Dieses Buch widme ich all meinen treuen Leser und Leserinnen sowie allen, die mich dazu inspiriert haben dieses Buch zu schreiben. Ebenfalls widme ich dieses Buch allen Bandenmädchen sowie Bandenjungs und denen, die es im Herzen sind.
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Am späten Abend mitten in den Sommerferien saßen die Familie ter Steegen und ein paar Freunde der Eltern auf der Terrasse und schauten sich die Bilder von ihrem Italien-Urlaub an. Rouven ter Steegen, der Vater von den Zwillingen Mathilda und Annemieke, zeigte bereits zum zigsten Mal die Bilder von der Italienreise auf Mathildas Laptop.
„Ich glaube, ich schlafe gleich vor Langeweile ein. Die Erwachsenen reden sowieso nur über Dinge, die mich so gar nicht interessieren“, gähnte Mathilda und machte sich auf der Liege lang.
„Ich wünschte, wir wären noch in Italien“, murmelte Annemieke neben ihr bedrückt. „Ich vermisse jetzt schon die netten Leute, die fröhliches Lebensart, das blaue Meer, die Berge, das schöne Wetter und das leckere Essen.“
„Seitdem wir seit drei Tagen wieder zuhause sind, ist mir nur noch langweilig“, stöhnte Mathilda, worauf Annemieke nur zaghaft nickte. Anders als ihre Schwester genoss sie ein paar ruhige Tage ohne Hektik und Aufregung sehr.
Mehr als zwei Wochen waren die Zwillinge mit ihren Eltern im Wohnmobil durch Italien gereist. Sie waren in Rom, in der Vatikanstadt, haben Florenz besichtigt, sind im Mittelmeer geschwommen und haben sogar den Vesuv bestiegen. Zudem hatten sie einen jungen Italiener namens Alessandro kennen gelernt, in den sich beide Schwestern verliebt hatten. Allerdings sprach er kaum ein Wort Deutsch und nur sehr wenig Englisch. Deswegen hatte sich Annemieke schnell ein paar Worte Italienisch angeeignet und schaffte es ihm ein paar einfache deutsche Worte und Sätze beizubringen. Auf diese Weise konnte sie sich ein wenig mit ihm unterhalten. Zusammen mit ihm und seinen besten Freunden Luca und Rafael hatten die Zwillingsschwestern viele schöne Momente erlebt. Dahingegen das Zuhausesein ziemlich langweilig, obwohl sie sich auf das Wiedersehen mit ihren Nymphensittichen Piet und Klaas gefreut hatten. Leider waren auch alle ihre Freundinnen im Urlaub oder besuchten Verwandten, selbst Kim und Janet, mit denen die Zwillinge außerhalb ihrer Bande befreundet waren, waren im Urlaub. Zudem fanden in den Sommerferien weder Reitunterricht noch Hockeytraining und Musikunterricht statt.
Auch gegen kurz nach zehn wollte die Hitze des Tages nicht weichen und hing immer noch wie eine schwere, heiße Decke über der Neubausiedlung in der Luft.
„Könntet ihr eben was zu trinken holen?“, fragte ihre Mutter, Sandra ter Steegen, die von allen nur Sanni gerufen wurden. Schwerfällig stand Annemieke auf und kam mit einer Flasche Wasser und einer Flasche Rotwein wieder.
„Danke, mein Liebling!“, bedankte sich ihre Mutter und fragte: „Wollt ihr euch nicht zu uns setzen? Euch ist doch garantiert langweilig."
Annemieke setzte sich zwischen ihre Mutter und Margrit auf die Bank, während ihre Schwester auf der Liege eingeschlafen war.
„Wie alt seid ihr jetzt?“, fragte Ulla Schwegler neugierig. „Ihr seid in den letzten Jahren so groß geworden und dabei kenne ich euch schon als ihr Babys ward.“
„Dreizehn“, antwortete Annemieke. „In einem Monat werden wir vierzehn."
„Dann kommt ihr sicher in die siebte oder achte Klasse“, meinte Peter Brosinski.
„Genau, wir kommen in die achte Klasse“, nickte Annemieke. Dann verstummte das Gespräch zwischen ihr und Ulla. Die Erwachsenen unterhielten sich weiterhin über Annemiekes Kopf hinweg über Themen, die ziemlich langweilig waren. Typisch Erwachsenengeplauder!
Deshalb beschloss Annemieke früh ins Bett zu gehen. So müde wie sie war, schlief sie sehr schnell ein und träumte von einem weißen Strand mit Palmen. Am nächsten Morgen wurde sie schon ziemlich früh von ihrer Schwester unsanft wach gerüttelt.
„Aufstehen, das Wetter wird heute total schön“, rief Mathilda gutgelaunt. „Lass uns jetzt ins Freibad gehen.“
„Lass mich weiter schlafen“, gähnte Annemieke und drehte sich wieder um.
„Du alte Spielverderberin!“, schmollte Mathilda und streckte ihr die Zunge raus.
„Der frühe Vogel kann mich mal und jetzt lass mich bitte in Frieden!“, grummelte sie und verbarg ihr Gesicht in ihrem Schmusekissen. Annemieke schlief wieder ein. Im Gegensatz zu ihrer Schwester war sie eine Langschläferin. Das war längst nicht der einzige Unterschied zwischen den Schwestern. Beide sahen auf den ersten Blick ziemlich gleich aus, obwohl Mathilda ein winziges Stück größer und etwas kräftiger war als sie. Auch ihre Charaktere unterschieden sich eindeutig voneinander. Annemieke war die ruhigere und sanftere von den Zwillingen, während Mathilda quirlig war, anderen Leuten unverblümt ihre Meinung sagte und einen großen Bewegungsdrang hatte. Ihre Mutter beömmelte jedes Mal darüber, dass die Schwestern so unterschiedlich waren.
„Mädels, es sind drei Karten für euch angekommen!“, rief ihre Mutter gegen neun aus der Küche. Jetzt war sogar Annemieke mit einem Mal hellwach und rannte mit ihrer Schwester die Treppe hinunter.
„Lass uns mal sehen!“, sagte Mathilda neugierig. „Da ist eine Karte von Lotta, sie ist wohl gerade mit ihrer Familie auf Gran Canaria.“
Die zweite Karte kam von Kiki, die mit ihren Vater und ihrem Bruder eine Kanutour in Schweden machte. Plötzlich schrie Annemieke vor Freude auf: „Das ist ja eine Karte von Alessandro. Wie schön, dass er uns nicht vergessen hat!“
„Gib mal her!“, forderte ihre Schwester.
„Nein, ich lese sie zuerst“, setzte sich Annemieke gegen ihre selbstbewusste Zwillingsschwester durch.
„Wollt ihr nicht frühstücken?“, fragte ihre Mutter. „Ich habe uns extra einen Obstsalat gemacht sowie Croissants und Brötchen aufgebacken.“
„Gerne doch“, rief Mathilda und langte zum Brötchenkorb. „Selbst Schlafen macht bärenhungrig.“
Ihre Mutter musste herzhaft lachen. „Du hast natürlich immer einen Bärenhunger.“
Den restlichen Tag verbrachten die Zwillinge im Freibad.
„Warum musst du immer gebräunter sein als ich, Schwesterherz?“, murrte Mathilda, die sich schon eine halbe Stunde auf der Liegewiese sonnte und zupfte an ihrem blauen Bikini herum. Zwar wurden beide Schwestern im Sommer schnell braun, aber Annemieke war immer ein Tick dunkler als Mathilda und stahl ihrer Schwester die Show.
„Tja, ich habe wohl mehr Durchhaltevermögen beim Sonnen in Italien gehabt, während du die ganze Zeit mit Alessandro geschwommen bist“, erwiderte Annemieke neckend und nippte an ihrem Eistee.
„Ich finde dieses Schwimmbad ist nichts gegen das Mittelmeer“, seufzte Mathilda. „Ich will am liebsten zurück nach Italien, ich vermisse Alessandro schon richtig doll.“
„Hast du dich etwas schon über beide Ohren in ihn verliebt?“, stichelte ihre Schwester.
„Aber du!“, gab Mathilda schnippisch zurück. Am Ende mussten sich beide Schwestern eingestehen, dass sie sich beide zum ersten Mal richtig in einen Jungen verknallt hatten, den sie im richtigen Leben gesehen hatten.
„Lasst uns eine Runde schwimmen gehen!“, schlug Mathilda vor. „Wenn ich mich noch länger braten lasse, kriege ich noch einen Hitzekollaps.“
Das Wasser war viel kälter als Luft.
„Aaahh, ist das eisekalt“, quietschte Annemieke und traute sich erst nur mit den Füßen ins Wasser.
„Hast du Angst, dass hier Krokodile im Wasser schwimmen könnten“, neckte Mathilda.
„Nein, das Wasser ist so schrecklich kalt!“, bibberte Annemieke am ganzen Körper.
„Hab dich nicht so, Schwesterlein“, erwiderte Mathilda vorlaut und spritzte Wasser nach ihrer Schwester.
„Lass das!“, protestierte Annemieke. „Meine Haare werden sonst nass.“
„Meine Haare sind schon längst nass“, antwortete Mathilda prompt und tauchte ihren Kopf kurz unter Wasser. Ihre Haare hingen ihr wie Spagettis auf die Schultern herunter. Wenig später veranstalten beide ein Dauerschwimmen und sprangen mehrmals vom Sprungturm. Danach hatten sie Hunger und holten sie sich Pommes und Bratwurst vom Kiosk. Gerade als sie sich wieder bäuchlängs auf ihre Handtücher legten und einen Moment dösten, kam ihre Freundin Aylin bei ihnen vorbei.
„Hallo Zwillingsmäuse“, rief Aylin fröhlich, die mit einem breiten Lächeln vor ihnen stand.
„Hallo Aylin, wo kommst du her?“, richtete sich Annemieke überrascht auf. „Wir haben gedacht, du wärst noch bei deinem Cousin.“
„Ich war nur ein paar Tage bei ihm in Lübeck und nicht mehrere Wochen“, antwortete Aylin und hockte sich neben die Zwillinge ins Gras.
„Wisst ihr, dass Emily jetzt mit Lennart und Michael befreundet ist?“, erzählte sie beiläufig.
„Was?“, rief Mathilda entsetzt und riss ihre Augen weit auf. „Das hat uns noch niemand erzählt."
„Emily hat mir jeden Tag dutzende Pferdefotos geschickt, aber davon sie mir nichts geschrieben", sagte Annemieke mit einer Mischung aus Verwunderung und auch ein wenig Eifersucht. War Emily eigentlich nicht ihre Freundin? Jedenfalls schnürrte sich ihre Kehle leicht zu, dass ihre beste Freundin ihr dies nicht zuerst erzählt hatte.
„Das meint Emily nicht böse", bemerkte Aylin, dass sie ein wenig pikiert war. „Ich glaube, Emily hängt sowas nicht immer sofort an die große Glocke."
„Wie sind Emily und Lennart überhaupt zusammen...", fragte Mathilda und mit brach mitten im Satz ab.
„Wie haben sie sich eigentlich angefreundet?", korrigierte sie ihre Frage.
„Sie haben zusammen an einem Ferienprojekt teilgenommen und haben gemerkt, dass sie sich doch sehr gut verstehen“, erzählte Aylin.
„Das heißt doch nicht, das Emily auf die Seite der Jungs gewechselt ist?“, stammelte Annemieke verdutzt.
„Nein, das nicht“, fuhr Aylin fort. „Aber momentan haben wir uns mit den Piranhas eh einigermaßen vertragen.“
„Da haben wir etwas nicht mitbekommen!“, rief Mathilda laut und sprang dabei auf.
„Ihr ward auch schon im Urlaub“, sagte Aylin. „Aber am dritten Ferientag bin ich mit Fianna, Kiki und Emily Fahrrad zum Bandenquartier gefahren. Wir haben Jannis auf der Straße liegend gefunden, der mit seinem Skateboard gestürzt ist und sich am Kopf verletzt hatte. Sofort haben wir uns um ihn gekümmert und einen Krankenwagen gerufen. Zum Glück ist ihm nichts Schlimmeres passiert, nur die Wunde an seiner Stirn musste genäht werden. Seitdem sind die Piranhas wie ausgewechselt. Einen Tag danach waren Emily, Kiki und ich mit Jannis und Sven Eis essen.“
Wieder kam es Annemieke so vor, als ob ihre Bandenfreundinnen sie einfach vergessen hätten, nur weil sie über zwei Wochen nicht da waren. Quasi: Aus den Augen, aus dem Sinn.
„Das ist ja unglaublich!“, hauchte Mathilda. „Ich glaube, ich bin im falschen Film.“
„Nein, das bist du nicht“, entgegnete Aylin. „Dieses Mal ist es Realität. Aber was soll daran schlimm sein, einmal mit den Jungs abzuhängen?“
„Seid ihr richtig mit ihnen befreundet?“, fragte Annemieke immer noch ungläubig.
Aylin schüttelte den Kopf: „Freundschaft kann man das noch nicht nennen, aber wenigstens vertragen wir uns, ohne uns gegenseitig die Köpfe abzureißen.“
Annemieke überlegte kurz, ob sie ihrer Freundin, von Alessandro aus Italien erzählten sollte, aber verwarf diesen Gedanken rasch. Nicht jeder sollte sehen, dass ihre Schwester und sie sich wie zwei verliebte Hühner verhielten, wenn sie von ihrem Schwarm sprachen.
„Weißt, du wann Lotta, Emily und Fianna aus dem Urlaub zurück sind?“, fragte sie Aylin.
„Ich glaube, sie kommen erst in den nächsten beiden Wochen wieder", erwiderte ihre Freundin.
„Wie geht es eigentlich Hanni und Nanni?“, wollte Mathilda wissen.
„Ihnen geht es hervorragend. Emily und ich waren fast jeden Tag zusammen im Schrebergarten, haben die Pflanzen gegossen, die Erdbeeren geerntet und die Kaninchen gefüttert“, erzählte Aylin.
„Das ist prima!“, fand Annemieke und fügte hinzu: „Bestimmt können wir bald auch die Kirschen pflücken.“
„Damit haben Emily und ich schon begonnen, aber das sind in diesem Jahr so viele, dass wir es noch nicht ganz geschafft haben“, meinte Aylin.
Im nächsten Augenblick kamen Ömer mit Michael und Lennart vorbei. Die Jungs hatten alle ein Eis in der Hand, allerdings schmolzen die Eise in der Hitze ziemlich schnell und Michael tropfte bereits Schokoladeneis auf seine Badeshorts. Ömer begrüßte Aylin auf Türkisch und nickte den Zwillingen freundlich zu.
„Sind unsere holländischen Kaasköppe auch wieder an Land geschwommen?!“, neckte Lennart die Zwillinge, aber im Gegensatz zu sonst, meinte er es freundschaftlich.
„Hat sich die Spargelstange im Urlaub einen Sonnenbrand geholt?!“, neckte Mathilda ihn zurück. Lennart betrachtete sein roten Arme und Beine.
„Ja, ich habe gestern vergessen mich mit Sonnencreme einzureiben“, gestand er.
„Wisst ihr, das Jannis nicht mit Jolanda zusammen ist? Jolanda hat jetzt statt ihm einen Typen aus der neunten Klasse, der schon sechzehn ist und immer ein Baseballkappy“, erzählte Michael. Die Mädchen schüttelten synchron die Köpfe.
„Ich finde, dass diese Ziege gar keinen Freund verdient hat“, war Mathilda der Meinung. „Sie beurteilt Andere nur danach wie sie aussehen und wenn sie einen Neuen findet, den sie hübscher findet als ihren jetzigen Freund, dann macht sie mit ihm Schluss.“
„Hoffentlich hat er keinen Liebeskummer“, sagte Annemieke, ihr tat Jannis insgeheim leid. Nach einer Weile gingen die drei Jungs zur Wasserrutsche weiter.
„Wollen wir nicht eine Wasserschlacht machen, Mädels?“, schlug Mathilda mit leuchtenden Augen vor.
„Von mir aus gerne“, rief Annemieke begeistert. „Ich habe das Gefühl, dass ich bereits vor Hitze koche und daher eine Abkühlung brauche.“
„Wer als erstes im Becken ist, hat gewonnen!“, rief Mathilda und rannte los. Annemieke holte auf und überholte ihre Schwester kurz vor dem Ziel. Mit einem Schrei sprang sie in das Wellenbecken und hörte es neben sich platschen. Das war Mathilda, die kurz nach ihr ins Ziel kam und sich mit einer Arschbombe in die kalten Fluten stürzte. Aylin kam als Letzte an, da sie mit ihren kurzen Beinen nicht so schnell war und ließ sich langsam am Beckenrand ins Wasser gleiten. Jauchzend und lachend spritzten sich die Freundinnen gegenseitig nass und ließen sich von den Wellen tragen. Um sechs Uhr mussten die Zwillinge ihre Sachen packen und mit dem Fahrrad nach Hause fahren, da es bald Abendbrot gab.
Sandra ter Steegen, die Mutter der Zwillinge, hatte beim Abendessen eine Neuigkeit für ihre ganze Familie.
„Vorhin haben Freunde von mir angerufen, die nächste Freitag für zwei Wochen nach Brasilien fliegen“, erzählte sie mit ihrer ruhigen und sanften Stimme. „Ihre vierjährige Tochter Greta wird in dieser Zeit bei uns bleiben. Da euer Vater und ich tagsüber arbeiten müssen, wäre es eine gute Aufgabe für euch Zwillinge, auf die Kleine aufzupassen.“
Beinahe hätte sich Annemieke an einer Kirschtomate verschluckt. Entrüstet schaute sie ihre Mutter an. Zwischen ihrer Augen bildeten sich tiefe Furchen.
„Warum schaust du so böse, Micky?“, fragte ihre Mutter und war sich keiner Schuld bewusst.
„Du hättest uns ruhig vorher einmal fragen können“, antwortete Annemieke etwas patzig. „Ich habe nämlich wenig Lust die ganze Zeit auf ein kleines Blag aufzupassen, ich habe mir auch entspannte Ferien verdient.“
„Beruhig dich, Maus! Papa und ich werden abends auf Greta aufpassen, außer wenn wir ausgehen wollen“, beschwichtigte ihre Mutter sie.
„Warum soll ich es einfach so hinnehmen, dass ihr alles über meinen Kopf hinweg entscheidet?“, regte sich Annemieke weiter auf. „Ich lasse mir nicht von einem kleinen Frechdachs auf der Nase herumtanzen und mir dadurch die Ferien verderben.“
„Reg dich ab, Schwesterherz!“, raunte Mathilda und grinste verschmitzt: „Uns kann wenigstens nicht langweilig werden, wenn das kleine Mädchen da ist. Sie wird uns sicherlich auf Trab halten und so ein kleines Kind ist auch ganz niedlich.“
Plötzlich fing ihre Mutter herzlich an zu lachen.
„Was ist los, Sanni?“, fragte Rouven ter Steegen.
„Ich finde es immer so lustig, wie unterschiedlich unsere Töchter reagieren“, sagte sie immer noch lachend. „Ich hätte erwartet, dass Mathilda murrt und Annemieke sich über das kleine Mädchen freut.“
Annemieke sah sie immer noch mit einem säuerlichen Gesichtsausdruck an.
„Da hast du dich gewaltig getäuscht, Mama“, murmelte Annemieke und biss in ihr Käsebrot. Den ganzen Tag auf ein nerviges Kind aufpassen, das konnte bestimmt noch heiter werden! Nach dem Abendbrot suchten die Zwillinge nach ihren alten Spielsachen, die sie im Keller verstaut hatten.
„Da ist ja mein alter Kinderwagen mit meiner Puppe Lisa“, rief Annemieke begeistert.
„Nein, Lisa gehörte mir“, widersprach ihr Mathilda. „Deine Puppe hieß Sinje.“
Die Mädchen fanden außer ihren Puppen noch viel mehr: ein altes Prinzessinnenkostüm, den alten Kaufmannladen, Schaufel und Eimerchen, alte Barbys, ein Schaukelpferd und ein kleines Trampolin.
„Hier wird sich Greta niemals langweilen“, war sich Annemieke sicher und wischte den Staub von einem Karton.
Am Donnerstagabend klingelte es an der Tür, es waren die Herdmanns mit ihrer kleinen Tochter Greta.
„Hallo Alexander und Anja, schön dass ihr da seid. Hallo Greta, ich hoffe du wirst ein paar schöne Tage bei uns verbringen“, begrüßte Sandra ter Steegen die Gäste freundlich. „Kommt herein, ich habe etwas zum Abendessen zubereitet."
„Hallo, Mathilda“, sagte Frau Herdmann freundlich.
„Hallo!“, grüßte Annemieke zurück und sagte: „Ich bin aber Annemieke, meine Schwester ist noch im Badezimmer.“
„Mathilda soll sich aber beeilen, die Pizza ist gleich fertig“, meinte ihre Mutter und eilte in die Küche.
„Hallo, Greta! Ich bin Annemieke“, sagte Annemieke freundlich und beugte sich zu dem kleinen Mädchen herunter. Dass die Kleine so schüchtern war, damit hätte sie nicht gerechnet. Mit ihren großen blauen Augen sah Greta sie schüchtern an. Wer war diese Person? Annemieke verstand sofort, dass das kleine Mädchen leicht verunsichert war, weil sie die Umgebung und das Haus noch nicht kannte. Als auch noch Mathilda um die Ecke kam, schien für Greta die Verwirrung perfekt zu sein.
„Bestimmt ganz schön irritierend für die Kleine, dass meine Schwester und ich auf dem ersten Blick gleich aussehen", dachte Annemieke bei sich.
„Zwei Annemiekes“, bemerkte Greta mit ihrer zuckersüßen Kinderstimme. Die Zwillinge fingen zeitgleich an zu lachen.
„Nein, wir sind Zwillinge. Ich heiße Mathilda und das ist meine Schwester Annemieke“, versuchte Mathilda Greta zu erklären. „Wir waren zusammen in Mamas Bauch und wurden fast gleichzeitig geboren, nur ich bin wenige Minuten älter als meine Schwester und wurde zuerst geboren.“
„Die Pizza ist fertig!“, rief ihre Mutter aus der Küche. Die ter Steegens und ihre Gäste gingen ins Wohnzimmer und setzten sich an den großen, langen Tisch.
„Was möchtest du trinken, Greta?“, fragte Sandra ter Steegen freundlich.
„Apfelsaft! Ich will Apfelsaft“, erwiderte Greta strahlend und schob sich mit ihren kleinen Fingerchen ein Stück Pizza in den Mund.
„Wenn wir mit Fingern essen würden, gäbe es garantiert Schimpfe“, dachte Annemieke. Die Mutter der Zwillinge ging in die Küche und kam mit einer Flasche Apfelsaft wieder.
„Die Kleine wird ziemlich verwöhnt“, flüsterte Mathilda ihrer Schwester ins Ohr. „Wir müssen immer selber laufen, wenn wir etwas wollen.“
„Naja, immerhin ist sie unser Gast und Gäste bedient man", erwiderte Annemieke leise.
„Die Pizza schmeckt hervorragend“, lobte Herr Herdmann. „Hast du sie selbst gemacht, Sanni?“
„Danke“, erwiderte die Mutter der Zwillinge. „Ja, ich habe ein tolles Rezept im Internet gefunden und das wollte ich unbedingt ausprobieren.“
„Mama, darf ich noch ein Stück?“, bettelte Greta.
„Nein Mäuschen, du hast gerade schon ein großes Stück gegessen und wenn du noch ein zweites Stück ist, wird dir bestimmt schlecht. Außerdem gibt es gleich sowieso Eis mit Erdbeeren zum Nachtisch“, sagte ihre Mutter.
Nach dem Essen zeigten die Zwillinge ihrem kleinen Gast ihr ganzes Spielzeug.
„Ihr habt so viel Spielzeug“, rief Greta begeistert und schob den Puppenwagen durch den Flur.
„Sind eure Puppen auch Zwillinge?“, fragte sie.
„Ja, das sind sie“, bejahte Annemieke: „Lisa ist nur wenig älter als Sinje, weil wir sie zuerst aus dem Geschenkpapier gewickelt haben.“
Greta nahm beide Puppen aus dem Puppenwagen und hielt sie nebeneinander.
„Lisa hat über kürzere Haare als Sinje!“, bemerkte das kleine Mädchen und zupfte an Lisas kurzen Locken.
„Meine Schwester hat ihr einmal die Haare geschnitten, als sie noch im Kindergarten war. Sie wollte, dass Lisa genauso aussieht wie sie“, erzählte Annemieke grinsend.
Das kleine Mädchen zog die Puppen aus, zog ihnen neue Kleider an, gab ihnen die Flasche und setzte sie zusammen mit dem Teddy in den Puppenwagen.
„Ich schiebe Sinje und Lisa durch den Garten“, rief Greta fröhlich und verschwand. „Sie brauchen vor dem Schlafen noch ein bisschen frische Luft."
„Sie scheint wunderbar beschäftigt zu sein“, sagte Mathilda zufrieden und las in einem Buch weiter.
„Wenn sie immer so ruhig spielt, haben wir nicht viel Mühe mit ihr“, erwiderte Annemieke zufrieden. „Wir brauchen sie nur im Auge zu behalten und können nebenbei uns selber beschäftigen.“
„Cool, dann kann ich nebenbei Sims spielen", strahlte Mathilda. Die Zwillinge holten Mathildas Laptop und setzten sich an den Gartentisch, während die Kleine den Puppenwagen auf dem Rasen auf und ab schob. Wenn es so einfach war, dann war Babysitten ein Klacks.
Am späten Abend, als Greta bereits im Bett lag, fuhren die Herdmanns wieder. Mitten in der Nacht wurde Annemieke plötzlich wach und richtete sich in ihrem Bett auf. Irgendein ein Geräusch hatte sie geweckt, aber was war es? Ihre Schwester konnte es nicht gewesen sein, sie atmete ruhig und gleichmäßig. Jetzt hörte sie es wieder. Nebenan hörte sie ein Weinen und das konnte nur von Greta kommen. Ohne Licht zu machen stand sie auf und schlich über den Teppich zur Tür. Leise drückte sie die Türklinke runter und öffnete die Tür. Wie eine Indianerin schlich sie über den Flur und schaffte es kein Geräusch zu machen. Gegenüber von ihrem Zimmer war das Gästezimmer. Wieder hörte sie das kleine Mädchen schluchzen.
„Was ist denn los?“, flüsterte Annemieke als sie die Tür öffnete und machte das Licht an.
„Ich kann nicht einschlafen, ich vermisse Mama und Papa. Ich habe so eine große Angst im Dunkeln“, weinte das kleine Mädchen.
„Du brauchst nicht weinen“, tröstete Annemieke es. „Du bist hier nicht alleine und bald siehst du deine Eltern wieder. Soll ich dir eine Geschichte vorlesen?“
„Oh ja! Lies mir die Geschichte vom kleinen Biber vor, das ist nämlich mein Lieblingsbuch“, Greta hörte auf zu weinen und nickte. Annemieke setzte sich auf den Sessel, nahm Greta auf ihren Schoß und begann aus dem Buch „Der kleine Biber“ vorzulesen.
„Den Wolf mag ich nicht, weil er immer die andere Tiere ärgert“, sagte Greta.
„Ich kann dich verstehen“, erwiderte Annemieke. „Früher habe ich wirklich gedacht, dass Wölfe gefährlich sind, nachdem Mama uns das Märchen vom Rotkäppchen vorgelesen hat und ich wollte das Märchen nie wieder hören.“
„Ich werde niemals alleine in den Wald gehen“, murmelte Greta ängstlich.
„Glaube bloß nicht an böse Märchen! Erstens es gibt kaum noch Wölfe in Deutschland und zweitens Wölfe sind total ungefährlich“, meinte Annemieke und las weiter. Ihre ruhige und sanfte Stimme machte das kleine Mädchen schnell müde. Annemieke merkte, dass Gretas Kopf mitten in der Geschichte nach vorne fiel und das kleine Mädchen ruhig atmete.
„Was ist hier los?“, fragte Annemiekes Mutter, die in ihrem Schlafhemd in der Tür stand.
„Greta konnte nicht einschlafen, deshalb habe ich ihr eine Geschichte vorgelesen“, wisperte Annemieke.
„Dann ist alles okay“, sagte ihre Mutter. „Leg sie am besten wieder ins Bett, damit sie weiter schlafen kann.“
„Was war los?“, fragte Mathilda irritiert. Sie stand neben ihrer Mutter und rieb sich die Augen.
„Nichts besonderes“, meinte Annemieke. „Die Kleine konnte nicht einschlafen und deswegen habe ich ihr eine Geschichte vorgelesen.“
Sie brachte Greta wieder zurück ins Bettchen.
„Du solltest später unbedingt Kinderkrankenschwester oder Erzieherin werden“, murmelte ihre Schwester, als wieder in ihren Betten lagen. „Du kannst so gut mit Kindern umgehen, wenn du mit Leichtigkeit ein weinendes Kind beruhigen kannst.“
„Ne, ich will nach der Schule studieren und lieber Tierärztin oder Biologin werden“, gähnte Annemieke und kuschelte sich wieder in ihre Decke. Schnell schlief sie wieder ein.
„Aufstehen, Zwillingsmäuse!“, rief ihre Mutter und ließ das Rollo hochfahren.
„Muss das jetzt sein?!“, gähnte Mathilda und drehte sich wieder um.
„Papa und ich gehen gleich zur Arbeit und ihr müsst auf das kleine Mädchen aufpassen.“
„Mensch Mama, wir haben Ferien“, stöhnte Annemieke genervt und zog ihre Decke über das Gesicht.
„Ich komme um ein Uhr schon wieder und ab da passe ich auf die Kleine auf. Ihr braucht heute nicht kochen, das werde ich machen“, sagte ihre Mutter. Murrend zogen sich die Mädchen an.
„Hoffentlich ist die Kleine so pflegeleicht wie gestern", meinte Mathilda, während sie die Treppe hinunter hüpften. Annemieke nickte nur und hoffte ebenfalls, dass Greta so ruhig und artig war wie gestern.
Greta hatte bereits gefrühstückt. Sie saß immer noch am Tisch und blätterte in einem Bilderbuch, während die Zwillinge schnell einen Toast verdrückten.
„Darf ich die Vögel fliegen lassen?“, fragte Greta, die die Nymphensittiche entdeckt hatte.
„Nein, lass den Käfig zu!“, rief Mathilda und sprang auf.
„Ich will aber sehen, wie sie fliegen!“, bettelte das kleine Mädchen trotzig.
„Du kannst die Vögel nicht einfach fliegen lassen!“, rief Mathilda gereizt. „Du siehst doch, dass das Fenster offen ist und nachher können wir sie nicht wieder einfangen.“
„Das ist total gemein von dir!“, plärrte Greta los. „Deine Mama hat mir aber versprochen, dass ich die Vögel streicheln darf.“
„Pass auf, Greta, wenn wir mit dem Frühstück fertig sind, nehme ich Klaas auf die Hand. Er ist zahm und lässt sich streicheln“, beschwichtigte Annemieke das kleine Mädchen. „Allerdings musst du ganz vorsichtig sein, Vögel haben ziemlich zerbrechliche Knochen und deshalb darfst du ihn nicht drücken.“
Gretas Miene hellte sich auf und geduldig setzte sie sich zu ihren Babysitterinnen an den Tisch.
„Ich gehe eben einkaufen“, sagte Mathilda. „Wir brauchen noch ziemlich viel, Mama hat uns eine ellenlange Einkaufsliste geschrieben.“
Annemieke seufzte und hörte wie die Haustür ins Schloss fiel. Warum musste Mathilda sie mit einem kleinen nervigen Kind alleine lassen?!
„Jetzt nehmen wir Klaas aus dem Käfig“, sagte Annemieke zu Greta. „Piet können wir nicht rausnehmen, weil er nicht richtig zahm ist.“
„Jetzt kann ich endlich den Vogel streicheln“, Greta strahlte über das ganze Gesicht. Annemieke pfiff eine Melodie und hielt Klaas ein Leckerli hin.
„Klaas, komm auf meine Hand!“, zwitscherte sie. Der Nymphensittich gehorchte ihr und krabbelte auf ihre Hand. Vorsichtig streichelte Greta ihm über den Rücken.
„Der ist so süß und hat ja ganz weiche Federn!“, schwärmte das kleine Mädchen und konnte nicht aufhören den Vogel zu streicheln.
„Ich habe Klaas beigebracht, dass er seinen eigenen Namen und Hallo sagen kann“, erzählte Annemieke.
„Hallo hallo hallo hallo hallo hallo“, krächzte der Sittich.
„Hallo Klaas!“, fing Greta an zu lachen.
„Mach das noch mal, Klaas“, rief sie und klatschte. Erneut gab der Vogel alle Worte von sich, die er sagen konnte.
„Ich glaube, wir tuhen ihn wieder in den Käfig zurück“, sagte Annemieke. „Es wird ihm sonst zu viel.“
„Jetzt will ich Prinzessin sein!“, rief Greta und hielt Annemieke ihr altes Prinzessinnenkleid hin.
„Na gut, dann helfe ich dir es anzuziehen“, meinte Annemieke und unterdrückte ein Seufzen.
„Jetzt sehe ich wie eine richtige Prinzessin aus“, sagte das kleine Mädchen gegeistert, während Annemieke Gretas rotblonde Locken zusammen band.
„Dir fehlt nur noch die Krone. Warte ich hole sie aus dem Keller!“, rief Annemieke und rannte los. Da das Wetter sehr schön war, beschloss Annemieke mit Greta im Garten zu spielen. Aus einem Tisch zwei Stühlen, einer Liege und einer Decke baute sich Greta ihr eigenes Schloss.
„Du bist jetzt mein Einhorn, Annemieke!“, rief Greta.
„Okay, dann steig auf meinen Rücken“, meinte Annemieke und nahm Greta Huckepack.
„Hüa hüa!“, rief Greta. „Die Prinzessin will durch ihr Blumenland fliegen!“
Annemieke rannte eine Runde mit der kleinen Prinzessin durch den ganzen Garten, bis sie keuchend stehen blieb. Das kleine Mädchen war doch nicht so leicht, wie es aussah.
„Dein Einhorn braucht einen Moment Pause“, sagte sie zu Prinzessin Greta. Langsam setzte sie das kleine Mädchen wieder auf dem Rasen ab.
„Dann will ich jetzt ein Glas Limonade trinken“, rief Greta.
„Wie heißt das Zauberwort?“, erwiderte Annemieke.
„Bitte!“, schrie das kleine Mädchen fast. Annemieke rannte in die Küche und holte eine Flasche Limonade und zwei Gläser.
„Mir gefällt es im Königreich Blumenland sehr gut“, sagte Greta Limonade schlürfend. „Jetzt brauche ich nur noch einen König. Willst du nicht mein König sein?“
„Ich bin doch schon dein Einhorn“, erwiderte Annemieke.
„Du kannst ruhig beides sein“, sagte die kleine Prinzessin.
„Na gut“, sagte Annemieke. „Dann bin ich dein König und dein Einhorn zugleich.“
„Du kannst auch noch mein Diner, meine Katze und mein Hofhund sein“, rief Greta begeistert.
„Na gut“, seufzte Annemieke und goss der Prinzessin erneut ein wenig Limonade ein.
„Was kann ich für euch tun, Eure Majestät?“, fragte der Diner, der gleichzeitig der König, das Einhorn, die Katze und der Hofhund war.
„So! Die Prinzessin will noch eine Runde über das Blumenland fliegen“, befahl das kleine Mädchen. Annemieke seufzte und nahm die kleine Prinzessin auf ihren Rücken.
„Die kleine Prinzessin lässt dich ganz schön viel hin und her laufen“, rief Mathilda aus dem Küchenfenster und musste lachen.
„Kümmere du dich um die kleine Pascherin“, rief Annemieke gereizt und blieb abrupt stehen. Beinahe wäre Greta über ihre Schulter gefallen, wenn sie sich nicht an Annemiekes Locken festgehalten hätte.
Aua!“, schrie sie. „Zieh nicht so doll an meinen Haaren, das tut mir weh!“
„Micky, soll ich übernehmen?“, bot ihre Schwester an. „Schließlich habe ich dich mehr als eine Stunde mit ihr alleine gelassen.“
„Gerne, ich bin schon total verschwitzt“, seufzte Annemieke erleichtert und machte sich auf dem Weg zum Badezimmer. Sie ließ das lauwarme Wasser über ihren Rücken laufen und sang einen Song mit, den sie gerade im Radio hörte. Es gab nichts Schöneres als eine Abkühlung in Form von Wasser bei diesem schweißtreibenden Wetter. Wie neu geboren stieg sie aus der Dusche, trocknete sich ab und zog ihren Bademantel an. Pfeifend ging sie in ihr Zimmer und öffnete ihren Kleiderschrank. Sie entschied sich für ein hellgrünes Tanktop und einen fliederfarbenen, kurzen Rock. In Windeseile zog sie sich an und hopste die Treppenstufen runter.
„Matti, solltest du nicht auf die Kleine aufpassen?“, sagte sie streng als sie die Tür zur Terrasse öffnete und zog ihre Augenbrauen hoch.
„Was hast du, Schwesterchen?“, entrüstete sich Mathilda und schleckte an ihrem Eis. „Die Kleine spielt ganz wunderbar in unserem alten Sandkasten.“
„Hat sie immer noch ihr Prinzessinnenkleid an?“, fragte Annemieke scharf.
„Darauf habe ich noch nicht geachtet“, sagte Mathilda lässig und lehnte sich zurück. „Ich habe ihr nur unser altes Sandspielzeug gegeben und sie zum Spielen geschickt, damit sie beschäftigt ist.“
„Wollt ihr einen meinen Sandkuchen probieren?“, hörten sie Greta rufen. Die Schwestern gingen zu ihr.
„Gerne, ich esse unheimlich gerne Sandkuchen, die unsere Prinzessin gebacken hat“, sagte Annemieke und tat so, als ob sie den Sandklumpen essen würde. Erst einen Moment später fiel ihr auf, wie dreckig das Kleid war.
„Ich glaube, du tickst nicht mehr ganz richtig!“, herrschte sie Mathilda an. „Wie kannst du sie mit diesem Kleid in der Sandkiste spielen lassen?!“
Mathilda starrte ihre wütende Schwester sprachlos an.
„Diese Flecken werden wir wahrscheinlich nie wieder aus diesem Kleid heraus bekommen“, fuhr Annemieke fort. „Darüber hinaus war es mein Kleid, das ich vom Kindergarten bis zur zweiten Klasse zum Fasching getragen habe!“
„Reg dich endlich ab!“, rief Mathilda beschwichtigend. „Das Kleid kannst du längst nicht mehr tragen.“
„Mich regt es auf, dass ich für dich dauernd mitdenken muss“, versuchte Annemieke ihrer Schwester geduldig zu erklären. „Oft denkst du nicht von hier bis zur Tür und dann muss ich deine Fehler ständig ausbügeln.“
„Ich gestehe, du bist die bessere Babysitterin von uns“, sagte Mathilda mit niedergeschlagenen Augen.
„Mögt ihr eine Abkühlung?“, fragte Greta und beendete die Auseinandersetzung der Zwillinge, indem sie den Wasserschlauch auf Mathilda richtete.
„Aaahh, du machst mich ganz nass!“, kreischte Mathilda und rannte wie ein Kaninchen durch den Garten.
„Jetzt hält die kleine Prinzessin dich auf Trab und nicht mich“, Annemieke konnte ihr Lachen nicht mehr halten.
„Du blöde Kuh!“, rief Mathilda in Annemiekes Richtung und versuchte dem Wasserstrahl auszuweichen. Plötzlich hatte Annemieke doch Mitleid mit ihrer Schwester und drehte den Wasserhahn zu.
„Jetzt muss ich mich wegen der kleinen Kröte umziehen“, empörte sich Matilda.
„Eine kleine Abkühlung hast du dir aber verdienst!“, neckte Annemieke und musste sich vor einer Wäscheklammer bücken, die ihre Schwester nach ihr warf. Greta kicherte und warf Annemieke einen verschwörerischen Blick zu.
Etwas später saßen die Zwillinge, ihre Mutter und Greta beim Mittagessen. Heute gab es Spagetti.
„Ich finde Tomatensoße toll!“, rief Greta begeistert. „Das spritzt so schön!“
„Igitt, lass das!“, schimpfte Mathilda. „Ich kriege deine Tomatenspritzer sonst ab und ich habe mich gerade eben wegen dir schon umziehen müssen.“
„Man kann auch Spagetti essen, ohne zu spritzen“, wandte ihre Mutter ein. „Warte, ich zeige es dir.“
Die Mutter der Zwillinge zeigte dem kleinen Mädchen, wie man die Spagetti auf die Gabel aufwickelte.
„Sie soll nicht so schmatzen, das ist total ekelig!“, angewidert verzog Mathilda das Gesicht.
„Stell dich nicht so an, Matti!“, zischte ihre Schwester. „Als kleines Kind hast du genauso gegessen und damals lag die halbe Portion auf dem Fußboden!“
Peinlich berührt schwieg Mathilda und konzentrierte sich selber auf das Essen, bis jetzt hatte sie kaum etwas von ihren Nudeln gegessen und langsam wurden sie kalt.
„Was habt ihr heute Vormittag gemacht?“, wollte ihre Mutter wissen. „Seid ihr ohne mich zurecht gekommen?“
„Das ging ganz gut“, meinte Mathilda.
„Wir haben den ganzen Vormittag draußen gespielt“, ergänzte Annemieke.
„Annemieke war mein Einhorn, mein Diner, mein Kätzchen, mein König und mein Hofhund“, erzählte Greta stolz. „Natürlich war ich die Prinzessin.“
„Das Kleid hast du auch erfolgreich dreckig gemacht!“, wandte Mathilda ein.
„Ach, das ist nicht so schlimm“, meinte ihre Mutter. „Das Kleid können wir gleich in die Waschmaschine tuhen und dann gehen die Flecken wieder raus. Außerdem kenne ich auch jemanden, der früher gerne seine Kleider dreckig gemacht hat, weil diejenige gerne in Pfützen gesprungen ist. Da brauche ich keinen scharf angucken, Matti!“
Mathilda wurde rot im Gesicht.
„Wir können heute Nachmittag zum Badesee fahren. Was hält ihr davon?“, schlug ihre Mutter vor.
„Super Idee, Mama!“, riefen die Zwillinge gleichzeitig.
Die Zwillinge waren froh, dass sie für den Rest des Tages nicht mit dem kleinen Mädchen alleine gelassen wurden. Abwechselnd sonnten sie sich auf der Wiese, gingen schwimmen und holten sich ein Softeis.
„Zwillinge, könnt ihr mir die kleine Maus abnehmen?“, bat ihre Mutter. „Ich will mich einen Moment in die Sonne legen und mich ausruhen.“
„Das machen wir“, antwortete Annemieke träge. In diesem Moment bekamen Mathilda und sie eine Nachricht von Kiki auf ihre Handys.
„Kiki kommt morgen wieder!“, jubelte Mathilda. „Das heißt wohl für mich, dass es in den Ferien nicht mehr langweilig sein wird!“
„Ich will Ball spielen!“, rief Greta und warf den aufgeblasenen Wasserball in die Luft. Zum Spielen gingen die drei Mädchen ins Wasser, so dass Greta bis Brust im Stand und den Zwillingen das Wasser bis zu den Oberschenkeln stand.
„Hol ihn dir!“, rief Mathilda und warf den Ball weit über Gretas Kopf, sodass er an Land flog und über die Wiese rollte. Greta rannte dem Ball wie ein Jagdhund hinterher.
„Du hättest den Ball nicht hoch werfen sollen!“, tadelte Annemieke ihre Schwester.
„Du neunmalkluge Ziege! Du musst alles immer besser wissen und deiner älteren Schwester immer Ratschläge erteilen, dabei habe ich einen eigenen Verstand“, raunte Mathilda und zog Annemieke fast das Bikinioberteil weg. Wenig später war Mathildas Kreischen zu hören, als Annemieke kurz ihren Kopf unter Wasser drückte und sie durchkitzelte. Nach einer kurzen Rangelei sahen sich die Zwillinge keuchend an.
„Du bist die Beste!“, strahlte Mathilda. „Mit dir kann man am meisten Spaß haben.“
Auf einmal merkten sie, dass Greta nicht mehr da war.
„Wo ist Greta?“, rief Annemieke und hielt vor Schreck die Luft an.
„Das kann nicht wahr sein, sie war vor einer Minute noch hier!“, stöhnte ihre Schwester und suchte mit ihren Adleraugen den Strand ab.
„Ich sehe sie nicht“, sagte Annemieke leise und versuchte die Ruhe zu bewahren.
„Ich gehe in diese Richtung und du in die Andere“, ergriff Mathilda die Initiative. „Wenn wir sie nicht finden, treffen wir uns in zehn Minuten wieder hier.“
Annmieke ging in ihre Richtung, hielt ununterbrochen Ausschau nach einem kleinen rothaarigen Mädchen und fragte sogar einige Leute.
„Ich kann dir leider nicht sagen, wo das Kind ist“, sagte eine ältere Frau. „Frag am besten die Familie dort hinten.“
Annemieke ging weiter, mittlerweile war ihr richtig flau im Magen und ihr Puls raste.
„Annemieke!“, schrie ihre Schwester von weitem und winkte sie zu sich rüber.
„Ich habe sie nicht gefunden. Weißt der Teufel, wo sie steckt!“, seufzte Mathilda niedergeschlagen.
„Wir müssen es Mama sagen“, rief Annemieke panisch.
„Was ist mit euch los?“, fragte ihre Mutter, als sie die aufgelösten Zwillinge sah.
„Mama, Greta ist weg!“, presste Mathilda verzweifelt aus sich heraus.
„Greta sollte den Ball wiederholen, aber sie kam einfach nicht wieder und wir suchen sie schon seit einigen Minuten“, erzählte Annemieke atemlos.
„Macht euch nicht verrückt!“, versuchte ihre Mutter sie zu beruhigen. „Wir suchen sie noch mal und irgendwo wird sie wohl sein, das ist keine Frage.“
Zu dritt suchten sie den ganzen Strand ab und Mathilda schwamm den gesamten Badebereich ab. Das kleine Mädchen tauchte nicht wieder auf. Langsam merkte Annemieke, dass auch ihre Mutter nervös wurde.
„Ich kann sie nicht finden!“, rief Mathilda aufgewühlt und den Tränen nah. „Vielleicht liegt sie mitten im See auf dem Grund und ist bereits ertrunken.“
Dieser Gedanke trieb Annemieke Tränen in die Augen, einen Augenblick hielt sie die Luft an und schaute in den Himmel, weil sie nicht weinen wollte.
„Mathilda, red nicht so ein dummes Zeug! Greta kann nicht schwimmen und käme nie auf die Idee mit ihren Schwimmflügelchen auf den See hinaus zu schwimmen“, entgegnete ihre Mutter.
„Ihr sucht ein kleines Mädchen mit roten Haaren“, sagte ein kleiner Junge mit Taucherbrille, der plötzlich neben ihnen stand.
„Ich habe eins mit einem rosa Badeanzug unter der Seebrücke sitzen sehen“, fuhr er fort.
„Vielen dank, dass du uns den Hinweis gegeben hast“, sagte ihre Mutter zu dem Jungen und atmete vor Erleichterung tief durch. „Wir schauen sofort nach, ob sie da ist.“
Tatsächlich Greta saß auf einem Stein unter der Brücke und heulte wie ein Schlosshund.
„Greta!“, rief die Mutter der Zwillinge. „Wir haben dich gerade schon gesucht, du kannst doch nicht einfach so weglaufen und dich verstecken.“
Greta schluchzte noch heftiger.
„Was hast du denn?“, fragte Annemieke mitfühlend.
„Ich bin hingefallen, als ich den Ball holte und habe ihn dabei kaputt gemacht“, schniefte das kleine Mädchen. „Jetzt sind nur noch Fetzen von ihm übrig. Ich habe mich versteckt, weil ich Angst hatte, dass Mathilda heftig mit mir schimpft. Sie ist öfter böse zu mir.“
Mathilda legte ihren Arm um Greta.
„Ich bin nicht sauer, weil du den Ball kaputt gemacht hast. Sowas kann jedem Mal passieren, das hätte auch mir passieren können. Aber du hast uns gerade eben ganz schön in Angst versetzt, weil du dich versteckt hast und wir gedacht hätten, dir sei etwas Schlimmes passiert“, redete sie ruhig auf das kleine zitternde Mädchen ein.
„Den Ball haben wir sowieso irgendwann geschenkt bekommen und daher ist es nicht so wild“, meinte ihre Mutter. „Wollen wir nach dem Schreck nicht ein Eis essen?“
Die drei Mädchen nickten gleichzeitig. Wenig später standen sie am Kiosk und schleckten ein Eis. Greta hatte sich wieder beruhigt und spielte mit einem neuen Wasserball, den sie gekauft hatten. Das Lächeln in ihrem niedlichen Kindergesicht wollte nicht weichen.
„Du läufst uns aber nicht noch einmal weg“, redete Sandra ter Steegen Greta ins Gewissen. „Heute war schon Aufregung genug.“
Greta nickte und entschuldigte sich kleinlaut, während die Mutter der Zwillinge sie abtrocknete und anzog.
Die Zwillinge gewöhnten sich schnell daran, dass sie auf das kleine Mädchen aufpassen mussten und nahmen es sogar zu einem Bandentreffen mit. Zum Glück verhielt sich Greta viel artiger als am ersten Tag und fütterte mit Eifer die beiden Kaninchen, die die lebendigen Bandenmaskottchen der Roten Tulpen waren. Normalerweise kümmerten sich die Eltern der Zwillinge abends um das kleine Mädchen, aber am Mittwochabend wollten sie ins Kino und deshalb mussten die Zwillinge auf Greta aufpassen. Annemieke war ziemlich genervt, schon wieder mussten sie das kleine Mädchen mitnehmen, da sie sich mit Kiki und Emily in der Eisdiele treffen wollten und auf keinen Fall wollte sie deswegen die Verabredung absagen.
„Wir gehen jetzt Eis essen und du kannst gerne meinen alten Roller nehmen“, versprach Annemieke Greta und die Augen des kleinen Mädchens fingen an zu strahlen.
„Deinen Roller finde ich toll“, rief Greta. „Ich will auch so einen rosa Roller mit Blumen haben.“
Das kleine Mädchen schnappte sich den Roller und probierte ihn aus.
„Hui hui hui! Mit dem kann ich ganz schnell fahren“, rief sie begeistert, während sie die Straße hin und her flitzte.
„Warte auf uns!“, rief Annemieke. „Mathilda und ich müssen uns die Schuhe anziehen.“
„Hast du gecheckt, ob die Terrassentür und alle Fenster zu sind?", tippte ihr Mathilda auf die Schulter.
„Shit! Fast vergessen", rannte Annemieke hastig ins Wohnzimmer, während Mathilda das Küchenfenster schloss. Die Zwillinge merkten nicht, wie sich Greta hinter ihrem Rücken davonstahl.
Annemieke entschied sich für ihre roten Ballerinas, die sie sonst selten anhatte, während ihre Schwester wie immer Sneakers trug.
„Greta!“, hörte Annemieke ihre Schwester brüllen. „Greta, wo steckst du? Komm auf die Stelle zurück!“
Zu allem Überfluss war auch der kleine Roller weg.
„Mist, ist sie wirklich verschwunden?“, fragte Annemieke mit klopfenden Herzen.
„Ja, vielleicht ist sie nur hinter der Hecke“, vermutete Mathilda. „Oder sie hat sich hinter den Mülltonnen versteckt, um uns einen Streich zu spielen.“
Die Zwillinge riefen unterbrochen ihren Namen und suchten die ganze Straße nach ihr ab. Das Mädchen war einfach nicht aufzufinden.
„Es hilft nichts!“, keuchte Mathilda. „Wir müssen sie überall suchen, lass uns auf dem Spielplatz nebenan schauen, vielleicht wollte sie da unbedingt hin.“
Annemieke fühlte sich elend und bekam einen dicken Kloß im Hals, der sich nicht lösen wollte.
„Wir sind nur zwei blöde Versagerinnen, die zu doof sind, um auf ein Kind aufzupassen. Wie kann ein Mädchen, das fast zehn Jahre jünger ist als wir, uns so alt aussehen lassen“, dachte sie niedergeschlagen und hakte sich bei ihrer Schwester unter.
„Na toll, auf dem Spielplatz ist natürlich niemand. Ich habe fest damit gerechnet, dass sie entweder auf der Schaukel sitzt oder rutscht“, sagte Mathilda enttäuscht. Annemieke ließ ihren Blick über die Rutsche, die Wippe, den Spielturm und die Schaukel schweifen, aber es war dort kein Mensch zu sehen. Bedrückt gingen die Schwestern weiter und suchten jetzt in den Seitenstraßen, dort war auch keine Spur von Greta. Nur ein Hund bellte die Mädchen böse an, als sie bei der alten Witwe Hauswald vorbei liefen.
„Verdammt, es ist meine Schuld“, jammerte Annemieke und biss sich vor Wut auf ihre Lippe. „Ich hätte ihr diesen bescheuerten Roller nicht geben dürfen, wenn sie damit so schnell wird.“
„Das war auch ziemlich leichtsinnig von dir, Micky“, meinte ihre Schwester.
„Greta, wo bist du?“, brüllte Annemieke solange, bis sie langsam heiser wurde.
„Wir suchen sie jetzt auf dem Spielplatz vor unserer alten Grundschule“, beschloss Mathilda und zog ihre Schwester mit sich her. Der Weg zu ihrer alten Grundschule dauerte ungefähr zehn Minuten. Auf dem Spielplatz waren nur zwei Jungs und von Greta war nichts zu sehen.
„Scheiße, wir haben es mega vermasselt und jetzt müssen wir es ausbaden, dass uns die Kleine weggelaufen ist. Mit dem Roller ist sie uns eh immer einen Schritt voraus“, fluchte Mathilda und wurde vor Aufregung puterrot im Gesicht. Annemieke fing an schwitzen und bekam wackelige Knie.
„Ich muss mich dringend einen Moment hinsetzen, meine Beine sind wie Wackelpudding“, klagte sie und setzte sich auf eine Bank. Mittlerweile taten ihr von der vielen Lauferei die Füße weh, da sie in Ballerinas unterwegs war, die ziemlich heftig scheuerten.
„Was machen wir jetzt?“, stöhnte Mathilda hoffnungslos und wischte sich über schweißnasse Stirn.
„Wir müssen wohl die Polizei rufen“, erwiderte Annemieke. „Etwas anderes bleibt uns in diesem Moment nicht übrig. Mein Handy ist leider zuhause, da es aufladen muss. Hast du dein Handy dabei?“
Ihre Schwester nickte: „Ich habe es in der Hosentasche, aber der Akku ist nur noch bei sieben Prozent und ich habe kein Guthaben mehr.“
„So ein verdammter Mist aber auch!“, ließ Annemieke den Kopf hängen.
„Wir werden sie wohl weiter suchen müssen“, seufzte ihr Zwilling resigniert.
„Wir können noch mal in die andere Richtung gehen, dort waren wir noch nicht“ , fiel Annemieke ein.
„Das ist eine gute Idee, dort gibt es eine Bäckerei. Vielleicht steht sie vor dem Schaufenster und sieht sich die vielen Torten an“, hellte sich Mathildas Gesicht auf.
„Das glaubst du wohl nicht im Ernst, Matti! Sei endlich realistisch und schalte dein Hirn ein. Wir müssen uns zusammen reißen und das Kind suchen“, reagierte Annemieke gereizt auf den Kommentar ihrer Schwester.
„Ich weiß notfalls werden wir Greta bis in die Nacht suchen“, grummelte Mathilda.
„Hoffentlich finden wir sie, bevor es dunkel wird. Im Dunkeln ist die Chance gering, dass wir sie finden“, bangte Annemieke.
Die Mädchen gingen jetzt an der Bäckerei und dem alten Bauernhaus vorbei. Sie befragten einige Passanten, die ihnen entgegen kamen, aber keiner konnte ihnen eine gescheite Antwort geben.
„Sie kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben“, jammerte Mathilda. „Greta ist ein Mädchen und kein Geist.“
„Lass uns kurz hinsetzen, ich kann nicht mehr“, stöhnte Annemieke. „Meine Beine brechen gleich unter mir weg.“
„Nein, wir müssen sie erst finden“, beharrte Mathilda und zog ihre Schwester so heftig mit sich, dass sie stolperte und fast hinfiel.
„Wegen dir wäre ich fast hingefallen“, beschwerte sich Annemieke und rieb sich ihren schmerzenden Fuß.
„Komm schon! Wir haben nicht ewig Zeit“, rief Mathilda. Schweigend suchten die Zwillinge weiter, von Minute zu Minute sank ihre Hoffung und ihre Stimmung sank ebenfalls in den Keller.
„Wir sind bestimmt über eine halbe Stunde zu spät zu unserer Verabredung“, bemerkte Annemieke und zeigte dabei auf ihre Armbanduhr.
„Das ist mir doch egal!“, rief Mathilda mit Tränen in den Augen. „Diese kleine Kröte hat uns den Abend eh schon verdorben. Von mir aus können wir die Verabredung abblasen. Ich will nur noch ins Bett."
Mathilda war anzusehen, dass sie einen Wutanfall nur mit Mühe und Not unterdrücken konnte.
„Wir werden sie weiter suchen, basta! Mir tuhen gerade verdammt die Füße weh, aber das ist jetzt nicht wichtig. Ich darf jetzt nicht aufgeben und dich alleine lassen“, redete Annemieke auf ihre Schwester ein. Es fiel ihr sehr schwer ruhig zu wirken, da in ihr der Vulkan der Angst und der Verzweiflung brodelte.
„Verdammt, diese kleine Göre ist weg und wir werden von unseren Eltern einen riesigen Einlauf kriegen. Bestimmt kriegen wir drei Wochen Hausarrest und uns wird das Taschengeld gestrichen“, rief Mathilda außer sich und fing an hemmungslos zu heulen. Annemieke standen ebenfalls die Tränen in den Augen und ihr war auch zum Weinen zumute. Jedoch war sie besonnener als ihre Schwester und zwang sich zu beherrschen, obwohl es in dieser Situation nicht einfach war.
Tröstend umarmte sie Mathilda, während ihre eigene Ohnmacht sie fast lähmte.
„Ich weiß nicht, wo wir das Biest suchen sollen“, schluchzte Mathilda und wischte ihre Tränen weg. Plötzlich klingelte ihr Handy.
„Hallo, hier spricht Mathilda“, meldete sie sich mit tränenerstickter Stimme. „Wer ist da?“
Annemieke sah, dass sich die Miene ihrer Schwester sich aufhellte während sie telefonierte und sie plötzlich einen Jubelschrei ausstieß.
„Wie bitte? Was?", drehte sich Annemieke abrupt zu ihr um. Was war jetzt auf einmal los?
„Sie ist im Eiscafé bei Kiki und Emily. Oh mein Gott, wir sind blöd, warum haben wir nicht im Eiscafé gesucht?“, schrie Mathilda ihrer Schwester ins Ohr und fasste sie an den Händen. Vor Freude und Erleichterung hüpften sie die Straßen entlang. Annemiekes Fußschmerzen waren wie weggeblasen und mit Leichtigkeit hüpfte sie von einem Bein auf das Andere.
„Woher haben Kiki und Emily gewusst, wie Greta aussieht und dass sie uns zu uns gehört?", war Annemieke immer noch baff.
„Ihnen war ein kleines Mädchen aufgefallen, welches alleine und ratlos vor der Eisdiele stand", fing Mathilda an zu erzählen. „Kiki hat nach dem Namen gefragt und dann sagte das Mädchen, dass es Greta heiße und mit Annemieke und Mathilda ein Eis essen wollte."
„Hey, Zwillinge! Da seid ihr endlich!“, wurden sie von Kiki begrüßt und fügte neckend hinzu: „Greta war im Gegensatz zu euch sehr pünktlich gewesen.“
Das kleine Mädchen saß mit ihren Freundinnen am Tisch und sah die Zwillinge mit großen unschuldigen Augen an.
„Mit dir habe ich noch ein Hühnchen zu rupfen, du kleine Ausreißerin!“, sagte Mathilda streng zu Greta.
„Wieso? Ihr wolltet doch Eisessen und ich bin mit dem Roller schon einmal vorgefahren“, antwortete Greta unschuldig dreinschauend und schleckte ihr Erdbeereis.
„Ihr habt der kleinen Ausreißerin ein Eis spendiert“, bemerkte Annemieke tadelnd.
„Wir wollten doch nur nett sein“, verteidigte sich Emily, „Allerdings hätten wir euch früher bescheid sagen können, aber wir sind erst nach einer halben Stunden darauf gekommen. Das tut uns leid, dass ihr deswegen so eine Panik geschoben habt. Sorry!“
„Stimmt, ihr seht rattenfertig aus, Zwillinge“, fügte Kiki hinzu. Die Bedienung kam an den Tisch.
„Guten Abend, habt ihr schon entschieden, welches Eis ihr nehmt?“, fragte sie. Die Zwillinge bestellten sich beide einen großen Bananensplit, da sie keine große Lust hatten, stundenlang die Eiskarte zu studieren.
Normalerweise liebte Annemieke Joghurteis mit Früchten, während ihre Schwester den Haselnussbecher und Schokoladeneis bevorzugte.
„Was kommen Lotta und Fianna wieder aus dem Urlaub zurück?“, fragte Mathilda und ließ ein Stück Banane in ihrem Mund verschwinden.
„Lotta wird übermorgen wiederkommen und Fianna ist bis Samstag bei ihren Großeltern in Irland“, wusste Kiki.
„Juhuu, ab nächster Woche sind wir wieder komplett“, freute sich Annemieke.
„Wie waren eure Ferien?“, fragte Emily.
„Genial! Wir waren zwei Wochen mit dem Wohnwagen in Italien, Kroatien, in der Schweiz und in der Vatikanstadt. Es war jeden Tag sonnig und daher konnten wir oft im Mittelmeer schwimmen. Das Beste war jedoch das Eis, es schmeckte fantastisch“, schwärmte Mathilda.
„Außerdem haben wir einen total süßen Jungen kennen gelernt, der Alessandro heißt und schon sechzehn ist“, ergänzte Annemieke. „Ich habe ihm erst gestern eine Nachricht auf Englisch geschrieben.“
„Kann er kein Wort Deutsch?“, fragte Emily. Annemieke schüttelte den Kopf. „Leider nein, er kann nur ein wenig Englisch.“
„Wie ihr wisst haben wir mit den Piranhas Bandenfrieden vereinbart“, wechselte Kiki das Thema. Sie redete ungern darüber, welchen Jungen sie nun süß fand oder wen sie hässlich findet. Zugegebenweiser hatte sie noch nie einen Schwarm. Gerade als die Freundinnen über die Piranhas sprachen, kamen auch schon Lennart und Max auf ihren Skateboards um die Ecke.
„Hey, Mädels!“, rief Lennart. „Seid ihr auch wieder an Land geschwommen?“
„Das seht ihr doch! Oder habt ihr Tomaten auf den Augen?“, neckte Kiki die Jungen freundlich.
„Ne, wir wollen uns auch ein Eis holen“, meinte Max und warf den Bandengirls einen freundlichen Blick zu.
„Auch Piranhas essen gerne Eis, am liebsten Karamell- und Schokoladeneis“, betonte Lennart. Nachdem die beiden Jungs ihr Eis in der Waffel bestellt hatten, rauschten sie wieder auf ihren Brettern davon. Die Zwillinge und ihre Freundinnen genossen den Abend, die schlechte Stimmung und die Aufregung hatte sich aufgelöst, wie ein Tropfen Tinte in einer Pfütze. Doch um kurz vor zehn fielen Greta fast die Augen zu. Es war höchste Zeit für die Zwillinge nach Hause zu gehen und Greta ins Bett zu bringen.
Am nächsten Tag gingen Annemieke und Mathilda mit Greta im Wald spazieren, nachdem sie kurz die Kaninchen im Schrebergarten versorgt hatten. Es war auch nicht mehr so heiß wie in den letzten Tagen, daher konnte man sich draußen wieder einigermaßen bewegen.
„Da ist ein Vogel, da ist ein Eichhörnchen und gerade eben habe ich ein Kaninchen gesehen“, rief Greta fröhlich und hüpfte den Waldweg entlang. Über ihren Köpfen zwitscherten einige hundert Vögel, Waldameisen krochen über den Boden und eine Heerschar von Bienen war unterwegs, um Nektar zu sammeln.
„Greta, nicht so schnell!“, rief Annemieke. Doch das kleine Mädchen verschwand hinter einer Tanne und war nicht mehr zu sehen. Hastig rannten die Zwillinge Greta nach. Einen Moment lang passte Annemieke nicht auf und merkte benommen, dass sie auf dem harten Waldboden lag.
„Mist, ich bin über einen Ast gefallen!“, fluchte Annemieke und rappelte sich wieder auf. Mathilda konnte das kleine Mädchen stellen und packte es fest am Arm.
„Du haust uns nicht noch mal ab und bleibst mir an der Hand“, knurrte sie.
„Aber da ist ein großes Haus!“, rief Greta und zeigte in die Richtung eines Baumes. Erst beim genaueren Hinsehen, erkannte Annemieke, dass zwischen den Bäumen wirklich ein altes Haus stand. Es sah sehr alt und mysteriös aus.
„Ich will es mir genauer ansehen“, bettelte Greta.
„Das ist zu gefährlich!“, meinte Mathilda. „Du weißt nicht, ob es in diesem Haus vielleicht spukt.“
„Gespenster spuken aber nur nachts“, wusste das neunmalkluge Mädchen.
„Na gut, wir können es uns von außen angucken. Aber wir gehen nicht hinein“, gab Annemieke nach.
„Krass!", brachte Annemieke auch wenige Minuten später hervor. „Krass, dass dieses Haus aus dem Nichts auftaucht und ich noch nicht mal wusste, dass es so ein pompöses Haus einfach so mitten im Wald steht."
„Ich bin genauso baff", nickte ihre Schwester. „Es hat Ähnlichkeiten mit einem Hexenhaus, auch wenn es dafür ein wenig groß ist."
„Vielleicht wohnt Dornröschen darin", sagte Greta leise.
„Könnte man beinahe meinen", stimmte ihr Annemieke zu und ließ ihren Blick hoch zum kleinen, runden Turm des Gebäudes wandern. Oben am silbergrauen Spitzdach des Turmes war ein goldener Wetterhahn befestigt.
„Wow! Hier könnte wirklich ein Märchen spielen", war Mathilda immer noch ganz geflasht.
„Definitiv!", nickte Annemieke. „Auf jeden Fall eine gute Kulisse für einen Grusel- oder Märchenfilm."
Staunend näherten sich die Mädchen dem alten Gebäude, an dem Efeu empor rankte. Mathilda ging neugierig die Stufen zur Eingangstür hoch und probierte den schweren Türklopfer, ein Löwenkopf aus Messing, aus. Erschrocken zuckte sie zusammen und kehrte wieder um, obwohl die Wahrscheinlichkeit sehr gering war, dass dort noch eine Person wohnte. Annemieke nahm Greta an die Hand und ging mit ihr um das Haus herum.
„Warum gibt es keine Fensterscheiben mehr?“, fragte Greta neugierig.
„Das Haus ist bestimmt hundert oder zweihundert Jahre alt“, erklärte ihr Annemieke. „Der Besitzer hat jahrelang nichts am Haus gemacht und deswegen zerfällt es langsam. Wenn ich mir das Häuschen genauer anschaue, scheint es mir so, als ob hier niemand mehr wohnt.“
„Das Häuschen wirft viele Rätsel auf!“, rief Mathilda mit leuchtenden Augen und kam um die Ecke gerannt. „Die Eingangstür ist ziemlich morsch Beinahe hätte ich sie heraus gebrochen, ohne dass ich mich dagegen gestemmt habe.“
Annemieke warf einen Blick auf ihre Uhr: „Wir müssen nach Hause, ist gleich ein Uhr und Mama wollte mit uns um halb zwei Mittag essen.“
Die Zwillinge riefen nach dem Essen all ihre Freundinnen an und erzählten von ihrer Entdeckung. Sie konnten es kaum abwarten, bis es Samstag war. Samstags mussten sie nicht auf Greta aufpassen, da ihre Eltern zuhause waren. An diesem Tag würden sie mit Greta sogar in einen Kinderfreizeitpark fahren.
„Oh mein Gott! Ich explodiere förmlich", warf Mathilda einen Basketballkorb nach dem anderen auf der Terrasse. Annemieke wusste, wenn ihre Schwester aufgeregt war, konnte diese kaum noch still sitzen. Entweder war sie nonstop in Bewegung oder sie stopfte sich mit Chips oder Süßkram voll.
„Matti!", grummelte sie entnervt. Bam, bam, bam! Das Geräusch, wie der Basketball jedes Mal auf dem Boden aufprallte, raubte Annemieke jegliche Nerven. Mit einem Mal sprang sie auf, jagte ihrer verblüfften Schwester den Ball ab und warf zielsicher einen Korb. Dann ließ sie den Ball zügig in einer Kiste neben der Garage verschwinden.
„Menno, Spielverderberin!", nörgelte Mathilda und ließ sich auf der Liege neben ihr nieder.
„Endlich kann ich wieder in Ruhe meinen Roman lesen", lehnte sich Annemieke zurück.
Die beiden Schwestern waren am Samstagmorgen sehr früh aufgestanden, da sie in aller frühe noch einen Kirschkuchen für die Erkundungstour gebacken hatten, damit sie und ihre Freundinnen nicht im Laufe des Tages verhungerten. Annemieke musste bei ihrer Schwester ziemlich viel Überzeugungsarbeit leisten, da Mathilda am liebsten noch eine Stunde länger liegen geblieben wäre.
„Der Kuchen bäckt sich nicht von allein!“, hatte sie schließlich zu ihr gesagt und sie aus dem Bett gekitzelt. Nach anderthalb Stunden war der Kuchen endlich fertig, sodass sie aufbrechen konnten.
„Ich bin so froh, dass wir heute die kleine Göre vom Hals haben“, sagte Mathilda, als sie sich auf ihre Fahrräder schwangen und los fuhren.
„Ich auch“, stimmte Annemieke zu. „Greta kann manchmal ziemlich anstrengend sein. Sie ist uns mehrere Male weggelaufen und am Montag werde ich eine Hundeleine für sie kaufen.“
An diesem Morgen war das Wetter sehr schön und die Luft roch angenehm nach Wald und Wiese, dennoch war es schwül und die Luft schien so dick zu sein, dass man sie hätte schneiden können. Annemieke liebte diesen Geruch und atmete die Luft tief ein.
„Könnte nicht immer Sommer sein?“, dachte sie. „Sonst könnte man immer durch den Tag schweben, sich von der Sonne wärmen lassen und die schönsten Gerüche einatmen.“
Im Wohnwagen wartete bereits der Rest der Roten Tulpen. Nur Fianna fehlte, da sie erst heute aus dem Urlaub zurück kam. Aylin und Lotta nippten an ihrem Eistee, als die Zwillinge herein kamen.
„Hola, die Zwillinge sind da!“, rief Lotta und klatschte in die Hände. „Das Abenteuer kann nun endlich beginnen.“
„Hallo Lotta!“, riefen die Zwillinge fröhlich. „Du siehst ganz schön braungebrannt aus!“
„Kein Wunder, ich war zwei Wochen auf Gran Canaria und da gab es jeden Tag Sonne satt. Ich war jeden Tag am Strand und bin geschwommen“, erzählte Lotta. Mit ihrem Piratenkopftuch und ihrem kurzen Pferdeschwanz sah sie bereits aus wie eine Abenteuerin. Die Freundinnen fingen an sich angeregt über ihre Ferien zu unterhalten, bis es Kiki genug wurde.
„Wir können uns ein anderes Mal über unsere Ferien unterhalten“, unterbrach sie ihre Freundinnen. „Jetzt will ich endlich das alte Haus sehen. Auf geht’s!“
Sechs Mädchen fuhren mit ihren Fahrrädern in einem hohen Tempo den Waldweg entlang.
„Ab hier müsst ihr absteigen!“, rief Mathilda. „Der Weg wird immer unzugänglicher.“
Die Freundinnen folgten ihr und plötzlich wisperten sie aufgeregt.
„Seht ihr es auch?“, raunte Emily aufgeregt. „Dahinten zwischen den Bäumen!“
„Natürlich!“, erwiderte Lotta und spähte durch die Bäume hindurch. Einige Meter vor dem alten Haus stellten die Freundinnen ihre Fahrräder ab und gingen die Steintreppe zur Eingangstür hinauf.
„Oh nein!“, bemerkte Lotta auf einmal.
„Was hast du?“, fragte Kiki irritiert, während sie mit Mathilda an der Tür ruckelte.
„Habt ihr nicht die schwarzen Wolken am Horizont gesehen?“, erwiderte Lotta und schaute skeptisch drein. „Es wird bald einen richtigen Schauer geben.“
„Wir werden gleich eh drinnen sein“, meinte Kiki. „Daher kann es uns ganz egal sein ob es draußen ein Gewitter gibt oder nicht.“
Mathilda, Emily und Lotta stemmten sich zu dritt gegen die Tür, allerdings war sie schon ziemlich morsch.
Im nächsten Moment gab die Eingangstür krachend nach. Ein Mädchen nach dem Anderen betrat vorsichtig die große und verstaubte Eingangshalle. Lotta und Emily mussten einen Moment lang husten, als sie eine Staubwolke aufwirbelten, nach dem sie eine Schubblade einer alten Kommode aus schwerem dunkelbraunen Holz geöffnet hatten.
„Leer!", zuckte Lotta leicht enttäuscht mit den Achseln.
„Da ist auch eine Treppe ins obere Geschoss“, tippte Annemieke Kiki an.
„Wir durchsuchen zuerst die Eingangshalle und später die anderen Räume“, sagte ihre Freundin bestimmt.
„Aber hier gibt es nichts außer Staub“, protestierte Aylin.
„Gibt es hier einen Lichtschalter?“, fragte Lotta und tastete die Wand ab.
„Ich glaube nicht. Das Haus ist bestimmt schon zweihundert Jahre alt“, schüttelte Mathilda den Kopf.
„Wollen wir nicht erst ein Picknick draußen machen?“, schlug Emily vor. „Ich habe Hunger. Wir können später immer noch voller Tatendrang auf Entdeckungstour gehen.“
Die Mädchen fanden ihren Vorschlag nicht schlecht. Annemieke und Mathilda breiteten ihre Decke draußen auf der Rasenfläche vor dem Haus aus, während ihre Freundinnen ihr Essen und Trinken aus den Rucksäcken herausholten.
Die Zwillinge boten ihren Freundinnen ihren selbstgebackenen Kuchen an.
„Himmlisch und so schön saftig!“, lobte Lotta.
„Mhmm, ich liebe Kirschkuchen und lauwarmer Kirschkuchen ist ein Gedicht“, schwärmte Emily.
„Ich könnte glatt zehn Stücke davon essen, aber ich bin ja nicht dreist. Matti wäre das am ehesten zuzutrauen“, nahm Kiki sich ein zweites Stückchen und warf Mathilda einen neckenden Seitenblick zu.
„Ey, das habe ich gehört!“, begann Mathilda ihre beste Freundin auszukitzeln. Kiki begann zu quietschen und bekam Mathildas Handgelenk zu greifen. Dabei warf Kiki aus versehen Aylins Trinkbecher um.
„Na toll, jetzt habe ich die Plörre auf meinem Teller!“, beschwerte sich Lotta und verzog ihr Gesicht zu einer angeekelten Miene.
„Ihr übertreibt es manchmal echt mit euren Neckereien!“, wies Annemieke ihre Schwester und Kiki zurecht.
Langsam wurde es windiger und der Himmel zog sich zu. In der Ferne grollte leise ein erster Donner, aber die Mädchen waren so tief in ihr Gespräch versunken, dass sie offenbar nicht merkten, was um sie herum geschah. Es wurde dunkler und dunkler. Erst ein greller Blitz, der über den Himmel zuckte und schlagartig folgender Donnerschlag riss sie aus ihren Gedanken. Sofort fing es an aus allen Eimern zu schütten und Hagel prasselte auf sie herab.
„Aaahh, verdammt!“, rief Annemieke in das nächste Donnerrumpeln hinein. „Lasst uns unterstellen!“
Wieder blitzte es mehrere Male innerhalb weniger Sekunden und der Donner zerriss sekundenlang messerscharf die Atmosphäre.
„Lauft!“, schrie Kiki in den strömenden Regen. Hastig packten die Mädchen ihre Sachen zusammen und rannten in das Haus.
„Ich bin ganz durchnässt“, keuchte Mathilda, deren Haare platt am Kopf klebten. Mehrere Blitze erhellten für Bruchteile von Sekunden die sonst dunkle Eingangshalle und der Wind pfiff durch die kaputten Fensterscheiben. Normalerweise fürchtete Annemieke sich nicht vor Gewittern, aber der Gedanken, in einem verlassenen Haus zu sein, jagte ihr einen eiskalten Schauer über ihren Rücken. Nur Aylin fürchtete sich noch mehr und hielt sich zitternd ihre Augen und ihre Ohren zu.
„Das Gewitter ist bestimmt gleich vorbei“, tröstete Emily ihre Freundin und legte ihr die Hand auf die Schulter. Das Gewitter zog schnell weiter, aber der Regen wurde nicht schwächer.
Bald waren keine Blitze mehr zu sehen und der Donner wurde allmählich schwächer, bis er nicht mehr zu hören war. Voller Neugierde starteten die Bandenmädchen ihre Entdeckungstour in der Küche.
„Das ist ja ein richtiger Steinherd“, rief Kiki begeistert. „So einen hatte meine Oma früher auch noch gehabt.“
Während ihre Freundinnen den Herd bestaunten, öffnete Annemieke die Kommode neben der Tür. Dort fand sie mehrere Hefte und alte Bücher, deren Schrift teilweise unlesbar war, vor und blätterte interessiert in einem alten Kochbuch.
Plötzlich kam Lotta aufgeregt herbei geeilt: „Seht nur was ich neben dem Küchenregal gefunden habe!“
Fünf Köpfe beugten sich über ihre Schulter.
„Ich glaube, ich bin im falschen Film“, entfuhr es Kiki fassungslos. „Das sind ja sauteure Gemälde.“
„Warum bist du dir da so sicher, Kiki?“, drehte sich Mathilda stirnrunzelnd zu ihr um.
„Das fühlt sich einfach echt an“, strich Kiki mit ihren Fingern vorsichtig über ein Monet-Gemälde. Aylin holte ihr Handy aus der Umhängetasche und schoss mehrere Fotos.
„Wofür soll das gut sein?“, sah Emily sie fragend an.
„Ich schicke die Photos nachher an Fianna, da sie auch in unser Geheimnis eingeweiht werden soll“, erwiderte Aylin. Vorsichtig stellten die Mädchen die Gemälde zurück, wo sie diese gefunden hatten und gingen wieder in die Eingangshalle zurück.
„Wir teilen uns in zwei Gruppen auf“, schlug Kiki vor: „Lotta, Aylin und ich erkunden weiter das Erdgeschoss, während ihr oben in den Schlafräumen nachschaut.“
Die Zwillinge stiegen kurz darauf mit Emily die knarrende Treppe hinauf.
„Hier liegt sogar noch mehr Staub als unten“, hustete Emily und presste sich ein Taschentuch vor ihr Gesicht.
„Kommt, worauf wartet ihr?“, zischte Mathilda ungeduldig und öffnete die Tür zum Kinderzimmer. Ein Kinderbett stand unter der Dachschräge und auf der anderen Seite entdeckten sie ein Gitterbettchen. Mitten im Raum stand ein Schaukelpferd aus Holz, welches bestimmt seit einigen Jahrzehnten nicht mehr angerührt wurde.
„Hier haben bestimmt zwei kleine Kinder gelebt“, flüsterte Annemieke. „Seht mal her, ich habe ein Taschentuch gefunden, auf dem der Name Ada gestickt ist. Das ist der Name des ersten Kindes.“
Behutsam nahm sie das Taschentuch in die Hand und reichte es ihrer Schwester.
„Das ist bestimmt aus Seide“, fuhr Mathilda mit den Fingern über den glatten Stoff und steckte es in ihre Hosentasche. In einer Kommode neben der Zimmertür fanden sie ein kleines Heftchen.
Neugierig schlugen die Mädchen es auf und Annemieke begann vorzulesen: „Liebes Tagebuch! Heute war ein schöner Tag, Oma Frieda kam zu Besuch und hat meiner Schwester, meinem Bruder und mir jeweils fünf Mark geschenkt. Mama hat einen Erdbeerkuchen gebacken und zusammen haben wir auf der Terrasse getrunken. Dein Friedrich (28.08.1886).“
Annemieke blätterte eine Seite um und fuhr fort: „Liebes Tagebuch! Heute ist mein achter Geburtstag. Mama hat einen großen Kuchen für mich gebacken, Albert hat eine Figur für mich geschnitzt, Ada hat mir ein Bild gemalt und mein Vater hat mir einen Hund geschenkt, den ich schon immer haben wollte. Von meinen Großeltern bekam ich Blechspielzeug und von Onkel Georg eine Trommel. Für den Nachmittag habe mir sieben Klassenkameraden und Hermine, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, eingeladen. Wir haben den ganzen Nachmittag Kavallerie, Cowboy und Indianer gespielt, bis es endlich den Kuchen gab und meine Freunde danach nach Hause gehen mussten. Es war ein wunderschöner Tag, den ich nie vergessen werde. Dein Friedrich! (02.10.1886)“
Annemieke blätterte weiter und übersprang mehrere Seiten, bis sie zum letzten Eintrag kam. Dieses Mal las ihre Schwester ihn vor: „Liebes Tagebuch! Vorgestern ist etwas ganz schreckliches passiert. Meine erst sechsjährige Schwester Ada ist an Lungenentzündung gestorben. Mein Vater starb erst wenige Wochen zuvor bei einem Arbeitsunfall und nun sind Mama, Albert und ich nur noch zu dritt. Seit einigen Tagen geht es mir auch schlecht. Ich bin krank und liege mit Fiber und einer Grippe im Bett. Ich bin zu schwach um aufzustehen. Mama ist auch sehr krank. Meine Tante und mein großer Bruder kümmern sich um uns. Hoffentlich werde ich schnell wieder gesund. Dein Friedrich (15.02.1888).“
Mathilda, die nicht dafür bekannt war, dass sie besonders zart besaitet war, musste immer kurz pausieren, während sie vorlas. Annemieke konnte ihr deutlich ansehen, dass es ihrer Schwester nahe ging und ihr fast zum Weinen zumute war. Auch ihr schnürte es die Kehle zu.
„Warum brechen die Tagebucheinträge plötzlich ab?“, fragte Emily und blätterte weiter, allerdings kamen nur noch leere Seiten.
„Wahrscheinlich ist der kleine Bub auch kurze Zeit später gestorben“, sagte Annemieke traurig und spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.
„Es muss fürchterlich gewesen sein, wenn der älteste Sohn seine gesamte Familie verloren hat“, seufzte ihre Schwester. „Ich mag mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn unsere Eltern sterben oder du nicht mehr lebst.“
Schweigend und betroffen sahen sich die Mädchen an.
„Warum trödelt ihr so rum?“, hörten sie Kikis Stimme und plötzlich standen Kiki, Lotta und Aylin im Zimmer.
„Wir haben ein Tagebuch von einem kleinen Jungen gefunden, dessen kleine Schwester und Vater gestorben sind“, antwortete Emily. „Wir waren so gespannt, dass wir die Zeit vergessen haben.“
„Wir haben auch etwas Interessantes nebenan im Arbeitszimmer gefunden“, erzählte Lotta. „In der Schubblade des Schreibtisches haben wir einen alten Familienstammbaum gefunden. Die Familie hieß Vilnius und lebte über mehrere Generationen in diesem Haus.“
„Unsere Schrebergartennachbarin heißt auch Vilnius, Josephine Vilnius! Wisst ihr das noch?“, fiel Emily schlagartig ein und klappte das Büchlein mit einem Schlag zu.
„Stimmt!“, rief Mathilda. „Das ist die nette alte Frau, die uns oft selbst geerntete Früchte vorbei bringt.“
„Außerdem hat sie mir letztes Jahr dabei geholfen, unsere Kaninchen einzufangen“, ergänzte Emily.
„Mein Onkel hat mir vor einigen Jahren erzählt, dass die Familie Vilnius aus dem Adel stammte und eine alteingesessene Familie in Freudenburg ist!“, fügte Kiki hinzu.
„Glaubt ihr, dass Josephine Vilnius mit ihnen verwandt ist?“, fragte Aylin.
„Den Namen Vilnius gibt es in Freudenburg und in der Umgebung sehr selten“, meinte Annemieke. „Von daher ist es sogar wahrscheinlich, dass sie mit ihnen verwandt ist.“
„Nichts wie hin zum Schrebergarten!“, wurde Mathilda vor Aufregung nervös und hüpfte von einem Bein auf das Andere. Auch Annemieke spürte dieses Kribbeln im Bauch, wenn ihnen ein Abenteuer bevorstand. Draußen regnete es immer noch leicht, aber es war wenigstens nicht mehr so schwül. Die Freundinnen schwangen sich auf ihre Fahrräder und brausten davon. Vor den Schrebergärten stellten sie ihre Fahrräder ab und klopften an das Tor von Josephines Garten.
Die Roten Tulpen hatten großes Glück, Josephine Vilnius war gerade dabei ein paar Kirschen zu ernten.
„Hallo Mädchen, was gibt es Neues?“, begrüßte sie die Bande und öffnete das Gartentor.
„Hallo Josephine, wir müssen mit dir reden“, begann Kiki.
„Wieso? Ist gerade etwas Schlimmes passiert?“, fragte Josephine verwundert.
„Nein, wir waren in einem alten Haus im Wald und haben es erkundet“, fügte Emily hinzu.
„Ihr wollt mir wohl nicht sagen, dass ihr in der alten Villa der Vilnius ward“, erwiderte Josephine und zog ihre grauen Augenbrauen hoch.
„Doch, doch! Das waren wir!“, bekräftigte Mathilda mit einem kräftigen Nicken. „Wir haben sogar ein altes Kindertagebuch und einen Stammbaum mitgenommen.“
„Kommt mit rein, lass uns eine Schüssel rote Grütze mit Vanillesoße essen und dabei könnt ihr mir die Sachen zeigen“, sagte die alte Frau schmunzelnd und bat die Mädchen in ihre Gartenhütte zu gehen.
Zu siebt nahmen sie an einem gedeckten Tisch in der Gartenhütte platz. Drinnen war es sehr eng, aber gemütlich. Annemieke ließ langsam ihren Blick über selbstgemalte Blumenbilder wandern, die nebeneinander an den holzvertäfelten Wänden aufgehängt waren.
„Wie habt ihr die alte Villa entdeckt?“, fragte Josephine neugierig. „Sie liegt wirklich sehr abgelegen von allen Spazierwegen mitten im Wald, wo kaum ein Mensch sie findet.“
„Die Zwillinge haben sie vor wenigen Tagen entdeckt“, antwortete Lotta und zeigte auf ihre beiden Freundinnen.
„Besser gesagt unser Babysitterkind hat sie entdeckt“, fügte Annemieke augenzwinkernd hinzu: „Wir sind bei einem Spaziergang vom Weg abgekommen, da unser Babysitterkind plötzlich durch das Unterholz geprescht ist und dann standen wir vor diesem Haus.“
„Nun zeigt mir mal den Stammbaum und das Tagebuch“, forderte Josephine die Mädchen auf, während sie ihre rote Grütze löffelten. Kiki legte die Sachen auf den Tisch und Mathilda holte das Stofftaschentuch aus ihrer Hosentasche.
„Das ist ein Tagebuch von meinem Großonkel Friedrich!“, stieß Josephine atemlos hervor und begann zu erzählen. „In diesem Haus wurde mein Großvater Albert im Jahr 1872 geboren, er war das älteste von drei Kindern. Er hatte dort eine schöne Kindheit und Jugend verbracht, die abrupt endete. Zuerst starb sein Vater am zweiten Weihnachtstag 1887, als er von einem Ast erschlagen wurde und dann wurden seine Geschwister sehr krank. Friedrich und Ada bekamen wegen des kalten Wetters Lungenentzündung, niemand konnte ihnen mehr helfen. Sie starben bei im Februar 1888 und seine Mutter ist einen Monat später gestorben. Daraufhin zog er zu seiner Tante.“
Die Mädchen hatten dicke Tränen in den Augen.
„War das Haus danach für immer verlassen?“, fragte Annmieke mit zittriger Stimme und blinzelte eine Träne weg.
„Du kannst dir wohl vorstellen, dass mein Großvater nie wieder zu diesem Haus zurück kehren wollte, in dem er so viel Unheil erlebt hat“, sagte Josephine. „Er hat mir als kleines Kind erzählt, dass dieses Haus Unglück bringt und deshalb wollte ich, nachdem ich es einmal gesehen habe, dort nie wieder hin und habe es aus meinem Gedächtnis verbannt. Allerdings gibt es laut meinem Großvater einen Familienschatz.“
Ein Familienschatz! Die Augen der Mädchen wurden vor Neugierde ganz groß.
„Ernst der Vater meines Großvaters hat in einem Wandtresor Geld und Schmuck versteckt, damit sie auch in schlechten Zeiten über die Runden kamen“, fuhr Josephine fort. „Allerdings gerieten das Haus und der Schatz immer mehr in Vergessenheit.“
„Wir müssen den Schatz finden und ihn dir zurück geben, Josephine!“, rief Kiki und ihre Freundinnen schlugen bei ihr ein. Während Josephine noch weitere Gesichten aus ihrer Kindheit erzählten, schrieb Aylin eine lange Nachricht an Fianna. Ihre beste Freundin musste auf dem Laufenden gehalten werden, damit sie über all ihre Entdeckungen bescheid wusste. Ein Moment später vibrierte Aylins Handy.
„Was gibt's?", tickte Lotta sie an. „Hat Fianna die Nachricht so schnell gelesen?"
„Hallo Tulpis, es ist wirklich total aufregend, was ihr entdeckt. Ab Montag werde ich auch endlich dabei sein. Hab euch ganz lieb und viele Grüße. Sorry ich habe nicht länger Zeit, weil wir gerade auf dem Flughafen sind und gerade kommt unser Gepäck. Lg eure Carrot J“, las Aylin ihren Freundinnen leise vor. Um halb sieben mussten die Zwillinge nach Hause fahren, ihre Eltern hatten ihnen versprochen, dass es heute Abend Pizza gibt.
„Kommt Montag um neun Uhr zum Wohnwagen!“, rief Kiki ihnen hinterher, als die beiden Schwestern synchron die Fahrradständer hoch klappen ließen.
„Ai ai Käpt'n, das werden wir!“, riefen die Zwillinge ihrer Freundin hinterher und winkten ihr zum Abschied noch eine Weile hinterher.
Zuhause duftete es im Flur verlockend nach Pizza und den beiden Schwestern lief das Wasser im Mund zusammen. Außer zwei Toasts zum Frühstück und einem Picknick, hatten sie noch nichts Vernünftiges gegessen.
„Papa, hast du für mich Pizza Thunfisch mitgebracht?“, rief Mathilda ihm auf dem Flur entgegen.
„Klar, habe ich das und für deine Zwillingsmaus gibt es Pizza Hawaii. Ich weiß doch was meine Zwillingsmäuse am liebsten essen!“, erwiderte ihr Vater schmunzelnd. Greta saß schon am Tisch und aß eine kleine Pizza Salami.
„Warum hast du einen Verband an der Hand, Greta?“, fragte Annemieke, während sie aßen.
„Greta hat sich bei der Rückfahrt vom Freizeitpark die Hand in der Autotür geklemmt und danach mussten wir mit ihr zur Notaufnahme fahren, weil sie vor Schmerzen geschrieen hat und ihre Hand immer dicker wurde“, erzählte ihre Mutter. „Gott sei dank, hat sie sich nur die Hand verstaucht und es nichts gebrochen.“
„Der Doktor hat mir sogar einen großen Lolli geschenkt!“, rief Greta.
„Und wie habt ihr heute den Tag verbracht?“, wollte ihre Mutter wissen. „Hoffentlich habt ihr euch nicht den ganzen Tag gelangweilt und nur vor dem Fernseher gesessen.“
„Nein Mama, das haben wir nicht“, schüttelte Mathilda den Kopf. Annemieke baute darauf, dass ihre Schwester nichts von der alten Villa erzählte, die sie vorhin mit ihren Freundinnen durchsucht hatten.
„Wir haben mit unseren Freundinnen einen langen Bandentag in unserem Wohnwagen gemacht“, fuhr Mathilda fort. „Kiki und Emily haben uns heute ihre neuen Kochrezepte ausprobiert und es hat total lecker geschmeckt.“
„Schön, dann hattet ihr auch einen tollen Tag", lächelte ihre Mutter zufrieden. Innerlich seufzte Annemieke vor Erleichterung auf. Ihre Schwester war eine gute Geschichtenerzählerin und niemand merkte es ihr an, wenn sie log. Das Geheimnis ihrer Bande war streng geheim und niemand außer ihnen und der alten Josephine durfte es wissen.
„Zwillinge, wir haben eine Überraschung wir euch!“, rief ihr Vater. Annemieke legte ihre Gabel auf den Teller und sah ihren Vater mit großen Augen an.
„Vorhin hat meine Schwester Rentje angerufen und will am Montag kommen und sich um die Kleine kümmern. Ihr habt euren Job zwar echt super gemacht, aber wir finden, dass ihr euch auch Erholung verdient habt“, fuhr er fort und erntete ein dankbares Lächeln seiner Töchter.
„Hoffentlich ist Rentje genauso nett und lustig wie die Zwillinge“, sagte Greta.
„Das wird sie auf jeden Fall sein!“, versicherte Mathilda dem kleinen Mädchen. „Sie hat immer gute Laune, singt während der Arbeit und wird dir ein paar Worte auf Niederländisch beibringen.“
Greta schmunzelte und fragte: „Wie geht denn Niederländisch?“
„Matti macht es dir einmal vor. Sie spricht besser Niederländisch als ich“, versprach Annemieke.
„Hallo, mijn naam is Mathilda ter Steegen en ik ben op de leeftijd van dertien. Na de zomervakantie, ik kom met mijn tweelingzus in de achtste graad“, sagte ihre Zwillingsschwester in einem akzentfreien Niederländisch.
„Was heißt das?“, fragend sah Greta Mathilda an, die die Gesagte noch einmal auf Deutsch wiederholte.
Am Montagmorgen trafen sich die Freundinnen pünktlich in ihrem Bandenquartier. Zuerst stärkten sie sich mit Tee, frisch geernteten Erdbeeren und Emilys Marmorkuchen. Die Freude, dass sie nun wieder vollzählig waren, war den Mädchen deutlich ins Gesicht geschrieben. Aufgeregt schwatzten sie über ihre Ferienerlebnisse und neckten sich gegenseitig.
„Du siehst immer noch ganz blass aus, Carrot“, meinte Kiki. „Hast du nicht genug Sonne bekommen?“
„Nein, sie hat Urlaub bei Graf Dracula im Spukschloss in Transsilvanien gemacht, wo sie als bleiches Gespenst auch hingehört. Dort wurde sie nur in der Nacht an die frische Luft gelassen. Ihr wisst doch das Geister, sich im Sonnenlicht auflösen“, scherzte Mathilda.
„Pö, fangt bloß nicht an, mich zu verhöhnen!“, erwiderte Fianna gespielt beleidigt und zog einen Schmollmund.
„Na gut, in ihr Irland regnet es sowieso dauernd. Da macht es keinen Unterschied, ob man sich tagelang unter die Dusche oder ob man seinen Urlaub in Irland verbringt“, meinte Annemieke neckend.
„Jetzt fängst du auch noch an, über meine Heimatland zu lästern, Annemieke ter Steegen“, erwiderte Fianna mit gespielter Empörung.
„Meine Güte, bei dir regnet es anscheinend auch ständig, Fianna O’Hara“, stichelte Mathilda halbernst. „Du machst ein Gesicht, als wäre es sieben Tagen Regenwetter, dabei haben wir so schönes sonniges Wetter draußen.“
Fianna streckte ihren Freundinnen frech die Zunge raus und fing aus heiterem Himmel an zu lachen. Nach und nach lachten ihre Freundinnen auch mit.
„Wollen wir nicht langsam aufbrechen?“, fragte Lotta in die Runde.
„Warte, ich muss meinen Kuchen erst aufessen und danach gönne ich mir noch ein paar Erdbeeren“, rief Mathilda mit vollem Mund.
„Man spricht nicht mit vollem Mund, Schwesterherz!“, tadelte Annemieke ihre Schwester kopfschüttelnd. Obwohl sie einen Tag jünger als Mathilda war, war sie von den Zwillingen eindeutig die Vernünftigere und wies nicht selten ihre Schwester zurecht.
„Wird's endlich mal?", war Lotta der Tatendrang deutlich anzusehen, als sie unruhig auf und ab tigerte.
„Erst muss ich mich aber genügend gestärkt haben“, steckte sich Mathilda einen Keks und zwei Erdbeeren gleichzeitig in den Mund.
„Du alter Fresssack!“, puffte Lotta sie in die Seite.
„Ich finde, wir sollten langsam in die Gänge kommen, sonst löst sich der Schatz auf, bevor wir aufschlagen“, meinte Kiki und stand auf. Die Mädchen schwangen sich auf ihre Fahrräder und fuhren in Windeseile los, besonders Fianna trat vor Neugier in die Pedale und überholte ihre Freundinnen. Schließlich war sie die Einzige, die die Villa Vilnius noch nicht gesehen hatte.
„Fianna, nicht so schnell!", raste Kiki hinter ihr her und holte sie an der Kreuzung zweier Wanderwege ein.
In der alten Villa teilte sich die Bande in mehrere kleine Gruppen auf. Emily und Lotta suchten die Küche und Wohnzimmer ab, während Mathilda und Kiki in der Eingangshalle blieben und einen Blick in das Arbeitszimmer warfen. Annemieke ging mit Aylin und Fianna in den ersten Stock und suchte dort nach Hinweisen für den Familienschatz der Vilnius. Sie bemerkte erst gar nicht, wie Fianna ein Stück hinter ihnen blieb und sich nur in Zeitlupentempo bewegte.
„Los, beeil dich doch, Fianna!“, drängte Annemieke, die schon im Elternschlafzimmer war.
„Ich hasse es, wie diese alten Holzbalken knarren“, wisperte Fianna.
„Du hast Recht, das hört sich echt bedrohlich an und macht mir auch ziemlich Angst“, fand Aylin und ihre Stimme klang ein wenig verängstig.
„Quatsch!“, murrte Annemieke. „Das ist ein altes Haus und es ist normal, dass alte Holzbalken knarren.“
Die Erkundungstour ging weiter. Nun wurde das Elternschlafzimmer genauer unter die Lupe genommen. Annemieke schaute hinter den Gardinen und unter den Betten nach, während Fianna und Aylin alle Schubbladen der Schränke und Kommoden aufrissen.
„Ich habe hier nichts Interessantes entdeckt. Lasst uns in das Kinderzimmer von Friedrich und Ada gehen, vielleicht gibt es dort einen geheimen Safe oder eine versteckte Tür hinter dem großen Schrank“, sagte Annemieke eine Weile später und wandte sich der Zimmertür zu.
„Ich höre Schritte!“, verharrte Fianna mitten in der Bewegung und sah sich panisch um.
„Ach, das sind nur welche von uns“, versuchte Annemieke ihre Freundin zu beruhigen, obwohl ihr in diesem Moment das Herz bis zum Hals schlug. Hoffentlich waren es ihre Freundinnen und niemand anders.
Erst als Matildas hellblonden Locken im Türrahmen auftauchten, atmeten sie erleichtert auf.
„Wir sind fündig geworden, Mädels!“, rief Kiki und kam aufgeregt in den Raum gestürmt.
„Zeig mal her!“, rief Annemieke mit großen Augen.
„Wir haben ein kleines Büchlein eines gewissen Alfred Vilnius im Schreibtisch des Arbeitszimmers gefunden. Es enthält mehrere interessante Notizen über den Familienschatz. Es soll zwischen dem Kinder- und Elternschlafzimmer einen Tresor geben, in dem der Schatz versteckt ist“, Kikis Stimme überschlug sich vor Aufregung. Jetzt verstand Annemieke warum Kiki und Mathilda so aufgedreht waren.
„Wo sind Lotta und Emily?“, fragte Aylin und drehte sich beunruhigt zu ihren Freundinnen um.
„Sie sind noch unten in der Küche“, sagte Mathilda. „Soll ich sie eben mit dem Handy anrufen?“
Sie holte ihr Handy aus ihrer Hosentasche und starrte missmutig auf das Display.
„Mist, hier gibt es keinen Empfang“, murrte sie.
„Sie werden sicher schon alleine kommen“, meinte Kiki und stieß einen Pfiff aus. Einen Moment später hörten sie, wie zwei Personen die Treppe hoch gelaufen kamen.
„Wie das knarrt! Ich hasse dieses Geräusch, ich glaube immer, dass im nächsten Moment die Treppe zusammenbricht“, bemerkte Fianna und verzog dabei das Gesicht.
„Bei diesem Geräusch wird mir auch immer ein wenig mulmig“, bestätigte Aylin.
„Was gibt es Neues und warum hast du gerade eben so laut gepfiffen, Kiki?“, fragte Lotta irritiert und platzte mit Emily herein.
„Wir haben ein kleines Buch gefunden, in dem drin steht, wo die Reichtümer des Hauses versteckt sind. Allerdings müsste laut dem Lageplan der Tresor hinter diesen schwerem Schrank liegen“, meinte Kiki und ließ Lotta auf die vergilbte Karte schauen. Die Freundinnen stöhnten leise auf, als sie den massiven Schrank aus dunkelbraunem Eichenholz ins Visier nahmen.
„Wie sollen wir dieses massive Teil bewegen?“, fragte Emily ratlos.
„Ich meine im Elternschlafzimmer ist die zweite Tür zum Tresor. Das heißt, dass sich der Tresor zwischen der Wand von Kinder- und Elternschlafzimmer befindet“, raunte Kiki mit gedämpfter Stimme, um nicht zu viel Krach zu erzeugen.
Während sich die Bandenmädchen angeregt über die Lage der beiden Tresore im oberen Stockwerk und im Wohnzimmer unterhielten, hörten sie Schritte und Stimmen. Aber in diesem Fall konnte es niemand von ihnen sein: alle Mitglieder waren im Kinderzimmer versammelt und schauten auf einen alten Lageplan.
„Hilfe, was machen wir?!“, zischte Aylin und riss vor Angst ihre Augen weit auf.
„In Deckung! Versteckt euch!“, wisperte Kiki und verschwand mit Lotta unter einem Bett, während Emily unter das andere Kinderbett kroch. Aylin setzte sich auf die Fensterbank und wickelte sich in die Gardine ein. Mathilda und Fianna schlichen auf Zehenspitzen in das Nachbarzimmer, um sich dort zu verstecken. Nur Annemieke wusste so schnell nicht, wo sie sich verstecken sollte. Im letzten Augenblick schlüpfte sie in den alten Kleiderschrank. Im Schrank war es nicht nur sehr dunkel, sondern auch sehr staubig. Die Stimmen wurden immer lauter und nun war es deutlich, dass es die Stimmen der Piranhas waren.
„Wie kommen die Fischköpfe hier hin?“, grübelte Annemieke und musste gleichzeitig die Luft anhalten, damit sie den Staub nicht einatmete. Länger als eine halbe Minute konnte sie nicht den Atem anhalten und schnappte nach Luft. Der Staub bewirkte, dass sie niesen musste und leider konnte sie es nicht unterdrücken. Sie nieste nicht nur einmal, sondern es kam gleich dreimal „Hatschi, Hatschi, Hatschi“ aus dem Schrank. Annemieke war wütend auf sich selber und hätte am liebsten geheult, dass wegen ihr sie und ihre Freundinnen aufgeflogen waren. Geschockt bemerkte sie, wie die Schranktür geöffnet wurde und sie schreckensstarr in Jannis leuchtend grüne Augen schaute, ehe sie anfing laut zu schreien.
„Wen haben wir da?“, zischte der Piranhaboss leise und packte Annemieke am Arm. Noch immer raste ihr Herz und sie war unfähig zu reagieren.
„Lasst Annemieke los!“, rief Kiki und huschte aus ihrem Versteck.
„Wir wollen euch doch gar nichts Böses!“, rief Sven beschwichtigend. „Nur wir sind total geplättet, dass ihr auch hier seid.“
„Und was macht ihr im Haus meiner Vorfahren?“, fragte Michael als hätte ihn ein Pferd getreten.
„Was? Haben deine Vorfahren hier wirklich gelebt?“, fragte Lotta erstaunt und kam aus ihrem Versteck.
„Hier hat früher mein Ururopa gelebt“, sagte Michael.
„Wir wissen, dass der Opa von Josephine Vilnius hier gelebt hat“, platzte es aus Emily heraus. „Das hat sie uns vor kurzem erzählt.“
„Woher kennst du bitteschön meine Oma, Emily?!“, rief Michael verblüfft.
„Sie hat einen Schrebergarten direkt neben unserem“, erwiderte Emily. Die Piranhas starrten die Mädchen an, als wäre außer ihnen noch ein Raumschiff gelandet.
„Nicht zu fassen!“, sagte Michael mehrmals leise vor sich hin. Plötzlich fiel Jannis auf, dass nur vier Mädchen der Bande anwesend waren.
„Ihr seid doch eigentlich zu siebt, wo ist denn der Rest von euch?“, fragte er. Als erstes kam Aylin hinter der Gardine hervor und danach schlichen Fianna und Mathilda auf leisen Sohlen ins Zimmer.
„Aha, die Roten Tulpen sind vollständig“, bemerkte Ömer.
„Fehlen bei euch nicht auch zwei Mitglieder?“, drehte sich Mathilda fragend zu den Jungs um.
„Lennart und Max warten noch unten“, antwortete Michael und stieß einen gellenden Pfiff aus.
Die beiden Banden saßen sich auf den Kinderbetten gegenüber, die Mädchen hockten auf Adas früherem Bett und die Jungs saßen auf Friedrichs Bett. Für einen Augenblick sagte niemand etwas, die Mitglieder beider Banden schauten sich ahnungslos an.
„Ich mache euch ein Angebot, liebe Tulpis“, begann Jannis. „Wie wäre es, wenn wir ausnahmsweise als Team zusammenarbeiten?“
„Wie meinst du das mit dem Zusammenarbeiten?“, horchte Kiki auf.
„Ganz einfach, wir werden den Schatz gemeinsam suchen und die Prämien untereinander aufteilen, wenn wir den Familienschatz von Michis Vorfahren finden“, klärte der Piranhaboss sie auf.
„Okay, wir arbeiten gerne mit euch zusammen, aber nur unter einer Bedingung und zwar nur, wenn wir gleichberechtigt sind.“, stimmte diese ihm zu.
„Was meinst du mit gleichberechtigt?“, hakte Jannis wiederum nach.
„Aus jeder Bande wird ein Anführer für unsere Mission bestimmt“, fuhr Kiki fort.
„Dann wäre ich der Chef von den Piranhas und du bist die Anführerin der Roten Tulpen. Zusammen sind wir das Anführerduo. Habe ich das richtig verstanden?“, vergewisserte sich Jannis noch einmal.
„Genauso, habe ich es gemeint.“, bejahte Kiki.
„Okay, dann arbeiten wir unter dem Decknamen „Die Wilde Dreizehn“ zusammen.“, führte der Piranhaanführer ihren Gedanken weiter.
„Okay, abgemacht!“, nickte diese.
Jannis hielt seine Hand in die Mitte und Kiki schlug ein. Die Mädchen und die Piranhas reichten sich gegenseitig die Hände, um die Zusammenarbeit zu besiegeln.
„Wir müssen gleich nach Hause, es ist schon ein Uhr und wir kriegen Ärger, wenn wir zu spät zum Mittagessen nach Hause kommen. Treffen wir uns um acht Uhr abends vor dem Haus?“, fragte Jannis.
„Wir werden um acht Uhr da sein“, sagte Kiki. „Darauf könnt ihr euch verlassen!“
„Ich bringe für den Notfall Hammer und Meißel mit“, versprach Max.
„Ich werde ein Kletterseil mitbringen“, fügte Lennart hinzu, „Obwohl ich mir nicht sicher bin, ob wir es wirklich brauchen werden.“
„Ich habe ein tolles Taschenmesser“, meinte Ömer und holte es aus seiner Jackentasche.
„Gut, gut! Habt ihr Mädchen auch etwas Sinnvolles außer Schminke, Schuhe, Schmuck und Nagellack?“, fragte Jannis provokant.
„Selbstverständlich!“, rief Kiki entrüstet. „Sind wir etwa das Tussenkomitee oder haben uns in den Club der Topmodels umbenannt?“
Kiki funkelte ihn wütend an und holte ebenfalls ein Schnitzmesser aus ihrer Jackentasche.
„Ich wusste gar nicht, dass du bewaffnet bist!“, bemerkte Jannis und hob spöttisch eine Augenbraue.
„Sicher ist sicher!“, erwiderte Kiki, stemmte selbstbewusst ihre Arme in die Seiten und schaute dem Anführer der Piranhas direkt in die Augen.
„Ich habe noch zwei Walkietalkies“, fiel Fianna auf einmal ein. „Das ist zwar eher Kinderspielzeug, aber es könnte nachher trotzdem nützlich sein, weil die Handys hier keinen Empfang haben.“
„Sowas ist sehr nützlich“, meinte Jannis. „Bringe deine Walkietalkies auf jeden Fall heute Abend mit, Fianna!“
„Wir treffen uns um kurz vor acht vor dem Haus“, sagte Jannis. „Sollte etwas sein, werden wir euch anrufen.“
„Wir machen einfach eine Telefonkette“, schlug Sven vor.
„Eine Whatsapp-Gruppe ist viel besser!", meinte Lotta und zeigte allen ihr neues IPhone. Kurz darauf tauschten Kiki und Jannis ihre Nummern aus und erstellten die Gruppe "Mission Wilde 13".
Nach der Besprechung fuhren die Zwillinge mit ihren Fahrrädern so schnell nach Hause, wie sie konnten.
„Verdammt, wir sind beinahe eine halbe Stunde zu spät!“, keuchte Annemieke und trat noch heftiger in die Pedale.
„Mach dir keine großen Sorgen. Du weißt, dass Tante Rentje nie mit uns schimpft, wenn wir zu spät kommen. Sie sieht Vieles gelassener als unsere Mutter“, rief ihre Zwillingsschwester, die ein paar Meter vor ihr fuhr. Wäre ihre Mutter anstatt Tante Rentje zuhause, müssten sich die Zwillinge auf ein Donnerwetter gefasst machen, da ihre Mutter sehr auf Pünktlichkeit achtete. Aber trotzdem hasste Annemieke es, zu spät zu kommen. Deshalb konnte manchmal die Sorglosigkeit ihrer Schwester überhaupt nicht verstehen. Außerdem hatte sie einen enormen Kohldampf, da seit dem Frühstück im Wohnwagen nichts mehr gegessen hatte.
„Wo ward ihr denn gewesen?“, fragte Tante Rentje. Ihr niederländischer Akzent war nicht zu überhören.
„Unser Bandentreffen im Wohnwagen hat ein bisschen länger gedauert“, meinte Mathilda und schob sich eine Tortellini in den Mund.
„Sorry, es wird nicht wieder vorkommen, dass wir zu spät kommen“, entschuldigte sich Annemieke.
„Kein Ding! Das passiert bestimmt jedem einmal“, meinte Rentje gelassen und brachte Greta ins Bett, während die Zwillinge aßen.
Die Mittagspause verbrachten Annemieke und Mathilda auf unterschiedliche Weise. Annemieke lutschte ein Schokoladeneis und sonnte sich auf der Terrasse im Liegestuhl. Mathilda war in ihren Zimmer, hörte Musik und diskutierte angeregt mit Kiki im Chat über die bevorstehende Mission. Annemieke wollte sich für einige Stunden entspannen und Kräfte sammeln. Sie dachte an das autogene Training, vor den Sommerferien hatten sie und ihre Mutter dort bei einem Kurs mitgemacht, wo sie gelernt hatten, wie man sich gezielt entspannt. Annemieke begann mit einer Körperreise und ließ alle Muskeln kontrolliert anspannen oder entspannen. Sie hatte die Augen geschlossen und fühlte sich bald federleicht. Dieses Training half gut, um Kräfte zu sammeln. Als sie fast eingeschlafen war, kam ihre Schwester mit einem lauten Poltern auf die Terrasse gestürmt und rüttelte an ihrem Arm.
„Was ist denn los, Schwesterherz?“, fragte Annemieke erschrocken und richtete sich auf. Manchmal war ihre Schwester mit ihrer ungestümen Art eine Meisterin darin, anderen einen halben Herzinfarkt zu bescheren.
„Na hör mal, die Mission wurde für heute abgeblasen“, sagte Mathilda enttäuscht.
„Was?!“, war Annemieke mit einem Mal hellwach.
„Kiki hat mich gerade angerufen, Aylin liegt mit Migräne im Bett, Michael muss zur Geburtstagsfeier seiner Tante und Max muss auf seine kleine Schwester aufpassen. Entweder alle oder keiner!“, rief Mathilda. „Heute Abend ist tote Hose und ich werde mich bestimmt zu Tode langweilen.“
„Irgendwie bin ich auch ziemlich enttäuscht“, seufzte Annemieke. „Ich habe mich schon so dermaßen auf diese Mission gefreut.“
„Die Mission wird auf morgen Abend verlegt. Ich habe gerade Emily bescheid gesagt und die wird gleich Lotta anrufen“, erzählte Mathilda und legte sich neben ihrer Schwester auf eine Liege.
Abends chillten die beiden Schwestern in ihrem Zimmer und hörten sich nebenbei Mathildas neu zusammengestellte Spotify-Playliste an. Nebenbei naschten sie ein paar Schokolinsen und Weingummis. Gerade als ihr Lieblingslied lief, klingelte Annemiekes Handy. Hastig angelte sie es sich von ihrem Nachttisch.
„Hi, hier ist Annemieke“, meldete sie sich.
„Hi, ich bin’s, Aylin“, vernahm sie die Stimme ihrer Freundin. „Hast du kurz Zeit?"
„Was gibt es?“, fragte Annemieke, die sich wunderte, wieso ihre Freundin jetzt noch anrief. Damit sie Aylin besser verstehen konnte, stand sie auf und machte die Musik leiser.
„Ich wollte nur sagen, dass ich morgen mit einer Freundin, die ich lange nicht mehr gesehen habe, ins Kino gehen werden“, hatte Aylin ihr mitzuteilen.
„Heißt das etwa, dass du bei der Exkursion in der alten Villa nicht dabei bist?“, schlussfolgerte Annemieke rasch.
„Genau“, bestätigte ihre Freundin und fügte hinzu: „Aber ich denke, ihr werdet es auch alleine schaffen, immerhin habt ihr die Piranhas dabei.“
„Micky, mit wem telefonierst du da?“, stand Mathilda auf einmal direkt vor ihr.
„Mit Aylin. Wieso willst du das wissen?“, erwiderte Annemieke und wich ein Stück zurück.
„Gib mal das Handy her!“, forderte Mathilda und hielt es kurz darauf an ihr Ohr. Annemieke rollte leicht genervt mit den Augen. Es war nicht immer einfach mit so einer dominanten Zwillingsschwester wie Mathilda, die ständig den Ton angeben wollte. Auch jetzt schien Mathilda das Gespräch mit Aylin an sich zu reißen.
„Du kannst doch wann anders ins Kino gehen. Sag deiner Freundin bescheid, dass du morgen keine Zeit hast und ihr euch für die Verabredung einen anderen Tag suchen müsst“, redete sie mit lauter Stimme auf Aylin ein und tigerte dabei im Zimmer auf und ab.
„Hast du Aylin doch noch überreden können?“, kam Annemieke wieder, nachdem sie kurz auf Toilette gewesen war.
„Ja, sie wird wohl doch kommen“, nickte ihre Schwester und fügte hinzu: „Trotzdem hörte sich Aylin so an, als wollte sie sich davor kneifen und unsere Bande hängen lassen.“
„Ich kann sie aber irgendwie verstehen“, erwiderte Annemieke. „Unser Vorhaben in der alten Villa ist nicht ganz ohne und ich habe ehrlich gesagt auch Bammel davor. Es kann immer etwas passieren. Stell dir vor, ein Teil des Daches oder der Treppe stürzt ein.“
„Meine Güte, seid ihr Schisshasen. Es sieht nicht so aus, als würde das Haus zeitnah in sich zusammen fallen“, rollte Mathilda mit den Augen und fügte hinzu: „Du und Aylin, ihr solltet echt eine Angsthasenbande aufmachen. Ihr seid ängstlicher als die Polizei erlaubt. Selbst Greta hat mehr Mut als ihr beide zusammen.“
In Annemieke begann es zu brodeln, da sie sich von ihrer Zwillingsschwester nicht ernst genommen fühlte.
„Warum starrst du mich so böse an?“, wunderte sich Mathilda, die sich keiner Schuld bewusst zu sein schien.
„Weil du meine Sorgen und Ängste eh nicht ernst nimmst und mir höchstens einen hohlen Spottkommentar an den Kopf wirfst“, zischte Annemieke in ihre Richtung.
„Meine Güte, du bist aber eine beleidigte Leberwurst“, gab ihre Schwester zurück und machte die Musik wieder lauter. In diesem Moment drehte sich Annemieke um und verließ das Zimmer. Es gab Momente, in denen es unmöglich war mit ihrem Zwilling zu reden. Lieber gesellte sie sich zu ihren Eltern und Tante Rentje unten auf die Terrasse. Zwar redete die über ihre Erwachsenenthemen wie beispielsweise über die lästigen Arbeitskollegen oder die nächste Steuererklärung, aber wenigstens gingen sie ihr gerade nicht auf die Nerven.
„Willst du auch etwas trinken, Liebes?“, fragte Rentje.
„Gerne!“, nickte sie und holte sich einen Stuhl. Rentje goss ihr Traubenschorle ein, während die Erwachsenen an ihren Rotweingläsern nippten.
„Was macht eigentlich deine Schwester?“, fragte ihr Vater, während er sein Weinglas in der Hand leicht schwenkte und dabei in die kreisende Rotweinwelle schaute.
„Ach, die hört oben in ihrem Zimmer Musik“, versuchte Annemieke so beiläufig wie möglich zu klingen und musste sich kurz zusammenreißen, damit sie nichts von der kleinen Verstimmung zwischen ihr und Mathilda erzählte. Denn die Erwachsenen durften nicht einmal kleinste Details von ihrem morgigen Vorhaben erfahren.
Eine halbe Stunde später ging sie doch wieder nach oben, um sich bettfertig zu machen, da ihr einerseits kalt war und andererseits konnte sie vor Müdigkeit keinem Gespräch mehr folgen.
„Tut mir leid, dass ich gerade so fies war. Es ist einfach unüberlegt aus mir heraus gerutscht. Ich muss in Zukunft lernen, dass ich nicht gleich so gemein werde. Ich freue mich schon auf morgen und hoffe, dass die Schatzsuche ein Erfolg wird“, kam ihre Schwester auf dem Flur entgegen und nahm sie kurz in den Arm.
„Egal, Schwamm drüber! Jeder schießt mal über das Ziel hinaus“, nahm Annemieke ihrer Schwester den Ausrutscher nicht weiter krumm und schloss sich ins Bad ein. Dort machte sie das Radio an und ließ sich das warme Wasser über ihren Rücken laufen.
Am nächsten Abend saßen Greta, Tante Rentje und die Familie ter Steegen pünktlich um halb sieben in der Küche am Abendbrottisch.
„Warum habt ihr plötzlich überhaupt keinen Hunger, Zwillinge?“, fragte die Mutter der Zwillinge etwas besorgt. „Sonst esst ihr immer wie die Scheuendrescherinnen.“
„Oh Mama, wir haben vorhin zu viele Chips und Süßigkeiten gegessen“, stöhnte Mathilda theatralisch und presste ihre Hand auf ihren Bauch.
„Das ist gar nicht gut“, meinte ihre Mutter und fragte besorgt: „Hast du denn richtige Bauchschmerzen?“
„Nein, das nicht“, erwiderte Mathilda. „Aber ich kann momentan nichts essen, sonst wird mir richtig schlecht.“
„Ihr hättet vor dem Abendbrot nicht so viel naschen dürfen“, machte ihre Mutter ihnen einen Vorwurf. „Ich sage euch das dauernd, aber das kriege ich nicht mehr in diesem Leben in eure Köpfe rein.“
Annemieke versuchte ein Kichern zu unterdrücken, sie wusste, dass ihre Schwester ihrer Mutter einen Bären aufband. Mathilda hatte ein riesiges Talent sich aus jeder Angelegenheit heraus zu reden und noch nie ist ihr ein Geheimnis gegenüber rausgerutscht, der davon nichts wissen durfte. Sie hielt jedes Mal dicht, selbst ihren eigenen Eltern erzählte sie kein Ton von der bevorstehenden Mission.
„Würden Mama und Papa davon erfahren, dass wir in einem alten Haus nach einem Schatz suchen, würden sie uns in unser Zimmer einsperren“, dachte Annemieke und zwang sich ein Käsebrötchen und ein Stück Paprika zu essen. Ihre Schwester bekam außer einer Scheibe Toast und einem Glas Milch nichts herunter.
„Wollt ihr heute Abend noch irgendwo hin?“, hakte ihre Mutter nach.
„Ja, wir wurden zu einer Party der Piranhas eingeladen“, sagte Mathilda.
„Sind das nicht eure Feinde?“, stutzte ihre Mutter.
„Nicht mehr, das war einmal als wir vor einem Jahr auf Klassenfahrt waren und das war damals echt noch Kinderkram“, erwiderte Mathilda. Anhand ihrer Tonlage gab sie ihrer Mutter zu verstehen, dass sie längst nicht mehr auf dem neusten Stand war.
„Na gut, ihr seid spätestens um halb elf wieder zuhause“, meinte ihr Vater. Um halb acht stiegen die Zwillinge auf ihre Fahrräder und fuhren los. Annemieke war beinahe schlecht vor Aufregung. Wird heute Abend alles gut gehen? Werden sie als Schatzsucher in die Geschichte der Stadt eingehen? Viele Fragen schossen durch ihren Kopf. Manchmal war sie neidisch auf ihre Schwestern, weil Mathilda viel unbeschwerter an Aufgaben heran ging und nicht mal halb so viel grübelte.
Zudem fühlte sich Annemieke schuldig, dass sie ihre Eltern nach Strich und Faden belogen hatten.
„Hoffentlich wird diese Lüge niemals auffliegen?“, dachte sie und bei diesem Gedanken wurde ihr wieder flau im Magen. Ihre Eltern konnten ziemlich wütend werden, wenn sie und ihre Schwester sie anlogen oder ihnen die Wahrheit vorenthielten. Wegen einer dreisten Lüge hatten sie und ihre Schwester vor rund zwei Jahren eine ganze Woche Hausarrest bekommen.
„Micky, jetzt trödel nicht so!", rief Mathilda ungeduldig, die an einer Weggabelung auf sie wartete.
„Warum rast du so?", war Annemieke bereits nach zwei Kilometern außer Atem.
„Weil ich im Gegensatz zu dir nicht zu spät sein will", gab ihr Zwilling kiebig zurück.
Kurz vor dem Ziel blitzte die alte Villa zwischen den dunklen Tannenzweigen hervor. Sie sah am Abend viel mystischer aus als mitten am Tag. Kurz bevor die Zwillinge ihre Hollandräder abstellten, wurde ihnen zugewinkt. Emily, Kiki, Lotta, Max, Lennart, Ömer und Jannis waren schon vor ihnen da. Die drei Bandenmädchen standen eng beeinander, während die Jungs ein Stück weiter weg auf einem umgefallenen Baumstamm saßen. Die Trennung zwischen den beiden Banden war immer noch deutlich zu erkennen.
„Hallo Kaasköppe! Endlich habt ihr es auch hier hingeschafft“, begrüßte sie Jannis neckend. Mathilda konnte es nicht unterlassen, dem Anführer der Piranhas die Zunge rauszustrecken. Aber in diesem Fall handelte es sich um Neckereien, doch noch während der Klassenfahrt in der sechsten Klasse waren gegenseitige Beschimpfungen und Streiche an der Tagesordnung gewesen.
„Nun fehlen nur noch Fianna, Aylin, Sven und Michael“, stellte Lennart fest.
Im nächsten Moment kam Michael keuchend mit seinem Mountainbike vorgefahren.
„Nun hat es der massive Michi doch noch geschafft“, spottete Lennart.
„Danke, du Penner!“, erwiderte Michael. „Ich habe mich gerade verdammt abgemüht, durch den Wald zu hetzen.“
Da Michael ein paar Pfunde mehr wog als seine Bandenkumpels, hatten sie ihn gerade eben abgehängt und Michael musste sich ein paar Minuten auf eine Bank setzen, um zu verschnaufen.
„Da kommen endlich Aylin und Fianna“, rief Kiki und winkte ihre beiden Freundinnen zu sich rüber. Auf den ersten Blick hatte Annemieke Fianna nicht erkannt. Fianna war ganz in schwarz gekleidet und hatte sogar ihre roten Haare unter einer schwarzen Mütze versteckt.
„Du siehst aus wie Kim Possible!“, rief Lotta begeistert und ihre Freundin strahlte bei dem Gedanken über den neuen Spitznamen.
„Wo bleibt eigentlich Sven?“, fragte Jannis nervös. „Der Idiot muss kommen, sonst ist unsere Mission im Eimer.“
„Der kommt noch, er muss erst seine Eltern rumkriegen“, versicherte ihm Lennart. Mit zehn Minuten Verspätung parkte Sven sein Fahrrad vor dem Haus. Er sah, dass seine Freunde einen Lageplan des Hauses studierten.
„Hey, habt ihr schon eine neue Idee, wo der Schatz sein könnte?“, fragte er neugierig und nahm den Plan an sich.
„Ich bin mir sicher, im Keller ist auch ein Teil des Schatzes versteckt“, murmelte Sven. „Seht ihr dort die Markierung?“
„Ja, im Keller sollen angeblich teure Vasen und wertvolles Porzellan aus China gelagert sein“, sagte Jannis zu seinen Freunden.
„War nicht sogar von Goldschmuck die Rede sein?", klinkte sich Lotta in das Gespräch der Piranhas ein.
„Mal schauen, das werden wir dann sehen", zuckte Michael mit den Achseln
„Wir müssen uns in mehrere Gruppen aufteilen“, rief Kiki und bat um ihre Aufmerksamkeit. „Oder wie wollen wir es sonst machen, Jannis?“
„Wir werden uns in vier Gruppen aufteilen“, bestimmte Jannis. „Eine Gruppe geht in das Kinderzimmer, die zweite in das Elternschlafzimmer, eine andere Gruppe sucht im Wohnzimmer und die letzte Gruppe geht in den Keller.“
„Ich gehe auf keinen Fall in den Keller“, rief Aylin sofort. Fianna war das einzige Mädchen, welches bereit war, in den Keller zu gehen. Dass ausgerechnet die sonst zimperliche und eigenwillige Fianna freiwillig in den Keller ging, damit rechnete niemand. Lennart und Ömer gingen mit Fianna mit. Diese Gruppe verschwand als erstes im Haus.
„Sven, Aylin, Emily und ich werden das Wohnzimmer absuchen“, entschied Jannis. Lotta, Kiki und Michael waren für das Elternschlafzimmer zuständig. Max und die Zwillinge stiegen die Treppe hinauf zum Kinderzimmer. Annemieke war heilfroh, dass sie ihre Zwillingsschwester dabei hatte, da die alte Villa gerade abends noch furchteinflößender wirkte als am Tag. Da sie ein wenig Angst hatte, hakte sie sich bei Mathilda unter.
„Wo soll dieser Tresor sein?“, drehte sich Max zu den Zwillingen um.
„Ich glaube, er soll hinter diesem Schrank sein“, vermutete Mathilda. „Wir müssen ihn ein Stück zur Seite schieben“
Das war leichter gesagt als getan. Zu dritt drückten und warfen sie sich mit ihrem vollen Gewicht gegen den Schrank, aber er bewegte sich keinen Zentimeter.
„Wir versuchen es noch einmal!“, wandte sich Max an die Zwillinge. „Wir rennen alle gleichzeitig gegen den Schrank und werfen uns mit unserem Gewicht dagegen. Dann wird es bestimmt klappen.“
Annemieke, Mathilda und Max versuchten es noch einige Male, doch der Schrank bewegte sich nur wenige Millimeter zur Seite.
„Es bringt nichts“, keuchte Mathilda. „Wir müssen der Gruppe im Nebenraum bescheid sagen, dass sie uns helfen müssen. Zu dritt schaffen wir es noch nicht mal bis Ostern.“
„Das keine schlechte Idee“, gab Max zu und rieb sich über die schweißnasse Stirn. „Wir mühen uns bestimmt schon eine Viertelstunde ab, diesen verdammten Schrank zu verschieben.“
„Ich gehe kurz rüber und sage ihnen Bescheid“, sagte Annemieke und huschte hinaus. Das Elternschlafzimmer lag direkt daneben.
„Habt ihr schon etwas Interessantes gefunden?“, fragte sie die andere Gruppe und blieb im Türrahmen stehen.
„Wir haben hinter einem Wandteppich einen Tresor entdeckt, aber leider lässt sich nicht öffnen. Michael versucht seit Minuten mit einer Feile das Schloss aufzubekommen, aber er hat es noch nicht mal ansatzweise zur Hälfte durch“, erzählte Kiki.
„Wir brauchen dringend eure Hilfe“, bat Annemieke und fuhr fort: „Wir müssen den schweren dunkelbraunen Schrank verschieben und leider schaffen wir es nicht zu dritt. Ihr müsst uns dabei helfen.“
„Na gut, vielleicht bekomme ich den Tresor in eurem Zimmer geöffnet", nickte Michael und folgte Kiki, Lotta und Annemieke in das Nachbarzimmer.
„Die Hilfe ist da!“, sagte Annemieke zu Mathilda und Max, die sich bereits auf die Betten gesetzt hatten. Zu sechst konnten sie den Schrank ohne Probleme ein Stück verschieben und an der Wand kam ein blaues Holztürchen mit einem Vorhängeschloss zum Vorschein.
„Das ist der Tresor!“, wisperte Kiki und ihre schwarzen Augen fingen an zu leuchten. Ohne Probleme konnte Max mit einem Schraubenzieher und anderem Werkzeug das blaue Türchen öffnen, da das Schloss bereits ziemlich verrostet war. Gebannt starrten sechs Augenpaare auf Max geschickten Hände.
„Das Türchen kann geöffnet werden“, sagte Max zu seinen Freunden und den Bandenmädchen. Zur Enttäuschung der Kids verbarg sich kein Schatz im Tresor, sondern nur drei eingerahmte Gemälde.
„Wie kommen die Bilder in den Tresor?“, entfuhr es Max erstaunt. „Michi, haben deine Vorfahren wertvolle Kunstwerke gesammelt?"
„Woher soll ich das wissen?“, zuckte Michael nichtswissend mit den Schultern. „Davon hat mir meine Oma nie etwas erzählt."
„Manno, wir hätten uns die ganze Arbeit sparen können!“, rief Mathilda enttäuscht und schüttelte den Kopf. Sie sprach den Gedanken aus, den auch Annemieke und die anderen in ihren Köpfen hatten.
„Dann machen wir uns mal weiter auf die Suche", rappelte sich Kiki vom Kinderbett hoch und verschwand zusammen mit Lotta und Michael wieder in das Nachbarzimmer.
„Was machen wir jetzt?“, fragte Annemieke. Die Enttäuschung in ihr saß tief wie ein Stachel.
„Ich weiß nicht, wo wir noch suchen könnten?“, zuckte Max mit den Schultern und lehnte sich gegen die Wand.
„Ich schaue jetzt in jede Schubblade und unter dem Teppich. Vielleicht finden wir doch noch etwas“, packte Mathilda der Forschergeitst und sie begann jedes Fleckchen des Zimmers abzusuchen.
Auf einmal fiel Annemieke wieder ein, dass sie bereits vor einigen Tagen in der Villa mehrere Gemälde gefunden hatten, die ziemlich teuer aussahen.
„Letztens haben wir unten in der Küche auch drei teure Gemälde von Monet, da Vinci und Picasso gefunden", wandte sie sich an Max.
„Krass, das habt ihr uns noch gar nicht erzählt", sah der Piranha sie mit großen Augen an.
„Das ist bestimmt bei der Aufregung um den Familienschatz untergegangen", meinte Mathilda sofort.
„Glaubt ihr, dass die Kunstwerke gestohlen worden sind?, sah Max die Zwillinge fragend an.
„Warte, ich kann mal kurz googeln", zückte Annemieke ihr Handy und prompt fiel ihr ein, dass sie hier weder Empfang noch Internet hatte. Seufzend steckte sie das Handy zurück in ihre Hosentasche.
„Ich habe nicht mitbekommen, dass in letzter Zeit teure Kunstwerke verschwunden oder gar gestohlen worden sind", zuckte Mathilda mit den Achseln.
„Ich auch nicht", meinte Max.
„Glaubt ihr, die Kunstwerke sind echt?", brach Max ein mehrminütiges Schweigen.
„Fühlt sich jedenfalls so an", hob Mathilda ein goldumrahmtes Gemälde von Vincent van Gogh hoch. Annemieke fuhr mit ihren Fingern vorsichtig über das Kunstwerk und mit einem Mal zählte sie eins und eins zusammen.
„Warum ist dieses Gemälde eigentlich nicht im Museum oder in einer Privatausstellung ausgestellt?", sprach sie ihre Frage halblaut aus.
„Stimmt!", sprang ihre Schwester auf. „Das sind alles weltbekannte Gemälde und die gammeln mehr oder weniger in einer baufälligen Villa rum."
„Weltbekannt?", sah Max sie mit einem ahnungslosen Gesichtsausdruck an.
„Natürlich!", nickte Annemieke heftig. „Erkennst du Vincent van Goghs "Sonnenblumen" etwa nicht wieder? Das mussten wir doch letztens in Kunst malen."
„Kann schon sein", zuckte der Piranha leicht desinteressiert mit den Schultern.
„Da hast du wohl die ganze Zeit im Kunstunterricht gepennt", bemerkte Mathilda spitz.
„Micky, magst du nochmal nachschauen, wie es gerade bei Kiki und Co aussieht?", stupste Mathilda sie an.
„Kann ich machen", nickte Annemieke und schlich auf leisen Pfoten zum Nachbarzimmer.
„Wir haben immer noch nichts Weiteres gefunden, falls du es wissen willst", bemerkte Kiki sie als erstes und kam entgegen, sodass sie sich auf dem Flur gegenüber standen.
„Die Bilder...", begann Annemieke und weiter kam sie nicht. Sie und Kiki verharrten mitten in der Bewegung, als sie Schritten aus der Eingangshalle hörten. Annemieke hielt die Luft an. Wer war das? War außer ihnen und den Piranhas noch jemand in diesem Haus?
„Jemand ist hier eingebrochen!", hörten sie eine laute, tiefe Männerstimme von unten. Annemieke und Kiki gefror sofort das Blut in den Adern.
„So ein Mist!", fand Kiki als erste ihre Sprache wieder und rannte ins Kinderzimmer. Annemieke, Lotta und Michael folgten ihr. Rasch schlugen sie die Hintertür hinter sich zu.
„Max, schließ die Tür ab!", zischte Lotta.
„Toll, einen Zimmerschlüssel habe ich nicht", gab dieser gereizt zurück.
„Egal, dann haltet die Tür zu!", wisperte Kiki.
„Versteckt euch, Tulpis!", raunte Max. Lotta rollte sich in die bodenlange Gardine ein, Annemieke kroch unter das Kinderbett und Kiki verschwand im großen Kleiderschrank. Mathilda blieb einige Sekunden lang unschlüssig mitten im Raum stehen, ehe sie den beiden Piranhas zur Hilfe eilte.
„Ich habe gesagt, du sollst dich verstecken!", raunzte Max Mathilda an.
Keine drei Sekunden später beobachtete Annemieke aus ihrem Versteck heraus, wie die Zimmertür aufgedrückt wurde und sowohl ihre Schwester als auch die beiden Piranhas zu Boden fielen.
„Wen haben wir da?", sagte ein mittelgroßer, dunkelhaariger Mann mit lauter Stimme. Neben ihm waren zwei weitere Typen aufgetaucht, die ein Stück größer waren als er.
„Was habt ihr hier verloren?", fragte der Größte von ihnen. Dabei zog er Michael vom Boden hoch und hielt ihm am Arm fest.
„Wir geben Ihnen erst eine Erklärung, wenn Sie meinen Kumpel loslassen", trat Max neben seinen Bandenbruder.
„Was glaubst du, wer du bist?", funkelte der mittelgroße Mann Max an. Der dritte Mann stand breitbeinig wie ein Wachhund im Türrahmen. Ein paar Sekunden lang legte sich eine lähmende Stille über den Raum, als Mathilda plötzlich losstürmte.
Mit rasendem Herzschlag und zugeschnürter Kehle beobachtete Annemieke unter dem Kinderbett liegend, wie ihre Schwester noch vor der Tür abgefangen wurde. Der große Mann mit dem Dreitagebart packte sie und verdrehte ihr ruckartig das Handgelenk, sodass Mathilda einen langgezogenen Schmerzschrei ausstieß.
„Du haust mir nicht ab, du freche Göre!", rief der Typ und schleuderte sie gegen die Wand. Annemieke wurde ganz anders zumute, als ihr Zwilling vor Schmerzen wimmernd neben der Kommode zusammensackte. Hoffentlich hatten sie Mathilda nicht gerade die Hand gebrochen. Hätte ihre panische Angst sie nicht gelähmt, wäre Annemieke sofort zu ihrer Schwester geeilt, die sich gerade die Tränen aus den Augen wischte.
„Wer sind Sie?", trat Kiki im nächsten Augenblick aus ihrem Versteck heraus und sah den Männern selbstbewusst und mutig in die Gesichter.
„Das willst du wirklich wissen, du naives Ding?", höhnte der mittelgroße Typ und stieß sie unsanft ein Stück zurück. Ein Moment lang sagte niemand im Raum ein Worte.
Kurz darauf waren laute Schreie und Rufe von unten zu hören. Annemieke stockte der Atem. Offenbar waren es noch mehr als nur drei Männer, die zu dieser Gang gehörten und nun hatten diese inzwischen auch die Mitglieder der Wohnzimmergruppe in ihren Händen.
„Fassen Sie mich nicht an!", hörte Annemieke Emily im Treppenhaus schreien. Die Stimmen kamen näher und kurz darauf flog die Tür zum Kinderzimmer auf.
„Habt ihr die anderen Blagen?", fragte der Mann mit dem Dreitagebart drei weitere Kumpanen, die mit ins Zimmer gekommen waren. Verängstigt standen Emily, Aylin, Jannis und Sven von den fremden Männern umzingelt in der Mitte des Zimmers.
„Ja, wir sind vollzählig", sagte Jannis, ehe eine andere Person eine Antwort in den Raum werfen konnte. Wieder breitete sich bedrohliches Schweigen im ganzen Zimmer aus.
„Du brauchst dich gar nicht unter dem Bett zu verstecken", blickte Annemieke auf einmal in ein Paar hellblauer, giftiger Augen. Zitternd krabbelte sie aus dem Versteck, ehe der Mann sie am Arm packte und hochriss. Au, tat das weh! Sie konnte nicht unterdrücken, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen. Ihre Beine waren in diesem Moment aus Wackelpudding, sodass sie sich kaum halten konnte.
„Steh endlich!", befahl der Typ und griff ihr fest in die Schulter, sodass sie fast aufquiekte. Vor Schmerzen biss sie ihre Zähne aufeinander.
„Lassen Sie das Mädchen los!", rief Michael wütend und verpasste ihm einen Hieb in die Seite.
„Ganz schön mutig der kleine Knirps!", riss ein anderer Typ mit schwarzer Mützte Michael von Annemieke weg. Als Michael wieder zu einem Schlag ausholen wollte, wurden ihm die Arme hinter dem Rücken festgehalten.
„Nun, habt ihr in aller Ruhe Zeit, euer Vorhaben zu erklären und wer ihr seid", trat ein Mann mit Kappy vor seine Gang. Annemieke bekam es mit der Angst zu tun, als sie den Schaft einer Pistole als seiner Hosentasche blitzen sah.
„Bitte, lass es eine Schreckpistole sein", betete sie insgeheim. Auch ihre Bandenschwestern waren inzwischen allesamt leichenblass geworden.
„Ich würde Sie gerne fragen, was Sie im Haus meiner Vorfahren treiben?", riss sich Michael mit einem Ruck los.
„Magst du uns das einmal bitte beweisen?", sah ihn ein kleiner Mann mit halblangen, hellblonden Haaren an.
„Sie wissen ganz genau, wo Sie sind", sagte Michael mit fester Stimme und dann zeigte er den Gangmitgliedern seinen Schülerausweis, die in hämisches Gelächter ausbrachen und sich auf die Schenkel klopften.
„Lachen Sie nur weiter", fuhr Michael unbeirrt fort. „Währenddessen rufen wir die Polizei."
„Du bist wohl ein ganz Schlauer!", höhnte der Mann mit dem Cappy. „Hast du schon mitbekommen, dass es hier keinen Handyempfang gibt?"
Wütend presste Michael die Lippen aufeinander.
Nun trat der Mann mit dem Cappy, den Annemieke als Anführer der Gang identifizierte vor seine Männer und räusperte sich kurz.
„Da wir keine vernünftige Antwort von euch bekommen haben, sehen wir uns gezwungen, euch für ein paar Stunden einzusperren", hob er an. „Wir kommen in ein paar Stunden wieder und dann wollen wir eine ehrliche Antwort hören, warum ihr ihr eingebrochen seid."
Annemieke brach der kalte Schweiß aus, als sie sah, wie seine Hand ebenfalls auf dem Schaft einer Pistole ruhte. Auch die anderen Bandenkids waren wie paralysiert.
„Kein falsches Wort oder Bewegung!", sagte allein Kikis Blick. Dann verließen die Männer den Raum, die Tür fiel ins Schloss und wenige Sekunden später war zu hören, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte.
„Fuck!", fluchte Max laut und trat wütend gegen die Wand. „Wir wurden eingesperrt!"
Jannis nahm kurz darauf Anlauf und trat so heftig er konnte gegen die massive Eichenholztür, die keinen Millimeter nachgab.
„Scheiße, scheiße, scheiße!", schimpfte er zornig.
„Offenbar kennen diese Männer dieses Haus besser als wir, wenn sie sogar einen Schlüssel für die Zimmer besitzen", kam Lotta wieder hinter der Gardine vor. Niemand erwiderte ihren Kommentar. Aylin fing vor Angst leise an zu weinen und wurde von Emily in den Arm genommen.
„Was machen wir nun?", klang Mathilda verzweifelt. „Nun sitzen wir hier in einem miefigen und uralten Kinderzimmer fest und dass nur, weil wir alle Schiss bekamen, weil die Männer Schusswaffen dabei hatten. Wir haben uns wort- und kampflos ergeben."
„Aber was hätten wir machen sollen?", entgegnete ihr Kiki gereizt. „Hätten wir sie so lange provozieren sollen, bis einer von ihnen seine Pistole gezückt hätte."
„Wer weiß, vielleicht war es keine echte Pistole", warf Lennart in den Raum. „Auch Spielzeugpistolen können täuschend echt aussehen."
„Aber keiner von uns wollte es darauf ankommen lassen", nahm ihm Jannis das Wort aus dem Mund. Dann hüllte sich der Raum wieder in minutenlanges Schweigen.
„Die Walkie Talkies!", fiel Annemieke plötzlich ein. „Damit können wir Fianna, Lennart und Ömer anfunken."
„Ähm...Unser Walkie Talkie haben wir im Wohnzimmer liegen lassen", sagte Sven kleinlaut.
„Toll, da liegt es gut!", fuhr ihn Mathilda barsch an.
„Ansonsten brechen wir eben die Tür auf", meinte Jannis pragmatisch und wollte sich gerade an der Tür zu schaffen machen, als sich Kiki ihm in den Weg stellte.
„Hast du daran gedacht, dass diese Männer noch im Haus sein könnten?", entgegnete ihm die Anführerin der Roten Tulpen scharf. „Ich will denen never ever mit gezückter Pistole begegnen."
„Sollen wir hier auf ewig eingesperrt sein?", rief Jannis gereizt und trat wütend gegen den Bettpfosten.
„Hölle nein!", schüttelte Max heftig den Kopf.
„Dann strengt doch auch mal eure Birne an, Jungs!", sah Kiki die Piranhas herausfordernd an.
„Na, von wem kommen wohl die ganzen Ideen, wie wir hier rauskommen?", sah Sven wiederum die Bandenmädchen stirnrunzelnd an.
„Von euch ja offenbar nicht!", kommentierte Michael ungeniert, worauf Kiki und Mathilda ihn finster anstarrten.
„Leute, was bringt es jetzt, einen Streit vom Zaun zu brechen?", ging Annemieke dazwischen. „Wir sitzen doch alle im gleichen Boot."
„Du meinst wohl Raum", bemerkte Michael.
„Ihr müsst euch vorstellen, dass wir in einem Escaperoom sind", stand Lotta im nächsten Moment auf. „Einen Ausweg gibt es immer und den werden wir auch finden."
„Ich hätte ein Seil dabei", fing Kiki an hektisch in ihrem Rucksack herumzuwühlen und zog ein zwei bis drei Meter langes Seil heraus.
„Das ist doch nur ein olles Springseil", kommentierte Sven abfällig. „Damit kommen wir auch nicht weiter. Es ist viel zu kurz, als dass wir uns damit aus dem Fenster abseilen könnten."
„Vielleicht könnte man mehrere Bettlaken aneinander binden", schnippste Emily auf einmal. „Ich habe das schon mal bei einer Netflix-Serie gesehen."
„Im Schrank sind jedenfalls keine Laken", riss Kiki die Schranktüren weit auf.
„Vielleicht in der Bettruhe", fiel Annemieke ein.
„Die ist aber auch leer", ließ Emily resigniert den Kopf hängen und stieß einen Seufzer aus.
„Hast du überhaupt nachgeschaut?", sah Lotta sie eindringlich an.
„Hab gerade den Deckel angehoben", nickte ihre Freundin.
„Seht mal, da ist noch in Bild in der Truhe!", rief Annemieke, die den Deckel aufgeklappt hatte und ein riesiges Gemälde heraushob.
„Das ist "das große Rasenstück" von Albrecht Dürer", meldete sich Aylin zu Wort.
„Warum kennt ihr diese ganzen uralten Gemälde?", sah Max die Mädchen erstaunt an.
„Weil wir im Gegensatz zu euch den Kunstunterricht komplett verschlafen haben", kommentierte Kiki leicht abfällig.
„Können wir einen Plan schmieden, wie wir hier rauskommen anstatt über verstaubte Kunst zu labern?", murrte Jannis. „Langsam kriege ich echt Durst und auf Klo muss ich auch bald."
„Oh ja, ich habe auch echt Durst des Todes", nickte sein Sven. „Mein Mund ist fast schon staubtrocken."
„Ich habe eine große Flasche Eistee dabei, aber bitte lasst noch was übrig", holte Lotta eine Eisteeflasche aus ihrem pinken Adidas-Turnbeutel.
„Danke, Lotta, du bist voll der Lifesaver!", nahm Sven die Flasche dankbar an.
„Aber lass bitte noch was über", sagte Lotta schnell, als Sven die Flasche an den Hals setzte und ein paar gierige Schlucke trank.
„Wie lange hängen wir hier schon rum und wissen nicht, wie wir einen Weg nach draußen finden?", lief Mathilda zum Fenster und starrte nach draußen.
„Mindestens eine halbe Stunde", sah Emily auf ihre hellblaue Armbanduhr.
„Meine Eltern werden mich umbringen und mir bestimmt für für längere Zeit verbieten, dass ich draußen darf", jammerte Aylin und ihre Augen füllten sich wieder mit Tränen.
„Die können dich doch nicht wochenlang in der Wohnung einsperren", meinte Jannis.
„Du kennst meine Eltern nicht!", funkelte Aylin ihn wütend an. „Wahrscheinlich hast du noch nie in deinem Leben Hausarrest gehabt."
„Hahahaha, da kennst du meine Eltern aber schlecht", erwiderte Jannis hämisch. Aylin biss sich auf ihre Unterlippe und tupfte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus den Augenwinkel. Tröstend legte ihr Lotta die Hand auf den Unterarm flüsterte ihr etwas Aufmunterndes zu.
Annemieke spürte, wie auch in ihr das Unbehagen immer größer wurde. Schließlich hatten auch sie und ihre Schwester ihre Eltern nach Strich und Faden belogen. Annemieke war sich sicher, dass sie ab diesem Zeitpunkt ihren Eltern die Wahrheit stecken musste und ihr Zwilling und sie dafür wahrscheinlich einen Großteil ihres Taschengeldes deswegen gestrichen bekamen. Es war ungefähr ein Dritteljahr her, als sie im ersten Halbjahr der siebten Klasse für zwei Monate das Taschengeld um mehr als die Hälfte gekürzt bekamen, nachdem ihre Klassenlehrerin bei ihnen zuhause angerufen hatte, als sich die Roten Tulpen und die Piranhas ordentlich in der Wolle hatten.
„Bestimmt gibt diesmal noch ein oder zwei Wochen Hausarrest dazu", dachte Annemieke düster und stand auf, um ihrer Schwester am Fenster Gesellschaft zu leisten.
„Das Wetter will sich doch nur über uns lustig machen", brummte Mathilda schlechtgelaunt. „Guck dir doch mal diesen Sonnenuntergang an, während wir hier drinnen eingesperrt sind und in dieser fucking Bruchbude keinen Handyempfang haben."
Annemieke nickte nur schwach und sah wie sich die orange Abendsonne peu a peu den Baumwipfeln entgegensenkte. Bei dem Gedanken, die Nacht hier auszuharren und vielleicht noch den nächsten Tag ließ ihr eine Gänsehaut über den Rücken laufen.
Auf einmal erstarrten die Zwillinge am Fenster. Zwei der Männer traten mit einer großen Kiste aus dem Haus, die sie zu zweit trugen. Eine Kofferraumklappe von einem der beiden Autos öffnete sich und ein dritter Mann half ihnen die Kiste im Auto zu verstauen.
„Die Männer!", wisperte Mathilda aufgeregt. Nun drängten sich auch Lotta, Sven und Jannis neben sie.
„Sie laden die Kunstwerke ein", flüsterte Annemieke.
„Mach Fotos! Schnell!", tickte Jannis Lotta an. „Du hast bestimmt die beste Handykamera."
„Fotografier auf jeden Fall die Nummernschulder!", forderte Sven Lotta auf.
„Verdammt, warum muss dieser fette Schwarzhaarige auch so blöd davor stehen?", fluchte Lotta leise und verschanzte sich hinter der Gardine.
„Egal, versuch alles zu fotografieren, was du vor die Linse kriegst", raunte ihr Kiki zu. „Jeder Beweis, den wir haben, ist Gold wert."
„Leute, kommt mal!", hörte Annemieke Max auf einmal sagen. „Das müsst ihr unbedingt sehen!"
Max hatte mehrere Regalbretter aus dem Safe, der in der Wand eingelassen war, entfernt, sodass er darin in gebückter Haltung stehen konnte.
„Und was soll da drin sein?", zog Jannis halbspöttisch eine Augenbraue hoch.
„Vielleicht ein Geist, den Max gerade in Freiheit entlassen hat", frotzelte Sven.
„Jetzt mal ernsthaft: Was hast du da entdeckt, Max?", drängelte sich Kiki an Sven und Jannis vorbei.
„Da ist eine Tür im Safe", drehte sich Max zu ihr um. Nun drängelte sich auch die anderen Kids um ihn herum.
„Versuch mal, ob die Tür aufgeht", steckte Michael seinen Kopf in den Safe. Zur Überaschung aller ließ sich die Tür im Safe ohne Schwierigkeiten öffnen.
„Darf ich mal schauen?", schob sich Annemieke zwischen Lotta, Emily und Sven durch.
Da was sich hinter der Tür im Safe versteckte, verschlug ihr beinahe den Atem: Eine gusseiserne Leiter, die an der gegenüberliegenden Wand angebracht war, führte senkrecht nach unten.
„Ein Geheimgang!", wisperte Kiki aufgeregt, die neben ihr aufgetaucht war.
„Das geht bestimmt mehrere Meter in die Tiefe", leuchtete Max mit seiner Handytaschenlampe hinein.
„Soll ich mal nachschauen, wohin der Schacht führt?", fragte er kurz darauf.
„Pass aber auf dich auf und komm gleich zurück!", sah Jannis seinen Kumpel eindringlich an.
„Na logo!", nickte dieser und kletterte behende die Sprossenleiter hinunter.
„Warum ist dieser Geheimschacht auf der Karte nicht eingezeichnet?", warf Emily einen Moment später die Frage in den Raum. Die Bandenkids antwortete mit einem Schulterzucken, ehe Michael sagte: „Vielleicht wurde der Schacht nachträglich eingebaut und die Karte ist älter als der Schacht."
Nach mehreren Minuten Warten kam Max wieder.
„Der Schacht führt in den Keller und dort habe ich Ömers Dragonball-Schlüsselanhänger gefunden, den er da verloren hat", erzählte er.
„Das bedeutet, dass Fianna, Lennart und Ömer dort sind", schlussfolgerte Kiki.
„Ich habe sie dort nirgendwo gefunden", schüttelte Max den Kopf.
„Vielleicht konnten sie entkommen", vermutete Emily.
„Dann bestimmt nicht durch die Haustür", meinte Lotta.
„Da gibt es einen Gang", fuhr Max fort. „Dort habe ich Ömer Schlüsselanhänger gefunden."
„Dann müssen wir da sofort hin!", sprang Mathilda auf, doch ihre Euphorie erlosch schnell. Seufzend ließ sie sich wieder auf die Bettkannte fallen. Fragend sahen Kiki und Emily sie an.
„Mein Handgelenk", klang Mathilda geknickt. „Einer der Männer hat mir die Hand festgehalten und dabei verdreht."
„Zeig mal her!", forderte Annemieke ihre Schwester auf. Mit einem schmerzhaften Geräusch sog Mathilda die Luft ein, als sie ihre Hand bewegen sollte.
„Gebrochen ist es schon mal nicht", stellte Annemieke zu ihrer Zufriedenheit fest. Dennoch war das rechte Handgelenk ihrer Schwester angeschwollen.
„Trotzdem brauche ich beide Hände zum Klettern", schaute Mathilda sie düster an.
Auf einmal kam Annemieke eine Idee.
„Kiki, ich brauche dein Seil", schnippste sie und führte anschließend ihren Vorschlag aus: „Matti muss mit jemanden von uns im Tandem klettern und sich das Seil um den Oberkörper binden. Die andere Person muss sich das andere Ende vom Seil um den Bauch binden. Matti klettert zuerst und dann die andere Person, damit diese Matti halten kann, falls sie sich nicht mehr an der Leiter halten kann."
Max bot an mit Mathilda im Tandem zu klettern, da er der Größte und Stärkste von allen Bandenkids war. Zu zweit machten sie den Anfang und kletterten langsam Sprosse für Sprosse die Leiter hinunter. Als nächstes folgten die anderen Piranhas sowie Lotta und Kiki. Nun waren nur noch Annemieke, Aylin und Emily oben im Kinderzimmer. Aylin wurde bleich als sie klettern sollte.
„Das geht mir viel zu weit nach unten", sagte sie voller Unbehagen. „Ich kann das nicht jetzt nicht sofort."
„Lass uns zusammen klettern", schlug Annemieke vor. „Ich gehe direkt vor dir und wenn du glaubst, du fällst, dann bin ich immer noch vor dir und dir passiert nichts."
„Ich kann es versuchen", nickte ihre Freundin zaghaft.
„Und falls du dich nicht traust, dann bleibe ich zusammen mit dir hier, Aylin", versprach ihr Emily. Aylin atmete einige Male tief durch, ehe sie den nötigen Mut fassen konnte. Annemieke und Emily mussten ihr gut zureden, während sie den Schacht hinab kletterten.
Große Erleichterung machte sich unter den Bandenkids breit, als alle heile und sicher im Keller angelangt waren.
„Wo genau hat Ömer den Schlüsselanhänger verloren?", wollte Kiki wissen.
„Ich glaube, er hat den absichtlich fallen lassen", ging Annemieke ein Licht auf.
„Glaubst du wirklich?", sah Jannis sie skeptisch an.
„Vielleicht wollen sie uns den Weg weisen", meinte Emily.
„Ich glaube nicht", schüttelte Kiki den Kopf. „Die anderen haben auf keinen Fall damit gerechnet, dass wir hier im Keller landen würden und sie wissen auch nichts von dem geheimen Schacht."
„Egal, aber sie waren hier", sagte Lotta und schritt voran. Kurz darauf fanden sie eine schwarze Haarspange, die wahrscheinlich zu Fianna gehörte. Die vierte Gruppe war eindeutig diesen Tunnel entlang gegangen.
„Mal sehen, wo der Gang hinführt", hörte Annemieke Sven sagen.
„Psst!", legte Kiki ihren Zeigefinger auf die Lippen.
„Ich glaube, die Männer sind hier nicht", sagte Michael mit ruhiger Stimme. Ohne etwas zu sagen, schritten sie weiter. Hier unter der Erde war es deutlich kühler und feuchter. Annemieke fröstelte leicht in ihrem T-Shirt.
Der Tunnel mündete nach rund 300 Meter in eine schmale Steintreppe, die nach oben führte und nach links abbog. Oben auf dem Steinplatteau angekommen, mussten die Bandenkids kurz blinzeln, als sie in die orangerote Abendsonne starrten. Die schwere Holztür in der kleinen Steinhalle stand ein Stück weit auf.
„Freiheit!", sagte Annemieke leise und hakte sich bei ihrer Schwester unter als sie der Dämmerung entgegenliefen. Draußen blieben die Bandenkids einen Moment stehen.
„Das ist doch der alte Steinbruch", erkannte Kiki als erstes wieder, wo sie gerade wieder an die Erdoberfläche kamen. Sie standen auf einem Steinplatteau mit einem Durchmessern von rund 100 Metern. Ringsherum waren einige Bäume gefällt und zu großen Stammhaufen aufgetürmt. Im Hintergrund zwitscherte eine Nachtigall ihr Abendlied, während die Grillen unermüdlich zirpten.
„Wow, ich habe auf einmal Handysignal!", rief Lotta, die ihr Handy in der Hand hielt.
„Versuch Fianna anzurufen!", forderte Kiki sie auf. Lotta wählte die Nummer ihrer Freundin und stellte das Mobiltelefon auf laut, damit alle mithören konnten. Es tutete mehrfach, ehe Fianna kurz darauf abnahm.
„Hi Carrot, wir sind frei", begann Lotta, wobei sie ziemlich aufgedreht klang. „Wir konnten durch einen Geheimschacht, der in den Gemäuern der Villa eingebaut war und in der Keller führte sowie durch einen unterirdischen Tunnel ins Freie fliehen."
„Krass! Echt jetzt?", erwiderte Fianna.
„Fianna, wo seid ihr jetzt?", drängte sich Kiki neben Lotta.
„Wir sind seid wenigen Minuten auf dem Polizeirevier", erzählte ihre Freundin. „Wir sind auch durch diesen Tunnel geflohen, als die Männer kamen. Zum Glück konnten wir die Kellertür noch von innen verriegeln, sonst wären diese gruseligen Kerle zu uns vorgdrungen."
Annemieke fiel ein Stein vom Herzen. Fianna und die beiden Piranhas waren offenbar auch in Sicherheit.
Im nächsten Moment telefonierte Jannis mit der Polizei und hatte sich ein Stück weit von der Gruppe entfernt.
„Wir bleiben wir hier und nähern uns auf keinen Fall der Villa", kam er wieder und erzählte: „Die Polizei hat dort in einem Großeinsatz, um die Bande festzunehmen und die Villa zu durchsuchen. Gleich kommen zwei Mannschaftsbullis und bringen uns zur Polizeiwache."
„Zum Glück!", war Aylin sichtlich erleichtert. „Freiwillig wäre ich keinen Meter in Richtung Villa gelaufen."
Annemieke nickte insgeheim. Allein bei dem Gedanken sich der Villa im Halbdunkeln zu nähern, lief ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken. Am liebsten wollte sie diese Bruchbude, in der sie harfscharf einer Katastrophe entkamen, nie, am besten nie wieder sehen.
Die Fahrt zum Polizeirevier in der Innenstadt erlebte Annemieke wie in Trance. Neben ihrer Schwester in der hintersten Reihe, starrte sie wie hypnotisiert zum Fenster raus und beobachtete, wie Regentropfen an der Scheibe hinunterliefen. Vor kurzem hatte es leicht angefangen zu regnen und es war richtig dunkel geworden. Verschwommen nahm Annemieke die bunten Lichter der Ampeln und die Scheinwerfer der entgegenkommenden Autos wahr. Ein Glück, dass Kiki, Lotta, Sven und Jannis noch fitter als sie waren und die Fragen der beiden Polizisten beantworteten. Was sie den Beamten antworteten, bekam sie kaum noch mit. Zunehmend verwandelten sich die Stimmen in ein Rauschen und im Polizeibus wurde es immer dunkler. Kurz darauf war sie eingenickt und lehnte ihren Kopf gegen die kühle Fensterscheibe.
„Aufwachen, wir sind da!", rüttelte jemand wenige später an der Schulter. Erschrocken sah Annemieke ihrer Schwester ins Gesicht.
„Schon zuhause?", blinzelte sie verschlafen.
„Neein, erst an der Wache", erwiderte ihre Schwester leicht spöttisch und zog sie an der Hand aus dem Bulli. Vor der Polizeistation warteten bereits einige Eltern der Bandenkids. Einen kurzen Augenblick später befanden sich die beiden Schwestern in einer innigen Umarmung ihrer Eltern wieder. Mathilda lehnte sich erleichtert an den Oberkörper ihres Vaters, während Annemieke erschöpft ihr Kinn auf der Schulter ihrer Mutter ablegte.
„Ihr habt es einen großen Schrecken eingejagt, als Matti uns schrieb, dass wir euch von der Polizeiwache abholen sollen", brach ihre Mutter das Schweigen.
„Sorry!", sagte Annemieke geknickt und Reue stieg in ihr auf, die sich wie schweres Blei auf ihre Schultern legte. Es war gar kein schönes Gefühl, die eigenen Eltern, die ihnen meist vertraut hatten, so dermaßen zu belügen. Bei dem leicht gesenkten Blick ihres Vaters, der bis jetzt kein Wort gesagt hatte und enttäuscht aussah, hätte sie fast angefangen zu weinen.
„Ich kann euch die ganze Story erzählen", setzte Mathilda an. „Wir waren gar ..."
„Nein, jetzt nicht!", blockte ihre Mutter ab. „Es ist schon spät und ich sehe doch, wie kaputt ihr seid. Zuhause geht ihr ohne Umwege ins Bett!"
Zuhause tranken die Zwillinge noch eine Vanillemilch als Butthupferl und löschten gegen kurz nach elf das Licht. Annemieke brauchte nicht bis 10 zählen, um in einen tiefen Schlaf zu fallen. Die Nacht endete allerdings jäh, als sie sich im Traum wieder in der alten Villa wiederfand. Nass geschwitzt und mit einem flattrigen Puls angelte sie ihr Handy vom Nachttisch. Rasch öffnete sie Whatsapp, doch keiner ihrer Freunde schien mehr online zu sein. Daher scrollte sie durch Instagram, um wieder zur Ruhe zu kommen. Sie wurde einfach nicht wieder müde, daher zog sie sich einen Kapuzenpulli über und schlich die Treppe runter auf die Terrasse. Mit einer Decke auf den Schoß machte sie es sich auf der Liege neben dem kleinen Gartenteich bequem. Im Osten wurde es langsam hell und die ersten Vögel begannen zu singen. Plötzlich wurde Annemieke doch wieder müde und kuschelte sich gähnend in ihre Wolldecke.
„Guten Morgen, Liebes!", stand ihre Mutter kurz nach acht direkt vor ihr. „Die Polizei hat gerade angerufen und lädt euch um neun zum Verhör vor."
Oh nein! Annemieke wurde leicht flau im Magen.
„Komm, zieh dich an!", scheuchte ihre Mutter sie hoch. „In einer Viertelstunde fahre ich mit euch los."
Seufzend lief Annemieke hoch in ihr Zimmer und zog sich zügig um. Eine hellblaue Bluse, eine Skinnyjeans, und ihre Turnschuhe: das musste reichen. Auf Schmuck und eine aufwendige Frisur verzichtete sie komplett. Nur ihr rot-oranges Bandenarmband baumelte an ihrem rechten Handgelenk.
„Für's Polizeirevier muss ich nicht schick sein", dachte sie bei sich. „Aber trotzdem ordentlich."
Deswegen band sie rasch ihre wilden, hellblonden Locken zu einem Dutt. Unten auf der Auffahrt warteten bereits ihre Mutter und Mathilda. Schweigend stiegen die Zwillinge hinten ins Auto an und hielten sich während der Fahrt an den Händen. Annemieke entging nicht, dass es ihrer Schwester ähnlich wie ihr ging. Auch Mathilda war in dem Moment mulmig zumute und knabberte ununterbrochen auf ihrer Unterlippe herum.
Da die Zwillinge noch keine 14 waren, war ihre Mutter dabei, als sie nacheinander verhört wurden. Erst war Mathilda an der Reihe und eine halbe Stunde später Annemieke. Die beiden Polizisten in dem kleinen Raum waren sehr freundlich und boten Annemieke sogar ein Glas Wasser an. Ein Polizist Mitte dreißig setzte sich ihr gegenüber und begann sie zu befragen. Neben ihm saß eine Beamtin, die sich Notizen machten. Auch als sich Annemieke mehrfach verhaspelte und sich einmal an ihrem Speichel verschluckte, blieb der Beamte geduldig und freundlich. Nach knapp einer halben Stunde durften sie wieder gesund. Ein Stein fiel Annemieke vom Herzen, als sie die Polizeiwache verließen.
„Was haltet ihr davon, wenn wir ins Marktcafe gehen?", schlug ihre Mutter auf dem Parkplatz vor, worauf die Zwillinge begeistert nickten. Annemieke hatte nun einen Bärenhunger, da sie seit gestern Nachmittag nichts Großes mehr gegessen hatte.
Die Zwillinge und ihre Mutter fanden einen schönen Sitzplatz draußen vor dem Marktcafe. Als die Bedienung kam, bestellten sie sich drei Zimtcroissants mit Vanillecreme und Waldbeeren. Dazu nahmen sie zwei Eisschokoladen und einen großen Latte Macchiato. Später teilten sie sich zu dritt einen kleinen Käsekuchen. Zufrieden beobachtete Annemieke das Treiben auf dem Marktplatz. Besucher, die wahrscheinlich woanders her kamen, fotografierten das bildschöne Rathaus und die Marktkirche sowie den Zeus-Brunnen mitten auf dem Platz.
„Wir müssen los!", sagte ihre Mutter gegen kurz vor elf. „Ich habe meine Schicht mit einer Kollegin getauscht und um Mittag muss ich anfangen."
Obwohl die Zwillinge erst überlegt hatten, noch länger in der Stadt zu bleiben, waren sie von all den ganzen Ereignissen so übermannt, dass sie sich von ihrer Mutter nach Hause bringen ließen.
Erst als Annemieke es sich zuhause auf ihrem Bett bequem gemacht hatte, fing sie an die letzten 24 Stunden peu a peu zu realisieren. Sie, die Roten Tulpen und die Piranhas, waren einer brandgefährlichen Situation in der alten Villa entkommen und zudem gingen wegen ihnen eine sechsköpfige Bande, die dort gefälschte Kunstwerke lagerte und unter der Hand verkaufte, den Ermittlern nach jahrelanger Fahndung ins Netz. Die Polizei konnte alle Männer noch gestern Abend an der Villa festnehmen und noch mehr Kunstwerke beschlagnahmen. Zudem hatten Fianna, Lennart und Ömer drei hochwertige Porzellanvasen und ein Schmuckkästchen mit Gold- und Edelsteinschmuck von der Familie Vilnius in einem Tresor im Keller entdeckt. Laut Fianna sollte der Schatz später an die Familie von Michael übergeben werden, nachdem die polizeilichen Ermittlungen abgeschlossen waren.
Plötzlich vibrierte ihr Handy. Lotta hatte einen Link von der Freudenburger Online-Zeitung in die Gruppe der Roten Tulpen gepostet. Neugierig klickte ihn Annemieke an und platzte vor Stolz, als dort von der Festnahme der Bande und ihrer Heldentat berichtet wurde.
„Micky, das ganze Internet ist voll mit der Festnahme der Kunstfälscher!", platzte Mathilda ohne Vorwarnung in ihr Zimmer, sodass Annemieke erschrocken zusammenzuckte. Hatte ihr Zwilling noch nie etwas von Anklopfen gehört? Anstatt ihre Schwester anzumeckern, sagte sie nur: „Lotta hat gerade einen Link dazu in die Gruppe gestellt."
„Google mal "Freudenburg" und "Kunstfälscher" und dann siehst du, dass mindestens zehn Artikel innerhalb der letzten vier Stunden veröffentlicht wurden", plapperte Mathilda munter weiter. Annemieke nickte nur und schlug vor, dass sie es sich lieber mit einem großen Pott Cookies-Eis und Netflix unten im Wohnzimmer gemütlich sollten.
Am späten Nachmittag fuhren die Zwillinge zum Bandenquartier, da sie laut Plan mit dem Ausmisten des Kaninchenstalls an der Reihe waren.
„Manchmal frage ich mich, wie unsere beiden Racker es schaffen, innerhalb so weniger Tage so derbe viel zu kötteln", bemerkte Mathilda, als sie die Schubkarre mit dem Kaninchenmist beluden.
„Weil Emily zuletzt gefüttert hat", beantwortete Annemieke ihre Frage. Emily war bekannt dafür, Hanni und Nanni sehr viel Heu und Trockenfutter zu geben.
„Hallo Zwillinge", tauchte Emily just in dem Moment gemeinsam mit Kiki im Schrebergarten auf.
„Hi, was macht ihr denn hier?", ließ Mathilda überrascht ihre Schaufel fallen.
„Ich brauche Ruhe", meinte Kiki. „Meine Schwester hat einen neuen Freund und sie hat mich einfach aus dem Wohnzimmer vertrieben, weil sie sich irgendeinen dummen Liebesfilm anschauen wollen und kleine Schwestern dann fehl am Platz sind."
Ihre Freundin rollte dabei mit den Augen und Annemieke war in diesem Augenblick froh, dass sie keine deutlich älteren Geschwister hatte.
Als der Kaninchenstall sauber war und die vier Freundinnen noch einen Eimer Kirschen geerntet hatte, läutete die kleine Glocke an ihrer Gartenpforte.
„Ich brauche jetzt keinen Piranha-Besuch", murrte Emily.
„Ich geh kurz nachschauen!", rief Annemieke ihren Freundinnen zu und flitzte zur Gartenpforte. Zu ihrer Überraschung entdeckte sie weder die Piranhas noch einer ihrer Eltern, sondern Josephine. Ihre alte Schrebergartennachbarin und Freundin lächelte ihr freundlich aus ihren warmen, braunen Augen entgegen.
„Schön, dass ich euch hier antreffe!", begrüßte Josephine sie. „Ich habe euch auch zwei Gärten weiter gehört und wusste, dass ihr da seid. Auch wenn ich schon alt bin, aber auf meine Ohren ist immer noch Verlass."
„Kiki und Matti sind nie zu überhören, wenn sie zusammen sind", schmunzelte Annemieke. Im Hintergrund drang wieder ein gut hörbares Gekicher zu ihnen rüber. Mathilda und Kiki neckten sich wieder und scheuchten sich kurz darauf lachend durch den Garten.
„Die beiden haben immer Energie", bemerkte Josephine. „Aber so war ich in eurem Alter auch. Was habe ich damals mit meinen Freundinnen herumgetollt!"
Wenig später saßen die vier Freundinnen bei Josephine im Garten. Ihre Freundin hatte sie spontan auf Schokoladenpudding mit heißen, eingelegten Kirschen eingeladen.
„Einfach herrlich!", schwärmte Kiki. „Darf ich mir nochmal nachnehmen? Die Kirschen sind mega!"
„Nur zu!", zwinkerte ihr die alte Dame zu. „Ich bin froh, wenn die beiden Pötte alle werden."
„Emily, was ist mit dir?", fragte Josephine Emily, die sich nur einen kleinen Klacks Kirschen genommen hatte.
„Ich muss wieder auf meine Figur achten", sagte diese. „In den Ferien habe ich gleich drei Kilo zugenommen und daher muss ich schauen, was ich noch essen darf."
„So ein Quatsch!", entfuhr es Mathilda. „Du bist doch gar nicht zu dick und sei froh, dass du kein wandelndes Knochengerüst wie Lotta bist."
„Mädels, es ist doch in Ordnung, dass ihr so verschieden seid", meinte Josephine. „Ihr seid in der Pubertät und da ist es ganz normal, dass ihr euch in einem unterschiedlichen Tempo entwickelt."
„Genau und manche würden sogar gerne weiblichere Formen haben", sagte Annemieke dazu. Insgeheim dachte sie an Lotta, die unbedingt zunehmen wollte und zuhause sogar heimlich Nutellagläser löffelte. Erst vor einigen Monaten hatte sich Lotta einen Schalen-BH gekauft, um ihre bisher kaum vorhandene Oberweite zu kaschieren.
„Können wir das Thema wechseln?", bat Mathilda gelangweilt.
„Gerne, schließlich sitze ich gerade mit vier Heldinnen an einem Tisch, die gestern nicht nur unseren Familienschatz gefunden, sondern auch eine Kunstfälscherbande erfolgreich überführt hat", schwang viel Stolz in Josephines Stimme mit.
„Aber das waren wir längst nicht alleine", beeilte sich Kiki schnell zu sagen.
„Ich bin mächtig stolz und auch deswegen, weil ihr so erfolgreich mit den Jungs zusammengearbeitet habt", fuhr Josephine fort. „Ich habe vorhin eine Stunde mit Michael telefoniert und er ist sehr von euch angetan."
„Und wir sind froh, dass wir uns vertragen haben", sagte Annemieke zufrieden.
„Wie lange habt ihr euch die Köpfe eingeschlagen?", wollte Josephine wissen.
„Fast drei Jahre", antwortete Kiki.
„Und das darf jetzt der Vergangenheit angehören", meinte Emily und verriet: „Morgen Nachmittag haben Lennart und ich ein Date!"
„Uhhh!", machten Kiki und die Zwillinge gleichzeitig.
„Das freut mich sehr für dich, Emily!", lächelte Josephine. „Da hat sich Lennart ein sehr schönes und vor allem liebevolles Mädchen geangelt."
Die nächsten Tage ließen Annemieke und ihre Schwester es ruhig angehen, entweder sahen sie fern, hörten Musik oder lasen. Montagabend bekam Annemieke mit, wie das Telefon im Flur klingelte und rannte die Treppe runter.
„Guten Abend, hier spricht Annemieke ter Steegen“, meldete sie sich.
„Guten Abend, Annemieke!“, sagte eine Frauenstimme. „Ich bin Sylvia Nienberg, die Mutter von Michael und ich möchte deine Schwester und dich zu unserer Gartenparty am Freitagabend einladen.“
„Warum ausgerechnet uns?“, entfuhr es Annemieke.
„Ihr habt uns geholfen, unseren Familienschatz wieder zu finden und dafür müsst ihr wirklich belohnt werden“, meinte Frau Nienberg.
„Wann und wo wäre die Party?", wollte Annemieke im nächsten Moment wissen.
„ Die Party beginnt um 19 Uhr bei uns im Garten und ihr braucht nichts mitzubringen, da ihr eingeladen seid.“
„Vielen Dank, Frau Nienberg“, erwiderte Annemieke. „Meine Schwester und ich werden bestimmt kommen. Ihnen noch einen schönen Tag!“
Wenig später legte Annemieke auf und rannte wie von der Tarantel gestochen in den Garten.
„Warum bist du so aufgeregt?“, fragte Mathilda neugierig, die es sich draußen auf der Liege bequem gemacht hatte und in einem Jugendmagazin blätterte.
„Du wirst es nicht glauben, Schwesterherz!“, rief Annemieke. „Wir sind Freitagabend bei Michael zu einer Gartenparty eingeladen.“
„Was?!“, ihrer Schwester entglitten alle Gesichtszüge. „Das meinst du wohl doch nicht im Ernst. Michael würde uns nie im Leben zu einer Party eingeladen.“
„Nein, seine Mutter hat uns gerade eben angerufen“, erklärte Annemieke ihrer Schwester. „Wir müssen um 19 Uhr bei ihnen sein.“
„Ach so, das ist ja sehr interessant. Bis vor kurzem hatten wir uns ständig mit den Jungs in den Haaren gehabt und jetzt kann man beinahe schon sagen, dass wir Freunde sind“, murmelte ihre Schwester und wandte sich wieder ihrer Zeitschrift zu.
Am Freitagabend überlegten sich die Zwillinge genau, was sie sich anziehen sollten.
„Es wäre total witzig, wenn wir heute Abend genau gleich aussehen“, schlug Mathilda vor.
„Gute Idee!“, rief Annemieke begeistert. „Wozu hat man denn sonst eine eineiige Zwillingsschwester.“
Seit einigen Monaten kleideten sich die Schwestern zunehmend sehr unterschiedlich. Annemieke hatte eine Vorliebe für bunte Tops, geblümte T-Shirts, Ballarinas, Röcke und Kleider entwickelt. Zudem trug sie bei jeder Gelegenheit Armbänder, Ketten und Ohrringe. Mathilda kleidete sich eher sportlich und jungenhafter, daher verabscheute sie besonders Farben wie Pink und Lila. Statt in Ballarinas steckten Mathildas Füße meistens in neonfarbenen Sneakern. Bis auf ihr Bandenarmband trug Mathilda nicht mal halb so oft bunten Schmuck wie Annemieke.
„Oma hat uns zum dreizehnten Geburtstag uns zwei Matrosenkleider geschenkt“, fiel Annemieke ein.
„Super, das ist es!“, rief Mathilda. Nachdem sie sich umgezogen hatten, betrachteten sie sich im Spiegel. Die blau-weiß gestreiften Kleider standen ihnen ziemlich gut. Sie sahen beinahe gleich aus, nur ihre Haare waren unterschiedlich zurecht gekämmt. Annemieke trug einen Seitenscheitel, während ihre Schwester einen Mittelscheitel trug. Um noch ähnlicher auszusehen, steckten sie mit unzähligen Spangen ihre Haare hoch. Danach schminkten sie sich gegenseitig. Zufrieden betrachteten sie sich im Spiegel. Mit ihren geschminkten Gesichtern, ihren hochgesteckten Haaren und den Perlenohrsteckern sahen sie nicht aus wie dreizehn, sondern wie sechzehn oder siebzehn. Aus zwei Kindern waren in wenigen Minuten zwei junge Damen geworden.
„Oh lala, meine Damen!“, erschrak ihr Vater, der seine Töchtern beinahe nicht wieder erkannte und fragte gespielt: „Wo wollen Sie hin?“
„Papa, hast du etwa vergessen, dass wir heute eingeladen sind?“, nahm ihn Mathilda hoch.
„Wo seid ihr denn eingeladen?“, wollte er wissen.
„Bei Michael Nienberg aus unserer Klasse“, sagte Annemieke und spielte mit ihrer goldenen Kette.
„Wo wohnt er?“, wollte ihr Vater wissen.
„Beethovenstraße 19“, antwortete Mathilda.
„Was hält ihr davon, wenn ich euch fahre?“, schlug er vor. „Zwei feine Damen brauchen einen Chauffeur.“
Die Zwillinge nickten daraufhin begeistert.
„Danke, Paps! Ich glaube, es wäre ziemlich schwierig für uns gewesen mit unseren Kleidern und den Heighheels Fahrrad zu fahren“, bedankte sich Annemieke und drückte ihm einen leichten Kuss auf die Wange.
Schon vor Michaels Haus hörten sie die laute Musik, die aus dem Garten kam und es roch herrlich nach Bratwürstchen und Fleisch.
„Wenn ich das schon rieche, bekomme ich sofort Hunger“, wisperte Mathilda.
„So, meine Damen, ich fahre jetzt wieder zurück“, rief ihr Vater. „Ich werde euch um elf Uhr abholen.“
Die Zwillinge umarmten ihren Vater zum Abschied und klingelten dann an der Haustür.
„Guten Abend, Annemieke und Mathilda, ich freue mich, dass ihr da seid!“, begrüßte sie Michaels Mutter und gab beiden die Hand. „Kommt mit! Die anderen Gäste sind schon im Garten.“
Im Wohnzimmer begegneten sie Josephine Vilnius.
„Hallo Zwillinge, ihr seht heute Abend klasse aus“, begrüßte sie die alte Frau. „Geht schon mal in den Garten, ich muss eben Sylvia in der Küche helfen.“
Im Garten brannten mehrere Fackeln und eine bunte Lichterkette hing über ihren Köpfen. Die Mitglieder der Piranhas und der Roten Tulpen hatten sich bereits auf der Terrasse vor dem großen Gartenofen hingesetzt und buken Stockbrot. Aus den Boxen dröhnte amerikanischer Rap.
„Hallo Zwillingsmäuse, wie seht ihr denn heute aus!“, rief ihnen Emily entgegen. „Ihr seid komplett gleich und seht aus, als wärt ihr voll erwachsen. Wie soll ich euch noch unterscheiden können? Ihr seht gerade total gleich aus.“
„Ganz einfach“, erwiderte Mathilda keck. „Schau auf unsere Freundschaftsbänder. Meins ist orange und rot, während Mickys hellrot und dunkelrot ist.“
„Ich hätte nie gedacht, dass ihr euch so zurecht macht“, bemerkte Lotta. Niemand außer ihnen hatte sich so fein zurecht gemacht. Alle Piranhas trugen noch ihre Fußballshorts, nur Michael hatte eine Skaterjeans an.
Lotta trug eine kurze Hotpants, Fianna hatte sich eine Baseballkappe aufgesetzt und Kiki hatte einen geblümten Rock an.
„Irgendwie sind unsere Kleider ein bisschen too much!", fand Annemieke insgeheim und wäre am liebsten eben nach Hause geeilt, um sich einen Rock oder wenigsten eine kurze Hose anzuziehen.
„Hallo Annemieke und Mathilda, kommt zu uns auf die Bank, dort ist noch Platz“, sagte Michael und zeigte auf einen Platz neben Lennart. Nachdem sich die Zwillinge gesetzt hatten, servierte Michels Vater jedem Gast eine Bratwurst und Weißbrot.
„Ich hasse Lippenstift“, stöhnte Mathilda und griff nach einer Servierte. „Er verwischt immer so schnell.“
„Macht nix, du kannst dir mein Lipgloss drauf machen“, meinte Annemieke und griff in ihre Handtasche. Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, ging die Party erst richtig los. Michaels älterer Bruder Felix legte Tanzmusik und die neusten Charts auf. Nachdem die Zwillinge eine Stunde getanzt hatten, taten ihnen die Füße weh.
„Wir hätten uns andere Schuhe anziehen müssen. Ich kann mit Heighheels nun mal gar nicht tanzen“, meinte Mathilda und kickte ihre Schuhe weg. Annemieke entschied sich kurzerhand auch, barfuss weiter zu tanzen.
„Könnt ihr mal andere Musik auflegen außer Rap und Techno?“, fragte Lotta. Wenig später dröhnte der neuste Hit aus den Boxen.
„Lass uns tanzen!“, rief Kiki und zog Aylin und Fianna auf die Tanzfläche, nach und nach reihten sich auch die anderen Freundinnen in den Tanzkreis. Wenig später stoppte die Musik und Frau Nienberg trat auf die Bühne.
„An diesem Tag habe ich euch allen zu danken, ganz besonders den beiden Banden. Das sind einmal die Piranhas und dann die Roten Tulpen“, begann sie und es wurde Beifall geklatscht. „Ich habe beiden Banden eine große Prämie versprochen, da sie gemeinsam unseren Familienschatz wieder gefunden haben.“
Wieder wurde geklatscht. Die Piranhas stellten sich links von Frau Nienberg auf und die Roten Tulpen rechts von ihr.
„Jede Bande bekommt von uns 500€“, fuhr die Mutter von Michael fort. Plötzlich holte Mathilda das Stofftaschentuch, auf dem Adas Name stand, aus ihrer Handtasche und hielt es hoch.
„Ich wollte es nur zurückgeben“, trat sie zwischen ihren Freundinnen hervor. Josephine, die Oma von Michael, stand auf und nahm das Taschentuch entgegen.
„Ich habe auch noch etwas“, rief Annemieke laut und hielt das alte Tagebuch von Josephines Großvater hoch.
„Ich danke euch tausendmal“, sagte Josephine gerührt und hatte Tränen in den Augen.
„Jetzt machen wir von euch allen ein Gruppenbild“, rief Michaels Vater. „Rückt alle ein Stück weiter zusammen, damit jeden auf das Bild bekommen!“
„Mädchen, kniet euch vor den Jungs hin und legt euch gegenseitig die Arme über die Schulter“, bat Michals Mutter.
„Sagt mal alle Cheese!“, rief Herr Nienberg gutgelaunt und drückte auf den Auslöser. Es blitzte und zur Sicherheit wurde noch ein Foto gemacht. Anschließend wurden beide Banden einzeln vor der Rosenhecke fotografiert.
„Das wird unser neues Gruppenbild!“, rief Kiki begeistert.
„Dürfen wir sehen, wie das Foto geworden ist?“, fragte Mathilda interessiert. „Ich befürchte beinahe, dass ich wieder die Augen geschlossen habe.“
„Wir können uns gleich die Fotos angucken, wenn sie auf dem Computer eingelesen sind, dort kann man viel besser erkennen, ob daraus etwas geworden ist“, sagte Michaels Vater.
„Ich habe etwas vergessen!“, rief Josephine aufgeregt und kam auf die Terrasse gestürmt.
„Michaels Oma hat für jedes Bandenmitglied ein Glas Erdbeer- bzw. Himbeermarmelade gekocht“, versuchte Michaels Mutter sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Wieder waren die Teenager schnell ruhig und Josephine kam mit einem großen Korb wieder. Freundlich bedankten sich die Bandenkids bei Josephine. Die Erwachsenen setzten sich wieder auf die Bänke und die beiden Banden eroberten wieder die Tanzfläche auf der Terrasse.
„Lass uns mit den Mädchen tanzen!“, schlug Sven vor.
„Gute Idee, aber wir haben einen Jungen zu wenig“, gab Jannis zu Bedenken.
„Kein Problem, ich bin auch noch da!“, rief Michaels großer Bruder Felix und fragte als erstes Kiki. Jannis forderte Lotta zum Tanz auf, Emily wurde von Lennart gefragt, Sven steuerte auf Mathilda zu und Annemieke tanzte mit Michael. Insgesamt sieben Tanzpaare bewegten sich zu einem Popsong über die Terrasse, teils elegant und teils ein wenig tollpatschig. Michaels Eltern, Josephine, Michaels Tante und sein Onkel klatschten begeistert Beifall.
„Wartet, tanzt noch einmal“, rief Michaels Vater. „Ich will ein Video von euch machen.“
„Aber jemand muss die Anlage bedienen!“, rief Felix. „Ich kann nicht, ich bin schon im Einsatz.“
„Das kann ich ruhig machen“, bot sein Onkel an und stand auf.
„Seid ihr bereit für den nächsten Tanz?“, rief Michaels Vater auffordernd.
„Ja!“, lautete die Antwort und die Musik ertönte. Michael und Annemieke gerieten in der Mitte des Liedes aus dem Takt. Annemieke versuchte ihren Tanzpartner hinter Kiki und Felix zu drängen, damit es nachher nicht auf dem Video zu sehen war, wie verkehrt sie tanzten. Max trat ihr aus Versehen auf den Fuß. Aua, das tat weh! Mit schmerzverzehrten Gesicht biss sich Annemieke auf die Lippe und verlor im nächsten Moment das Gleichgewicht.
„Hilfe!“, schrie sie, weil sie im ersten Moment dachte, dass sie in eine der vielen Fackeln gefallen wäre. Max packte sie noch im letzten Moment am Arm und bewahrte sie vor einem Sturz. Erleichtert atmete sie.
„Danke Michi!“, hauchte sie leise und in diesem Moment war das Lied zuende.
„Wie peinlich, ich habe mich voll blamiert!“, zischte Annemieke und schlug die Augen nieder.
„Das ist doch nicht schlimm, das hätte mir auch passieren können“, wurde sie von ihrer Schwester getröstet.
„Jetzt will ich lieber mit euch tanzen!“, zog Mathilda Kiki und Aylin auf die Tanzfläche.
„Juhuu, tanzen bis der Arzt kommt!“, frohlockte Fianna. Hand in Hand hüpften die Mädchen übermütig umher. Nun wollten auch die anderen Bandenmädchen mitmachen und bildeten einen großen Tanzreigen.
„Guckt mal, wie die tanzen?“, lachte Ömer.
„Darf ich auch mitmachen?“, fragte Sven mit einem zuckersüßen Lächeln.
„Na gut, ausnahmsweise sind Fischköppe bei uns erlaubt“, nickte Emily.
„Wie nett von euch!“, zwinkerte Sven ihr zu und drängte sich zwischen Mathilda und Aylin in den Tanzkreis.
„Sven, jetzt werde mal nicht selbst zu so einem albernen Huhn!“, spottete Jannis.
„Immerhin habe ich jetzt sieben Hühner für mich alleine“, grinste sein Kumpel.
„Und er ist der Hahn im Korb“, fügte Lotta hinzu.
Nach dem Tanzen hatten sie keine Lust mehr auf Party und laute Musik, deshalb setzten sie sich vor den Gartenofen und rösteten Marshmallows.
„Wisst ihr, dass bald wieder die Schule beginnt“, fragte Michael seine Freunde.
„Beginn bloß nicht damit!“, stöhnte Ömer. „Das heißt für mich, dass ich mich ordentlich reinhängen muss. Ich habe so gerade eben die siebte Klasse bestanden und die achte Klasse wird sicher noch schwieriger.“
„Aber einen Vorteil hat es“, bemerkte Jannis. „Die neue Fußballsaison beginnt wieder, in der ersten Augustwoche haben wir bereits unser erstes Training und zwei Wochen später unser erstes Spiel.“
„Außerdem beginnt die neue Bundesligasaison“, fiel Michael ein. „Borussia Dortmund soll endlich wieder deutscher Meister werden.“
„Haha, das wird schwer für sie werden, da ihre besten Spieler zum FC Bayern wechseln“, mischte sich Mathilda ein.
„Wow, das Mädel hat Ahnung von Fußball“, bemerkte Jannis erstaunt.
„Können wir das Thema wechseln?“, fragte Aylin. „Ich habe von Fußball nicht besonders viel Ahnung.“
„Ich finde es toll, dass wir heute Abend quasi ein Klassentreffen mit der halben Klasse haben“, fand Kiki.
„Ach, da fehlen abber noch vierzehn Schüler“, bemerkte Sven. „Aber es gibt welche, die müssen wir wirklich nicht unbedingt dabei haben.“
„Ich weiß ganz genau, wenn du meinst“, fügte Jannis hinzu: „Das sind zum einen unsere Klassenstreberin Pauline und zu, anderen Lehrersliebling Freya.“
„Pauline soll nicht gleich bei jeder Gelegenheit ihren Wasserhahn aufdrehen“, lästerte Sven.
„Ach, die heult schon los, wenn sie mal keine Eins geschrieben hat“, warf Lennart ein. Kiki, Lotta, Sven, Lennart, Mathilda und Jannis fingen an über die unbeliebten Mitschüler aus ihrer Klasse her zu ziehen.
„Ich finde es ziemlich gemein so über andere Leute zu reden, die gerade nicht anwesend sein“, ging Annemieke dazwischen. „Wollt ihr, dass man so über euch redet? Also ich möchte sowas nicht und ihr wollt es garantiert auch. Deshalb hört auf mit euren Lästereien. Ich mag bestimmte Mitschüler auch nicht besonders, aber das ist für mich kein Grund, sie hinter ihren Rücken schlecht zu machen.“
„Micky hat Recht“, unterstützte Emily ihre beste Freundin. „Über mich wurde auch jahrelang gelästert und daher weiß ich, wie verletzend sowas ist.“
Das hatte gesessen. Sofort kehrte wieder Ruhe ein.
Um halb elf wurden Aylin und Fianna als erste von Fiannas Vater abgeholt. Schließlich kam die Mutter von Jannis und nahm neben ihren Sohn Sven mit, da er in der gleichen Straße wie Jannis wohnte. Langsam wurde die Party immer leerer, nachher schauten sich die letzten Partygäste sich die Fotos und das Video auf Michaels Laptop an.
„So schlimm sehe ich auf den Photos gar nicht aus“, sagte Mathilda erleichtert.
„Ganz im Gegenteil“, fand Kiki. „Das ist bestimmt das beste Bild von dir, noch nie hat jemand von uns gesehen, dass du etwas aus deinem Aussehen machst. Wenn du das öfter machst, bist du nicht mehr lange Single.“
„Typisch Mädchengehabe“, erwiderte Lennart spöttisch und mimte eine Diva. „Sehe ich auch gut genug aus? Aaahh, verdammt eine Strähne ist aus dem Zopf und der Reisverschluss von meinem Kleid ist auf, scheiße!“
„Hast du Lust auf eine Coladusche?“, fragte Mathilda und ihr hielt Glas bedrohlich über Lennarts Kopf.
„Wenn du mir eine Coladusche verpasst, kontere ich im Gegenzug mit einer Fantadusche“, wehrte sich Lennart.
„Hört auf mit dem Blödsinn, sowas ist Kindergartenniveau“, unterbrach Kiki sie. Mathilda und Lennart hörten sich auf zu necken und schauten sich wieder die Bilder an.
„Können wir die Bilder auch bekommen?“, fragte Emily.
„Trag deine E-Mailadresse hier ein und ich werde dir morgen die Bilder mailen“, sagte Michael und schob einen Block zu ihr rüber.
Auf die Minute pünktlich wurden die Zwillinge um elf von ihrem Vater abgeholt.
„Ich weiß noch gar nicht, was wir mit so viel Geld, das wir für unsere Detektiv- und Schatzsucherarbeit bekommen haben anfangen sollen“, sagte Mathilda auf dem Rückweg.
„Ich finde das Geld gar nicht mal so wichtig“, entgegnete ihr Annemieke. „Zwar ist es ganz nett, keine Geldprobleme zu haben. Doch gegen wahre Freundschaft ist Geld ziemlich wertlos.“
„Du hast Recht, Schwesterchen!“, meinte ihre Schwester. „Freunde kann man sich nicht kaufen und ich habe zum Glück die besten Freundinnen der Welt. Oder was meinst du?“
„Auf jeden Fall! Das denke ich auch“, fand Annemieke. „Allerdings finde ich auch, dass die Piranhas ziemlich nett geworden sind. Das ist echt gar kein Vergleich zu den letzten Monaten.“
Ihre Schwester nickte müde. Tief in ihrem Inneren war Annemieke hyperglücklich tolle Freundinnen, eine tolle Schwester, liebe Eltern und Großeltern zu haben. Plötzlich hörte sie den Nachrichtenton ihres Handys.
„Ich habe euch vergessen zu sagen, dass wir das Geld in unsere Bandenkasse tun, damit wir zusammen als Bande Ausflüge unternehmen und unseren Wohnwagen dekorieren können“, schrieb Kiki ind die Gruppe. Die Zwillinge waren von ihrem Vorschlag begeistert.
„Wirklich cool, dass wir mit dem Geld demnächst öfter ins Kino gehen, Eis essen oder das neue Spaßbad besuchen können", rieb sich Mathilda sie Hände.
„Ich finde wir sollten einen Großteil des Geldes in die Bandenkasse tun, falls wir mal etwas an unserem Wohnwagen oder im Schrebergarten reparieren müssen“, sagte Annemieke gähnend und legte ihren Kopf auf Mathildas Schulter. Einen Moment später war sie eingenickt und wurde von ihrer Schwester sanft wach gerüttelt, als sie auf der Auffahrt vor ihrem Haus standen.
Hallo Maren :)
Nun hast du von mir und Matti bestimmt seit Wochen nichts mehr gehört. Zu Beginn der Ferien sind wir mit dem Wohnmobil nach Italien gefahren, dort konnten wir jeden Tag schwimmen gehen und Eis essen. Das Beste war allerdings, dass wir dort Alessandro kennen gelernt haben, meine Schwester und ich haben uns beide in ihn verknallt. Wir haben immer noch Kontakt, weil wir uns über WhatsApp Nachrichten schreiben und Matti hofft, dass sie mit ihm eines Tages zusammen sein wird. Ich glaube nicht, dass das etwas wird, da Fernbeziehungen oft nicht lange halten.
Dass wir in Freudenburg eine Kunstfälscherbande aufgespürt und in der alten Villa einen Schatz gefunden haben, brauch ich dir bestimmt nicht weiter zu erzählen. Du wirst es sicherlich im Radio und in der Zeitung mitbekommen haben. Dabei haben nicht wir die alte Villa gefunden, sondern unser Babysitterkind Greta, die uns mehrmals abgehauen ist. Nun hatten wir doch ziemlich viel Trubel, nun wollen wir die letzten Ferientage genießen.
Leider beginnt in drei Tagen die Schule und ich habe voll keinen Bock jeden Tag so früh aufzustehen und jeden Nachmittag bis abends an den Hausaufgaben zu sitzen. Im Endeffekt fand ich diese Sommerferien total klasse, da kaum Langweile aufkam. Zudem habe ich mit meinen Freundinnen aus meiner Bande unser erstes Bandenabenteuer bestanden und bin darauf immer noch sehr stolz. Aber ich darf die Jungenbande „Die Piranhas“ nicht außen vor lassen, sie haben mit uns nach dem Familienschatz gesucht und wurden ebenfalls als Geiseln gefangen gehalten. Aber auf so einen Nervenkitzel kann ich in Zukunft sehr gut verzichten. In den letzten Ferientag werde ich viel chillen, lesen und fernsehen. An dieser Stelle muss ich aufhören, Mama will mit mir neuen Schulsachen für das nächste Schuljahr einkaufen gehen.
Lg deine Annemieke <3
Ps 1: Viele Grüße auch von meiner Schwester, die gerade beim Zahnarzt sitzt, weil sie zu viele Süßigkeiten genascht hat.
Ps 2: Du bist zu unserem 14. Geburtstag eingeladen, der in wenigen Wochen sein wird.
Unser Ausflug ins Freibad gestern
Zutatenliste
So geht’s
Ihr heizt den Backofen auf 180 Grad. Ihr entkernt die Kirschen, nachdem ihr sie davor gewaschen habt. Anschließend trennt ihr die Eier und das Eiweiß wird in einem Extragefäß steif geschlagen und die Hälfte des Zuckers dazugemischt. Die Butter leicht erwärmen, sodass ihr sie mit dem Eigelb, dem Vanillezucker und dem restlichen Zucker verrühren könnt. Mehl und Speisestärke miteinander vermischen. Nun alle Komponenten vorsichtig verrühren und den Eischnee erst zum Schluss vorsichtig unterheben. Last but not least verteilt ihr den Teig auf dem Blech und verteilt darauf die entkernten Kirschen. Nun wird der Kuchen ungefähr 13-16 Minuten bei 180°C Umluft gebacken, je nachdem wie dunkel er sein soll. Wer mag, kann den Kuchen mit Puderzucker, bunten Zuckerstreuseln oder Schokoraspeln verschönern.
Euch einen guten Appetit!
Ps: mir schmeckt der Kuchen bei einem Picknick mit guten Freundinnen und Freunden am besten! Lg, eure Micky!
Tag der Veröffentlichung: 29.05.2013
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