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Liebesgeflüster

Ungeduldig wartend tippte ich mit meinem Fuß auf den Boden. Es war bitterlich kalt und ich vergrub mein Gesicht zur Hälfte in meinem Schal. Ich mochte es nicht, wenn meine Freundinnen lange auf sich warten ließen. Heute war ich mit meiner besten Freundin Siiri, Franziska und Jasmin vor dem historischen Stadttor, einem beliebten Treffpunkt, verabredet. Heute war verkaufsoffener Sonntag, also warum sollte man die Chance ein nettes Schnäppchen zu finden sich entgehen lassen? Mein Handy vibrierte. Mal wieder eine SMS von einer meiner Freundinnen. Mit steif gefrorenen Fingern fischte ich es aus der Handtasche. „Tut mir sehr leid, Leo, ich kann heute nicht kommen. Ich muss auf meinen kleinen Cousin aufpassen“, schrieb mir Jasmin. „Super, das hätte dir früher einfallen können, dass du nicht kannst“, simste ich ihr zurück. „Hey Leo, tut mir leid, dass ich zu spät komme. Meine Eltern bestanden darauf, dass ich den Tanzauftritt meiner Schwestern anschaue“, keuchte Siiri und stieß weiße Atemwolken in die winterliche Luft. Sie umarmte mich zur Begrüßung. „Weißt du, dass Jasmin nicht kommt?“, fragte ich sie. Siiri schüttelte den Kopf, „Aber Franzi hat vorhin auch abgesagt, sie muss auf ihre kleine Schwester aufpassen“

„Irgendwie fange ich an kleine Kinder zu hassen“, knurrte ich. „Hey, sei doch nicht so fies“, knuffte mich meine Freundin in die Seite, „Du warst doch auch einmal klein und Jemand musste auch auf dich aufpassen“ Sie griff nach meiner Hand und zog mich in Richtung Einkaufsstraße. „Wenn wir nur zu zweit sind müssen wir nicht lange in irgendwelchen Geschäften auf Franzi und Jasmin warten“, munterte mich Siiri auf. Franziska und Jasmin waren unsere Modefreundinnen, sie waren immer perfekt gestylt und gingen nie ungeschminkt aus dem Haus. Da konnte es schon mehrere Stunden dauern, bis sie die Läden durchstöbert haben und fündig geworden sind. „Zum Glück müssen wir nicht dauernd Make-up und Nagellack ausprobieren, wenn wir ohne sie unterwegs sind“, sagte ich zu meiner Freundin. Stattdessen schauten wir uns lieber bei H&M, New Yorker und Madonna um. Nun bin ausnahmsweise ich fündig geworden: ein Schal, eine Jeans und eine blaue Strickmütze. Siiri entschied sich für eine lila Bench-Jacke, neue Ohrringe und neonfarben Haarspangen. Nach dem Bummel wollten wir in ein Cafe gehen. „Ich weiß, dass ein neues Cafe am Marktplatz eröffnet hat. Alix und Rosina waren schon dort gewesen, es soll angeblich richtig toll sein“, schlug Siiri vor. 

Das Cafe war ziemlich voll, zum Glück fanden in der Ecke einen freien Tisch. Noch bevor wir etwas bestellt haben, tauchten drei Jungs aus unserer Parallelklasse. Einen von ihnen kannte ich gut, es war Jan, der beliebteste Junge aus unserem Jahrgang. Er grinste keck zu Siiri hinüber, doch sie schenkte ihm keine Aufmerksamkeit. Seine Freunde Ole und Hennes neckten ihn. „Traust du dich nicht?!“, zog ihn Hennes auf. „Halt die Klappe!“, erwiderte Jan. „Ich glaube der Kellner hat uns gerade die Milchshakes gebracht“, machte Ole seine Freunde aufmerksam. Gott sei Dank, jetzt konnten uns die Jungen nicht mehr auf die Nerven gehen. Siiri zeigte mir die Speisekarte und las daraus vor, „Flammende Liebe: Warmer Schokoladenkuchen mit heißen Kirschen, Vanillesoße und Zimteis für zwei Personen für nur 8,90€“ Das hört sich doch super an“, rief ich begeistert, „Aber eigentlich müsste es für uns flammende Freundschaft heißen“ „Was kann ich für euch tun?“, fragte ein junger Kellner. „Einmal flammende Liebe und zweimal warmer Kakao, bitte“, antwortete ich. Während wir aßen, versammelten sich die Jungs um unseren Tisch.

 „Traust du dich oder nicht?!“, neckte Hennes Jan und bekam als Antwort einen Rippenstoß. „Hallo Siiri“, sagte Jan etwas kleinlaut. Siiri sah zu ihm hinauf und antwortete nicht. Noch nie habe ich den Obermacho unserer Schule so kleinlaut gesehen. Jan schaute Siiri tief in die Augen. „Was willst du?“, erwiderte Siiri barsch. „Siiri hast du einen Freund?“, fragte Ole. Siiri schüttelte den Kopf. „Spielst du mit Barbies?“, wollte Ole wissen. „Warum stellt ihr meiner Freundin solche blöden Fragen?“, mischte ich mich ein. „Dürfen wir uns nicht freundlich mit euch unterhalten?“, fragte Jan mit gespielter Empörung. „Macht die Fliege! Wir wollen nichts von euch!“, zischte Siiri. „Seid ihr mit Ronja aus eurer Klasse befreundet?“, fragte Jan. Ich schüttelte den Kopf, „Nö, niemand kann sie leiden“ „Wir haben euch beide mit ihr im Schwimmbad gesehen“, behauptete Ole. „Wenn sie mit uns im Schwimmbad war, war es nur ein Zufall, aber wir haben uns nicht mit ihr verabredet“, stellte ich klar. 

Die Jungs ließen immer noch nicht locker. „Siiri wir sehen dich manchmal mit Ronja im Bus“, bohrte Jan. „Nur weil wir den gleichen Bus nehmen müssen“, erwiderte Siiri und verdrehte genervt die Augen. Sie hatte genauso wenig Lust auf ein dämliches Gelabere der Jungs wie ich. „Jan versucht dir den Hof zu machen, flüsterte ich so leise, dass nur sie es hörte. Mittlerweile hatten wir kaum noch Lust zu essen und stocherten nur noch mit unseren Gabeln im Schokoladenkuchen. Wir gingen nachdem wir bezahlt haben. Jan fing Siiri vor der Eingangstür ab. Langsam kam mir sein Verhalten komisch vor. Er stellte sich ihr in den Weg, dass sie nicht an ihn vorbei konnte.

„Ich muss dir was gestehen“, sagte er leise, „Bitte nimm es mir nicht übel“ „Lässt du mich vorbei?“, fragte sie ungeduldig. „Ich liebe dich“, hauchte er. Siiri wollte ihn ohrfeigen, aber Jan duckte sich weg und sie traf die Wand. Hennes und Ole lachten. „Siiri, sei doch nicht so jähzornig“, sagte Jan ruhig. „Ich will nichts von dir!“, sagte sie wütend. „Oh, du weißt nicht wie sehr ich dich“, rief er und küsste sie auf die Wange. Das war zu viel. Siiri schubste ihn gegen die Tür und rannte davon. Ich habe sie noch nie so reagieren sehen. Auch die Jungs waren baff, Jan wirkte niedergeschlagen. Also kann es doch sein, dass er sie liebte

 

Eine erstklassige Außenseiterin

Die Pausenhalle war noch ziemlich leer. Heute Morgen bin ich früher zur Schule gekommen als sonst, da meine Mutter mich ausnahmsweise mit dem Auto gebracht hatte. Ich wartete alleine an einem Tisch in der großen Pausenhalle, dort wo sich immer unsere Clique trifft. Ich zog mir die Jacke aus und holte mein Matheheft aus meiner Tasche. Mist! Ich habe schon wieder meine Hausaufgaben vergessen und gleich haben wir die ersten beiden Stunden Mathe bei Frau Richter. Wenn ich wieder ohne Hausaufgaben erscheinen würde, schreibt Frau Richter einen Brief an meine Eltern und ich bekäme wieder für eine Woche Internetverbot. Schnell griff ich nach einem Bleistift und begann in mein Matheheft zu schreiben. Plötzlich legte mir jemand die Hand auf die Schulter. „Hi Leo, du scheinst wohl noch zu schlafen“, sagte Lena, die mit Maja hinter mir stand und legte ihre Hand auf meine Schulter. „Ja, ungefähr so halb. Ich muss gerade noch Mathe machen, das habe ich wieder vergessen“, murmelte ich ohne von meinem Heft aufzublicken. „Leo, Leo, Leo! Wann vergisst du nicht deine Hausaufgaben!“, rief Maja scherzhaft tadelnd.

„Wisst ihr was, gestern bei Lidl habe ich Ronja an der Kasse getroffen. Dieser dämlichen Tussi sind die Einkäufe runter gefallen und sie musste fünf Minuten auf dem Boden rumkrabbeln um sie wieder aufzusammeln“, erzählte uns Lena und wir fingen an zu kichern. „Ich kann mir es gut vorstellen, wie ungeschickt diese fette Gans ist“, brummte ich und konzentrierte mich weiter auf Mathematik. 

Auf einmal piepte mein Handy. „Hi, meine Beste! Ich komme heute eine Viertelstunde später. HDGDL Siiri“, lautete die SMS von meiner besten Freundin Siiri. Langsam füllte sich die Pausenhalle. Franziska und Jasmin kamen zu unserem Tisch und umarmten uns. „Oh verdammt, heute müssen Siiri, Mike, Pascal und ich mit dieser blöden Ronja das Geschichtsreferat vorstellen und ich habe das ganz vergessen“, sagte Jasmin außer Atem und nahm ihre Mütze ab. „Oh ihr Armen, dabei wolltet ihr Ronja gar nicht in eurer Gruppe haben“, bedauerte sie Lena. „Uns wurde Ronja zugeteilt. Ich wollte sie auf keinen Fall haben, denn sie kann sowieso nichts“, schnappte Jasmin nach Luft. „Wenigstens habt ihr Pascal dabei, er ist doch ein richtiges Geschichtsgenie, nicht wahr?“, meinte Maja aufmunternd.

Dann wechselten meine Freundinnen das Gesprächsthema. „Ist es wahr, dass Jan immer noch mit dieser hochnäsigen Sabrina zusammen ist?“, fragte Franziska. „Nein, schon lange nicht mehr“, antwortete ich, „Ich glaube er ist in Siiri verknallt, aber Genaueres weiß ich auch nicht“ Jan, der Womanizer unserer Schule, in den fast jedes zweite Mädchen aus unserem Jahrgang verknallt war. Bei mir konnte dieser Typ nicht punkten, da er mit vielen dämlichen Sprüchen um sich warf und sich wie ein Vollidiot verhielt. „Seht euch mal diese nervigen Fünftklässler an, wie die sich die ganze Zeit mit Gummibärchen bewerfen“, flüsterte mir Maja ins Ohr und verdrehte genervt die Augen, „Oh mein Gott ist das kindisch“ Ich nickte bestätigend, „Ja die kleinen Nervensägen gehen mir auch ständig auf die Nerven, besonders wenn sie mir vor die Füße laufen, sich gegenseitig schubsen und sich in der Cafeteria vordrängeln“ „Geh mir weg mit den Fünftklässlerflöhen und den Sechstklässlerzwergen!“, stöhnte Jasmin und warf einem kleinen rothaarigen Mädchen einen bösen Blick zu, weil es Jasmin gegen den Tisch drängte. 

Ronja kam in die Pausenhalle, wie immer hielten die anderen Schüler mindestens einen Meter Abstand und ein leerer Raum bildete sich um sie herum. Sie setzte sich ausgerechnet an unseren Nachbartisch. „Wow, sogar die Kleinen halten Sicherheitsabstand von ihr. Sie schnallen bereits, dass Ronja giftig und ekelig ist“, flüsterte Franziska in mein Ohr und band ihre roten Haare zu einem langen Zopf. „Das wundert mich nicht“, erwiderte ich, „Schließlich können sie auch denken und wer einigermaßen bei Verstand ist weiß, dass Ronja Tabuzone ist“ „Ach, du Scheiße! Was trägt die für eine hässliche Jacke!“, wisperte Jasmin, „rot-weiß gestreift, das geht gar nicht“ „Wahrscheinlich können sich ihre Eltern nichts Anderes leisten“, gab ich meinen Senf dazu. „Und dazu sie bedient sich fleißig bei der Altkleidersammlung, das ist ihr Lieblingshobby“, warf Maja ein. „Wenn Ronja vor einem Jungen stehen würde, in dem sie verliebt ist, würde sie rot werden wie eine Tulpe und sich in die Hose machen. Der Junge würde zu ihr sagen, dass er was Besseres zu tun hätte als sich mit einer Vogelscheuche abzugeben“, witzelte Franziska und stupste Lena an. Wir fingen an zu kichern und warfen Ronja einen fiesen Blick zu. „Siiri, muss sich aber beeilen. In fünf Minuten beginnt Mathe und Frau Richter kann sehr unangenehm werden, wenn man zu spät kommt“, sagte Lena unruhig und schaute auf ihre Armbanduhr, „Alix und Rosina fehlen auch noch“ „Sie sind sicher noch zwei oder drei Tage krank“, murmelte ich.

Endlich kam Siiri, ich sprang auf, rannte zu ihr hin und fiel ihr um den Hals. „Mensch, Siiri du hast mich aber lange hängen lassen“, begrüßte ich sie. „Sorry, ich habe den Bus verpasst und dann habe ich auch noch Ronja getroffen, die hat mich die ganze Zeit voll gequasselt. Nachdem wir ausgestiegen waren, bin ich erstmal zum Bäcker gelaufen, damit sie von mir ablässt“, sagte sie außer Atem und wickelte sich aus ihrem Schal. „Um Himmels Willen, sie will mit dir befreundet sein!“, wisperte ich und klang entsetzt. Siiri nickte, „Offensichtlich schon“ In dem Moment kam Ronja zu unserem Tisch und fragte etwas wegen dem Geschichtsreferat. Siiri reagierte am schnellsten, malte auf einen kleinen Zettel einen Totenkopf und schrieb Ronja drunter. Sie faltete den Zettel zusammen, gab ihn Ronja und sagte, „Da hast du alle Informationen, die du für das Referat brauchst“ Schnell drehte sie sich um und kicherte leise. Es klingelte, ich hakte mich bei Siiri und Maja ein und wir gingen zum Klassenraum.

 Ich saß natürlich mit Siiri an einem Tisch, wie schon seid der ersten Klasse. Ich kannte sie seit dem Kindergarten und wir gingen selbstverständlich zusammen zur Grundschule. Manchmal war ich neidisch auf ihre blauen Augen und hellblonden Haare. Ihre Mutter kam aus Finnland und ihr Vater war Österreicher, sie hatte einen großen Bruder und zwei kleine Zwillingsschwestern. Ich hätte auch gerne eine Schwester gehabt, aber leider hatte ich nur einen kleinen Bruder, der mir oft meine Süßigkeiten weg aß. „Leonie, komm bitte an die Tafel und präsentiere die Ergebnisse deiner Hausaufgaben“, rief mich Frau Richter auf. Puh, welch ein Glück, dass ich Mathe vor der Stunde erledigt habe und außerdem war Mathe einer meiner stärksten Fächer. Bei Arbeiten ließ ich Siiri und meine Freundinnen bei mir abschreiben. Genauso gut konnte ich bei Siiri Englisch oder Latein abschreiben und während Geschichtsklausuren konnte ich bei Maja spicken. Selbstbewusst fing ich an meine Ergebnisse an die Tafel zu schreiben. „Gut gemacht, Leonie! Ich sehe, du kannst es und wenn du dich mehr beteiligst und nicht so oft deine Hausaufgaben vergisst, dann klappt es mit einer Eins auf dem Zeugnis“, lobte mich Frau Richter.

Ich trottete zurück auf meinen Platz und ließ mich erleichtert auf meinen Stuhl fallen. Franziska schnippte kleine Papierkügelchen in Ronjas dunkelbraune, lockige Haare. Wahrscheinlich merkte es Ronja noch nicht einmal. Doch als sie von einer Kugel im Gesicht getroffen wird, fauchte sie Franziska und Lena an. „Ronja, du störst schon wieder den Unterricht. Wenn du kein Interesse hast, kannst du auch rausgehen“, ermahnte sie die Lehrerin streng. „Franziska und Lena werfen mich mit Papierkügelchen ab“, verteidigte sich Ronja. „Hä, wieso ich!“, empörte sich Franziska. „Ich hoffe ihr seid bald aus dem Zickenalter raus“, sagte Frau Richter genervt und machte mit dem Unterricht weiter.

 „Du blöde Petze“, zischte Franziska Ronja zu als die Mathestunde zu Ende war. Ich legte ihr meinen Arm auf die Schulter, „Ach Franzi, wenigstens hat sie den Ärger bekommen und nicht du“, beruhigte ich sie. In der Pause gingen wir meistens auf den Schulhof zu den Steinen. Dort konnte man sich auf die Steine klettern und sich hinsetzen. Hier verbrachte unsere Clique häufig die Pausen. Heute war es ziemlich kalt und ein eisiger Wind schüttelte die letzten Blätter von den Bäumen. „Bei diesem grauen Novemberwetter kann man depressiv werden“, meinte Jasmin, „Zum Glück fliege ich über Weihnachten nach Ägypten zu meinen Großeltern“ Jasmins Vater kam aus Ägypten und sie wurde von vielen wegen ihrer Schönheit beneidet. Sie hatte glatte, lange, schwarze Haare und dunkelbraune Augen und eine bronzefarbene Haut. „Wo ist eigentlich Siiri?“, fragte Lena in die Runde. „Dahinten sehe ich sie, direkt an der Eingangstür. Oh nein, was will die doofe Ronja von ihr“, sagte ich halblaut. Ronja redete pausenlos auf Siiri ein und legte ihre Hand auf Siiris Arm. Ich sprang von meinem Stein runter und rannte zu ihr hin. „Komm Siiri, ohne dich ist es langweilig“, sagte ich, griff nach ihrer Hand und zog sie von Ronja weg. Ronja wollte noch etwas sagen, aber ihr blieb das Wort im Hals stecken. Ronja blieb allein zurück und setzte sich auf eine Bank. Wir sahen nur wie sie ihren Kopf in ihr Englischbuch steckte, gleich würde wieder ein Vokabeltest geschrieben werden. „Da seid ihr ja endlich!“, rief Rosina, „Wir haben uns ernsthafte Sorgen gemacht, dass wir Siiri an Ronja verlieren“ „Nein, ihr werdet mich auf keinen Fall an Ronja verlieren“, beruhigte Siiri ihre Freundinnen und setzte sich zu uns auf die Steine. Nun konnte ich in Ruhe meinen Apfel essen, ohne von Ronja belästigt zu werden, die unbedingt mit meiner besten Freundin befreundet sein wollte.

Unsere Klassenlehrerin Frau Eversberg, die uns in Englisch unterrichtete, ließ uns zu Beginn der dritten Stunde einen Vokabeltest schreiben. „Mist, ich habe vergessen zu lernen und heute will sie sogar ganze Sätze abfragen!“, schimpfte ich leise. „Das macht nichts, wenn du bei mir abschreibst, bekommst du auch eine gute Note“, flüsterte mir Siiri ins Ohr. Unauffällig schrieb ich bei meiner besten Freundin ab, während sich Jasmin den nächsten Streich für Ronja ausdachte. Heimlich schob sie von der Seite ihr Englischbuch unter Ronjas Federmappe. Weder Frau Eversberg noch Ronja selbst bekamen etwas davon mit. Erst als unsere Englischlehrerin die Tests einsammelte, entdeckte sie das Buch. „Ronja, was hat das Englischbuch auf deinem Tisch zu suchen?“, sagte sie streng. „Ich weiß es nicht“, zuckte Ronja ahnungslos mit den Schultern. „Du musst doch etwas dazu sagen können“, entgegnete ihr Frau Eversberg und wurde langsam wütend. „Ich weiß wirklich nicht, warum das Englischbuch auf meinem Tisch liegt“, rief Ronja böse. „Ich erkenne das ganz klar als einen Täuschungsversuch an und deshalb trage ich dir eine Sechs ein“, schimpfte unsere Englischlehrerin. Frau Eversberg riss Ronja das Buch aus der Hand und schlug es auf. „Das gibt es doch nicht, wie kannst du nur Jasmin das Buch aus der Tasche nehmen“, sagte unsere Englischlehrerin böse, „Neben der Sechs im Vokabeltest, muss ich dir eine ordentliche Strafarbeit aufgeben“ Ronja seufzte bitter und legte ihren Kopf auf den Tisch. Als es zur Fünfminutenpause klingelte, verschwand sie blitzschnell. 

 „Das ist unsere Gelegenheit, sie ist weg!“, raunte Lena und schmiss Ronjas olivengrüne Strickmütze in den Mülleimer. Wenige Sekunden später flogen auch Ronjas Stifte, ihr Radiergummi und ihr Geodreieck durch die Klasse. Malte band ihren Schal zu einem Knäuel und warf ihn zu Dominik. „Es ist schon toll anzusehen, dass Ronjas Sachen fliegen können!“, grinste Maja und Siiri fing leise an zu kichern. Fredderik hatte die beste Idee von uns allen, er öffnete das Fenster und warf Ronjas rot-weiß gestreifte Jacke hinaus. Als Frau Eversberg wieder kam, saßen wir still und artig auf unseren Plätzen, als ob uns kein Wässerchen trüben könnte. „Meine Sachen sind alle weg!“, schrie Ronja plötzlich und schaute unruhig in unsere Gesichter. „Suchst du deine Stifte und dein Radiergummi?“, fragte unsere Klassenlehrerin und hob mehrere Stifte auf. „Meine Jacke, meine Mütze und mein Schal sind verschwunden“, rief Ronja den Tränen nah. Siiri stand auf und gab Ronja ihre Federmappe wieder, die vor ihr auf dem Fußboden lag. „Ich habe ihren Schal gefunden“, rief Lucia aus der letzten Reihe. „Könnt ihr mir verraten, was dieser Kinderkram soll?!“, schimpfte Frau Eversberg mit der Klasse, „Es ist nicht in Ordnung, wenn einfach so Ronjas Sachen verschwinden. Ihr wisst, dass man wegen Diebstahls Anzeige erstatten kann“ Meine Mitschüler verstummten wieder, niemand war sich der Schuld bewusst. „Es hilft nichts, wir müssen Ronjas Jacke und ihre Mütze suchen gehen“, sagte unsere Englischlehrerin genervt und teilte uns in Suchgruppen ein. „Wenigstens haben wir eine Stunde Englisch weniger!“, meinte Lionel zufrieden, als wir draußen vor der Tür suchten.  

 

 

Gruppenkür mit Ronja

Am Freitag hatten wir in den letzten beiden Stunden Sport. Keiner von uns mochte Schulsport besonders gerne, aber seitdem Herr Michelsen Sport gab, gefiel uns Sport etwas besser. Er war noch relativ jung und machte immer wieder Scherze über Ronja, wenn sie beim Langlauf als Letzte ins Ziel hechelte oder beim Fußball den Ball nicht traf. Er schimpfte auch nicht mit mir und Siiri, wenn wir wieder mal als Letzte umgezogen waren und in die Halle trotteten, wenn die Klasse schon im Halbkreis auf dem Hallenboden saß. „Mir ist irgendwie gar nicht nach Sport“, murmelte ich. „Mir auch nicht“, meinte Siiri träge. „Ich habe keine Lust heute wieder Basketball zu spielen“, sagte Alix beim Umziehen, „Ich komme da fast nie an den Ball. Ich will lieber turnen oder tanze“ Sie schlug ein Rad und landete wieder auf ihren Füßen Alix war kleiner und zierlicher als ich und war eine exzellente Eiskunstläuferin.

„Wir spielen seit zwei Monaten nur noch Basketball, bald muss mal was Neues kommen“, warf Katharina ein. Ronja saß mal wieder alleine in der Ecke und schälte sich im Schneckentempo aus ihren Klamotten. „Ich weiß ganz genau, warum es bei der so lange dauert sich auszuziehen. Wenn ich so fett wäre wie die, würde es bei mir auch so lange dauern“, flüsterte Rosina mir ins Ohr. Ich grinste und musste ein Kichern unterdrücken. Siiri, Rosina, Alix und ich trotteten im Scheckentempo in Richtung Sporthalle. 

Zum Aufwärmen spielten wir Fußball, da die Jungs laut genug gebettelt hatten.  Wie immer wurde Ronja als Letzte gewählt. Zum Glück waren Siiri und ich in einer Mannschaft und Ronja im gegnerischen Team. Markus, der Spielführer der anderen Mannschaft, parkte Ronja im Tor. „Och ne, ich hab keinen Bock auf Fußball“, maulte Rosina. „Wir auch nicht“, sagte ich. „Das haben die Jungs entschieden“, meinte Siiri, „Aber eine Partie Fußball überleben wir auch“ Dadurch dass, Ronja bei den Gegnern im Tor stand, waren wir zum Tore schießen eingeladen. Die Ballkünstler Malte, Lionel und Ali brachten uns haushoch in Führung. „Jungs sind solche Egoisten“, flüsterte mir Siiri mir ins Ohr, „Sie können auch mal zu den Mädchen passen, wenn sie freistehen“ Die einzigen Mädchen, die gut Fußball spielen konnten, waren Katharina und Saskia. „Ronja spielt schlechter als meine Oma“, schimpfte Saskia, ich nickte bemitleidend. Einmal kam Alix an den Ball, sie legte den Ball auf Siiri ab und Siiri flankte zu mir in die Mitte. Ich stand alleine vor dem Tor und hatte nur Ronja vor mir. Mist, ich traf den Ball nicht richtig. Ronja stürmte aus dem Tor heraus und sie verfehlte den Ball. Tooor! Ich habe ein Tor geschossen! Es wäre wahrscheinlicher gewesen, dass Liechtenstein Weltmeister geworden wäre, als dass ich anfange Tore zu schießen. 

Einige Minuten später beendete Herr Michelsen die Partie und wir setzten uns in einen Kreis. „Wir wollen heute in unser neues Thema einsteigen“, sagte unser Sportlehrer in die Runde, „Ihr wart alle bestimmt schon mal im Zirkus oder? Was habt ihr dort gesehen?“ Timo zeigte auf, „Als ich da war, habe ich Löwen und Tiger gesehen“ „Du hast Recht, aber mit Löwen und Tigern hier zusammen zu arbeiten, wäre zu gefährlich“, meinte Herr Michelsen, „Was stellt ihr euch vor, was wir jetzt machen?“ „Clownerie“, rief Lionel rein, schnitt eine Grimasse und erntete für seinen Kommentar einige Lacher. „Ne, das geht leider nicht in die richtige Richtung, aber Clownerie ist auch klasse“, schmunzelte unser Sportlehrer. Danach Ellen auf, „Ich war letzte Jahr im Zirkus und mich haben am meisten die Akrobaten beeindruckt“ „Du liegst richtig, Ellen“, meinte Herr Michelsen, „Ich wollte auf Akrobatik hinaus. Ellen, du kommst mit Sarah und Lucia nach vorne und zeigt euren Klassenkameraden, was eine Menschenpyramide ist“

Unsere Turnerinnen zeigten eine einwandfreie Menschenpyramide. „Das ist jetzt auch eure Aufgabe, tut euch zu viert zusammen und am Ende der Doppelstunde erwarte ich von jeder Gruppe eine kleine Kür“, erklärte Herr Michelsen. Die Gruppen fanden sich ziemlich schnell. Rosina, Franziska, Lena und Jasmin waren eine Gruppe. Ich arbeitete mit Siiri und Alix zusammen, aber uns fehlte noch eine Person. Von den Mädchen waren nur Katharina, Saskia und Ronja übrig. Katharina und Saskia gingen lieber zu Jens und Moritz. „Ronja, wie wäre es, wenn du zu diesen drei Mädchen gehst?“, schlug Herr Michelsen Ronja vor und deutete mit dem Finger auf uns. Och ne! Wir verdrehten die Augen und seufzten. Tja, man nicht immer Glück haben.

 Nun standen wir etwas ratlos auf der Matte. „Das wird bestimmt ne tolle Menschenpyramide“, sagte Alix ironisch. „Ja, sie stürzt bestimmt wie ein Kartenhaus in sich zusammen“, meinte Siiri. „Kommt Leute lasst uns einfach anfangen, sonst bringen wir gar nichts auf die Reihe“, sagte ich, um meine Gruppe voranzubringen. Wir einigten uns darauf, dass Ronja und ich den Unterbau der Pyramide bilden. Alix und Siiri sollten sich auf unsere Rücken klettern. „Bei Ronja kann man gar nicht stehen bleiben, weil sie die ganze Zeit wackelt“, beschwerte sich Alix. „Meinetwegen kann ich mich auf ihren Rücken stellen“, sagte Siiri. Alix nickte erleichtert. Am Ende der Stunde mussten wir unsere Kür präsentieren.

Unsere erste Pyramide klappte ohne Probleme, aber die Zweite ging schief. Ronja verlor das Gleichgewicht, während sie auf meinem Rücken stand und begrub mich unter ihren vielen Kilos. Oh nein, das habe ich bereits vorher geahnt, unsere Pyramide würde wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen! Alix landete auf meinen Füßen und Siiri machte Bekanntschaft mit dem harten Hallenboden. „Das nächste Mal passt du besser auf!“, raunzte Siiri Ronja an. Ronja hatte Tränen in den Augen, „Ich habe nur mein Gleichgewicht verloren, das kann ja mal passieren. Denkt ihr, mir wäre es nicht peinlich, was mir gerade passiert ist“, sagte sie weinerlich. „Kann ja mal passieren, Kann ja mal passieren“, äfften Alix und ich sie nach. Meine Schulter schmerzte immer noch. „Toll, das alles nur wegen ihr“, schimpfte Siiri. „Haltet doch euer Maul, ihr blöden Hühner“, rief Ronja wütend und rannte heulend aus der Turnhalle. „Was ist die mal wieder am rumheulen?“, sagte Mike zu Fredderik, „Dabei hat sie sich dort gar nichts getan“ „Diese fette Kuh soll sich mal fein bei den Anderen entschuldigen“, meinte Dominik. Am Ende der Stunde hatten Siiri, Alix, Ronja und ich noch ein Gespräch mit Herrn Michelsen. „Das hat Ronja nicht mit Absicht gemacht“, sagte Herr Michelsen, „Das kann immer mal wieder passieren, dass etwas schief. Aber es ist nicht in Ordnung von euch dreien sie solange fertig zu machen, bis sie weint“ Alix, Siiri und ich schauten uns ahnungslos an. „Das war nur ein Zwischenfall, sonst verstehen wir uns sehr gut mit ihr. Es tut uns schrecklich leid, wie wir Ronja behandelt haben“, glättete Siiri die Wogen, sie hatte wie immer ein magisches Rezept, wie sie andere Menschen besänftigen konnte. Wir entschuldigten uns bei Ronja und Ronja entschuldigte sich bei uns. Danach waren wir endlich entlassen.

 

Erste Liebe

Am Samstagmorgen um acht Uhr klingelte bei uns das Telefon, es war Alix. „Alix, ich habe gerade noch schön geschlafen“, gähnte ich in den Hörer. „Ich wollte wissen, ob du heute mit uns um drei Uhr in die Eishalle gehst? Siiri, Jasmin, Lena, Maja, Franziska und Rosina kommen auch mit und heute Abend gehen wir noch über den Weihnachtsmarkt“, meldete sie sich am anderen Ende der Leitung. „Kann ich machen, aber ich komme bisschen später. Mein Bruder hat noch einen Theaterauftritt mit seiner Klasse“, sagte ich müde. „Du kannst uns eine SMS, wenn du weißt, wann du kommst“, antwortete Alix und kurz darauf legten wir auf. Draußen wurde es langsam hell und es war ziemlich kalt, Raufreif glitzerte auf Autos und Gras. Ich bevorzugte lieber mein warmes Bett. „Wer ruft so früh schon an?“, fragte mein Bruder Paul. „Ne Freundin“, antwortete ich wortkarg und schlurfte zurück in mein Zimmer.

In der Eishalle war es voll, heute war die Nikolausfeier. Ununterbrochen liefen kitschige Weihnachtslieder und überall waren Weihnachtsbäume zur Dekoration aufgestellt. Viele Kinder wuselten um mich herum und flitzten über die Eisbahn. Ich kämpfte mich durch zu meinen Freundinnen. „Siiri verhält sich heute richtig komisch und das alles nur wegen diesem bekloppten Jan“, beschwerte sich Jasmin, als sie mich sah. „Hat er sie angebaggert?“, fragte ich sie geschockt. Jasmin nickte und sagte, „Erst hat sie zu ihm gesagt, dass er Land gewinnen sollte und wenig später als er sie mit einer heißen Schokolade und einer Waffel gelockt hat, ist sie ihm gefolgt und seitdem ist sie nicht mehr bei uns aufgeschlagen“ „Wahrscheinlich will dieser Idiot sie nur verführen und wenn er ne Bessere findet, serviert er sie ab“, sagte ich düster. „Aber er hat die ganze Zeit von ihr geschwärmt, falls ihr es noch nicht wusstet. Alles nur deshalb, weil sie blaue Augen hat, schlank ist und lange hellblonde Haare hat“, regte sich Franziska auf und tippte sich gegen ihre Stirn. Diesen Jan fand ich immer schon fürchterlich, aber dass er sich nun meine beste Freundin geangelt hatte, war noch schrecklicher. Er war der Obermacho schlechthin und gab mit seinen Freundinnen an. In der sechsten Klasse war es Jana, dann kam Julia, dann folgte Frauke, dann Mareike und jetzt in der achten Klasse Sabrina. Aber Sabrina war jetzt auch Geschichte, jetzt war Siiri an der Reihe und mir war es gar nicht recht, dass sie mit diesem Blödmann eine Beziehung führte.

Ich sah wie sie und der Blödmann Händchen haltend über das Eis glitten. Sie trug eine dunkelblaue Jacke, unter ihrer trendigen Wollmütze lugten ihre langen Haare hervor, die sie zu Zöpfen geflochten hatte. Ich fuhr hinter ihr her und bekam sie an der Hand zu fassen. „Hi Leo, schön dass du da bist, aber gerade amüsiere ich sehr schön mit Jan. Ich kann dich heute Abend noch anrufen, aber jetzt wollen wir lieber unter uns sein“, sagte sie und überholte mich. Bald sah ich das Paar nur noch aus der Ferne. „Du blöde Kuh, dass du es gewagt hast, mich stehen zu lassen“, zischte ich leise und fuhr zu meinen Freundinnen zurück. Ich war etwas niedergeschlagen, noch nie hat mich meine für-immer-und-ewig-beste-Freundin so behandelt. „Mach dir nichts draus“, tröstete mich Rosina, „Sie behandelt uns doch genauso“ „Lasst uns die aus der Clique rausschmeißen“, meldete sich Lena zu Wort, „Sie war in letzter Zeit öfter komisch zu mir. Sie früher immer sehr nett und einfühlsam, aber jetzt hat sie sich verändert“ „He Leute, ich finde es übertrieben sie rauszuschmeißen. Nur wegen dieser Sache. Erste Liebe ist halt erste Liebe“, widersprach ihr Franziska. „Wie wär’s wenn ich euch noch ein paar Kunststücke auf dem Eis zeige“, schlug Alix vor, „Das lenkt von unseren Problemen ab“ Wie eine Eisprinzessin drehte sie sich um ihre eigene Achse, sprang in die Luft und fuhr rückwärts. „Bravo, Alix!“, jubelten wir und klatschen begeistert. 

Nach dem Eislaufen gingen wir eine Runde über den Weihnachtsmarkt. Natürlich waren Siiri und Jan immer noch heißes Thema. „Diese doofe Gans ist einfach so gegangen ohne uns Tschüss zu sagen“, regte sich Jasmin auf, „Dabei hat sie uns fest versprochen mit uns auf den Weihnachtsmarkt zu gehen“ Wir mussten aufpassen, dass wir uns im Menschengedränge nicht aus den Augen verloren. Vorsichtshalber hakte ich mich bei Jasmin und Franziska unter.Ich bekam auf einmal eine SMS von Siiri, „Hi Leo, ich war gerade mit Jan über den Weihnachtsmarkt gelaufen und wir sitzen jetzt im Restaurant und essen Pizza. Vielleicht komme ich nachher noch mal zu euch, aber Jan versucht mich zu überreden, dass wir bei ihm zuhause eine DVD gucken. HDGDL Siiri“

Ich stellte mein Handy aus ohne Siiri zu antworten. Ich war einfach zu wütend auf sie und beschloss, sie für diesen Abend zu ignorieren. Als wir zusammen einen Punsch tranken und Apfelstrudel mit heißer Vanillesoße aßen, besserte sich die Stimmung etwas und wir kamen auf Ronja zu sprechen. „Ich kann mir Ronja nicht beim Eislaufen vorstellen. Sie semmelt bestimmt hin und durchbricht das Eis“, sagte Lena feixend und wir fingen an zu kichern. „Wenn sie beim Lotto gewinnen sollte, so sollte sie sich einen Modeberater anschaffen, damit man sie wieder anschauen kann“, heiterte Jasmin weiter die Stimmung auf. „Sie sollte erstmal 15 Kilo abnehmen, damit sie in normale Klamotten passt. An ihrer Stelle würde ich mich ganz mies fühlen, wenn ich in Mülltüten herumlaufen müsste“, lästerte Franziska. Plötzlich verstummten wir. „Was ist denn?“, fragte Maja irritiert. „Oh shit, da ist Ronja mit ihrer Schwester“, flüsterte Alix und legte ihren Zeigefinger auf den Mund, „Seid leise, sie hört uns“ Ronja und ihre große Schwester standen direkt an der Theke und guckten uns blöd an. Peinlich berührt schwiegen wir. 

Ronja rastet aus

Am Montagmorgen war ich immer noch etwas sauer auf Siiris sonderbares Verhalten, deshalb verbrachte ich viel Zeit mit Franziska und Rosina. Alix, Jasmin und Maja hingegen waren Siiri wegen ihres Liebesgeplänkels nicht nachtragend, sie scherzten und lachten lebhaft mit ihr. Anstatt einer Doppelstunde Geschichte hatten wir Kunst, unser Kunstlehrer Herr Braun sah die Notwendigkeit, dass die Kostüme und die Kulissen für unser Theaterstück fertig gestellt werden musste. Schließlich mussten wir das Stück „A Christmas Carol“ nächste Woche auf der Adventsfeier aufführen. Herr Braun teilte Jasmin, Katharina, Saskia, Malte, Dominik, Ronja und mich für die Leinwand ein.

               „Wie wäre es wenn wir den Himmel etwas dunkler machen, die Wolken grauweiß, den Schnee an manchen Stellen bläulich schimmern lassen“, schlug Ronja vor, sie war die einzige Kunstbegeisterte unter uns und konnte wirklich gut malen, das musste ich zugeben. „Ronja, das ist viel zu umständlich“, meinte Katharina, „Wir haben nur noch diese Doppelstunde Zeit, es viel wichtiger das Haus fertig zu malen“ „Bis jetzt sieht der Schnee nicht aus wie Schnee, die Wolken sind keine Wolken und der Himmel sieht auch nur dahingeschmiert aus“, sagte Ronja. „Frau Kunstprofessorin, die Kulisse wird genau nur einmal gebraucht und danach landet unsere schöne Leinwand für immer auf dem dunklen Dachboden“, sagte Dominik spöttisch. „Dominik und Kathy haben Recht“, mischte sich Saskia ein, „Das Haus haben wir nur mit Bleistift auf die Hauswand gezeichnet und es muss dringend angemalt werden“ Ronja wurde rot im Gesicht, „Es ist mir egal, ob ihr dauernd meine Vorschläge zunichte macht, ich kümmere mich erstmal um den Himmel“ „Meine Güte, du bist eine echt eingebildete Kuh, die vermeintlich Alles Besser weiß“, rief Jasmin genervt, „Wir mögen es überhaupt nicht, wenn du über unsere Köpfe hinweg entscheidest, wir arbeiten als Team und du bist die Einzige, die es noch nicht kapiert hat“ „Ich werde nicht am Schnee, an den Wolken und am Himmel arbeiten. Mir ist das Haus viel wichtiger, den Rest können wir danach noch machen“, mischte ich mich ein, „Das ist pure Zeitverschwendung“ „Ich wollte euch nur gute Vorschläge bringen“, rief Ronja wütend und empört zugleich. „Na gut, dann machst du das, was du für richtig hältst“, versuchte Katharina die Wogen zu glätten. Ronja stieg beleidigt auf die Leiter, steckte ihren Pinsel abwechselnd in den weißen und in den grauen Farbeimer und klatschte die Farbe auf die Leinwand. Jasmin und ich malten die Haustür. „Ich brauche dringend die graue Farbe“, sagte ich leise, „Jassy, hast du sie gesehen?“

„Natürlich hat Ronja, so egoistisch sie ist, drei Farbeimer genommen, darunter auch die graue Farbe“, Jasmin ging zu Ronja hin, „Ronja, wir brauchen die graue Farbe“ „Ich brauche das Grau selber der Himmel ist noch nicht einmal zur Hälfte fertig“, erwiderte Ronja mürrisch. „Dein Himmel kann warten, das Haus ist viel wichtiger“, zischte Jasmin ungeduldig.

 Ein Papierflieger von Dominik traf Ronja am Kopf, vor Schreck ließ sie den Eimer mit der grauen Farbe fallen. Im nächsten Moment hörte ich Jasmin schreien. „Jassy, was ist dir passiert?“, rief ich geschockt. „Sieh dir nur meine Stiefel und meine Jeans an“, schrie Jasmin außer sich. Graue Farbe lief über ihren rechten Stiefel und auch ihre Jeans war voll mit grauen Sprenkeln. „Das kann nur einem Esel wie Ronja passieren“, sagte Katharina verächtlich, auch sie wurde getroffen. Graue Farbe klebte ihren langen braunen Haaren und an ihrem Pullover. Ronjas Gesicht war blass und sie zitterte. „Sieh dir diese Schweinerei an“, regte sich Jasmin weiter auf, „Acrylfarbe bekommt nie und nimmer raus gewaschen. Dabei habe ich meine Jeans erst vor einer Woche für 150€ gekauft und jetzt ist sie wegen unserer dummen Nuss im Eimer“ „Jassy, wir versuchen die Farbe mit Wasser und Seife heraus zu waschen, bevor sie getrocknet ist“, munterte ich sie auf. Wir schrubbten und scheuerten, aber die Farbe ging nicht raus. „Nun muss ich die Jeans in die Altkleidersammlung geben“, schniefte Jasmin den Tränen nahe. „Ich fände es gerecht, wenn Ronja diese Hose tragen müsste“, sagte ich und musste spontan grinsen. Nebenan hörten wir Ronja toben. Als wir herein kamen entlud sich ihre Wut. „Ihr habt kein Recht wie Krähen auf mir herum zu hacken, nur wenn ich einen Fehler mache. Ihr behandelt mich wie Dreck“, brüllte sie.

„Ihr behandelt mich wie Dreck, wie Dreck, wie Dreck. Ihr behandelt mich wie Dreck, wie Dreck, wie Dreck. Ihr behandelt mich wie Dreck, weil ich ein Esel bin. Ich bin, ich bin, ich ein Esel mit zwei linken Händen“, stimmten wir unseren melodischen und rhythmischen Spottgesang an und klatschten im Takt. Tränen strömten über Ronjas rote Wangen. „Wie kann man so biestig sein, wie ihr?“, schluchzte sie. „Oh ja das sind wir, weil du es verdient hast“, rief Jasmin in einem sarkastischen Tonfall. Ronja nahm einen Farbeimer in die Hand. Malte und Dominik konnten sie gerade noch daran hindern, ihn nach uns zu werfen. „Wir werfen nicht mit Farbeimern“, rief Saskia, „Oder bist du im Kindergarten?“ Ronja fing an laut zu heulen. Malte und Dominik zerrten sie aus dem Raum. Jasmin und ich sahen uns kopfschüttelnd an. „Ich schwöre euch, ich werde Ronja nicht mehr angucken“, sagte Jasmin. „Kathi und ich machen auch mit“, stimmte Saskia ein. „Ich habe ein großartige Idee“, rief Jasmin, „Wir spielen mit der ganzen Klasse das Spiel unsichtbare Ronja, niemand darf sie beachten“ „Ich kann eine SMS an alle unsere Freundinnen schicken, damit sie bescheid wissen“, mischte ich mich ein. „Gute Idee“, sagte Kathi, „Ich sage auch unseren Jungs bescheid“ Am Rest des Tages hatte Ronja schlechte Karten, die ganze Klasse machte bei dem Spiel gegen sie mit. Am nächsten Tag erschien sie nicht mehr in der Schule, aber niemand machte sich Gedanken darüber.

 

Der große Schock

Nach einigen Tagen war die Eiszeit zwischen mir und Siiri halbwegs beendet, aber es war trotzdem nicht wie vorher. Bis vor einigen Tagen habe ich sie ignoriert und nicht angerufen. Normalerweise sahen wir uns jeden Tag, Siiri wohnte nur zwei Straßen weiter und wir besuchten uns fast jeden Tag. Ich war für Siiri so was wie eine Halbschwester und gehörte schon fast zur Familie. In der ersten großen Pause lief sie mit Jan über den Schulhof und setzte sich nicht zu uns. Wenigstens redete sie mit mir in den Stunden. In der dritten Stunde als wir Erdkunde hatten, kam unsere Klassenlehrerin Frau Eversberg völlig aufgelöst in die Klasse gestürmt. Sie musste mit den Tränen kämpfen. „Was hat sie bloß?“, fragte mich Siiri besorgt. Ich zuckte nur mit den Schultern. „Ich habe schlechte Nachrichten von eurer Klassenkameradin Ronja, momentan steht es wirklich schlecht um sie“, sagte Frau Eversberg stockend, „Sie hat sich letzte Nacht versucht das Leben zu nehmen. Sie hat Unmengen von Schlaftabletten genommen und wurde leblos aufgefunden. Man konnte sie wieder beleben und hat sie ins Krankenhaus gebracht. Nun liegt sie im künstlichen Koma und laut den Ärzten ist ihr Zustand besorgniserregend“

In der Klasse war es ganz ruhig geworden. Ich konnte es nicht fassen. Ich fühlte mich wie vom Blitz getroffen und erstarrte zu Eis. Siiri saß ebenfall erstarrt neben mir, im Gegensatz zu mir versuchte sie zu verbergen, dass sie geschockt war. Schließlich mochte niemand Ronja. Manche schienen von Ronjas Schicksal unbeeindruckt zu sein. Besonders die coolen Jungs um Ali, Dennis, Malte, Stefan und Lionel, aber auch unserer Clique war es egal was mit Ronja war. Ich wusste nicht mehr, was ich sagen oder denken sollte, so gelähmt war ich. Ich konnte mich nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren. Ich mochte Ronja auch nicht besonders, aber ich wollte nie, dass sie sich versucht sich umzubringen. Doch nun war es passiert und wir konnten es nicht mehr rückgängig machen. In den letzten beiden Stunden hatten wir Frau Eversberg und sprachen über Ronja und das Thema Mobbing. Ronjas Mutter hatte in der Schule angerufen und sich darüber beschwert, dass Ronja gemobbt wurde. „Ihr wisst doch alle was Mobbing ist? Oder?“, fragte Frau Eversberg, „Wisst ihr wie es Ronja ergangen ist?“ Niemand in der Klasse rührte sich oder traute sich zu melden.

Ich nahm all meinen Mut zusammen und zeigte auf. Frau Eversberg nahm mich dran und ich begann zu sprechen, „Es ist vor allem unsere Schuld, dass sich Ronja so unwohl fühlte. Meine Freundinnen und ich waren auch daran beteiligt. Seit der fünften Klasse haben wir ihren Ruf kaputt gemacht und auf ihr herum gehackt. Sie hatte nachher keine Freunde mehr und schien sich zurück zu ziehen. Ich wollte nie, dass sie sich versucht umzubringen. Es tut mir leid, was ich getan habe“ Am Ende des Schultages gingen alle meine Freundinnen wortlos an mir vorbei. „Warum hast du gesagt, dass ausgerechnet wir schuld sind? Alle anderen haben doch auch mitgemacht, nun hast du die ganze Schuld auf uns gelenkt“, fauchte Siiri leise und ihre blauen Augen funkelten wütend. Ich wartete bis alle Schüler draußen waren, dann ging ich auf meine Klassenlehrerin zu. „Es tut mir leid, was wir getan haben. Wir müssten uns als ganze Klasse bei entschuldigen“, sagte ich leise. „Ich finde es toll, dass du deine eigene Meinung hast und es zugibst, das zeigt Ehrlichkeit“, meinte meine Klassenlehrerin, „Das Wichtigste ist, dass Ronja gesund wird und ich werde mit der Klasse sprechen. Die Eltern der Schüler, die Ronja so fertig gemacht haben, werde ich auch noch mal kontaktieren“

Verdammt! Vor der Tür standen Rosina und Jasmin und haben gelauscht. So ein verdammter Mist. Ich ging schnell an ihnen vorbei. Sonst habe ich sie immer umarmt. Die Mädchen schienen mich nicht zu bemerken oder sie wollten mich nicht bemerken. Siiri war auch gegangen ohne auf mich zu warten. Sonst gingen wir fast jeden Tag gemeinsam nach Hause. Ich ging niedergeschlagen nach Hause, dennoch mit dem Gewissen etwas Richtiges getan zu haben.

 Als ich mich nachmittags bei Facebook einlogte, bekam ich einen riesigen Schreck. Meine Pinnwand wurde mit unzähligen Pinnwandeinträgen überflutet. Jasmin schrieb, „Du dumme Kuh! Wir haben genau mitgekriegt, was du zu unserer Lehrerin gesagt hast. Am besten bleibst du die nächsten Tage gleich zuhause, denn wir wollen dich nicht mehr in unserer Clique haben“ Siiri, Franziska, Lena, Maja, Sarah und vielen anderen gefiel Jasmins Pinnwandeintrag. Dominik meinte, „Du bist eine 100% Petze und Verräterin“ Jan, Siiris Freund, schrieb, „Wer sich auf die Seite eines Opfers stellt, ist selber Eines und soll sich von unserer Schule verpissen“ Siiris Eintrag traf mich am heftigsten, „Wie konntest du nur deine Freunde verraten. Ich will nicht mit einer gemeinen Petze wie dir befreundet sein“

Mir kamen die Tränen, nie hat Siiri zuvor unsere Freundschaft in Frage gestellt. Ich kannte sie seitdem ich drei Jahre alt war. Zuvor lebte ihre Familie in Innsbruck, dort wo ihr Vater herkam. An Wand hingen ein paar Photos mit mir und Siiri. Auf dem einen Photo war zu sehen, wie wir als Kleinkinder im Sandkasten spielten. Auf dem zweiten Photo wurden wir eingeschult, auf dem Dritten ritten wir auf unseren Pflegepferden aus und das vierte Photo zeigte uns, als wir gemeinsam vor zwei Jahren in Finnland bei ihren Großeltern zu Besuch waren. Zwar habe ich mich schon mal mit Siiri gestritten, aber wir haben uns spätestens nach drei Tagen wieder vertragen.

 In meiner tiefen Verzweiflung ging ich zu Samuel. Samuel war mein bester Freund, der am Ende der Straße wohnte. Er war schon 19 und damit fünf Jahre älter als ich. Zaghaft drückte ich den Klingelknopf. Es dauerte etwas, bis er aufmachte. „Sorry, es tut mir, dass ich dich lange warten lies. Ich bin gerade beim Mittagessen. Komm rein“, sagte er freundlich. Er merkte, dass ich gerade geheult habe. „He Leo, was ist los mit dir?“, sagte er und legte mir seine Hand auf die Schulter. „Es ist eine schwierige Geschichte“, erwiderte ich und musste ein Schluchzen unterdrücken. Samuel bat mir Chips und Limonade an. „Ich sehe, dass du fertig bist. Ich kann dir helfen, wenn dich etwas bedrückt“, meinte er, während er mit der Gabel eine Nudel aufspießte. „Also die Geschichte ist nicht so einfach zu erzählen“, ich schnappte nach Luft und begann zu erzählen, „Es hat Samstag angefangen, dass Siri sich auf eine Beziehung mit Jan eingelassen hat. Seitdem hatte sie mich kaum noch beachtet. Heute teilte unsere Klassenlehrerin mit, dass Ronja versucht hat sich umzubringen und im Koma liegt. Ich habe meiner Klassenlehrerin erzählt, dass wir sie gemobbt haben. Seitdem hasst mich die ganze Klasse. Sie behaupten, ich sei eine Verräterin und eine Petze. Selbst Siiri will nichts mehr mit mir zu tun haben“

„Weißt ich finde gut, was du getan hast. Das bedeutet, dass du selbstbewusst bist und deine eigene Meinung vertrittst. Du bist nicht so hohl wie deine Klassenkameraden“, tröstete er mich und ich strich ihm über seine verstrubbelten hellblonden Haare. „Ist Ronja nicht die kleine Schwester von Tanja?“, fragte Samuel nach einer Weile. Ich nickte und trank einen Schluck Limonade. „Ich kenne Tanja noch. Wir sind zusammen auf der Realschule in die gleiche Klasse gegangen“, erzählte er, „Sie hat mir nicht viel über ihre Schwester erzählt. Ich weiß nur, dass ihr Vater in einer anderen Stadt lebt und ihre Mutter ständig Beziehungsprobleme hat. Tanja und Ronja haben außerdem einen kleinen Bruder der Aaron heißt“

„Du weißt ganz schön viel über ihre Familie“, bemerkte ich. „Ja, ich habe mich öfter mit Tanja unterhalten, weil sie ganz nett ist. Aber befreundet waren wir nicht richtig“, sagte Samuel. Nach einer Weile fragte er mich, „Warum habt ihr Ronja so fertig gemacht? Hatte das einen Grund?“ Ich zuckte mit den Schultern, „Ich weiß es auch nicht, ich hatte nichts gegen Ronja. Sie ist für uns wie ein Sündenbock. Sie wurde schon von Anfang ausgrenzt und ich habe beim Mobbing mitgemacht, weil es alle gemacht haben und irgendwann war es normal, dass sie gemobbt wurde. Ich machte mit, weil ich nicht selber Opfer werden wollte. Es war so schön mit der Clique etwas zusammen zu unternehmen, dort fühlt man stark und man war nie alleine“

„Weißt du, dass viele Cliquen auch ihre Schattenseiten haben. In der Clique steht man ständig unter Druck genauso zu sein wie die Anderen. Viele Cliquen profilieren sich auf Kosten einzelner, das sehr gemein ist. Ich habe selber die Erfahrung gemacht und bin aus der Clique ausgestiegen. Wer ist alles in deiner Clique drin?“, sagte Samuel eindringlich. Ich überlegte kurz. „Wir sind acht Mädchen, also Lena, Jasmin, Maja, Alix, Rosina, Franziska, Siiri und ich. Jasmin ist die Anführerin unserer Clique und sie bestimmt, wer in ist und wer nicht. Sie mochte Ronja von Anfang an nicht und hat uns gegen Ronja angestachelt. Lena und Maja sind seit diesem Schuljahr in der Clique, da sie neu in der Klasse sind. Ursprünglich bestand die Clique nur aus Jasmin, Caro, Siiri und mir. Caro hat die Klasse verlassen und es sind immer neue Cliquenmitglieder hinzugekommen“, erzählte ich.

„Siiri kenne ich auf jeden Fall auch, sie wohnt auch ganz in der Nähe. Ich finde sie immer sehr nett und offen“, murmelte Samuel, „Die anderen Cliquenmitglieder habe ich mal einer deiner Geburtstagspartys gesehen“ „Weißt du was ich tun kann, um die Sache mit dem Mobbing wieder gut zu machen?“, fragte ich. „Wenn ich du wäre, würde ich sie im Krankenhaus besuchen. Du kannst Tanja mal darauf ansprechen. Wenn sie wieder zur Schule geht, gehe doch einmal zu ihr hin und rede freundlich mit“, schlug er mir vor. Ich schaute auf meine Uhr, oh verdammt gleich musste ich noch zum Klavierunterricht. Ich stand auf und umarmte ihn. Ich verschwand eilig aus der Haustür. „Verdammt die Klavierstunde habe ich ganz vergessen“, schimpfte ich.

 

Ene mene meck und du bist weg

Am nächsten Tag kam mir Jasmin entgegen. „Ich muss mit dir sprechen“, sagte sie zu mir und wir gingen aufs Mädchenklo. „Ich gebe dir noch eine Chance, entweder du nimmst alles zurück oder du bist raus“, sagte sie und ihre Augen wurden vor Zorn schmal. „Ich habe nichts zu bereuen“, sagte ich trocken, „Ich habe nur die Wahrheit gesagt“ Jasmin packte mich fest an den Schultern und raunte, „Vergiss die Kleinigkeit mit Ronja. Nach Ronja fragt in zwei Jahren sowieso niemand, daher ist es mir scheißegal ob sie überlebt oder nicht. Im Himmel wird sie garantiert ein besseres Leben haben“ In mir stieg die Wut auf, „Wie bitte? Du findest es auch noch toll Menschen in den Tod zu jagen. Die Sache mit Ronja ist keine Kleinigkeit. Hast du immer noch nicht gemerkt, wie scheiße wir uns verhalten haben“, fauchte ich.

Jasmin packte mich und drückte mich gegen die Wand. Ihre Katzenaugen durchbohrten mich. „Lass mich los“, rief ich wütend, „Du willst mich bloß erpressen. Ich will nicht mehr in eurer scheiß Clique sein“ Ich riss mich los und rannte weg. Maja, Siiri und Franziska hielten sich an den Händen, als ich ihnen entgegen lief und diese blöden Gänse hatten nichts Besseres zu tun als zu kichern. Es tat schon ziemlich weh, wie meine Freundinnen mich seit gestern behandelten. Siiri setzte sich heute auf den freien Platz zwischen Maja und Saskia. So eine Schmach habe ich noch nie erlebt. Seit sieben Jahre saß sie neben mir, außer wenn wir wegen Redens umgesetzt wurden. 

In der zweiten Pause ging ich zu Tanja. Sie stand in einer Gruppe mit zwei anderen Mädchen. Schüchtern suchte ich den Blickkontakt auf, ich merkte, dass ich mich nicht mehr so sicher fühlte, nachdem meine Freundinnen nicht mehr hinter mir standen. Doch ich fühlte mich wie ein kleines Kind, das etwas verbrochen hatte, deshalb musste ich mit Tanja reden. „Es tut mir unheimlich leid, also die Sache mit deiner Schwester. Ich wollte nicht, dass es so kommt. Es ist schon schlimm genug, dass sie sich umbringen wollte“, sagte ich und stotterte beinahe. „Warum willst du dich eigentlich entschuldigen?!“, erwiderte Tanja, „Deine Freundinnen und du, ihr habt meine Schwester jahrelang in den Arsch getreten. Weißt du was, du bist nur eine Heuchlerin“

„Bin ich gar nicht“, verteidigte ich mich, „Ich meine die Sache sehr ernst und meine Freundinnen, von den du gesprochen hast, sind nicht mehr meine Freundinnen. Ich meinen Fehler will ich unbedingt wieder gut machen und mich bei ihr entschuldigen“ „Meiner Schwester geht es immer noch schlecht, hätte man das Mobbing früher gestoppt, wäre sie noch wie früher“, sagte Tanja leicht genervt und wischte sich eine Strähne aus dem Gesicht. „Kann ich sie wenigstens im Krankenhaus besuchen?“, fragte ich. „Momentan leider nicht, dafür ist ihr Zustand noch zu kritisch“, antwortete sie knapp, „Spreche mich in paar Tagen noch mal an, vielleicht kannst du sie dann besuchen. Momentan habe ich keine Zeit mich mit dir zu unterhalten, du siehst ja, dass ich noch lernen muss“

 Zuhause setzte ich mich an den Schreibtisch und schrieb einen langen Brief an Ronja. Ich loggte mich bei Facebook ein. Zum Glück keine neuen fiese Einträge. Ich stellte fest, dass Jasmin, Maja, Lena, Rosina und auch Siiri mich aus ihrer Freundesliste gelöscht hatten. Dafür bekam ich von Tanja einen Freundschaftsantrag, den ich sofort annahm. Ich schrieb ihr eine lange Nachricht. 

Hallo Tanja! Ich mich ausführlich bei dir und Ronja entschuldigen, da ich selbst nicht unschuldig bin. Mir ist es wirklich ziemlich peinlich, wie ich mich vor kurzem verhalten habe und ich hoffe deswegen, dass du mich noch ernst nimmst. Das war wirklich fies und hätte ich gewusst, dass es Ronja so schlecht geht, hätte ich sie nicht mehr gemobbt. Ich war ziemlich lange in der angesagten Mädchenclique drin, wir hatten nur Augen für unsere eigenen Probleme und uns war wichtig, dass wir überall beliebt waren. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie miserabel ich mich gerade fühle, ich habe gestern vor der ganzen Klasse zugegeben, dass unsere Clique Ronja am heftigsten gemobbt hat. Meine Freundinnen und Mitschüler ignorieren mich seitdem und beschimpfen mich, deshalb ist die Situation nicht leicht für mich. Ich hoffe, dass Ronja wieder schnell gesund wird und ich mich bei ihr persönlich entschuldigen kann. Lg Leonie!"

Alleine durch die Eiszeit

Eine Woche später wurde es mir gestattet, Ronja  im Krankenhaus zu besuchen. Ich kaufte extra einen Blumenstrauß und ein Blumenmobile. Pünktlich um halb vier holten mich Tanja und ihre Mutter mich von Zuhause ab. Im Krankenhaus führte uns eine Krankenschwester zum Eingang der Intensivstation. Dort mussten durch Hygieneschleuse und Hygienebekleidung anziehen. Die Krankenschwester öffnete das Zimmer, wo Ronja lag. Ich blieb erst vorsichtig im Türrahmen stehen. Ronja war zwischen den Geräten, Schläuchen und Verkabelungen kaum wieder zu erkennen. Eine gleichmäßige Sinuskurve flimmerte auf einem Bildschirm, das bedeutete, dass ihr Herz wieder regelmäßig schlug. Trotzdem fand ich die Intensivstation fremd und ein wenig beängstigend. „Komm rein, du brauchst keine Angst zu haben“, sagte Ronjas Mutter leise und schloss die Tür hinter sich. Ronjas Gesicht war sehr blass, fast schon weiß und ihre Haare waren noch wuscheliger als sonst. Sie schlief wie ein sanfter Engel und hatte ihre Augen geschlossen. „Wie lange muss sie noch im Koma bleiben?“, fragte ich zaghaft. Ronjas Mutter überlegte kurz, „Der Arzt hat mir neulich gesagt, sie soll in den nächsten Tagen aufgeweckt werden“ „Das heißt, dass sich ihr Zustand deutlich verbessert hat“, fügte Tanja hinzu. Ich legte meine Geschenke auf den Nachttisch. Bald war die Besucherzeit wieder um und wir mussten gehen. 

Die letzten Wochen vor Weihnachten zogen sich lang wie ein Kaugummi hin. Die letzten Klassenarbeiten wurden geschrieben, die Weihnachtsgeschenke mussten besorgt werden und unser Theaterstück wurde auf der Adventsfeier aufgeführt. Das Stück wurde für unsere Klasse ein voller Erfolg, obwohl ich dauernd an Ronja denken musste und deswegen manchmal fast den Text vergessen hätte. Da Ronja nicht mitwirken konnte, besetzte Siiri ihre Rolle. Zuvor war Siiri nur Souffleuse. „So gut wie Siiri hätte Ronja die Rolle niemals gespielt“, behaupteten Maja und Franziska, die nun Siiris beste Freundinnen waren. „Eindeutig Siiri hat den Vogel abgeschossen“, schwärmte Jan und küsste sie. „Ich finde es übertrieben, dass ihr sie so in den Himmel lobt“, gab ich meinen Senf dazu, „Jeder andere hat seine Rolle genauso gut gespielt hat“ „Du bist bloß neidisch auf deine ehemalige beste Freundin, du Neidhammel“, sagte Jasmin giftig, „Es war doch klar, dass sie den meisten Applaus bekommt“ Zur meiner Erlösung kam Tanja auf mich zu, sie winkte mich zu sich rüber. „Leonie, du warst super, viel besser als deine eingebildete Freundin mit den langen blonden Haaren. Du hast viel authentischer und realistischer gewirkt als sie, Siiri wirkte wie ein steifer Stock, offensichtlich ist sie keine Rampensau“, meinte Tanja.

 

Einen Tag vor Heiligabend durfte mit Tanja Ronja besuchen. Mama hat extra für Ronja ein Weihnachtsgeschenk gekauft. Ronja lag mittlerweile auf einer normalen Station. Als ich in ihr Zimmer kam, saß sie aufrecht in ihrem Bett und starrte an die Decke. Es dauerte eine Weile bis sie uns bemerkte. „Hallo Ronja, ich bin’s Leonie aus deiner Klasse. Es tut mir leid, was wir getan. Ich nie gewollt, dass du…“, weiter kam ich nicht. Ich wusste nicht was ich sagen sollte und fing mich an zu schämen, sodass mir die Röte ins Gesicht stieg. „Ich kann mich irgendwie gar nicht so richtig erinnern, was vor dem Krankenhaus gewesen war. Als mir Mama von dem Selbstmordversuch erzählte, war ich erschrocken. Ich muss damals die Kontrolle über mich verloren haben“, sagte Ronja matt. Dann fragte sie mich, „Warum bist alleine hier und nicht mit deiner Clique?“ Ich erzählte ihr die ganze Geschichte mit Siiri und ihrem Freund und meiner Clique. „Jasmin hat mich aus der Clique rausgeschmissen, weil ich eine andere Meinung hatte als sie“, erwiderte ich. Ronja hörte mir gebannt zu und als ich ihr das Geschenk überreichte, ihre grünbraunen Augen glänzten. „Ich hätte nie gedacht, dass jemand wegen mir so viel Mühe macht“, lachte sie, „Ich dachte mich mag niemand“ „Jetzt nicht mehr“, wandte ich ein und wir beide mussten lachen. „Wie war das Theaterstück ohne mich?“, fragte Ronja. „Es war prima, niemand hat verpatzt, aber ich verstehe nicht, warum Siiri das meiste Lob geerntet hat. Sie hat übrigens deine Rolle besetzt“, erzählte ich. „Ach so, Siiri mag mich nicht leiden, das hat mich besonders verletzt, weil ich unbedingt ihre Freundin sein wollte. Sie hat mich geschnitten, obwohl ich immer freundlich zu ihr war“, murmelte sie traurig „Naja, mich mag sie auch nicht mehr“, sagte ich. „Das kann doch nicht sein“, entgegnete mir Ronja erstaunt, „Ich dachte ihr seid so unzertrennlich wie Zwillinge“ „Das waren wir auch“, erwiderte ich und merkte, dass ich ziemlich traurig wurde, als ich an Siiri dachte. Sie war meine beste Freundin und nun mochte ich sie nicht mehr, aber trotzdem fehlte sie mir. Es wurde noch ein schöner Nachmittag. Ich hoffte, dass Ronja nach den Weihnachtsferien wieder kommen wird.

 An Heiligabend schmückten wir wie immer den Christbaum und putzen das ganze Haus. Ich buk mit Paul Lebkuchen und Mama bereitete das Festessen vor. Normalerweise ging ich jedes Jahr an Heiligabend bei Samuel und Siiri vorbei. Als ich bei Samuel klingelte hatte ich Erfolg, er lud mich zu Plätzchen und einer heißen Schokolade ein. „Wie geht’s Ronja?“, fragte er interessiert. „Ihr geht es deutlich besser“, erwiderte ich, „Sie darf nächste Woche das Krankenhaus verlassen. Ich freue mich so sehr, dass sie in unsere Klasse zurückkehrt“ „Das ist schön für sie und ich hoffe, dass ihr sie freundlicher behandelt“, sagte er und zündete eine Kerze auf dem Tisch an. „Was machst du noch heute Abend?“, fragte er mich. „Ich gehe nachher bei Siiri vorbei, sie müsste an Heiligabend da sein“, antwortete ich.

 Gegen halb sechs ging ich bei Siiri vorbei. Als ich klingelte öffnete ihre Mutter die Tür. „Hallo Leonie, schön dich wieder zu sehen. Du warst bestimmt seit paar Wochen nicht mehr bei uns. Leider ist Siiri noch nicht da, du weißt bestimmt, dass sie einen Freund hat. Sie ist fast immer bei ihm“, begrüßte sie mich. Ich mochte ihre Mutter total gerne. Siiri kam total nach ihr, sie hatte auch hellblonde Haare und blaue Augen. „Du kannst gerne reinkommen und etwas trinken“, bot sie mir an und ich zog mir Jacke und Stiefel aus. Elviira und Raakel Siiris Zwillingsschwestern kamen die Treppe herunter gerannt und umarmten mich. Sie trugen beide weiße Kleider mit roter Spitze und hatte ihre Haare geflochten. „Ihr seht aber schick aus!“, bemerkte ich. Sie waren erst zehn Jahre alt, aber ich verstand mich gut mit ihnen. Ich ging mit ihnen in die Küche. Es roch herrlich nach Rentierbraten. „Zu Weihnachten kochen wir immer finnisch“, erzählte Elviira und bot mir Lebkuchen an. „Die haben wir selber gebacken“, sagte sie. Ich lehnte ab, „Nein, Danke. Ich habe schon genug gegessen“

„Weißt du was, Siiri ist in den letzten Wochen ziemlich komisch geworden“, erzählte mir Raakel. Ich nickte und Raakel fuhr fort, „Seitdem dieser Jan Siiris Freund ist, ist sie fast nur noch bei ihm und heute Abend wird sie auch relativ spät wiederkommen. Wahrscheinlich findet die Bescherung ohne sie statt“ „Ich weiß gar nicht, was an Jan toll findet“, sagte Elviira, „Der macht, wenn er bei uns ist, blöde Bemerkungen und behandelt uns total herablassend. Mama ist deswegen schon sauer auf ihn“ „Jan ist nur ein Arschloch aus meiner Parallelklasse“, sagte ich, „Er kommt ständig mit neuen Freundinnen an und Siiri wird er bald wahrscheinlich auch abservieren“ „Ich finde Siiri ohne Freund viel besser“, meinte Raakel. Um halb acht musste ich nach Hause, denn Oma und Opa hatten sich zur Bescherung angekündigt.

 Die Weihnachtsferien vergingen ziemlich schnell. Silvester feierte ich zusammen mit Samuels Familie, da Siiri mit Jan feierte. Meine freien Nachmittage verbrachte ich am Computer oder ich unternahm etwas mit Samuel. Von Siiri habe ich seit ungefähr drei Wochen nichts gehört. Zwischen uns war Eiszeit. Pünktlich nach den Heiligen Drei Königen begann die Schule wieder. Meine Lehrerin sagte, dass Ronja erst Mitte Februar wiederkommen sollte. Siiri war länger wegen einer Grippe nicht in der Schule. Ihre Mutter bat mich darum, ihr die Arbeitsblätter vorbei zubringen. Einmal in der Woche besuchte ich Ronja in der Reha. Ronja hatte deutlich an Gewicht verloren, was ihr nicht schlecht stand und band ihre dunklen Haare zusammen. „Kurz nach den Zeugnisferien bin ich wieder in der Schule“, versprach sie mir. „Jasmin und ihre Freundinnen wollten mich nicht mehr in der Clique haben, seitdem ich mich auf deine Seite geschlagen habe. Ich konnte die Schuldgefühle nicht länger ertragen“ „Ach, Jasmin ist eine dumme Pute. Früher war ich mit Franziska und Rosina befreundet, aber Jasmin hat es erfolgreich geschafft mir meine Freundinnen wegzunehmen“, meinte Ronja trocken, „Jasmin denkt sie wäre ein Topmodel, aber dabei ist sie nur eine hinterhältige Ziege“

 

Ronjas Comeback

Eine Woche nach den Zeugnisferien kehrte Ronja in unsere Klasse zurück. Frau Eversberg hielt eine kurze Ansprache und bot darum, dass wir freundlich zu Ronja sein sollten. Immerhin hatte sie mehr als zwei Monate gefehlt. Ich bot ihr den Platz neben mir an, denn Siiri saß jetzt neben Alix. Wenigstens war ich in den Pausen nicht mehr alleine und hatte wieder eine Freundin. Ich kümmerte mich auch um ein Mädchen, dass zum Halbjahr neu in unsere Klasse gekommen war. Sie hieß Diana Bentley und kam aus Nürnberg. Sie war angenehm zurückhalten, hatte blonde Locken, graue Augen und war ganz freundlich. Sie erzählte mir, dass ihre Mutter Französin war, ihr Vater aus Schottland kam und sie zwei ältere Brüder hatte. Zusammen mit ihr und Ronja verbrachte ich die Pause. Jasmin und ihre Freundinnen beachteten mich nicht weiter. Nur manchmal steckten sie ihre Köpfe zusammen, tuschelten und fingen an zu kichern, wenn wir an ihnen vorbei liefen. Siiri lief meistens Hand in Hand mit Jan über den Schulhof. „Sind diese Mädchen immer so komisch?“, fragte mich Diana. Ich nickte, „Ich war vor einiger Zeit mit ihnen befreundet. Siiri, das Mädchen mit den langen blonden Zöpfen war jahrelang meine beste Freundin“, erzählte ich. „Das ist kaum zu glauben“, meinte Diana kopfschüttelnd, „Ich habe euch nie zusammen gesehen und sie scheint mit niemanden aus der Klasse enger befreundet zu sein. Manchmal sehe ich, dass sie mit Alix und Rosina redet. Gestern habe ich gesehen, dass sie alleine war, als wir vor den Klassenraum standen“

Nach der Schule wartete ich auf Diana, wir wollten nachher gemeinsam in die Stadt gehen. „Leo, warte eben in der Pausenhalle auf mich, ich muss eben einen Zettel im Sekretariat abgeben“, sagte Diana zu mir. Ich setzte mich auf eine Bank, auf der Bank neben mir ließen sich Jasmin, Lena, Maja, Rosina und Franziska nieder. Im nächsten Moment gingen Siiri und Jan Hand in Hand zum Vertretungsplan. Er küsste sie zum Abschied, in dem Moment sprangen Jasmin und ihre Freundinnen auf und fingen Siiri ab.

 Zu fünft umzigelten sie Siiri. Es sah längst nicht mehr freundschaftlich, sondern eher bedrohlich aus. Da ich nicht nah genug bei ihnen war, konnte ich nicht verstehen, was sie sagten, aber es klang nicht freundlich. Jasmin hielt Siiri an der Schulter fest und fauchte sie an. Auch Franziska, Lena, Maja und Rosina schossen auf sie ein, als wollte sie Siiri mit ihren Worten durchbohren. „Es tut mir Leid ich wollte euch nicht verletzen“, rief Siiri laut dabei klang ihre Stimme verzweifelt, „Ich bin trotzdem noch eure Freundin, obwohl ich häufig mit Jan zusammen bin“ „So beschissen wie du dich gegenüber uns verhältst bist du niemals unsere Freundin“, schrie Jasmin sie an und schubste sie unsanft weg. „Außerdem hängst du nur mit Jungs rum, man könnte meinen, du treibst es mit jedem Kerl“, fügte Rosina giftig hinzu. Siiris Gesicht war rot wie eine Tomate, „Das ist überhaupt nicht wahr“, ihre Stimme bebte vor Zorn. Mir wurde unwohl, als ich sah, wie sie Siiri behandelten. Doch irgendetwas untersagte mir, sie zu unterstützen. Schließlich hatte sie mich auch links liegen gelassen, seitdem ich Partei für Ronja ergriffen habe.

„Dir ist die Clique anscheinend egal, deshalb werden wir darüber abstimmen, ob wir dich aus der Clique rausschmeißen“, ergriff Jasmin das Wort, „Die Mehrheit entscheidet, so wie es jetzt aussieht, hast du gar keine Freundinnen mehr, nicht einmal Leonie, dabei ward ihr bis vor kurzem wie Zwillinge" „Das mir doch egal“, rief Siiri mit tränenerstickter Stimme. Weinend lief sie zum Ausgang. „Das ist wohl großes Zickendrama“, flüsterte mir Diana ins Ohr. „Egal, ich muss trotzdem hinterher. Schließlich war sie jahrelang meine allerbeste Freundin“, wisperte ich und zog Diana hinter mir her. An der Bushaltestelle hatten Diana und ich Siiri eingeholt. Sie saß heftig schluchzend auf einer Bank und vergrub ihr Gesicht in den Händen. „Siiri, was ist los?“, fragte ich vorsichtig. Sie reagierte nicht. Ich wiederholte meine Frage, sie schaute kurz auf, aber die Tränen hinderten sie am Sprechen. Noch nie habe ich meine langjährige beste Freundin in dem Ausmaß Tränen vergießen sehen, sonst unterdrückte Siiri ihre Tränen. Mit einer Hand schrieb sie eine SMS und mit der Anderen wischte sie sich Tränen weg. Einen Augenblick später kam ihr großer Bruder. Siiri ließ sich ihm erleichtert in die Arme fallend und schluchzte noch heftiger als zuvor.

 An einem Abend Anfang März klingelte bei uns an der Haustür. Ich traute meinen Augen nicht, es war Siiri. Sie trug einen grünen Kapuzenpullover und eine lange Jogginghose. Ihre Haare waren zu einem Knoten hochgesteckt. Ich sah, dass sie fertig war und gerade geweint hat. Ich hatte einen Frosch im Hals und bekam kein Wort aus mir heraus. Siiri holte tief Luft und begann zu sprechen, „Leo, es tut mir unheimlich leid wie ich dich behandelt habe. Ich weiß, ich war sehr dumm, weil ich alle meine Freundinnen links liegen gelassen habe. Alles nur wegen Jan, dieser Idiot hat gestern mit mir Schluss gemacht. Nur weil er sich in Farina verknallt hat. Er findet sie bloß toll, weil sie eine gute Balletttänzerin ist. Gestern hat mir Jasmin geschrieben, dass ich nicht mehr zur Clique gehöre. Ich weiß, dass ich zu viel Zeit mit Jan verbracht habe und euch vernachlässigt habe. Nun habe ich niemand mehr. Jasmin war sauer, dass ich zu vielen Cliquentreffen nicht mehr gekommen bin. Nur Alix war dagegen, dass ich aus der Clique rausgeflogen bin. Sie will vielleicht aus der Clique aussteigen“

„Ich habe von Anfang gedacht, dass die Beziehung nicht lange halten wird. Jan ist nur ein blöder Macho, der mit seinen Freundinnen gut dastehen will und im Mittelpunkt stehen will“, erwiderte ich und bot ihr an rein zu kommen. Wir setzten uns auf mein Bett. „Ich habe nicht gemerkt, dass ich die Freundschaft zwischen uns gefährdet habe. Ich war zu sehr auf Jan fixiert und habe alles Andere um mich herum vergessen. Nachher war ich allein, weil Jan mich verlassen hat und die Clique mich nicht mehr haben wollte. Es wäre sehr schade gewesen, wenn nach mehr als zehn Jahre Freundschaft, alles vorbei wäre. Dabei bin ich dir so dankbar, dass du mich letzte Woche bis zur Bushaltestelle verfolgt hast und mich trösten wolltest, als ich so heftig geweint habe“, sagte sie leise und musste ein Schluchzen unterdrücken. Ich legte meinen Arm um sie und wir schwiegen. Ich kramte Salzstangen, Chips und Schokoladenbonbons hervor und bot ihr welche an. Siiri schüttelte den Kopf und murmelte, „Nein, Danke! Ich habe seit Tagen keinen Appetit“

 Wir schauten die Bilder von uns an, die an der Wand hingen. „Guck mal, dass waren ja noch Zeiten“, unterbrach sie die Stille und deutete auf das Photo, wo wir im Sandkasten saßen. „Stimmt wir hatten beide ein Erni und Bert T-Shirt an und buken Kuchen aus Sand“, sagte ich. „Und wir waren damals noch im Kindergarten“, fügte Siiri hinzu. Plötzlich fing sie leise an zu kichern. „Was ist denn?“, stupste ich sie an. „Sieh dir das Bild von der Einschulung an, wie dämlich ich da gucke“, erwiderte sie. Siiri zog auf dem Photo einen Schmollmund und sah so aus, als wollte sie die beleidigte Leberwurst spielen. Ich trug ein rot-weiß kariertes Kleid und sie ein blau-weiß Kariertes. Die Schultüte war fast so groß wie sie. Schon damals war ich ein Stück größer als sie, vielleicht lag es daran, dass ich sechs Wochen älter war als sie. Damals hatte ich noch blonde Haare, mittlerweile hatten sie sich dunkelblond gefärbt. Siiris Haare waren immer noch so hell wie damals.

„Sieh dir mal das Photo an, wo wir auf Max und Moritz ausgeritten sind. Ich glaube das Photo hat Tante Gunda gemacht“, murmelte ich. „Stimmt, ich kann mich noch gut erinnern. Das war damals ein ziemlich warmer Tag“, sagte sie. „Tante Gunda hat mir gesagt, dass sie für Max ein anderes Mädchen sucht, das sich um ihn kümmert“, informierte ich Siiri, „Du warst länger nicht mehr da gewesen und ich habe mich öfter um Max gekümmert“ „Na toll, ich habe wegen Jan alles stehen und liegen lassen. Ich habe meine Clique, meine Familie und Max im Stich gelassen. Daher brauche ich mich nicht zu wundern, dass ich alleine dastehe. Ich bin aus der Clique rausgeflogen, meine Familie war sauer auf mich und nun bin ich dabei Max zu verlieren. Nun muss ich es ausbaden. Ich werde morgen gleich nach der Schule zum Reitstall gehen“, sagte Siiri seufzend. Danach schauten wir uns das Photo an, wo wir in Finnland auf einem Holzsteg saßen. „Wir wollen diesen Sommer wieder nach Finnland fliegen, vielleicht kannst du mitkommen“, bot mir Siiri an. Ich hatte nichts dagegen. Ich war erst einmal in Finnland gewesen und es waren einer der besten Ferien in meinem Leben.

"Leonie, es gibt Abendbrot!", rief mein Vater aus der Küche. „Ich komme gleich", antwortete ich ihm, „Siiri ist gerade bei mir. Darf sie mit uns Abendbrot essen?" „Das ist kein Problem", erwiderte mein Vater, „Wir haben genug zu Essen da" Siiri und ich rannten die Treppe hinunter und stürmten in die Küche. „Hallo Siiri! Wie geht es dir? Ich habe dich ziemlich lange nicht gesehen", begrüßte meine Mutter Siiri. „Mir geht es ganz gut", erwiederte meine Freundin lässig und lächelte über ihr ganzes Gesicht.

Die Bunny Girls

 Zusammen mit Siiri zeigte ich Ronja mein Pflegepferd Moritz. Sie streichelte vorsichtig seinen Hals und spielte mit seiner Mähne. Ich drückte ihr einen Apfel in die Hand, damit sie Moritz ein Freundschaftsgeschenk machen konnte. Sie hielt ihm den Apfel auf der flachen Hand hin und Moritz fackelte nicht lange, um das Geschenk anzunehmen. „Oh ist der süß“, fand sie und fragte, „Darf ich ihn mal reiten“ „Bist du schon einmal geritten“, fragte ich sie. Ronja schüttelte den Kopf, „Ich habe noch nicht einmal auf einem Pferd gesessen. Mama wollte lieber, dass ich Ballett tanze oder turne. Mit Ballett habe ich vor mehr als einem Jahr aufgehört, ich konnte nicht mehr ertragen, dass ich die Dickste und Unbeweglichste der Gruppe war. Meine Ballettlehrerin machte immer dämliche Kommentare über mich wie „Da tanzt der Elefant im Porzellanladen“ „Kann ich verstehen, ich wollte auch nie Ballett tanzen“, meinte ich, „Da müssen die Tänzerinnen die Figur einer kleinen Elfe haben und haben ständig blutige Füße“ „Das stimmt gar nicht“, lenkte Siiri ein, „Ich habe auch fünf Jahre lang Ballett getanzt. Ich hatte auch ein pummliges Mädchen in der Gruppe, sie hatte sogar Talent und hatte Preise bei Tanzwettbewerben gewonnen. Außerdem hatte ich selten blutige Füße“ Ich setzte Ronja auf Moritz und führte sie über die Felder und zeigte ihr meinen Lieblingsteich, wo man im Sommer baden konnte. Siiri ritt auf Max voraus und beschäftige Diego. „Ich finde es so toll auf einem Pferd zu sitzen“, rief Ronja begeistert, „Es ist beinahe so bequem wie auf dem Sofa, nur es wackelt ziemlich. Ich werde meine Mutter so lange nerven, bis sie mir endlich Reitstunden bezahlt" „Mach das ruhig. Ich glaube Reiten ist besser für dich als Ballett", erwiderte ich.

Nun waren Siiri und ich wieder beste Freundinnen. Drei Monate war zwischen mir und ihr Eiszeit und zum Glück hatte sie nichts mehr gegen Ronja. Ganz im Gegenteil, sie verstand sich prächtig mit meinen neuen Freundinnen und freundete sich ebenfalls mit ihnen an. Meine alte Clique zog manchmal über uns her, aber das war uns egal. An einem Morgen kam mir Siiri mit Alix entgegen. „Darf Alix bei uns dazugehören?“, fragte sie. „Jasmin und ihre Freundinnen sind voll bescheuert geworden, sie haben Esra und Fatima aus der Parallelklasse in ihre Clique aufgenommen, diese Ziegen kann ich nicht leiden. Am letzten Wochenende waren mit den Freunden von Jasmin und Franziska in der Stadt und gingen in eine Kneipe. Mattis schüttete mir sein Bier über meine Jacke, dabei büßte ich mein Handy ein. Er fing an zu lachen und Tiago, Jasmins Freund fotografierte mich und stellte das Bild bei Facebook ein. Nun haben es schon viele User gesehen, haben fleißig kommentiert und jetzt ist mein Ruf im Eimer. Meine Freundinnen haben gelacht und als ich wütend wurde, haben sie gesagt, ich soll mich nicht so aufregen“, erzählte Alix und strich sich eine Strähne ihres braunen lockigen Haares aus dem Gesicht. Ich war froh, dass ich aus dieser Clique raus war. Früher haben wir richtig tolle Sachen zusammen gemacht und hielten zusammen. Seitdem Jasmin so komisch geworden ist, hat es aufgehört Spaß zu machen. „Jasmin ist einfach nur eine dumme Kuh. Sie hat an mir rumgemeckert, dass ich Freund gehabt habe und turtelt sie selber mit einem herum. Das ist unfair, sie gibt vor, wie andere zu sein haben und das gefällt mir nicht“, sagte Siiri dazu.

Jetzt waren wir zu fünft: Diana, Alix, Ronja, Siiri und ich. Als wir an einem warmen Mainachmittag in Ronjas Baumhaus saßen, dachten wir über einen Bandennamen nach. Das perfekte Bandenquartier hatten wir auch schon. Ronjas Baumhaus war groß genug für uns fünf. Ronja stellte uns Muffins, Streuselkuchen, Schokolade und Zitronenlimonade hin. „Ich finde die Wilden Hühner toll, sie sind eine richtige Mädchenbande. Früher als ich noch Kind war, habe ich alle Bände von den Wilden Hühnern verschlungen“, sagte Diana auf einmal. „Ne, ich finde es blöd, wenn wir uns die „Wilden Hühner“ nennen. Das ist nur Nachgemache und wir sind eine eigenständige Clique“, blockte Siiri Dianas Idee ab. Wir diskutierten und es fielen uns Namen wie „Die wilden Küken“, „Magic Horses“, „Hello Kitty“ oder „Super Ladys“ Kein Name passte zu uns, wir waren weder kleine Mädchen noch extravagante Tussen. Wir schwiegen vor Ratlosigkeit, überbrückten die Zeit mit Kuchenessen und Alix fütterte eine Amsel mit Kuchenkrümeln. „Ich hab’s“, unterbrach Diana die Stille, „Mein Kaninchen hat vorgestern fünf Junge bekommen. Wir könnten uns die Bunny Girls nennen und dabei kann jeder Pate von einem Kaninchenbaby werden“ „Die Idee finde ich nicht gut, sondern genial!“, jubelte Siiri. Das war gebongt! Das war ein Name, der wirklich zu uns passte.Er klingt frisch und dynamisch, so wie wir waren. Siiri goss uns Zitronenlimonade ein und wir stießen zusammen auf unsere neue Bande an.

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Tag der Veröffentlichung: 02.06.2013

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