebrachten Blumenstrauß in einen Zahnputzbecher und erzählte, dass sie beim Unfall dabei gewesen war und ihr geholfen hatte.

 

Doch Kiki konnte sich an nichts mehr erinnern. „Es ist nicht ganz unnormal, dass man sich nach einem Unfall erinnern kann“, meinte Jana Heidrich, „Das ging mir nach einem ähnlichen Unfall genauso“ Kurz darauf verabschiedete sich die Studentin wieder. Kurz vor dem Mittagessen kamen Emily, Lotta, Vivien und Aylin für wenige Minuten vorbei. „Ich habe gestern vergessen dir mein Geschenk zu geben“, sagte Lotta und überreichte Kiki eine kleine Schachtel. Behutsam nahm sie den Deckel ab und zog ein silbernes Kettchen mit einem Feenanhänger heraus. „Wow, ist die schön!“, hauchte Kiki. „Freut mich, dass es dir gefällt“, schmunzelte Lotta. Kaum als die Mädchen in ein Gespräch verwickelt waren, war die Besuchszeit auch schon vorbei und Kiki bekam einen Teller Tomatensuppe zum Mittagessen auf ihren Nachttisch gestellt. Nach dem Essen warf sie einen Blick in das Buch, welches Mirja ihr vorhin mitgebracht hatte. Wieder klopfte es an der Tür. Zwei Zwillingspärchen standen im Türrahmen. Einmal Annemieke und Mathilda und dann noch Fianna und Tom.

 

„War der Mann, der dich umgefahren hat, auch schon hier?“, erkundigte sich Mathilda und musterte mit großem Interesse die Geschenke auf dem Nachttisch. „Er war gleich nach meiner Mutter und meiner Schwester da“, nickte Kiki. Nun kam Annemieke zu ihr und umarmte sie vorsichtig. „Ich hoffe, dir geht es wieder besser“, sagte sie, „Ich war gestern total geschockt, als mir Matti von dem schrecklichen Unfall erzählt hat. Ich lag zwei Stunden weinend in meinem Bett und konnte nicht einschlafen“ „So langsam geht es mir wieder besser“, bestätige Kiki. „Du siehst auch mit einem Verband um den Kopf und einem Gips immer noch umwerfend aus“, sagte Tom lächelnd und gab ihr einen sanften Kuss auf ihre trockenen Lippen. Kiki strahlte über ihr ganzes Gesicht. Fianna überreichte ihr eine große Box Weingummi. „Damit du im Krankenhaus nicht verhungerst“, grinste sie. Mathilda und Annemieke fingen an sich gegenseitig aufzuziehen. „Hey, lasst das! Jedes Lachen und Kichern verursacht bei mir Höllenschmerzen“, rief Kiki, die ihr Lachen zwanghaft unterdrücken musste. „Hast du dir eine Rippe gebrochen?“, fragte Annemieke. „Sogar zwei!“, nickte Kiki. „Oh je, du Arme! Ich weiß aus eigener Erfahrung, wie schmerzhaft das ist“, bedauerte Annemieke ihre Freundin. „Wie lange musst du im Krankenhaus bleiben?“, fragte Fianna vorsichtig. „Der Arzt sagte, etwa sechs bis zehn Tage“, erwiderte Kiki und hielt sich gähnend ihre Hand vor den Mund. Besuch konnte an solchen Tagen wirklich müde machen sein.

 

Extra: Tagebucheintrag von Kiki vom 03. November

Liebes Tagebuch!

 

Seit vorgestern bin ich in Mainz in unserem neuen Haus. So ganz daran gewöhnt habe ich mich immer noch nicht daran. Zwar wohnen wir jetzt in einem größeren Haus, aber ich vermisse unsere gemütliche Wohnung in Freudenburg. Heute war der erste Tag in meiner neuen Klasse des Ludwig-Arndt-Gymnasiums. Obwohl ich zuerst ein flaues Gefühl im Bauch hatte, habe ich den ersten Tag gut hinter mir gebracht. Meine neue Klassenlehrerin heißt Frau Peckhardt. Die meisten meiner neuen Klassenkameraden machen einen sehr offenen und freundlichen Eindruck auf mich. Lynn, die Klassensprecherin, zeigte mir in der Pause die Schule, die Turnhalle und den Pausenhof. Neben Lynn verstehe ich mich auch gut mit Sabrina und Carolin. Sie konnten sich kaum bremsen mir nach der Schule einen Großteil der Mainzer Innenstadt zu zeigen und gingen anschließend zu dritt bei MC Donalds essen.

 

 

Obwohl Mainz doch nicht so schlimm ist, wie ich es mir vorgestellt hatte, vermisse ich Freudenburg, meine alte Schule, den Reitstall, Tom und ganz besonders meine Bande. Leider kann ich sie erst am übernächsten Wochenende besuchen kommen. Meine Oma feiert an diesem Samstag ihren 80. Geburtstag und dann möchte Papa mich am Sonntag besuchen.

PS: Bin nach einem langen Chat mit Matti todmüde und gehe jetzt ins Bett.

 

Deine Kiki

 

Auch wenn Matti und ich nicht mehr in der gleichen Stadt wohnen, wir bleiben BESTE FREUNDINNEN!!!

Rezept: weltbester Kartoffelsalat

Zutatenliste:

  • 1Kg festkochende Kartoffeln
  • 200g Salatmayonaise
  • 100g Joghurt
  • 4 Gewürzgurken
  • 2 Eier (hartgekocht)
  • 5 EL Gurkenwasser
  • 1 Bund Petersilie
  • Salz und Pfeffer

 

So geht’s

Kartoffeln in kochenden Wasser ca. 25 Minuten kochen und parallel die beiden Eier hart kochen. Sind die Kartoffeln fertig, müsst ihr sie schälen und in Scheiben schneiden. Nun die Eierschalen bei den Eiern entfernen und in kleine Würfel schneiden. Auch die Gewürzgurken in kleine Würfel schneiden und die Petersilie zerhacken. Nun das Mayonaisedressing unterrühren und alles zusammen in eine Schüssel geben und zum Schluss mit Salz und Pfeffer würzen. Fertig ist eure Grillbeilage, die verdammt lecker zusammen mit Bockwürstchen, Steaks, Frikadellen und Bratwürstchen schmeckt!

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 18.07.2014

Alle Rechte vorbehalten

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