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Vorwort: Das ist Henrike

Henrike ist in diesem Sommer 13 Jahre alt geworden. Sie ist ein ganz normales Mädchen mit schulterlangen dunkelblonden Haaren, das gerne in der Natur unterwegs ist und viel Gefallen an sportlichen Aktivitäten findet. Außerdem hat sie zwei achtjährige Geschwister, die Malte und Elisa heißen und zudem Zwillinge sind. In den Sommerferien ist die fünfköpfige Familie von Kreuzlingen aus der Schweiz nach Kiel gezogen, da ihr Vater einen neuen gutbezahlten Job gefunden hat und Henrikes Mutter, die ursprünglich aus der Nähe von Hamburg kommt, näher bei ihren Eltern ist.

Dass Kinder mit ihren Eltern umziehen müssen, ist an sich nicht ungewöhnlich und kommt häufiger vor. Für die Kinder bedeutet es ein komplett neues Umfeld mit neuer Schule, neuen Freunden und neuen Freizeitaktivitäten. Nach anfänglicher Wut, Trotz und Trauer finden sich die meisten Kinder in ihr neues soziales Umfeld ein.

 

Als Henrike mit ihrer Familie umzieht, hat sie es nicht leicht. Ihre Klassenkameraden in der neuen Klasse verhalten sich ihr nicht gerade freundlich ihr gegenüber. Henrike hat das Gefühl, nicht dazu zu gehören und hat große Probleme Freunde zu finden. Zudem ist da auch noch Lillys hinterhältige und gemeine Mädchenclique. Aus anfänglicher Abneigung entwickelt sich der Schulalltag für Henrike zu einem handfesten Mobbing, woraus sie sich nicht mehr alleine befreien kann. Für Henrike fühlt sich das Ganze sehr bedrohlich an, denn sie wurde zuvor noch nie gemobbt und kann zunächst nicht begreifen, wie ihr geschieht und sucht den Fehler zunächst bei sich selbst. Zum Glück findet sie im Turnverein Freunde, die ihr den Rücken stärken. Wie viele betroffene Kinder, erzählt Henrike zuhause zunächst nichts über die Demütigungen in der Schule. Viel lieber vertraut sie sich ihren Freunden aus der Nachbarschaft und den beiden Trainern im Turnverein an.

 

Mobbing ist generell ein schwerwiegendes soziales Problem, das fast überall auftaucht. Vor allem in Schulen ist das ein großes Thema. Henrike ist nicht die einzige Schüler, die es betrifft. Ungefähr jeder sechste bis siebte Schüler ist betroffen und somit steht sie damit nicht alleine da. Jeder dritte soll bereits in seiner Schullaufbahn gemobbt worden sein. Das Millionen Menschen, die während ihrer Schulzeit gequält und gedemütigt worden sind (bzw. werden). Das ist eine echt große Zahl und es braucht sich niemand dafür zu schämen, dass es ihm/ihr widerfahren ist (oder wiederfährt). Nicht die Betroffenen sind schuld, sondern diejenigen, die aktiv/passiv mobben und ein Umfeld, was Mobbing begünstigt.

 

Wichtig ist es, auf diese Thematik aufmerksam zu machen und in der Gesellschaft offen darüber zu reden. Gemobbte Kinder und Jugendliche brauchen schnell funktionierende Hilfen und es muss zudem möglich sein, dass sie sich vertrauensvoll an andere Personen wenden können, ohne als "schwach" oder "sonderbar" abgestempelt zu werden. Deswegen ist es von großer Bedeutung, einen Weg zu finden, um Mobbing zu stoppen. Ist die Situation auswegslos, muss über einen Klassen- oder Schulwechsel nachgedacht werden. Je länger das Mobbing dauert, desto gefährderter sind die Kinder und Jugendlichen, physische und psychische Erkrankungen zu entwickeln. Aus diesem Grund darf niemand, dem das widerfährt, allein gelassen werden. 

1. Kapitel: Lästereien in der Mathestunde

„Guten Morgen, liebe Schüler und Schülerinnen!“, flötet Frau Manning. „Schön, dass ihr heute so ruhig seid und schon auf euren Plätzen sitzt. Wartet mal einen kleinen Moment, ich habe mein Notizheft vergessen und hole es eben aus dem Lehrerzimmer.“

Die 26 Schüler, der 7C starren leise und gebannt in die Richtung von Frau Manning, ihrer Mathe-, Englisch- und Klassenlehrerin. Kaum hat sie den Raum verlassen, ist es mit der Stille vorbei. Etliche Schüler hält es nicht mehr auf ihren Stühlen: Jonas, Alexander, Marvin und Max rennen durch das Klassenzimmer und werfen sich ein Federmäppchen zu, auch die große Mädchenclique um  Lilly trifft sich zum Klatsch und Tratsch auf der Fensterbank. Jana flechtet ihrer besten Freundin Lilly Zöpfe in ihre hellblonden Haare. Isabella diskutiert mit zwei  Freundinnen welche Mode und Frisuren angesagt sind. Maren spielt mit ihrer Hüpfknete und Angelina massiert Johanna den Rücken.

 

 Nur ein Mädchen sitzt von den anderen Schülern völlig unangerührt an seinem Platz in der ersten Reihe, an einem Einzeltisch: Henrike. Keiner beachtet sie oder redet mit ihr. Sie stützt ihr Kinn auf ihren Händen und beobachtet gelangweilt das Geschehen um sich herum.

„Sieh dir mal Henrike an! Sie ist so eine Außenseiterin und will doch sowieso mit uns zu tun haben!“, bekommt sie mit, wie Angelina dies ihrer Sitznachbarin Lilly zuflüstert. Boing! Mit vollem Karacho trifft Henrike ein großer Papierball an der Schulter und ein paar Schüler fangen an zu kichern. Verwirrt dreht sich Henrike um. Sie will gerade fragen, wer es gewesen ist, da beteuern mindestens fünf ihrer Klassenkameraden: „Ich war es nicht!“

Henrike kriegt kein Wort aus sich heraus, die Angst schnürt ihr den Hals zu, ihr Herz rast, ihr bricht der Schweiß aus. Sie spürt eindeutig, dass ihre Klassenkameraden etwas Fieses im Schilde führen.

 

Henrikes Herz wird ganz schwer, als sie kurz überlegt, dem etwas Passendens entgegenzusetzen. Schnell ist ihr bewusst, dass dies einfach keinen Sinn macht. Ihre Klassenkameraden sind sowieso in der Mehrheit und zudem werden die übergriffe immer schlimmer, sobald sie es wagt, sich zu wehren. Erst letztens hat Jonas ihr eine Ohrfeige verpasst, nachdem sie ihn angeschrieen hat, weil er ihr Matheheft unter den Wasserhahn gehalten hat und ihr schwieriges Matherätsel, welches sie mit Hilfe ihres Vaters gelöst hat, sich mit dem Matheheft in Papierbrei auflöste. Seitdem wagt sie sich nicht mehr ihren Mund aufzumachen und versucht die Übergriffe zu ignorieren.

 

„Frau Manning kommt!“, raunt Alexander und alle Kinder sitzen in Nullkommanichts auf ihren Plätzen. Der Matheunterricht geht weiter und Frau Mannig fängt an die Tafel zu wischen. 

„Sieh nur wie blöd Henrike die ganze schaut, sie guckt die ganze Zeit wie eine Idiotin drein“, lästert Maren, die zusammen mit Jana direkt hinter Henrike sitzt.

„Siehst du was für eine hässliche Hose sie anhat. Wie kann man nur grüne Cordhosen tragen? Ich kenne niemanden, der sowas freiwillig tragen würde. Das ist ja mal mega out!“, wispert Jana Maren zu.

„Na klar sind Cordhosen ein No Go! Ich an ihrer Stelle würde mir einen Müllsack über den Kopf ziehen und nach Hause gehen“, erwidert Maren und beide fangen an zu kichern.

 

Jetzt bemerkt es auch Frau Manning, hält kurz inne und nimmt die beiden Mädchen ins Visier.

„Jana und Maren, wenn ich noch ein drittes Mal ermahnen muss, fliegt ihr raus und könnt eine Strafarbeit erledigen. Ich glaube, es ist nicht gut, wenn ihr nebeneinander sitzt“, werden die Mädchen von der Lehrerin ermahnt. Sofort verstummen die beiden Mädchen und sehen ihre Freundinnen, die auf der Fensterseite sitzen, betreten an. Obwohl nun Ruhe herrscht, spürt Henrike die bösen Blicke ihrer Mitschüler in ihrem Rücken. Sie versucht sich krampfhaft auf die Aufgabe zu konzentrieren und runzelt dabei die Stirn, während Frau Manning eine neue Aufgabe an die Tafel schreibt. Henrike muss all ihre inneren Kräfte mobilisieren, um überhaupt so schnell mitzuschreiben. Es ist nicht leicht die Konzentration oben zu halten, wenn hinter dem Rücken leise gezischelt wird. Deswegen reißt sie sich, trotz ihrer Konzentrationsprobleme zusammen und überträgt die letzten Zahlen in ihr Heft.

 

Nun verkündet Frau Manning, dass sie 10 Minuten Zeit hätten, um diese Aufgabe zu lösen. Henrikes Finger umklammern den Füller so fest, als ob sie ihn nie wieder loslassen würde. Dann beginnt es in ihrem Kopf zu rattern, doch die Lösungen wollten ihr gerade nicht auf das Papier huschen. Innerlich fängt sie sich an zu schämen und ihre Finger werden ganz schwitzig, sodass ihr fast der Füller aus der Hand gleitet. Henrike sieht seufzend aus dem Fenster und ihr Kopf ist wie leerradiert. Dabei ist sie früher doch so gut in Mathe gewesen.

„Ich glaube, unsere supertolle Heidi aus der Schweiz kriegt nichts gebacken!", fängt Jana an sich das Maul zu zerreißen.

„Kein Wunder! Die war doch bestimmt die ganze Zeit mit dem Alm-Öhi auf der Almwiese unterwegs, um ihre Viecher zu hüten", wispert Maren. Die beiden Mädchen kichern los und können sich kaum noch bändigen. 

„Muuuuhhhh!", macht Jonas laut. 

„Mähhhhhhhh!", blökt Alexander. 

„Bok bok bok book boook booook!", gackern Jana und Maren los.

„Kikirirkiii!", krähte ein weiterer Mitschüler.

Nun ertönen weitere Tierlaute und Henrike sackt gedemütigt mit dem Oberkörper nach vorne. Am liebsten würde sie sich die Ohren zuhalten, um die ganzen Erniedrigungen nicht mehr ertragen zu müssen. 

 

„Wenn nicht auf der Stelle wieder Ruhe einkehrt, gebe ich euch noch einen Batzen weiterer Aufgaben auf!", lässt Frau Manning ihre Faust auf ihr Pult fahren. 

„Das würden Sie uns doch nicht antun, Frau Manning. Oder?", fragt Lilly vorlaut. 

„Ja genau, wir haben gerade sowieso schon ne Menge auf und wir müssen noch einige Ausarbeitungen abgeben", bestärkt Isabella ihre Freundin. 

„Ich lasse gern mit mir reden, aber dafür fordere ich ein, dass ihr euch im Unterricht anständig benehmen und leise sein könnt", sagt die Klassenlehrerin bestimmt. Nun ist es fast wieder so ruhig, sodass nur das Rascheln von Papier und das Ticken der Uhr über der Tafel zu hören sind. Im nächsten Moment hat Henrike auch schon eine Idee, wie sie die Aufgabe lösen kann und fängt an, Zahlen und Rechnungswege in ihr Heft niederzuschreiben.

 

„Willst du deine Lösung an die Tafel schreiben?", nimmt Frau Manning einen kurzen Augenblick später Henrike dran, die wie zu Eis erstarrt auf ihrem Stuhl sitzt und zeitverzögert nickt. 

„Traut die sich nicht?", wispert es leise aus einer Ecke. 

„Ne, die hat doch keinen Arsch in der Hose", kommt es prompt aus einer anderen Ecke.

„Ich kann gleich noch ein paar Strafarbeiten verteilen, wenn das Getratsche nicht aufhört", fährt Frau Manning rigoros dazwischen. Henrike nimmt im nächsten Moment wahr, wie Frau Manning zum zweiten Mal aufmunternd zunickt.

„Henrike, ich habe dir gerade über die Schulter geschaut und du hast die Aufgabe richtig gelöst", fordert die Klassenlehrerin die Schülerin erneut auf. Mit wackligen Beinen steht Henrike auf und geht zur Tafel.

 

Gerade als sie die erste Zahl anschreiben will, bricht die Kreide entzwei und hinter ihr wird prompt losgekichert. 

„Ich weiß nicht, was daran so amüsant sein soll?", geht Frau Manning dazwischen und schafft es, die Klasse wieder zum Schweigen zu bringen.

In Ruhe kann Henrike ihre Aufgabe präsentieren und erst als sie zu ihrem Platz zurückgeht, flüstert ein Junge: „Streberin!"

Schnell versucht versucht sie denjenigen ausfindig zu machen, der ihr diese Bemerkung zugeschischelt hat. Ihr Blick bleibt bei Marcel und seinen Freunden kleben. Wer von ihnen sie als Streberin betitelt hat, kann sie im Nachhinein nicht mehr herausfinden und lässt sich wieder auf ihrem Platz nieder.

 

 

 

 

2. Kapitel: Echt gemeine Ziegen

Nach einer anstrengenden Doppelstunde Mathematik klingelt es zur großen Pause. Die Klassenkameraden springen zeitgleich mit dem Gong auf und rennen mit einem Fußball im Gepäck auf den Pausenhof. Henrike läuft ihnen langsam und unauffällig  hinterher und bleibt mitten im Gang vor einer gläsernen Feuerschutztür stehen.

„Warum gehst du nicht raus auf den Schulhof?“, fragt eine Pausenaufsicht, als Henrike nach fünf Minuten immer noch auf der selben Stelle steht. Achselzuckend geht sie weiter, ohne etwas zu erwidern. Langsam steuert sie auf die Eingangstür zu und öffnet sie zaghaft. Draußen weht ihr ein eiskalter Wind entgegen, sodass sie den Reißverschluss ihrer Jacke ganz nach oben zieht und ihre Kapuze aufsetzt.

 

„Ich werde versuchen mitzuspielen! Mir kann niemand vorwerfen, dass ich mich freiwillig aus der Klassengemeinschaft ausklinke“, beschließt sie tief in ihrem Inneren. Ihre Augen suchen den Schulhof nach ihren Klassenkameraden ab. Als sie sowohl die Jungs als auch die Mädchen aus ihrer Klasse bei einem Fußballspiel sieht, staunt sie nicht schlecht. Bisher hat sie immer gedacht, dass die Mädchen Fußball verabscheuen würden. Nun schaut es so aus, als ob die Jungs sie dazu überredet haben, eine Partie mit ihnen zu kicken. Insgesamt verbringen ihre Klassenkameraden seit einigen Wochen die Pausen zusammen und fechten manchmal Wettkämpfe gegeneinander aus. Erst letztens durfte Henrike einmal ausnahmsweise mitspielen, als die Mädchen und Jungs in einem Kletterparcour gegeneinander antraten. Dennoch endete dies damit, dass ihr ein Bein gestellt wurde und sie unsanft im Sand des Spielplatzes landete.

 

Je länger Henrike ihre Klasse beim Fußballspiel beobachtet, desto mehr Lust bekommt sie selbst mitzuspielen. Im darauffolgenden Augenblick nimmt allen Mut zusammen und traut sich, ihre Mitschüler zu fragen.

„D-Darf-f ich ich auch mit-t spielen, bitt-te?“, fragt sie mit einem unüberhörbaren Stottern.

„Ist die Frage ernst gemeint?", prustet Jonas los.

„Das hättest du wohl gerne, aber das kannst du dir voll abschminken!“, sagt Marcel und zeigt ihr einen Vogel.

„Wir haben schon genug Mädchen und ohne dich sind wir sogar viel besser“, sagt Lilly arrogant, kickt den Ball in Henrikes Richtung und versuchte sie absichtlich zu treffen. Glücklicherweise ist Lilly nicht besonders treffsicher und der Ball verfehlt sein Ziel. Geschockt und ratlos bleibt Henrike auf der Stelle stehen.

„Mach die Fliege!“, baut sich Lara vor Henrike auf.

 

„Tschüss, viel Spaß alleine! Eine Freundin oder Freund wirst du hier vergeblich suchen“, ruft ihr die Schönheitskönigin Isabella hinterher. Sie fühlt einen schmerzhaften Stich im Herzen und weiß nicht was sie tun soll. Frau Mannung und die anderen Lehrer raten ihr gebetsmühlenarten, dass sie auf ihre Mitschüler zugehen und fragen soll, ob sie mitspielen darf.

„Hau jetzt endlich ab und bleib uns nicht im Weg stehen!“, herrscht Angelina sie an, als Henrike immer noch auf der Stelle verharrt.

„Geh schon! Wir sind schon vollzählig. Das Spiel hat ohne dich begonnen und endet auch ohne dich", verpasst Lilly ihr einen Stoß. Henrike befolgt ihrem Befehl. Sie rennt so schnell wie sie kann weg und versteckt sich hinter ihrem selbsternannten "Tränen-Busch", da sie nicht in aller Öffentlichkeit Tränen vergießen will.. Dort angekommen, geht sie in die hocke und heult sich einige Minuten lang die Augen aus dem Kopf.

 

Nach zehn Minuten klingelt es. Henrike wartet einen Moment ab bis die meisten Schüler weg sind, dann traut sie sich ihr Versteck zu verlassen. Hastig reibt sie sich ihre Tränen weg und rennt eilig zum Klassenraum. Puh, gerade noch rechzeitig! Herr Albers ihr Deutschlehrer schließt gerade die Klasse auf. In der Deutschstunde werden die Hausaufgaben besprochen und plötzlich landet ein zusammengefalteter Zettel auf ihrem Tisch. Er stammt wahrscheinlich von Jana, Maren oder einer ihrer Freundinnen. Sie weiß ganz genau, dass wieder eine fiese Beleidigung oder eine dumme Frage drauf steht. Aber trotzdem macht Henrike ihn auf und wie vermutet, steht drauf: „Hey, du fettes, hässliches Schwein, kauf dir endlich richtige Klamotten. Wir sehen ständig, dass du deine Kleider aus Mülltonnen und aus irgendwelchen Sammelcontainern holst.

 

Ohne, dass jemand merkt, angelt sie ihr Handy aus ihrer Jackentasche.

„Hi Ju, ich will hier weg, hier hassen mich alle! Ciao, wir sehen uns heute noch!“, Henrike verschickt unter dem Tisch eine Nachricht an ihre beste Freundin Jule, die sie aus dem Sportverein kennt. Danach stellt sie ihr Handy aus und verstaut es wieder. 

„Schlagt euer Lektürenbuch auf Seite 14 auf und wir lesen zusammen die Kurzgeschichte über Frau Krämer und den edlen Herrn!", nimmt sie die Stimme ihres Deutschlehrers wahr. Zuerst nimmt er Alina an die Reihe, die sich freiwillig meldet. Schließlich wird sie von Lilly abgelöst. Henrike hört nur mit einem Ohr zu und kritzelt stattdessen eine Maus auf ihre Mappe.

 

Nach der letzten Stunde verlässt Henrike wie immer zuerst den Klassenraum und läuft schnellen Schrittes zur Bushaltestelle. Im Bus ist sie immer alleine und hat ihre Ruhe, da niemand aus ihrer Klasse in ihrem Stadtteil wohnt. Henrike grübelt nach, warum keiner aus ihrer neuen Klasse keiner mag und alle sie ärgern. Der Grund kann nur sein dass sie erst seit knapp drei Monaten in die neue Klasse geht. Zudem scheinen sich alle Freunde und Cliquen bereits im Vorfeld gefunden zu haben und als Neuling hat es sowieso niemand leicht. Erst in den Sommerferien, genau an ihrem 13.Geburtstag ist sie von Kreuzlingen in der Schweiz nach Kiel, ca. 1000 Km in Richtung Norden gezogen.

                

Seitdem sie in diese Stadt gezogen ist und die neue Schule besucht, hat sie das Gefühl, dass sie (fast) alle an ihrer Schule hassen. Alles nur deswegen, weil sie einen astreinen Schweizer Dialekt spricht, ihr Kleidungsstil nicht "up to date" ist und weil sie generell anders drauf ist als die anderen Klassenkameraden. In Kreuzlingen war das nie das Problem. Dort hatte sie einige Freunde unter ihren Mitschülern, die nun schmerzlich fehlen. Hannah, Susanna, Alex, Stefan, Matthew, Sabrina und Henrike unternahmen fast jeden Tag etwas zusammen, so wie es echte Freunde eben tun. Sie spielten Verstecken und Fangen im Wald, gingen gemeinsam Schwimmen, spielten Fußball, gingen ins Kino, unternahmen Fahrradtouren oder fuhren im Winter Ski. Während Henrike im Bus über all das nachdenkt, kommen ihr schon wieder unfreiwillig die Tränen. Sie will zurück in die Schweiz: Zurück zu ihren Freunden und zu ihrer alten Schule, wo sie sechs Jahre lang zur Grundschule gegangen ist. Momentan ist nichts mehr von ihrer unbeschwerten Kindheit in der Schweiz geblieben, außer Kummer und Sehnsucht.

 

„Warum immer ich? Wieso bin ich immer ihr Sündenbock?“, denkt sie wütend und verzweifelt. Krampfhaft versucht Henrike das Heulen im voll besetzten Bus zu verkneifen, zunächst gelingt es ihr die Tränen zu stoppen, aber dann wird sie von ihren Gefühlen überwältigt.

 Die Tränen laufen ihre Wangen herunter, ohne dass Henrike sie aufhalten kann. Ein kleiner Junge fragte seine Mutter: „Warum weint das Mädchen?“

Eine Frau mit rotblonden Haaren setzt sich neben sie und fragt: „Was hast du denn?  Ist dir etwas Schlimmes zu gestoßen? Soll ich dir ein Taschentuch geben?"

Dabei legt sie tröstend ihre Hand auf Henrikes Schulter und reicht ihr ein Taschentuch. Henrike nimmt es dankbar an.

 

„Danke, es ist alles in Ordnung!“, schnieft sie und die Frau wendet sich wieder ab. In Ordnung ist bei Henrike momentan rein gar nichts. Es fühlt sich für sie an, als würde sie vor Traurigkeit in tausend Teile zerbrechen. Meloncholisch schaute sie nach draußen, wo dutzende Autos im Stau feststeckten und ein genervter BMW-Fahrer seinen Vordermann anhupt. Wieder fängt es an zu regnen und ein kräftiger Windstoß rütteltete an den fast kahlen Ästen der Bäume, aber nur noch wenige dunkelbraun verfärbte Blätter tänzeln Richtung Boden. Langsam schiebt sich der Bus durch den regen Verkehr und nähert sich peu a peu ihrem Zuhause. An der nächsten Haltestelle steigt sie aus. Es dauert nicht einmal drei Minuten bis ihr Haus erreicht. Es ist ein großes Haus mit zwei Stockwerken, mit zwei Balkonen und einem Partyraum im Keller. Außerdem hat es einen großen Garten mit Terrasse und einen kleineren Vorgarten. 

 

 

3. Kapitel: Freunde und Turnverein gegen Kummer

Mist! Wo ist ihr Schlüssel? Henrike durchwühlt hektisch alle Jacken- und Hosentaschen. Fehlanzeige! Sie hat scheinbar den Haustürschlüssel vergessen, bevor sie heute Morgen aus dem Haus gegangen ist. Resigniert lässt Henrike ihren Schulrucksack über ihren rechten Arm zu Boden gleiten und läutet Sturm, indem sie die Klingel mehrmals hintereinander drückt. Schnell wird die Haustür von ihrer Mutter geöffnet. Ein verführerischer Geruch eines Nudelgericht kommt ihr aus der Küche entgegen und ihre Mutter nimmt ihr den Ranzen aus der Hand. Im Hintergrund hört sie, wie die Zwillinge Malte und Elisa mit dem Hauskater Diego spielen. Ihre jüngeren Geschwister sind schon längst wieder zuhause, da sie erst in die zweite Klasse gehen und ihr Schultag kurz nach zwölf endet. 

 

„Hallo Henrike, mein Liebling! Warum bist du so rot im Gesicht, hast du etwa geweint?“, fragt ihre Mutter sorgenvoll und tätschelt ihre Schulter.

Henrike verharrt auf der Stelle und bastelt sich in Sekundenschnelle eine Antwort zurecht.

„Nein, habe ich nicht geweint. Ich musste sprinten, weil ich fast den Bus verpasst habe. Wir wurden zu spät aus dem Klassenzimmer gelassen und da hatte ich ganz wenig Zeit zum Bus zu laufen“, schwindelt sie.

„Und wie war es heute in der Schule?“, fragte ihre Mutter neugierig.

„Ganz in Ordnung. Ich mit den anderen Kindern in der Pause zusammen gespielt, es gibt wie nach zu vor viele nette Kinder in meiner Klasse und ich habe neue tolle Freunde gefunden“, erzählt Henrike, ohne dass ihre Mutter merkt, dass sie nach Strich und Faden lügt.

 

Henrike geht bis ins Wohnzimmer durch, wo die Zwillinge mit Hauskater Diego beschäftigt sind und ihr Hund Wuff tief und fest in seinem Körbchen schläft.

„Nicht einmal ein Erdbeben oder eine Explosion können ihn aufwecken“, denkt sie sich und setzt sich an den Esstisch. Nach dem Mittagessen muss Henrike die Hausaufgaben in Biologie, Englisch und Chemie erledigen. In ihrem Zimmer am Schreibtisch laufen die Aufgaben wie am Schnürchen, da sie sich besser konzentrieren kann und niemand anwesend ist, der gemein zu ihr ist. Um kurz vor Vier ist sie endlich mit allen Aufgaben durch. Dann lehnt sie sich mit Keksen und Limonade auf dem Sofa ein Weilchen zurück. Mit Vorfreude denkt sie daran, das sie um Fünf all ihre Freunde und Freundinnen aus der Turn- und Sportstunde wiedersieht. Pünktlich um halb fünf klingelt es an der Haustür. Ihre Mutter öffnet die Tür, während Henrike hastig Schuhe und Jacke anzieht. Es ist Jule, ihre beste Freundin. Ein hübsches schlankes Mädchen mit langen dunkelbraunen Haaren und dunkelgrünen Augen. Henrike fühlt sich schlagartig besser, als Jule sie zur Begrüßung umarmt und beide schwatzend losziehen.

 

Als Henrike und Jule kaum 20 Meter gegangen sind, warten Björn und seine zwei Jahre jüngere Schwester Rosanna an ihrer Gartenpforte auf sie und schließen sich den beiden Freundinnen an.

„Hallo, ihr beiden! Wie geht es euch?“, fragt Björn freundlich. Jule zuckt nichtssagend mit den Schultern und Henrike sagt: „Mir geht’s nicht so gut. Meine Klassenkameraden sind total fies zu mir, sie lästern über mich, beleidigen mich und lassen mich nie mitspielen. Warum ärgern die ausgerechnet immer mich?“ 

„Weil sie bescheuert sind! Sie wissen deine freundliche und tolerante Art nicht zu schätzen“, antwortet Jule knapp.

„Deine Klassenkameraden sind einfach nur feige, wenn sie meinen, dass sie dich nur in einer großen Gruppe kleinkriegen. Ich sage dir, wenn du gegen einzelne von ihnen antrittst, dann machen sie sich glatt in die Hosen, weil du stärker bist. Ich sag dir nur, bleib so wie du bist.“, sagt Björn aufmunternd. Kurz darauf kommt am Ende der Straße die Turnhalle ihres Turnverein in Sicht, die in einer Sackgasse liegt. 

 

Es dauert nicht lange, bis alle 14 Kinder der Sportgruppe sich umgezogen und zu einem Kreis zusammengesetzt haben. Daniela und Patrick, die Leiter der Sportgruppe setzen sich dazu.

„Hallo, ihr Lieben, schön, dass ihr alle da seid! Was wollt ihr denn heute machen?“, begrüßt Daniela sie. Paul und Hanno schreien gleichzeitig los: „Fußball, Fußball, Fußball, wir wollen Fußball!“

„Hey, wir schreien hier nicht einfach drauf los! Wir entscheiden gemeinsam und außerdem können wir doch nicht nur Fußball spielen. Wir können das in den letzten 15-20 Minuten spielen, wenn die anderen auch Lust dazu haben“, versucht Patrick sie zu beruhigen. Der Rest der Gruppe einigt sich mit Daniela darauf, an den Seilen und an der Kletterwand hoch zu klettern und die Rollbretter raus zu holen.

 

Zum Aufwärmen spielen sie zwei Runden Kettenfangen. Johlend und schreiend laufen die Kinder durch Halle. Bei diesem Spiel bleiben Henrike und Jule als letztes übrig und dürfen in der zweiten Runde die Fängerinnen sein. Später spielen sie mit Rollbrettern und Seilen. Hanno und Paul liefern sich ein rasantes Wettrennen.

„Seid vorsichtig, dass ihr niemanden umfahrt!“, ruft Daniela den Zwillingen hinterher. Björn gibt seiner kleinen Schwester Rosanna einen Schubs und lässt sie langsam gegen die Wand fahren.

Jule zieht Henrike, die das andere Ende des Seils in der Hand hält, auf dem Rollbrett hinter sich her. Jule wird immer schneller und läuft in eine steile Kurve.

„Aaahh, vorsichtig!“, schreit Henrike, aber sie muss dennoch dabei lachen. Sie lacht heute zum ersten Mal und vergisst ihren Kummer, den sie vormittags in der Schule erlebt hat.

 

Schließlich fängt Patrick an, einen Hindernisparcours aufzubauen und dann gibt es noch ein Wettrennen auf den Rollbrettern.

„Endlich Pause!“, keucht Miriam, Henrikes zweitbeste Freundin und fragt: „Henrike, kannst du mir einen Schluck aus deiner Flasche abgeben? Ich habe meine zuhause vergessen.“

„Aber klar, doch!“, nickt Henrike und reicht Miriam ihre Flasche. Daniela fährt inzwischen die Taue raus und klatscht in die Hände. Das bedeutet, dass die Pause ist zu Ende. An jedem Tau bildet sich eine etwa gleichgroße Schlange aus drei oder vier Kindern. Die erste Aufgabe ist es, damit zu schwingen. Damit tut sich niemand schwer, aber am Seil hochklettern, das ist wirklich eine andere Sache. Nicht wenige Kinder tun sich damit schwer. Paul, Marieke und Olivia hängen schon in 2,5m Höhe wie Mehlsäcke in den Seilen. Henrike und Rosanna kommen relativ weit nach oben, denn sie gehören zu den besseren Kletterern.

 

In den letzten Minuten wird Fußball gespielt. Henrike hat das Glück mit Patrick und Björn in einem Team zu spielen. Ihre Mannschaft ist von Beginn an das stärkere Team. Doch eine Sekunde lang passte ihre Mannschaft nicht auf und da bringt Hanno das gegnerische Team kurz nach dem Anpfiff in Führung.

„Björn, pass zu mir zu, ich stehe frei!“, ruft Henrike, als sie freisteht und kein Gegenspieler sie deckt. Genau das tut Björn, er schiebt den Ball Henrike zu. Jetzt hat es Henrike nicht schwer.  Im Tor steht Florian, der Kleinste von allen. Henrike hat keine Mühe den Ball über ihn rüber ins Tor zu lupfen. Ausgleich! Nun ist das Spiel wieder offen.

„Bravo, Ricky!", Björn gibt ihr einen freundschaftlichen Klaps auf ihre Schulter. Kurz darauf legt Björn zwei Tore nach. Am Ende gewinnt ihr Team mit 3:2, da Paul kurz vor Schluss per Elfmeter den Anschlusstreffer markiert.

„Superschönes Tor geradeeben, Ricky!“, lobt Patrick Henrike nach dem Spiel. 

„Danke!", erwidert Henrike bescheiden und fügt hinzu: „Ich habe immer schon gerne Fußball gespielt."

 

Es ist bereits stockduster draußen, als Henrike und ihre drei Freunde nach Hause gehen. Ein Gemisch aus Regen und Schnee peitscht ihnen ins Gesicht und die Kälte zieht ihnen in ihre Glieder.

„Muss es immer so stark regnen und dabei so kalt sein?“, murrt Rosanna und streicht sich eine Strähne ihres langen blonden Haares aus dem Gesicht. Im Gegensatz zu vorhin  reden sie kaum, während sie durch die fahlen Lichtkegel der Straßenlaternen schlendern. In Henrike kommen wieder alle schlechten Gedanken in ihr hoch, die in ihr brodeln. Sie fragt ihre Freunde: „Warum müssen die Mitschüler aus meiner Klasse mich immer nur fertig machen? Mach ich etwas falsch? Bitte sagt es mir, ich will mich so verändern, dass sie mich endlich akzeptieren!“

„Selbstverständlich machst du nichts falsch. Nur deine Mitschüler sind zu blöd um dich zu akzeptieren. Du bist halt nicht so wie sie, aber du bist cool und supernett. Deine Mitschüler sind einfach nur mies drauf!“, meint Rosanna.

„Mach dir keinen Kopf draus, Ricky! Du bist voll richtig, sonst wärst nicht mit mir befreundet. Sei froh, dass du nicht so eine oberflächliche Zicke bist!“, sagt Björn.

„Genau, am besten ist es, du machst dir nicht so viel draus!“, findet Jule und hakt sich bei Henrike und Rosanna unter.

 

4. Kapitel: Das Mobbing nimmt an Fahrt auf

Schwermütig tritt Henrike am nächsten Morgen aus der Haustür und umarmt nochmal ihre Mutter zum Abschied. Es ist dunkel und der Regen ist auf der Straße zu Eis gefroren. Es ist sehr glatt. Henrike muss sehr aufpassen, dass sie nicht ausrutscht. Ihr wird flau im Magen, als sie an die blöde Schule denkt, wo sie heute bis 3 Uhr Unterricht haben wird. Obwohl der Bus aufgrund der Witterungsbedingungen langsamer fährt, vergeht für sie die Fahrt wie Flug und der Bus liefert sie gnadenlos vor ihrer Schule ab. Henrike betritt mit einem Gefühl der Angst die Pausenhalle. Es ist hier wie immer höllisch laut, hell und stickig. Im Gewusel geht sie richtig unter und fühlt sich wie von einem Monster verschluckt. Gerade noch rechzeitig zusammen mit dem Gong erreicht sie den Chemieraum. Ihr Chemielehrer Herr Jansen schließt in diesem Moment die Tür zum Chemiesaal auf. Henrikes Platz dort ist hinten in der letzten Reihe, wo der meiste Müll liegt. Niemand außer Henrike sitzt dort. Inzwischen hat sie sich daran gewöhnt, dass sie ganz alleine in der Reihe sitzt. Es stimmt sie dennoch traurig, wenn sie daran denkt, dass sie in ihrer alten Schule nie alleine in einer Reihe gesessen hat.

 

Ausgerechnet die Zicken Jana, Johanna, Lilly und Maren sitzen eine Reihe vor ihr. Während des ganzen Unterrichts tuscheln die vier Freundinnen und malen Blümchen, Sternchen, Herzen und kleine Tiere auf ihre Blöcke, anstatt dem Unterricht zu folgen.

„Guckt mal zu Henrike wie blöd, die heute wieder aussieht!“, kichert Maren und stubst Johanna an, die neben ihr sitzt.

„So sieht die doch immer aus. Die wäscht jeden Tag ihre Haare in der Toilette. Kein Wunder, dass ihre Haare so fürchterlich aussehen!“, lacht diese.

„Quatsch, das ist doch Fett in ihren Haaren!", widerspricht ihr Lilly scherzend. „Die wäscht sich die Haare bestimmt mit altem Fritierfett!"

„Nicht nur das. Ihre Kleider werden sicherlich auch in der Toilette gewaschen, sonst würden die nicht so übel stinken!", zischelt Johanna.

„Seht ihr? Henrike schläft ratzt gleich weg. Wir müssen sie jetzt aufwecken bevor sie noch in den Tiefschlaf fällt!“, prustet Jana los. Lilly reißt einen Zettel aus ihrem Collageblock, knüllt ihn zu einer Kugel und flüstert zynisch: „Guten Morgen, du behindertes Kind! Viel Spaß beim Aufwachen!“

 

Bang! Die Kugel trifft Henrike mit voller Wucht im Gesicht. Im nächsten Moment wird sie von einer ungeheuren Wut ergriffen und wirft die Kugel zurück zu Lilly, sodass diese ihren Hinterkopf trifft. 

„Was ist los mit euch, Mädchen? Liefert doch mal ordentliche Beiträge zum Unterricht bei, anstatt hier nur rumzukaspern! Und du Henrike, du wirfst nicht mit Papierkugeln im Unterricht, ist dir das klar? Sonst sitzt du vor der Tür und kannst die Klassenregeln abschreiben!“, sagt Herr Jansen verärgert. Henrike schäumt innerlich über und Tränen steigen ihr die Augen. Leicht zitternd sagt sie: „Herr Jansen, Sie haben doch gesehen, dass Lilly mich abgeworfen hat und außerdem hat sie mich dabei beleidigt. Wenn Sie nur mich bestrafen, ist das unfair!“

 

„Henrike, hör auf zu lügen und halt deine Klappe!“, raunzt Lilly sie an. Nun bekommt Herr Jansen bekommt alles mit und knöpt sie sich vor: „Lilly, hör mir mal gut zu: Mir ist dein Verhalten schon mehrfach unangenehm aufgefallen. Es ist sehr unhöflich, wie du mit Henrike redest. Du wirst diejenige sein, die Henrike den Papierball an den Kopf hat. Für dein Verhalten packst du auf der Stelle deine Sachen ein, gehst vor die Tür und schreibst die Klassenregeln ab und bearbeitest das ganze zweite Kapitel!", deutete der Chemielehrer Richtung Tür. Lilly sieht ihn an, als würde sie ein Pferd treten und regt sich nicht.

„Geh raus, ich will dich heute in diesem Saal nicht mehr sehen!“, befielt Herr Jansen. Niedergeschlagen mit runterhängendem Kopf verlässt Lilly den Raum und schlägt die Tür hinter sich zu. In Henrike macht sich ein wohltuendes Gefühl der Gerechtigkeit breit. Herr Jansen ist der wenigen Lehrer, der etwas gegen ihre fiesen Mitschüler unternimmt. Lillys Freundinnen drehen sich wieder nach vorne, aber sie sind immer noch wütend, dass Lilly aus dem Unterricht geflogen ist.

 

 In der Pause schlittern die meisten jüngeren Schüler auf einer großen zugefrorenen Eispfütze zwischen den drei alten Eichen umher. Henrike rutscht alleine auf der zugefrorenen Pfütze hin und her. Die anderen Kinder spielen Fangen auf dem Eis oder werfen sich einen Ball zu. Plötzlich kommt Lilly Hand in Hand mit Jana und Lara auf Henrike zugeschlittert. Sie sieht überhaupt nicht freundlich aus und versucht Henrike mit einem bitterbösen Blick aufzuspießen.

„Nur weil du Petze deine Klappe nicht halten kannst fliege ich raus. Alles nur wegen dir!“, meckert Lilly.

„Kein Wunder, dass du hier keine Freunde hast!“, ruft Jana voller Hass. Lara will Henrike treten, doch Henrike weicht ihrem Stiefel geschickt aus. Als Henrike wegrennen will, hält Jana sie am Handgelenk fest, sodass es ihr wehtut. Henrike schreit und schüttelt sie ab. Jana fällt dabei hart auf den Boden und fängt leise an zu weinen. Rasch kommen Janas Freundinnen herbei gestürzt, um ihrer Freundin auf zu helfen.

„Verzieh dich, sonst kriegst du gleich eine gelangt!", rief Lilly und Henrike sieht zu, dass sie Land gewinnt.

 

In der nächsten Pause hat Henrike keine Lust mehr nach draußen zu gehen. Nachdem ihr zwei Jungs aus einer unteren Jahrgangsstufe auf dem Flur einen gemeinen Spruch nachgerufen und mehrere Schüler aus verschiedenen Klassen darüber gelacht haben, schließt sie sich lieber in eine Toilettenkabine ein und verschickt eine lange SMS an Jule. Die letzte Doppelstunde ist auch nicht viel besser. Bei Geschichte könnte Henrike immer einschlafen, zumindest bei diesem Lehrer. Herr Fischer erklärt den Unterrichtsstoff sehr trocken und liest fast alles aus dem Geschichtsbuch ab. Henrike muss an ihre alte Geschichtslehrerin aus der Schweiz denken, die sie schmerzlich vermisst. Frau Spyri konnte immer sehr anschaulich erklären, interessante Sagen erzählen und ließ ihre Schüler Rollenspiele zu den Themen durchspielen. Jedenfalls war ihr Unterricht so interessant, sodass alle Kinder stets dem Unterricht folgten.

 

 Ausgerechnet in der heutigen Geschichtsstunde muss Henrike mit Jonas, Alexander und Lilly zusammen in der Gruppe arbeiten.

„Ich habe mir den genauen Ablauf der französischen Revolution nicht richtig merken können“, gibt Henrike zu.

„Hast du gerade nicht aufgepasst?“, wirft ihr Lilly an den Kopf. „Herr Fischer hat letzte Stunde den Zeitstrahl an die Tafel gezeichnet.“

Jonas, Alexander und Lilly stecken so eng die Köpfe zusammen, dass Henrike kaum ein Wort versteht.

„Was soll ich nachher präsentieren?“, fragte sie unsicher. Niemand antwortet und deshalb wiederholt sie ihre Frage noch mal.

„Sag doch einfach, was dir einfällt“, sagt Lilly beiläufig und wendet sich wieder Alexander und Jonas zu.

„Mögt ihr bitte nach vorne kommen und eure Ausarbeitung vorstellen!“, reißt Herr Fischers Henrike nach einer Weile abrupt aus ihren Gedanken. Zu allem Überfluss deutet er auf ihre Gruppe.

Alexander, Jonas und Lilly stehen auf und gehen zur Tafel. Henrike bleibt wie festgeklebt sitzen.

„Henrike, du warst auch in der Gruppe und musst mit nach vorne gehen!“, fordert Herr Fischer das stille Mädchen auf. Alexander fängt an vorzustellen und gibt an Jonas weiter.

„Hoffentlich muss ich nichts sagen“, denkt Henrike verkrampft und prompt wird ihr übel. Sie nimmt Lillys helle Stimme nur noch wie durch Watte wahr und starrt auf ihren hellblonden Pferdeschwanz. Plötzlich stoppt Lilly abrupt und stößt Henrike in die Seite.

 

„Henrike, du bist an der Reihe! Leg los!“, zischt sie, wobei ihre grauen Augen gefährlich funkeln. Henrike fängt unkontrolliert an zu zittern und sieht Lilly hilflos in die Augen. Ein paar der Mitschüler kichern und verdrehen die Augen. Lilly bekommt etwas Mitleid und flüstert ihr etwas ins Ohr. Henrike ist ihr in dem Moment dankbar und sagt das, was Lilly gerade gesagt hat. Nun biegt sich die ganze Klasse vor Lachen.

„Henrike, was war das denn? Wieso hast du den ganzen Kontext verkehrt wiedergegeben und by the way: die Römer haben mit der französischen Revolution nichts zu tun. Ansonsten fand ich eure Präsentation in Ordnung“, unterbricht Herr Fischer die peinliche Situation. Jetzt ist es Henrike bewusst geworden: Lilly hat sie gezielt vor der ganzen Klasse blamiert. Am liebsten würde sie diese Oberzicke an den Haaren packen und hinter sich herziehen. In ihr macht sich die blanke Wut breit, die so heiß wie glühende Kohle ist. In Henrikes Kopf hämmert es immer noch, als sie bereits auf ihrem Platz sitzt und Herr Fischer die Stunde abschließt.

 

Nach der Stunde bekommt Henrike mit, dass sich Lilly und ihre Freundinnen immer noch über ihren peinlichen Vortrag lustig machen.

„Haha, wie lustig!“, zischt Henrike leise und geht an den Zicken vorbei.

Während sie missmutig den durch den Trakt in Richtung Pausenhalle läuft, bleiben Lilly und ihre Freundinnen dicht hinter ihr. Obwohl Henrike krampfhaft versucht wegzuhören, bekommt sie jeden Gesprächsfetzen glasklar mit

„Henrike möchte ich wirklich nicht bei Gruppenarbeiten dabei haben", sagt Johanna abfällig.

„Ihr müsst euch mal vorstellen, dass sie sich tatsächlich geweigert hat mitzumachen", erzählt Lilly ihren Freundinnen.

„Die ist auch nicht in der Lage mit anderen zusammenzuarbeiten und bestimmt wird sie später auch keinen Job finden, weil sie nirgendwo reinpasst", hat Jana einzuwenden.

„Außerdem checkt Henrike doch gar nichts. Sie ist einfach zu blöd zum Brot holen", lästert Madita.

5. Kapitel: Eine willkommene Ablenkung

Kaum ist Henrike zuhause und macht Mittagspause, klingelt es an der Haustür. Es sind Björn und seine Schwester Rosanna, die gutgelaunt um die Wette strahlen.

„Moin Ricky, hast du Lust auf eine sensationelle Rutschpartie? Wir haben eine tolle Eisbahn in unserem Garten“, fragt Rosanna und Björn fügt hinzu: „Jule ist gerade eben auch gekommen.“

Henrike braucht nicht lange zu überlegen. Ihre Freunde sind fast immer für sie da und schaffen es regelmäßig sie aus ihrem düsteren Loch herauszuholenholen und nach diesem furchtbaren Schultag kann sie jegliche Ablenkung gut gebrauchen.

„Klar, komme ich gerne vorbei, aber erstmal muss ich noch die Hausaufgaben zu morgen erledigen. Wenn es ok ist, komme ich in einer halben Stunde zu euch“, sagt sie.

„Die Kinder in der Nachbarschaft sind aber wirklich nett. Du scheinst hier sehr viele neue Freunde gefunden zu haben und dich wohl zu fühlen", meint ihre Mutter, als Henrike die Haustür wieder hinter sich schließt.

„Ja, so ist es", lächelt Henrike.

 

„Oh, Vorsicht Rosa, bitte laufe mich nicht um!“, ruft Jule kichernd. „Warum machst du immer nur Jagd auf mich? Fang doch mal Ricky, sie ist als Einzige noch nicht Fänger gewesen.“

Henrike und ihre Freunde spielen zuerst Fangen, bis ihnen es langweilig wurde. Dann beschließen um die Wette zu schlittern und schauen, wer mit Anlauf am weitetesten schlittern konnte. Als dies ihnen zu langweilig wird, versuchen sie unter Gejohle und Gelächter Fußball auf dem Eis zu spielen, wobei sie ständig ausrutschen. 

„Das ist eine blöde Idee! Lass uns lieber etwas anderes spielen", mault Jule, die vor Schmerzen das Gesicht verzieht, da sie auf ihr Knie gefallen ist. Als es dunkel wird, trinken die vier Freunde in der Küche eine heiße Schokolade. Zudem naschen sie Kekse und Süßigkeiten, die ihnen die Mutter von Björn und Rosanna hingestellt hat. Die Mutter ihrer beiden Nachbarsfreunde ist eine sehr nette und warmherzige Frau. Henrike mag sie von Anfang an und fängt ein Gespräch mit ihr an.

 

„In der Sportgruppe und in der Nachbarschaft hast du schon ein paar gute Freunde gefunden. Aber wie läuft es in der Schule?“, fragt Björns Mutter. Henrike schweigt erst, aber dann erzählt sie: „Die Schule gefällt mir gar nicht. Keiner mag mich leiden, manche Mitschüler ärgern mich jeden Tag und ich bin nur allein, weil keiner mit mir etwas zu tun haben möchte.“

Björns Mutter macht ein betroffenes Gesicht und sagt: „Ich finde es wirklich schlimm, was dir täglich in der Schule widerfährt, Henrike. Hast du mit deinen Eltern schon darüber geredet? An deiner Stelle würde ich das tun. Ich finde es ziemlich ungerecht, dass deine Mitschüler so ein freundliches Mädchen wie dich mobben. Leider ist es Björn auch jahrelang so ergangen wie dir. Er wurde vier Jahre lang in der Grundschule gemobbt. Aus diesem Grund haben wir uns eine Schule für ihn ausgesucht, in der Mobbing nicht toleriert und hart bestraft wird.“

 

Nun fängt Henrike an auszuholen: „Es gibt in unserer Klasse eine Mädchenclique, die aus Johanna, Lara, Lilly und ein paar weiteren Mädchen besteht. Diese acht Mädchen mobben mich am schlimmsten. Seit kurzem passiert es mehrmals am Tag: Eine blöde Bemerkung hier, ein hinterhltiges Gekicher dort und noch viel mehr. Es gibt trotz dem noch ein paar andere Mädchen, die halbwegs in Ordung sind. Das sind Mädchen wie Fiona, Margret, Alina, Sarah, Ellen und Nora. Aber sie ignorieren mich auch und helfen mir nicht. Ich bin das einzige Mädchen, das in keiner Clique drin ist und keine einzige Freundin dort hat. Ab und zu sind Nora und Alina ganz nett zu mir, aber mich wollen sie auch nicht in ihrer Clique haben. Sie haben große Angst, dass sie sich blöde Bemerkung anhören müssen, wenn sie mit mir befreundet sind.“

 

„Das ist richtig unfair und gemein gezielt einen Mitschüler auszugrenzen. Aber wieso machen sie das ausgerechnet mit dir? Du bist doch sehr freundlich, umgänglich und aufgeschlossen“, fragt Björns Mutter verständnislos. An den Gesichtern von Björn, Rosanna und Jule ist abzulesen, dass sie das Gleiche denken.

„Es liegt an meiner Kleidung, die nicht up to date ist. Ich mag eben keine Mädchenmode, keine Schminke, keine Absatzschuhe und auch keinen Schmuck. Obwohl die meisten Mädchen erst zwölf oder dreizehn Jahre alt sind, sehen sie aus wie Fünfzehn- oder Sechzehnjährige und benehmen sich auch so zickig. Sie behaupten ich wäre zu kindisch für mein Alter und lachen mich wegen meinem Schweizer Dialekt aus“, erzählt Henrike.

 

Björns Mutter antwortet darauf: „Ich find es gut, wenn du noch nicht so erwachsen aussiehst, du bist gerade eben mal 13 und in dem Alter ist man eben noch ein Kind. Björn ist genauso alt wie du und sieht auch noch nicht so jugendlich aus wie manche Kinder in seinem Alter. Dieses Aufstylen und Wert auf teure Markenklamotten legen, mag ich persönlich überhaupt nicht leiden. Viel wichtiger ist es sich seiner eigenen Persönlichkeit treu zu bleiben. Die meisten Teenager eifern nur bestimmten Stars nach und jagen die neuste Mode, weil sie Angst haben ebenfalls gehänselt zu werden. Das ist ein meinen Augen der Mainstream. Wer nicht so ist wie sie, der gehört nicht dazu oder wird sogar von Anderen attackiert. Für mich ist es nicht wichtig wie ein Mensch aussieht und was er kann, sondern sein Inneres ist wichtig. Mein Tipp, bleibe wie du bist. Für Fieslinge aus deiner Schule brauchst du dich nicht verbiegen.“

„Mobbing ist für mich richtig kacke und kindisch“, mischt sich Björn ein. „In meiner Klasse gibt es sowas nicht, weil wir zwei ausgebildete Streitschlichter haben und unser Klassenlehrer Mobbing sehr hart bestraft. Florian und Erkan mussten letztes Jahr die Schule verlassen, nachdem sie Jacob verprügelt haben und ihn dabei ziemlich verletzt hatten.“

 

„Du bist ganz einfach meine beste Freundin!", legt Jule ihre Hand auf die von Henrike.

„Und ihr seid unsere besten Freundinnen!", legten Björn und Rosanna ihre Hände obendrauf. Einen Moment lang sehen sich die Freunde glücklich an und Henrike wird klar, dass es wichtiger ist, ein paar sehr gute Freunde zu haben, anstatt sehr viele.

„Lass dich nicht unterkriegen, Henrike!", klopfte ihr Björn auf die Schulter.

„Nein, ich lasse mich von denen nicht unterkriegen", versichert sie ihm.

6. Kapitel: Fiese Sticheleien und ein gemeiner Streich

In der Nacht wacht Henrike auf. Ihr Hals kratzt ganz furchtbar, ihre Nase ist dicht und sie muss heftig husten. Am Morgen stellt sich heraus, dass Henrike Fieber hat. Das bedeutet zur ihrer großen Erleichterung: Sie darf zu Hause bleiben. Henrikes Mutter macht ihr einen heißen Tee mit Honig und meldet sie von der Schule ab. Henrike genießt es, dass sie daheim bleiben kann. Sie hat zwar starke Kopf- und Halsschmerzen, Husten und Schnupfen. Krank sein und im Bett liegen ist trotzdem noch besser, als die ganze Zeit von den Klassenkameraden gedemütigt zu werden und alleine über den Schulhof zu laufen. Henrike kuschelt sich bis zum Kinn in ihre Bettdecke und dreht sich wieder um. Schnell ist sie wieder eingeschlafen. Draußen trommelt der Nieselregen an die Fensterscheiben. Es ist über Nacht wieder wärmer geworden und die Eisbahn, auf die sie gestern geschlittert sind, ist zu einer jämmerlichen Pfütze geschmolzen. Eine ganze Woche ist sie krank. Zwischendurch telefoniert sie öfter mit Jule und mittwochs bringt Ellen, ihre Klassenkameradin, ihr die Hausaufgaben und die Unterlagen vorbei.

 

Nach einer Woche daheim ist es für Henrike wieder an der Zeit in die Schule zu gehen.

„Hallo, du blöde Tussi. Hast du deine Schweinegrippe erfolgreich überlebt?“, wird sie von Jonas begrüßt.

„Igitt! Vielleicht ist sie noch ansteckend", weicht Marcel schnell ein Stück zurück, worauf Henrike die beiden Jungs finster ansieht. Im Flur breitet sich ein Gelächter aus und Alexander stellt ihr ein Bein. Henrike merkt es zum Glück noch rechtzeitig und springt über sein Bein. Ohne ein Wort zu sagen, lehnt sie sich an die Wand und merkt, wie sich alle Muskeln in ihr verkrampfen. Lara, Isabella und Lilly tuscheln und gucken dabei verdächtig in Henrikes Richtung. Isabella thront wie eine Schönheitskönigin neben ihren Freundinnen, wirft ihre goldenen Locken nach hinten und trägt neuen Lipgloss mit Kirschgeschmack auf. Henrike dreht sich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch von ihnen weg. Jemand zieht sie kräftig am Pullover und lässt ihn schnell wieder los. Isabellas spitzes Kichern ist deutlich zu vernehmen. Henrike tut so, als wäre nichts passiert und sagt kein Wort. Egal, ob sie sich wehrt oder nicht: Ganz alleine ist sie eh nicht in der Lage das Mobbing nicht stoppen.

 

In der Französischstunde muss die Klasse eine Gruppenarbeit machen. Frau Baalmann teilt die Schüler in Dreiergruppen ein. David, Johanna und Henrike bilden eine Gruppe. Johanna verzieht angeekelt das Gesicht.

„Igitt, ratet mal, mit welchem Schwein ich zusammen arbeiten muss: Fängt mit H an und hört mit E auf“, sagt Johanna naserümpfend.

„Haha! Du hast mal wieder Glück gehabt", feixt Jonas am Nachbartisch.

„Klappe, Jonas!", erwiderte Johanna halb mürrisch, halb scherzend. Kurz darauf necken sich die beiden freundschaftlich, bis sie sich einen mahnenden Blick ihrer Französischlehrerin einhandeln. Henrike spürt, dass Johanna die Zusammenarbeit mit ihr ein Dorn im Auge ist.

„Ich will mit Johann tauschen, dann bin ich mit Isabella und Nora zusammen in einer Gruppe“, bat Johanna die Französischlehrerin.

„Hier wird nicht getauscht, Johanna! Du bleibst in der Gruppe mit Henrike und David. Später im Job kannst du dir auch nicht immer aussuchen, mit wem du zusammenarbeitest“, sagt Frau Baalmann streng.

 

Johanna lässt ihren Kopf hängen und geht wieder zu ihrem Platz. Darauf beginnt die Gruppe an zu arbeiten, sie sollen sich ein Rollenspiel ausdenken und danach vor der ganzen Klasse vorspielen. Für Henrike ist es alles andere als leicht mit Johanna zusammen zu arbeiten. Dauernd tauscht diese Zicke mit den Lilly, Jana und Maren verdächtige Blicke aus und fängt an zu kichern.

„Henrike, sag doch auch mal etwas Vernünftiges. Immer lässt du uns die Arbeit machen“, beschwert sich Johanna.

„Wieso, sie arbeitet doch mit, wer gibt hier denn die meisten Ideen? Du ganz bestimmt nicht, denn du lehnst ihre Vorschläge nur ab“, entgegnet ihr David. Henrike ist erleichtert, als David sie in den Schutz nimmt. Endlich ist Johanna ruhig und arbeitet mit. 

Henrike wirft David ein dankbares Lächeln zu. Ihr Klassenkamerad ist ebenfalls ein Außenseiter. David, ein kleiner pummeliger Junge, bekommt häufiger von den Jungs sein "Fett" weg.  Er wird von den Klassenkameraden nur „Klops“ genannt und bleibt im Sport als Letzter übrig, wenn die Mannschaften gewählt werden. Henrike mag ihn, obwohl sie nicht eng mit ihm befreundet ist. Im Gegensatz zu allen Anderen ist David in Ordnung und macht sich nie über sie lustig.

 

 In der großen Pause wird Henrike von Johanna, Maren, Jana, Lilly, Lara, Madita und zwei fremde Mädchen aus der Parallelklasse umzingelt. Henrike, die nur kurz auf dem Schulhof frische Luft schnappen will, hat keine Chance ihnen zu entkommen. Die Zicken bilden einen geschlossenen Kreis um sie herum. Lilly, die Anführerin der Bande, baut sich vor ihr auf.

„Öhm, dürfen wir dir paar Fragen stellen? Ich schwöre dir, wir bleiben auch ganz nett“, sagt sie mit vorgespielter Freundlichkeit. Einen Moment später kann Lilly ihre freundliche Scheinfassade nicht mehr wahren und prustet los. Henrike schweigt eisern.

„Hast du schon einmal Sex gehabt?“, beginnt Maren. Sie und die anderen Mädchen biegen sich vor Lachen. Henrike wird rot wie eine Tomate und stammelt etwas, das sich so anhört wie nein. Dann folgt die Frage gestellt von Lilly: „Hast schon deine Tage und in wen bist du verknallt?“

„Wie rasierst du deine Schamhaare und deine Beine?“, will Dina aus der Parallelklasse wissen.

 

Henrike antwortet: „Was geht euch das an?“

„Wieso? Wir wollen alles über dich wissen und wir verraten nichts den anderen. Hochheilig versprochen!“, meldet sich Johanna zu Wort.

„Von wegen!“, sagt Henrike mit wütender Stimme. Danach wird mit weiteren und immer fieseren, dämlicheren, demütigeren Fragen bedrängt. Lilly und Johanna müssen so heftig lachen, dass sie sich gegenseitig festhalten und stützen müssen. Nach einer Weile hat Henrike die Schnauze voll und schreit aus einer Mischung von Wut und Verzweiflung: „Hört endlich auf mit diesem Scheiß und lasst mich verdammt nochmal in Ruhe!“

Sie flüchtet aus dem Kreis und nimmt die Beine in die Hand. Schluchzend versteckt sich hinter ihrem Tränenbusch und wartet auf das  Ende der Pause. Mittlerweile brennt die Wut so heftig in ihr, dass sie sich vor Frust den Unterarm aufkratzt und sich auf die Lippe beißt.

 

 In der nächsten Stunde hat die Klasse Sportunterricht bei Herrn Mai. Es wird zum Aufwärmen eine Partie Völkerball gespielt. Nora und Jonas sollen die Teams wählen. Nora fängt an, sie nimmt Angelina, danach wählt Jonas Max. Es geht immer weiter, bis David und Henrike nur noch über sind.

„Nora, nimm David, bloß nicht Henrike!“, flüstert Madita. Nora zögert einen Augenblick und entscheidet sich schließlich für David. Nun gehört Henrike zu Jonas Gruppe.

„Och, nee! Jetzt kriegen wir die doch!“, stöhnt Isabella und verdreht dabei die Augen.

„Wieder geht dieses Affentheater los!“, denkt Henrike bei sich und fühlt sich prompt wieder ausgeschlossen. Nicht ein einziges Mal bekommt sie einen Ball zugespielt. Wenige Male fängt sie den Ball bei einem gegnerischen Wurf und schafft es einmal Leon, die absolute Sportskanone abzuwerfen. Ein Mitspieler zeigt kurz mit dem Daumen nach oben, ansonsten ignorieren die anderen Henrikes Erfolg.

 

Schließlich pfeift Herr Mai das Spiel ab und ordnet an, dass die Matten auf dem Hallenboden ausgebreitet werden. Henrike bleibt stehen und schaut zu, wie ihre Mitschüler die Matten tragen. Pyramiden bauen und Akrobatik hasst sie am meisten.

„Pro Matte müssen es mindestens vier Leute sein!“, ruft Herr Mai. Alle Gruppen haben sich gefunden und nur Henrike steht wie ein Ausrufezeichen alleine in der Turnhalle. Alle anderen Schüler sind schon auf ihren Turnmatten.

„Henrike, hast du noch niemanden gefunden?“, fragt Herr Mai. Sie schüttelt ihren Kopf und Herr Mai teilt sie Ellen, Maren, Alina und Sarah zu. Maren verzieht genervt das Gesicht, als Henrike zu ihnen hinüber geht. Von Sarah, Alina und Ellen kommen keine Kommentare.

„Henrike, du kniest dich auf die Matte, damit Ellen auf deinen Rücken steigen kann“, ordnet Alina an. Henrike kniet sich hin, wie ihr befohlen wurde und Alina steigt auf ihren Rücken.

„Klappt doch ganz gut!“, bemerkt Herr Mai anerkennend und schaut ihnen zu.

 

Nach der Sportstunde schleicht Henrike als Letzte in die Umkleidekabine, da sie Herrn Mai geholfen hatte die Sporthalle aufzuräumen.

„Es ist wirklich sehr lieb von dir, dass du mir geholfen hast“, bedankt sich Herr Mai im Kabinentrakt noch einmal. Die Mädchen haben die Umkleidekabine in einen Hühnerstall verwandelt. Lilly sitzt huckepack auf Johannas Rücken und wirft eine gebrauchte Socke durch den Raum, die Henrike ins Gesicht bekommt. Lara und Jana halten sich an den Händen fest und drehen sich so schnell, dass sie das Gleichgewicht verlieren und lachend auf den Boden purzeln. Madita kämmt ihre langen rotblonden Haare und besprüht Henrike mit ihrem Deo. Wütend funkelt Henrike sie an.

„Das musste sein, damit die Luft noch erträglich ist“, entschuldigt sich Madita. „Ich hatte Angst, wenn du rein kommst, dass Alle umkippen. Es ist so, du riechst ein wenig streng.“

Henrike lässt sich von diesem blöden Kommentar nicht beirren und zieht sich in Windeseile an.

 

Auf den ersten Schreck folgt schnell der Zweite. Wo sind ihr Schal und ihre Jacke?!

„Hast du meine Jacke und meinen Schal gesehen?“, fragt Henrike Alina.

„Ich weiß es leider nicht“, zuckt ihre Klassenkameradin mit den Schultern.

„Ich helfe dir beim Suchen", bietet Nora von sich aus an, läuft los in Richtung Toilette und fordert Henrike per Handzeichen auf, ihr zu folgen. Verwirrt geht Henrike Nora hinterher.

„Ich weiß ganz genau, wer deine Jacke genommen hat“, flüstert Nora. „Es waren welche von den Mädchen, auf jeden Fall war Lillys Clique da im Spiel. Alina, Ellen, Sarah und ich würden so etwas nicht machen. Bitte sag es keinem Lehrer und erzähle niemanden davon, was ich dir erzählt habe. Es könnte sonst unangenehm für uns beide werden. Erzählst du es irgendeiner Person weiter, wird es für dich noch schlimmer werden, als es sowieso schon ist. Ich warne dich: Lilly und Co kennen keine Gnade!“

 

„Ok! Weißt du wenigstens, wo meine Jacke und mein Schal sein könnten?“, wispert Henrike aufgebracht.

„Ich weiß es nicht genau, nur sie wollten deine Jacke irgendwo in den Mülleimer tun“, erwidert Nora. Henrike ist zutiefst geschockt und stürmt zurück in die Umkleidekabine. Inzwischen sind die meisten Mädchen gegangen. Verzweifelt durchsucht Henrike noch einmal die ganze Umkleidekabine und die der Jungen.

 „So ein Mist! Das kann echt nicht wahr sein“, schimpft Henrike mit Tränen in den Augen und schnappt sich ihren Tornister. Draußen hält sie aufmerksam Ausschau nach einer hellgrünen Jacke und nach einem königsblauen Schal. Nirgendwo sind weder ihre Jacke noch ihr Schal zu sehen.

 

„Hast du deine Jacke verloren?“, fragt sie der Hausmeister, als er sieht, dass Henrike ohne Jacke unterwegs ist.

„Genau, dass ist meine Jacke. Vielen Dank, dass Sie sie gefunden“, bedankt sie sich.

„Ich habe diese Jacke gerade eben in der Mülltonne gefunden und wollte sie im Sekretariat abgeben“, meint der Hausmeister.

„Haben Sie auch einen dunkelblauen Schal gesehen?“, fragt Henrike.

„Ich habe keinen blauen Schal gesehen“, schüttelt er den Kopf. „Aber ich kann dir helfen ihn zu suchen.“

Die Suche nach dem Schal bleibt erfolglos, bis sie ihn an der Bushaltestelle in einer Pfütze findet.

„Hannahs schöner Schal, den sie mir erst letztes Jahr geschenkt hat, nun ist er ganz dreckig und kaputt“, denkt Henrike bekümmert und bricht in Tränen aus. Der Schal war das Abschiedsgeschenk ihrer besten Freundin aus der Schweiz gewesen. Sie hatte ihn sogar selbst gestrickt und nun wird ihr Schal niemals so schön sein wie vorher.

 

7. Kapitel: Die Rechnung geht auf

An einem milden Dezembernachmittag hat sich Henrike mit ihren Freunden auf dem Bolzplatz verabredet.

„Mensch, hast du heute einen harten Schuss drauf!“, ruft Björn laut und fischt den Ball aus dem Tor. Henrike macht einen Luftsprung und gibt Jule einen Highfive.

„Wie kann es sein, dass drei Jungen gegen fünf Mädchen verlieren?“, sah Leon ratlos aus. 

„Kein Wunder, die Mädchen sind in der Überzahl", meint Alex und schoss voller Wucht auf das Tor der Mädchen. Marieke hält seinen Schuss und schießt den Ball weit weg.

„Super Mary!“, ruft Jule und stochert mit ihren langen Beinen nach dem Ball. Sie passt zu Rosanna, die den Ball an Miriam abgibt. Alex stürmt auf sie zu, doch längst ist die Kugel bei Henrike.

„Ricky vor, noch ein Tor!“, jubeln ihre Mitspielerinnen ganz laut. Henrike umrundet Björn und schiebt den Ball erneut ein. Die Mädchen bejubeln Henrikes nächstes Tor und Miriam legt den Arm um ihre Schultern.

 

„Mädchenpower!“, brüllt Marieke von hinten.

„Jungenpower!“, kontert Leon und sprintete mit dem Ball los. Diesmal trifft er ihn richtig, sodass Marieke keine Chance hat, ihn zu halten. 

Nach dem Spiel setzten sich Henrike und ihre Freunde eine Weile hin.

„Gut gespielt, Mädels!“, meint Alex anerkennend. „Ihr habt uns tatsächlich 17:15 geschlagen!“

„Morgen gibt es eine Revanche!“, grölt Leon. „Dann sieht es genau umgekehrt aus!“

„Ricky, du hattest heute einen Bombenschuss. Wie kommt das? War heute etwas Bestimmtes in der Schule vorgefallen?“, fragt Björn.

 

„Ich hatte die schlimmste Freistunde in meinem ganzen Leben“, erzählt Henrike ihren Freunden. „Frau Baalmann war krank und es gab keine Vertretung. Unsere Klasse war unbeaufsichtigt und meine Mitschüler konnten mich wieder richtig fertig machen. Immer wenn Max „Knülleralarm“ gerufen hat, ging ein Schwall Papierkugel über mich nieder. Jemand hat mir zudem kleine Käfer in mein Etui getan. Lilly hat gesagt, sie wolle zu ihrem dreizehnten Geburtstag eine Klassenfete machen und hat auf zwei Personen gezeigt, die nicht kommen dürfen. Das waren natürlich David und ich.“

„Ganz schön gemein!“, sagt Marieke traurig. „Ich wurde in der Grundschulzeit auch viele Jahre gemobbt, weil ich zu dick war und meine Brille ziemlich dicke Gläser hatte.“

„Ich habe dich nicht mit Brille gesehen und dick bist du auch nicht“, sagt Jule erstaunt.

„Ich habe erstens abgenommen und zweitens trage ich Kontaktlinsen“, antwortet Marieke und bindet ihre hellbraunen Haare zu einem Zopf.

 

Die Zeit bis zum letzten Schultag vor den Weihnachtsferien vergeht wie im Flug. Frau Manning hat ihrer Klasse versprochen am letzten Tag ein Frühstück auszugeben. Sie will dafür Brötchen, Gewürzkuchen, Kakao und Lebkuchen besorgen. Zudem soll jeder Schüler selbst Aufschnitt, Obst, Gemüse und Kekse beisteuern. 

„Oma Ernas Vanillekipferl wird niemand verschmähen", gibt Henrikes Mutter ihr eine Dose mit selbstgebackenen Plätzchen mit. Heute wird Henrike ausnahmsweise von ihrem Vater mit dem Auto zur Schule gebracht, da er ein Termin beim Bürgeramt hat und das auf dem Weg zu ihrer Schule liegt. 

„Mach's gut, meine Liebe!", verabschiedet sich ihr Vater und fährt los. Henrike wirft einen Blick auf ihre Armbanduhr. Sie ist heute um einiges früher da als sonst. Da es am Nieseln ist, beschließt sie ins Schulgebäude zu gehen anstatt draußen auf das Klingeln zu warten. Im nächsten Augenblick sieht Henrike Lilly vor sich stehen.

„Hallo Henrike, ich wünsche dir frohe Weihnachten!“, sagt Lilly übertrieben freundlich und lächelte, sodass ihre weißen Zähne zu sehen sind. Henrike nickt nur, versucht zaghaft zu lächeln und setzt sich auf ihren Platz.

 

Als Frau Manning da ist, werden im Klassenraum die Tische zu einer großen Tafel zusammengestellt, damit die Schüler enger zusammensitzen und sich besser unterhalten können. Henrike isst bereits ihr zweites Stück Gewürzkuchen. Zwar redet keiner mit ihr, aber wenigsten schmecken ihr die Brötchen und der Gewürzkuchen.

„Ich muss eben ein paar Ankündigungen für das neue Jahr  machen!“, sagt Frau Manning. „Am Montag nach den Ferien findet die Bibliotheksbesichtigung statt, eine Woche später der Theaterbesuch und dann ist auch noch die Autorenlesung Ende Januar.“

Sie schlägt die Tafel auf und vor Entsetzen bleibt ihr die Stimme weg. Beinahe die ganze Klasse grölt vor Lachen, aber Henrike bleibt vor Ekel und Schreck die Spucke weg. Lilly lacht so heftig und kippt mit dem Oberkörper nach vorne, sodass ihre glitzernden Sternenohrringe hin und her baumeln.

„Henrike wünscht uns Allen sexy Weihnachten!“, ruft Johann durch die Klasse.

„Wow, was der Weihnachtsmann für einen riesigen Pimmel hat!“, setzt Rene einen drauf.

„Meine Güte, Mrs. Santa hat mal voll die krasse Titten!", entfährt es Marcel

„Ich finde es überhaupt nicht mehr witzig, was ihr dort vorne an die Tafel gemalt habt!“, ruft Frau Manning wütend. „Henrike, was kannst du zu dem nackten Weihnachtspärchen sagen?“

 

Henrike spürt wie ihr Magen rebelliert und sich krampfhaft zusammen zieht. Wie von der Tarantel gestochen springt sie auf und rennt aus der Klasse.

„Heeeyyyy!", ruft ihr Frau Manning lautstark hinterher, aber sie rennt einfach weiter. So gerade eben schafft sie es noch auf den Schulhof und muss sich hinter einem Busch übergeben. Als sie wieder das Schulgebäude betritt rast ihr Pust und kalter Schweiß bricht aus.

„Henrike, warum hast du die Klasse verlassen, ohne dich abzumelden?“, kommt ihr Frau Manning auf dem Flur entgegen. Henrikes Herz droht in dem Moment zu zerspringen.

„Setz dich ruhig hin und atme tief durch!“, sagte Frau Manning in einem milderen Tonfall. Henrikes Beine knicken weg, sodass ihre Lehrerin sie auffangen muss.

„Um Himmels Willen! Du bist ja richtig krank. Leg die Beine hoch, ich hole eine Decke für dich“, rief ihre Klassenlehrerin entsetzt. „Soll ich den Krankenwagen holen?“

„Bitte, bitte nicht!“, quetscht Henrike aus sich heraus. „Wenn, dann rufen Sie meine Mutter an!“

Sie will am liebsten laut losweinen, aber eine innere Blockade hindert sie daran.

 

Eine Stunde später liegt Henrike zuhause auf dem Sofa.

„Du hast wohl nicht das nackte Weihnachtspärchen gemalt oder?“, fragt ihre Mutter.

„Nein, natürlich nicht. Ich käme gar nicht auf die Idee“, sagt Henrike unschuldig. „Das muss ein Mädchen aus Lillys Clique gewesen sein. Entweder Maren, Jana oder Isabella, sie haben alle so eine schöne Handschrift und können gut malen.“

„Ich finde es trotzdem entsetzlich, dass man Jemanden so bloßstellt“, meint ihre Mutter und fragt: „Passiert sowas denn öfter?“

Henrike schüttelt den Kopf: „Ich komme eigentlich gut mit meinen Klassenkameraden gut klar, deshalb hat mich das gerade so geschockt. Ich dachte, ich wäre mit der Mehrheit der Mitschüler befreundet.“

„Ich habe eine Idee!“, sagt ihre Mutter. „Du gibst eine Schriftprobe ab. Ich muss heute sowieso noch mal in das Sekretariat und dann kann ich Frau Manning das überreichen“

Henrike seufzt erleichtert.

 

Einen Tag vor Heiligabend schlendern Henrike und ihre Freundinnen über den Weihnachtsmarkt.

„Pfui, ich bekomme ganz nasse Füße in meinen Stiefeln!“, beklagt sich Jule.

„Ich habe schon längst nasse Füße“, sagt Henrike und schlägt vor: „Wollen wir nicht in das heute eröffnete Kaufhaus?“

„Stimmt, dahinten ist heute das neue Kaufhaus eröffnet worden“, fällt Miriam ein. „Heute gibt es auf Kleidung 25% Rabatt. Ricky, du könntest doch auch eine neue Hose und einen neuen Pullover gebrauchen oder?“

„Ich habe von meinen Großeltern zum Geburtstag 120€ bekommen und sie noch nicht ausgegeben“, erwidert Henrike. „Und ich habe das Geld sogar dabei.“

„Das ist doch prima! Auf geht’s zur Schnäppchenjagd!“, stimmt Jule die Freundinnen ein. Die Freundinnen marschieren durch den Regen und teilen sich zu fünft zwei Regenschirme.

 

Im Kaufhaus ist es rammelvoll, von allen Seiten dudelt weihnachtliche Musik und die Mädchen müssen sich bis zur Rolltreppe durchkämpfen.

„Die Idee hatten wir nicht alleine“, sagt Marieke und faltet ihren Schirm zusammen. Henrike schaut sich in der Modeabteilung um und ihre Freundinnen geben ihr gute Ratschläge.

„Probier doch mal die rote Jeans aus, die würde sicher stehen oder das blaue Sweatshirt mit dem lila Schriftzug!“, ruft Jule durch die Abteilung. Miriam hält Henrike einen rosa Pullover mit einer Glitzeraufschrift unter die Nase. Sie schüttelt entsetzt den Kopf: „Rosa trag ich nicht, das ist die Lieblingsfarbe der Zicken aus meiner Klasse.“

Die Freundinnen beraten und helfen Henrike so lange bis sie schließlich ihr neues Outfit gefunden hat.

„Zeig mal her! Dreh dich mal vor dem Spiegel!“, fordert Rosanna sie auf. Henrike ist erstaunt, wie gut sie aussehen kann und lächelt. Marieke und Jule machen ein Foto mit dem Handy. Henrike geht zur Kasse und nimmt ihr neues Outfit mit.

 

Ein junger Mann mit einer Weihnachtsmütze und weißem Rauschbart kommt auf sie zu.

„Wollt ihr einen Gutschein für das Cafe im zweiten Stock?“, fragt er und gibt jedem der Freundinnen einen Gutschein. Das Cafe ist räumlich von dem restlichen Kaufhaus abgetrennt und sehr gemütlich eingerichtet. Neben dem Thresen befindet sich ein großer Weihnachtsbaum mit goldenen Kugeln und glitzernden Lametta. Das Licht ist angenehm gedimmt, auf jedem Tisch steht eine Kerze und es läuft eine ruhige weihnachtliche Jazzmusik im Hintergrund. Henrike winkt ihre Freundinnen zu einem Tisch neben dem Weihnachtsbaum.

„Was wollt ihr essen und trinken?“, fragt eine junge Bedienung, die einen goldenen Heiligenschein auf dem Kopf trägt. Rosanna und Miriam bestellen sich einen sanften Engel und entscheiden sich für Crepe mit Nutella. Jule, Henrike und Marieke bevorzugen hingegen lieber einen warmen Kakao und ein Stück Kuchen.

 

 „Sexy Weihnachten!“, sagt Jemand hinter Henrikes Rücken. Erschrocken dreht sich sie sich. Es sind Jana, Isabella und Lilly aus ihrer Klasse.

„Nackte Weihnachten!“, ruft Isabella halblaut.

„Porno Weihnachten!“, kräht Lilly durch das ganze Cafe und ihre Freundinnen kichern laut los. Einige Leute starren die drei Mädchen mit entgeistertem  Gesichtsausdruck an.

„Oh, sind die peinlich“, gluckst Miriam leise und klingt etwas verschämt. Das Grün in Jules Augen wird immer dunkler und ihre Augen verengen sich zu kleinen Schlitzen. Henrike ist bewusst, dass ihre beste Freundin gleich einen Wutausbruch bekommt.

„Das sind nur Lilly, Isabella und Jana aus meiner Klasse“, flüstert Henrike total verunsichert. Die Zicken tauschen kurz Blicke aus, ehe Jana als Erste den Mund öffnet.

„Mit dir haben wir hier nicht gerechnet“, sagt sie spöttisch. „Wir haben geglaubt, dass du dir niemals neue Kleidung kaufst.“

„War die Altkleidersammlung leer geräumt? Hast du mit deinen Freundinnen eine Bank überfallen?“, stichelt Lilly.

 

„Wie redet ihr mit meiner besten Freundin? Ihr seid ja total unverschämt!“, platzt Jule der Kragen und packt Lilly grob am Arm. Neben ihr baut sich auch Marieke vor den Zicken auf. Rosanna springt auf und wieselt hinter dem Rücken der Zicken herum.

„Ihr merkt, gar nicht wie peinlich und kindisch ihr seid!“, ruft Marieke außer sich. „Ihr seid ja noch nicht einmal reif genug, um ein Cafe ohne eure Eltern zu besuchen!“

„Genau, wo sind eure Eltern? Seid ihr heimlich stiften gegangen, sodass sie euch jetzt suchen. Passt auf, gleich werden eure Namen über Lautsprecher ausgerufen“, sagt Henrike laut und deutlich. Durch ihre Freundinnen ist sie plötzlich selbstbewusst geworden. Einen Moment lang blieb den Zicken die Spucke weg. Niemals haben sie damit gerechnet, dass Henrike auf diese Art zum Gegenschlag ausholt.

 

Jule fällt auf, dass Rosanna große Preisschilder an die Jacken von Lilly, Isabella und Jana geklebt hat.

„Du da mit den schwarzen Haaren, du kostet nur 15€“, sagt Jule spöttisch und zeigt auf Jana.

„Wie bitte?!“, stößt Jana aus.

„Du hast ein Preisschild an deiner Jacke kleben“, ruft Miriam laut und reißt ihr das rosa Preisschild ab.

„Du, mein Goldlöckchen, du kostest nur noch 10€“, spottet Jule und sieht Isabella ins Gesicht. Isabella wird panisch und zieht ihre Jacke aus. Sie reißt ihr Preisschild selbst ab.

„So ein verdammter Mist, jetzt habe ich einen Klebestreifen auf meiner Jacke“, schimpft Isabella wütend.

„Blondchen, dich gibt es sogar für 5€ im Sonderangebot, weil du 20% herunter gesetzt wurdest“, ruft Jule triumphierend und zeigt auf Lilly.

„Warum macht ihr mir dieses Schild nicht ab?“, schreit Lilly ihre Freundinnen an. „Wollt ihr mich vor der ganzen Welt blamieren?!“

Lilly reißt wutentbrannt selbst ihr Schild ab und wird vor Ärger knallrot im Gesicht. Isabella zerreißt ihren Gutschein und ihre Freundinnen tun es ihr nach. Schnell hasten sie aus dem Cafe.

 

 Henrike und ihre Freundinnen bekommen einen heftigen Lachanfall.

„Ich habe sogar ein Beweisfoto mit dem Handy gemacht“, sagt Rosanna. „Das kann ich meinem Bruder und seinen Freunden zeigen.“

Henrike lacht so heftig, dass ihr die Tränen kommen.

„Wir haben es den fiesen Zicken so richtig gezeigt!“, meint Jule zufrieden und gibt Henrike einen Highfive.

„Tja, die Rechnung geht irgendwann immer auf!“, grinst Henrike zufrieden.

„Jetzt weißt du, wozu gute Freundinnen alles gut sein können!“, zwinkert Miriam ihr zu.

„Für so eine gute Freundin wie Henrike würden wir glatt alles tun“, meint Jule und wieder brechen die Mädchen in lautes Gelächter aus. Auch Henrike freut sich, dass sie so gute Freundinnen hat.

„Könnte ich die Damen um etwas mehr Ruhe bitten!“, sagt ein Kellner. „Das ist hier kein Schulhof. Herumalbern könnt ihr immer noch gerne woanders.“

 

Auf dem ganzen Heimweg muss Henrike so viel lachen, dass sie immer wieder das Gleichgewicht verliert. Jule und Marieke haken sie bei sich unter, damit sie nicht über ihre eigenen Füße stolpert.

„Das werde ich nie vergessen, wie lustig das war“, gackert Henrike. „Vor allem wie sich die Zicken selber blamiert haben.“

„Wer sich dauernd ins Unrecht stellt, der wird es immer zurückkriegen“, meint Rosanna schmunzelnd.

„Gerade diese beiden Blondinen und diese schwarzhaarige Tussi kann niemand ernst nehmen“, findet Jule. „Hast du noch mehrere von solchen fiesen Ziegen in deiner Klasse?“

„Diese drei Mädchen sind am allerschlimmsten, aber Johanna und Maren sind auch nicht ohne“, nickt Henrike. „Dann gibt es noch die Jungs, die ich alle nicht ausstehen kann, außer David.“

„Oh man, deine Klassenkameraden scheinen allesamt die Pest zu sein", verdreht Jule die Augen.

 

8. Kapitel: Cybermobbing im Spiel

„Nachdem ich gestern auf dem Elternabend das Einverständnis von euren Eltern bekommen habe, gründen wir nun eine Klassenchat-Gruppe. Dort können wir wir klasseninterne Anliegen besprechen", kündigt Frau Manning in der zweiten Woche nach den Weihnachtsferien an. In Henrike sträubt es sich. Sie würde ihre Nummer nicht einmal für 100 Euro auf den Zettel schreiben der gerade herumgereicht wird. Niemand bis auf Nora hat ihre Nummer und so soll es auch bleiben.

„Henrike, schläfst du mal wieder? Los, trag dich ein!", reißt eine Stimme sie aus ihren Gedanken. Es ist Lilly, die ihr den Zettel auf das Pult legt und vor ihr stehen bleibt. Regungslos schaut Henrike sie an. 

„Na, wird's mal?", wird Lilly ungeduldig. Henrike beginnt mit leicht zitternder Hand ihre Nummer auf die Liste zu schreiben und schiebt den Zettel von sich weg. 

„Na also, geht doch!", zwinkert ihr die Klassensprecherin zuckersüß zu.

 

„Es gibt ganz wichtige Regeln im Chat", schnappt sich Frau Manning ein Stück Kreide und schreibt: „1. Regel: Niemand wird in seiner oder ihrer Würde verletzt."

„Und das heißt?", redet Jonas ungefragt dazwischen.

„Niemand wird beleidigt, bloßgestellt oder auf eine andere Weise verletzend behandelt. Das gilt auch für rassistische, sexistische und homophobe Witze und Anspielungen, die ich in keinster Weise dulden werde. Genauso wenig wird Hate Speech toleriert", fährt die Klassenlehrerin fort.

„Natürlich werde ich keine Ethnien und Minderheiten diskriminieren", kommt es aus einer der hinteren Reihen.

„Das glaube ich dir", nickt Frau Manning. „Aber trotzdem muss ich mit euch all die relevanten Regeln durchgehen."

„Was für Regeln gibt es noch?", zeigt Marcel auf. 

„Dinge, die in diesem Chat besprochen werden, werden nicht weitergeleitet und gescreenshottet", sagt die Klassenlehrerin und schreibt eine neue Regel an. 

Dann meldet sich Nora: „Ich finde, es sollten keine unnützen Nachrichten, Kettenbriefe und  Memes in der Gruppe gepostet werden."

„Ganz genau, keine Kettenbriefe und bitte auch keine Spam-Nachrichten", nickt Frau Manning.

„Uuuhh, wie langweilig!", kam es aus einer hinteren Reihe. „Das heißt dann wohl Witze und Memes ade."

„Hier handelt es sich um eine rein informative Gruppe", sagt die Lehrerin und fährt fort: "Jokes und witzige Memes könnt ihr privat unter euch austauschen."

 

Am Nachmittag geht Henrike mit ihrem Hund Wuff in einem Waldstück in der Nähe ihres Hauses spazieren. Der Schultag ist sogar ganz in Ordnung gewesen: sogar ganz ohne Beleidigungen, Sticheleien und andere Erniedrigungen. Gerade als sie an der Wetterschutzhütte vorbei geht, vernimmt sie ein leises "Pling Pling" aus ihrer Hosentasche. Voller Neugierde zieht sie ihr Handy hervor. Bestimmt hat ihr Jule auf ihre letzte Frage geantwortet oder ihre Mutter will wissen, wann sie nach Hause kommt. 

„+49722996431 hat dich zu der Gruppe: "Klasse 7c" hinzugefügt", steht auf dem Display ihres Handys. Es muss Frau Manning gewesen sein, die gerade Gruppe erstellt und jeden einzelnen Schüler nach und nach hinzugefügt hat. 

„Hallo liebe Schüler, ich habe nun die Gruppe erstellt und wünsche euch einen schönen Nachmittag!", schreibt Frau Manning kurz darauf.

„Moin, das ist nett von Ihnen", antwortet Nora und dann kehrt auch schon wieder Ruhe ein.

 

Am Abend verschwindet Henrike kurz nach dem Abendessen in ihrem Zimmer, da sie keine große Lust hat, sich mit ihrer Familie den Spielfilm anzuschauen, den sie bestimmt schon dreimal gesehen hat. Deshalb macht sie es sich lieber in ihrem Schaukelstuhl in ihrem Zimmer bequem und chattet mit Jule. Kurz darauf ploppt eine Nachricht auf, die nicht von Jule stammt. 

„+495732590411 hat dich zu der Gruppe: "Klasse 7c ohne Manning" hinzugefügt", liest sie im nächsten Moment. 

Isabella: „Heeyy Leutis, das wird die coolste Klassengruppe seitdem es Internet gibt!"

Leon: „Ohja, wir müssen eindeutig mehr zusammen als Klasse unternehmen."

Alina: „Wollen wir nicht mal zusammen in die Eishalle oder ins Bowlingcenter?"

Lilly: „Das müssen wir unbedingt!!!"

Ellen: „Ich wäre dabei :)"

Nach einer Weile hat Henrike keine Lust mehr den Chat mitzulesen und tauscht ihr Handy gegen ein spannenderes Jugendbuch ein.

 

Kurz bevor Henrike am nächsten Morgen vom Frühstückstisch aufsteht, checkt sie nochmal ihre Nachrichten.

„Hi Süße! Du bist ein flotter Feger und ich will mehr von dir sehen", hat ihr eine fremde Person geschrieben und ihr gefriert in diesem Moment das Blut in den Adern. Von wem mag diese Nachricht nur kommen? Auf dem Profilbild des Absenders ist eine Katze zu sehen. Henrike kann sich keinen Reim daraus machen, wer ihr die Nachricht geschickt haben könnte. Deshalb beschließt sie nicht darauf nicht zu antworten und läuft stattdessen die Treppe zum Badezimmer hoch, um sich die Zähne zu putzen. Wieder macht es "Pling".

„Wasch mal deine Pickelfresse, bevor du zur Schule gehst", lautet die nächste Antwort, die ebenfalls von einem anonymen Absender stammt. Von Panik ergriffen scannt Henrike ihr Spiegelbild und muss feststellen, dass sie vier markante Pickel zwischen Nase und Kinn hat. Kurzerhand nimmt sie sich einen Peelingschwamm und eine Hautreinigungscreme von ihrer Mutter und schrubbt damit solange ihr Gesicht, bis es puterrot ist. Anschließend trägt sie eine feuchtigkeitspendende Gesichtscreme auf. 

 

„Henrike, du musst langsam los! Der Bus fährt in einer Viertelstunde", vernimmt sie die Stimme ihrer Mutter aus dem Flur.

„Mama, ich kann nicht!", ruft Henrike gereizt und schreit dabei fast. 

„Meine Güte, Liebling! Wie siehst du denn aus?", steht ihre Mutter im nächsten Moment direkt neben ihr.

„Ich habe mir mein Gesicht gewaschen, weil ich mal wieder einige neue Pickel habe und nun sieht mein Gesicht aus wie ein Pavianpopo. Ich kann doch so nicht zur Schule", klingt Henrike verzweifelt und ist den Tränen nah. 

„Das ist doch alles kein Drama", nimmt ihre Mutter sie darauf kurz in den Arm und erzählt ihr, dass sie damals in ihrem Alter noch deutlich mehr Pickel gehabt hat. Anschließend gibt ihre Mutter ihr ein Aleoveragel, das gut für die gereizte Haut ist und Henrike rafft sich auf, um den Bus zu bekommen.

 

Am Freitagabend ist Henrike zusammen mit Jule bei ihrer Freundin Marieke zum Geburtstag eingeladen. Nach zwei Stunden im Bowlingcenter lassen die Mädchen den Abend bei Musik, Softdrinks und Snacks im Haus von Mariekes Tante ausklingen. Fritzi, wie Marieke ihre Tante nennt, hat Platz genug, sodass sieben Mädchen in zwei Gästezimmern bei ihr übernachten konnten. 

 „Ich habe euch gerade die Bilder vom Bowlen in die Gruppe geschickt", sagt Jule in die Runde. 

„Cool, das ist lieb von dir", bedankt sich Meryem, eine Schulfreundin von Marieke. 

„Ich hätte bestimmt noch 60 weitere Bilder und Videos", grinst Vanessa, eine weitere Schulfreundin.

„Ne, lass mal! Du machst ständig irgendwelche Quatschfotos", stupst Marieke sie an.

„Aber das Video, wo ich alle Pins umgehauen habe, poste ich aber", beharrt Vanessa.

 

Als Henrike auf ihr Handy schaut, entdeckt sie über 80 Nachrichten aus insgesamt sieben Chats. 

„Willst du mit mir vögeln? Du bist göttlich!", schreibt ihr eine anonyme Person, die ihr ein Bild von einem Sixpack mitgesandt hat, auf dem der Kopf nicht zu sehen ist.

„Du weißt, dass du die größte Außenseiterin der ganzen Stadt bist. Du wirst hier keine Freundin finden, du Versagerin", hat ihr wieder eine unbekannte Person mitzuteilen.

Im nächsten Chat wird sie als billige Schlampe betitelt, die in einem Bordell arbeiten soll. 

Henrike bleibt die Spucke weg, als sie die ganzen erniedrigenden und beleidigen Nachrichten liest und ein Klos setzt sich in ihrem Hals fest. Seitdem sie in ihrer Klassenchatgruppe ist, scheint sich nun auch ihr Handy sich gegen sie verschworen zu haben. Nun geht die Hexenjagd auch außerhalb der Schule los. Henrike kontrolliert genau, ob die Beleidigungen von ihren Klassenkameraden stammen und musste feststellen, dass ihre Peiniger keinerlei in einem Zusammenhang mit ihrer Klasse stehen. 

 

Auch im Klassenchat "Klasse 7c ohne Manning" geht es gerade heiß her. In Sekundenschnelle jagt eine Nachricht die nächste. 

Lilly: „Bock auf ein Ratespiel gegen Langweile?"

Leon: „Gerne, ich langweile mich gerade auf der Goldenen Hochzeit meines Großonkels zu Tode."

Maren: „Ich wäre mit von der Partie, Lil!"

Lilly: „Wer darf trotz einer Behinderung aufs Gymi gehen?"

Marcel: „Klar wie Klosbrühe! Unsere allerliebste H ..."

Madita: „Ich finde es schon ätzend, sie täglich zu sehen. Würg, mir wird übel!"

Sarah: „Ich finde sie auch echt blöd, aber habe es ihr noch nicht ins Gesicht gesagt. Meine Freundinnen und ich wollen sie auch nicht dabei haben."

Alex: „Bah! Wie kann man so behindert und minderbemittelt sein wie sie?"

Johanna: „All ihre Charakterzüge sprechen dafür, dass sie eine Autistin ist."

Lilly: „Das ist auch so, sie ist unfähig Freunde zu finden und kann nicht normal kommunizieren."

Fiona: „Ihr regt euch deswegen auf, weil sie eine Autistin sein soll?! In meinen Augen ist ihr Mundgeruch noch ein schlimmeres Problem."

Jonas: „Meine Mutter arbeitet in einer Zahnarztpraxis und kann da etwas empfehlen, was dagegen hilft."

 

Wenige Sekunden später postet Jana ein Bild von Henrike, auf dem sie weinend im Klassenraum sitzt. Dieses Foto musste von letzter Woche stammen, als Jonas und Alexander ihr Zettel mit Beleidigungen auf den Rücken geklebt haben und Henrike anschließend anfing zu weinen. 

Angelina: „Die heult auch bei jeder Gelegenheit."

Marcel: „Übelste Heulboje!"

Fiona: „Ja eben, heute doch auch und nur weil niemand mit ihr in Englisch zusammenarbeiten wollte."

Margret: „Ich habe eigentlich nichts gegen H, aber ich HASSE IHR DAUERHEULEN."

Jonas: „Ist eben ne Kackbitch!"

Nora: „Sagt mal, geht's noch?! Wie könnt ihr Henrike so fertig machen?"

Alina: „Genau, das ist unter der Gürtellinie! Im Gegensatz zu euch Zombies hat sie noch Gefühle."

David: „Wenn ihr das nicht lasst, dann gehe ich zum Schulleiter!"

 

Von einer ungeheuren Wut ergriffen stürmt Henrike raus aus dem Zimmer und sperrt sich im Badezimmer ein. 

Mit zitterndem Zeigefinger drückt sie auf den Button für eine Sprachnachricht: „Wie könnt ihr es wagen, so eine Scheiße über mich zu erzählen und mich so zu erniedrigen, ihr Rotzgören? Ich werde es anzeigen und ich sorge, dass ihr Idioten alle von der Schule fliegt."

Nachdem sie all ihre Wut in ihr Handy geschrieen hat, lässt sie sich auf dem Toilettendeckel nieder und wird zwei Minuten lang von einem Weinkrampf geschüttelt. Die Tränen stürzen ohne Ende wie reißende Ströme aus ihren Augen und Henrike bekommt zwischen all den Schluchzern kaum noch Luft. 

Zu allem Überfluss hat Lilly sie noch aus der Gruppe entfernt, bevor sie Screenshots machen kann. 

„Henrike!", vernimmt sie die Stimme ihrer Freundinnen und ihr Name wird mehrfach wiederholt.

„Henrike, mach endlich die Tür auf! Ich finde es nicht witzig, dass du dich hier einsperrst", wird Mariekes Stimme zunehmend aggressiver und lauter. Nach kurzem Zögern schleicht Henrike zur Tür und dreht den Schlüssel. Wenige Sekunden später lässt sie sich weinend in die Arme von Marieke und Jule fallen.

 

Damit die Mädchen wieder zur Ruhe kommen, haben sie sich zu Fritzi, Mariekes Tante ins Wohnzimmer gesetzt und sind zur Beruhigung der Nerven mit warmen Kakao und Waffeln versorgt worden.

„Hast du schon mit deinen Eltern darüber gesprochen? Das was dir erfährt, ist ja grauenvoll", sah Mariekes Tante Henrike schockiert an.

„Nein, was soll sich daran nur ändern? Soll ich noch schlimmer gedisst werden, als ich sowieso schon werde", schnieft Henrike, während ihr Jule den Rücken streichelt.

„Das ist ekelhaftestes Mobbing!", springt Vanessa wütend aus dem Sessel auf. „Ich wurde auch schon geärgert und als "Negerin" beschimpft und das nur wegen meiner Hautfarbe."

„Mach unbedingt Screenshots!", mischt sich Kristin, ein Mädchen mit langen blonden Zöpfen ein. 

„Kann ich nicht. Ich bin nicht mehr in der Gruppe, weil ich entfernt wurde", sagt Henrike weinerlich. 

„Feige! Erbärmlich! Wie kann man so eklig sein?", empört sich Meryem.

„Henrike, deine scheiß Klasse ruiniert mir gerade meinen Geburtstag", wird Marieke mit einem Mal stinkwütend.

„Und das lassen wir uns nicht bieten", fügt Jule dem kämpferisch bei.

 

Am Samstagvormittag wird Henrike von ihrer Mutter abgeholt und verschwindet sofort auf ihrem Zimmer. Gerade als sie ihre Tasche auspackt, klingelt ihr Handy.

„Hi, hier ist Nora!", meldet sich ihre Klassenkameradin.

„Hi, was gibt es?"

„Du weißt schon, wegen diesem blöden Chat."

„Was soll da schon großartig sein?"

„Ich bin immer noch krass geschockt, was da gestern abging. Lilly und Co haben sie nicht mehr alle!"

„Wurde noch mehr über mich gelästert?"

„Nein, die Nachrichten wurden nach und nach gelöscht. Offenbar haben sie nun doch Bammel, dass es ans Tageslicht kommt. Leider war ich so perplex, dass ich keine Screenshots machen konnte."

„Ich habe leider auch keine Screenshots gemacht."

„Henrike, es tut mir so leid, dass du seit Monaten so gemobbt wirst. Aber was soll ich tun? Ich habe doch selbst Angst und auch Sarah ist mir manchmal echt nicht geheuer. Sie ist manchmal echt jähzornig und gemein, aber sie ist damit auch der beste Schutz für mich und meine Freundinnnen."

 

Das Telefonat ist nach knapp zehn Minuten vorbei und Henrike fühlt sich nun noch mehr emotional verwirrt als vorher. Warum mag Nora sie angeblich, aber will nicht mit ihr zusammen gesehen werden? Allein, dass niemand von ihrem Telefonat erfahren darf, versetzt ihr einen messerscharfen Stich. Erst als Björn und Rosanna vor dem Mittagessen bei ihr klingeln und sie zusammen auf der Auffahrt eine Runde Basketball spielen, gelingt es Henrike ihre durcheinander gewirbelten Gedanken wieder zu sortieren.

„Deine Klasse ist echt unter aller Sau", zeigt sich Björn empört, als Henrike ihnen von der Cybermobbingattacke erzählt.

„Denen müsste man mal Juckpulver in ihre Klamotten tun, damit die sich mal stundenlang kratzen müssen", findet Rosanna.

„Hast du Screenshots gemacht?", will Björn wissen.

„Leider nur von einigen anynomen Beleidigungen, sofern ich von denen nicht blockiert wurde", erwidert Henrike.

„Ich wette, dass bei diesen anonymen Beleidigungen deine Mitschüler auch ihre Finger im Spiel haben", sieht Björn sie wütend an.

9.Kapitel: Endlich Zeugnisferien

Als Henrike an einem Tag kurz vor den Halbjahresferien nach Hause kommt, wird sie sofort von ihrer Mutter an der Haustür empfangen. Irgendetwas stimmt mit ihr nicht, das sieht Henrike sofort. Ihre Mutter sieht wütend und aufgebracht aus. Das erkennt sie an den Falten zwischen den Augen. Ihre Mutter hat immer diese "Sorgenfalten" zwischen den Augen, wenn etwas nicht in Ordnung ist.

„Henrike, ich muss mit dir reden!“, sagt ihre Mutter mit Nachdruck und fährt fort: „Ich habe vorhin die Mutter von Björn und Rosanna im Supermarkt getroffen, sie hat mir erzählt, dass du in der Schule von deinen Mitschülern gemieden und gemobbt wirst. Stimmt das?“

Henrike hat es schon befürchtet, dass ihre Mutter sie ansprechen wird. Eigentlich hat sie sich es vorgenommen, zuhause nichts davon zu erzählen, zumal ihre Eltern auf ihrer Arbeit schon genug gestresst sind.

 

Sie nickt stumm und bricht danach in Tränen aus.

„Meine Klasse ist unglaublich fies zu mir“, schluchzt sie. „Ich weiß gar nicht, was ich falsch mache, aber vermutlich bin ich selber falsch, deshalb, ärgern sie mich.“

Henrikes Mutter ist entsetzt: „Henrike, es ist ein halbes Jahr her, als wir hier hingezogen sind. Seit über vier Monaten gehst du auf die neue Schule, das erste Halbjahr ist fast rum und in einer Woche gibt es Halbjahreszeugnisse. Wieso hast du mir immer gesagt es sei alles "Friede, Freude, Eierkuchen", obwohl dir deine Mitschüler den Alltag zur Hölle machen. Ich hab mich schon gewundert, warum du dich nicht mit ihnen verabredest und warum keiner freiwillig bei uns anruft, so wie es früher in Kreuzlingen war. Deine Klassenkameraden haben kein Recht dich zu schikanieren, du hättest mich vorher informieren müssen, bevor es so schlimm wurde. Ich werde bei deiner Klassenlehrerin anrufen, dass so etwas nicht geht. Aber zuerst erzählst du mir, was in deiner Klasse los ist!“

 

„Erst kam ich mit manchen Mädchen ganz gut klar, aber Isabella, Lilly und Jana mochten mich schon am ersten Schultag nicht leiden. Sie haben fiese Gerüchte über mich verbreitet und mich vor der Klasse bloßgestellt und dann haben immer mehr meiner Klassenkameraden mitgemacht, mich zu mobben. Die Mädchenclique hat alle Mädchen und fast die ganze Klasse gegen mich aufgehetzt. Sie beleidigen, verletzen, schneiden mich und stellen mich vor der ganzen Klasse bloß. Vor einigen Wochen wurde ich über den Klassenchat beleidigt und bloßgestellt. Zudem schrieben mir anynome Personen irgendwelche Beleidigungen“, erzählt Henrike mit tränenerstickter Stimme.

„So etwas darf nicht passieren!“, sagt Henrikes Mutter entsetzt. „Und wieso erzählst du nichts, wenn du nun sogar über den Chat beleidigt und bloßgestellt wirst? Hast du noch Beweise für die Anfeindungen, wie z.B. Screenshots?“

„Ja, ein paar Screenshots habe ich noch auf meinem Handy", nickt Henrike schwach.

„Also, das lass ich mir echt nicht bieten!", tobt ihre Mutter. „Ich melde das Mobbing in allen Facetten der Schule. Ist dir bewusst, dass du von krank werden kannst?"

„Wie denn?“, fragt Henrike beunruhigt.

„Indem du davon Depressionen, Bauch-, Kopf- und Halsschmerzen davon bekommst, Schulangst entwickelst und unter Schlafstörungen leidest“, antwortet sie.

 

Im nächsten Augenblick läutet es an der Haustür. Es ist Miriam, die auf dem Podest steht.

„Komm ruhig rein, Miriam! Willst du etwas trinken?“, fragt Henrikes Mutter. Miriam schüttelt den Kopf und sagt: „Ich bin gekommen, um Henrike etwas mitzuteilen.“

Dennoch entgehen ihr Henrikes geröteten Augen nicht und hakt vorsichtig nach: „Henrike, was ist los mit dir? Hast du geweint?“

Henrike nickt stumm, aber Miriam stochert immer noch weiter nach: „Wieso? Wenn du geweint hast, dann muss dir etwas Schlimmes passiert sein.“

„Mir passiert ständig Schlimmes, besonders in der Schule, wo ich jeden Tag beleidigt und ausgegrenzt werde. Ich weiß nicht, warum sie es tun, ich muss es schon beinah ein halbes Jahr über mich ergehen lassen“, antwortet Henrike leise und ihr kommen schon wieder die Tränen.

 

Miriam gibt ihr ein Taschentuch, legt ihren Arm um Henrike und tröstet sie: „Ich weiß wie grausam es ist gemobbt zu werden, ich habe es selber schon erlebt. Meine Klassenkameraden haben mich wegen meiner roten Haare und der vielen Sommersprossen „Hexe“ genannt, haben Abstand von mir genommen und sich vor mir geekelt. Sie haben mich ausgelacht, weil ich kleiner war als die anderen und behaupteten ich wäre fett. Sie warfen öfter Gegenstände nach mir und behandelten mich meistens wie Luft.“

Henrike betrachtet Miriam etwas genauer: Sie ist wirklich fast zehn Zentimeter kleiner als sie, ein bisschen kräftiger als sie, dabei fallen besonders ihre kräftigen Beine auf. Ihre karottenroten Haare hängen zu zwei Zöpfen geflochten bis zur Schulter herunter, auf ihrem Gesicht tummeln sich unzählige Sommersprossen und ihre grün-blauen Augen funkeln geheimnisvoll. Nach langem Nachdenken bricht Henrike ihr Schweigen: „Ich habe dich gerade etwas länger beobachtet und habe viele Dinge an dir gesehen, die an dir noch erkannt habe, z. B. deine leuchtenden Augen, meine sind blau-grau und nicht so schön wie deine. Du hast außerdem so ein schönes, seidges Haar. Zudem bist du ein Stück kleiner bist als ich. Weißt du was mir wichtig ist? Ich achte nicht so sehr auf das Äußere, sondern ich gucke wie der Charakter eines Mensches ist. Das Aussehen und das Können ist für eine Freundschaft nicht so wichtig, sondern das Innere zählt.“

 

Miriam meldet sich wieder zu Wort: „Ricky, du hast Recht. Wir und unsere Freunde aus der Sportgruppe sind die Wenigen, die das wissen. Aber Daniela und Patrick achten darauf, dass keiner ausgegrenzt oder geärgert wird, deshalb haben wir einen echt guten Teamgeist.“

Henrike und Miriam trinken kurz darauf gemeinsam eine Tasse heiße Schokolade im Wohnzimmer. Miriam fällt wieder ein, was sie eigentlich sagen will.

„Ach ich hätte fast vergessen, dir zu sagen, dass in vier Tagen unsere Winterfete ist. Daniela hat gesagt, du sollst Lebkuchen und Kinderpunsch besorgen. Am Freitag um drei Uhr treffen wir uns an der Sporthalle. Wenn immer noch Schnee liegt, dann bring deinen Schlitten mit. Sonst dürfen wir auch Familie und Freunde mitbringen“, teilt sie Henrike mit. Henrike freut sich schon auf Freitag, nur drei Schulstunden, Zeugnis, dann ab nach Hause und nachmittags ein tolles Winterfest.

 

 Eine Woche darauf gibt es die Halbjahreszeugnisse. Frau Manning steht am Pult, sie ruft jeden Schüler einzeln nach, um ihm das Zeugnis zu überreichen.

„Johanna Linz!“, Frau bittet Johanna nach vorne. „Du hast ein wirklich schönes Zeugnis mit vielen Einsen und Zweien, hoffentlich kannst du diese Noten im zweiten Halbjahr halten“.

Die Klasse klatscht einen begeisterten Beifall, wie sie es bei jedem ihrer Klassenkameraden tun.

„Henrike Lustenberg, komm bitte nach vorne!“, sagt die Klassenlehrerin. Henrike erhebt sich ruckartig von ihrem Platz, sie merkt schon jetzt die bohrenden und abwertende Blicke ihrer Mitschüler.

„Also Henrike, du bist noch nicht gefährdet sitzen zu bleiben, aber deine viele Vieren, könntest du auch noch verbessern“, gibt ihr Frau Manning auf den Weg. Die Klasse schweigt, keiner klatscht, nur manchmal bricht an der einen und anderen Stellen Gekicher und Getuschel aus. Schweigend und leicht enttäuscht setzt sich Henrike auf ihren Platz. Leider hatte sie mehrere Vieren in Englisch, Mathematik, Religion, Physik, Geschichte und Französisch. Wenigstens in Deutsch, Sport, Biologie und Kunst steht sie auf Zwei. Es klingelt, Henrike stürmt als einer der Ersten aus dem Schulgebäude. Erleichtert springt sie kurz in die Höhe: vier Tage keine Schule, heute Nachmittag ein Winterfest und Jule übernachtet die nächsten beiden Tage bei ihr.

 

 Nach der Schule treffen sich Henrike und Jule am ZOB.

„Und wie sind deine Noten“, fragt Jule.

„Geht so, nicht besonders schlecht, noch besonders gut“, antwortet Henrike knapp.

„Ich kann mich über meine Noten echt nicht beklagen", strahlt Jule und im nächsten Moment kommt auch schon ihr Bus. Zuhause hat ihre Mutter Spagetti, Henrikes Lieblingsgericht gekocht und Jule ist zum Essen eingeladen. Nach dem Essen ruhen sich die beiden Freundinnen noch eine Weile in Henrikes Zimmer aus und hören Musik.

Ding Dong! Henrike stürmt zur Tür. Es sind Björn und Rosanna mit ihren Schlitten, die pünktlich um drei auf der Matte stehen.

„Hi, wir wollen euch abholen“, begrüßt Björn die beiden Freundinnen.

„Vergesst bloß eure Schlitten nicht!“, ergänzt Rosanna. So schnell es geht, schlüpfen Jule, Henrike und die Zwillinge Malte und Elisa in ihre Schneeanzüge und holen ihre Schlitten. Vor der der Turnhalle, stehen schon viele der Kinder mit ihren Eltern, Geschwistern oder Freunden. Daniela und Pattrick stehen im Mittelpunkt.

„Hallo, ihr Sechs, ihr seid die Letzten, auf die wir gewartet haben, schön, dass ihr da seid und wir gleich losgehen können“, begrüßt Patrick sie. Auch Daniela verschafft sich Aufmerksamkeit: „Da wir alle vollzählig sind, bringt eure Sachen die ihr mitgebracht haben in die Turnhalle, dort haben wir eine lange Tafel aufgebaut, wo ihr die Sachen drauflegen sollt.“

 

Danach zieht der Tross mit ihren Schlitten los, hinter der Turnhalle ist ein Sportplatz, dahinter befindet sich ein Hügel mit einem langen Abhang. Als alle da sind, fährt jeder sofort einmal den Abhang hinunter. Danach werden Wettrennen veranstaltet und Schlitten aneinander gebunden. Slamonfahren, Schnellballschlachten und der Bau eines riesigen Schneemanns dürfen ebenfalls nicht fehlen. Henrike und ihre Freunde hängen mehrere Schlitten hintereinander. Auf dem ersten Schlitten sitzen Miriam und Jule, auf dem Schlitten dahinter Marieke und Henrike, auf dem dritten Schlitten sitzen Rosanna und Björn. Als letztes hängen sich die jüngeren Geschwister von Henrike ihren Schlitten an die Schlittenkette.

„Oh, zu Acht den Abhang runter zu fahren ist nicht ungefährlich“, ruft Daniela warnend. „Aber ihr müsst die Erfahrung selber machen!“

Die Schlittenkette setzt sich langsam in Bewegung und wird immer schneller.

„Ahh, wir sind zu schnell!“, schreit Miriam.

„Miri, nicht bremsen, sonst stellt sich unser Schlitten quer!“, ruft Jule hinter ihr warnend. Der erste Schlitten blockiert die die hinteren Schlitten und alle anderen Schlitten geraten außer Kontrolle. Jule und Miriam springen vor Angst ab, Henrike und Marieke purzeln den Abhang hinunter und die anderen Kinder fallen auch nacheinander von ihren Schlitten. Lachend wälzen sich die Kinder im Schnee, nur Elisa weint immer noch vor Schreck. Nach einer Partie Schneeball, haben sie von dem ganzen Action genug und helfen beim Bau einer Schneefrau mit. Bei Einbruch der Dämmerung geht der Tross zur Turnhalle zurück.

 

 Henrike fühlt, wie sie auftaut, als sie die Turnhalle betritt. Es ist mollig warm, so dass sie ihre Wintersachen in der Umkleidekabine ausziehen und ihre Winterschuhe gegen Puschen eintauschen konnten. In der Turnhalle selbst ist eine lange Tafel mit dem Essen aufgebaut und rundherum stehen mehrere Gruppentische. Henrike setzt sich mit ihren Freunden und ihren Geschwistern an einem der Tische. Während sie essen und trinken, setzt sich Daniela zu ihnen, sie  fragt jeden, wie sein Zeugnis war und wie es ihm in der Schule geht.  

„Zeugnis schlecht und Klasse scheiße“, sagt Henrike trocken, als sie gefragt wird.

„Wieso das? Das hätte ich nicht erwartet“, sieht  Daniela sie überrascht an. „Ich habe gedacht du bist eine gute Schülerin, auf jeden Fall bist du intelligent und sozial stark.“

 

„Hier schon, aber Danny, stell dir vor, dich würde die ganze Klasse hassen und mobben, so wie es bei mir ist. Könntest du dich noch auf den Unterricht konzentrieren, wenn du ständig ausgelacht wirst, Mitschüler fiese Sprüche über dich machen, dich ausgrenzen und schikanieren, wann immer sie wollen?“, antwortet Henrike.

„Aber wieso nehmen sie ausgerechnet dich zum mobben?“, bohrt Daniela weiter nach.

„Das weiß keiner ganz genau. Aber die Mitschüler sagen, dass ich uncool bin, nicht richtig sprechen kann, meine Kleidung nicht up-to-date ist und ich neu in der Klasse bin. Na ja, ich wirklich nicht so cool wie z.B. Lilly, Jana, Maren oder Johanna, sie stylen sich richtig für die Schule auf. Sie sind bei allen Mitschülern total beliebt und sehen immer gut aus.“

 

Daniela sagt: „Ganz ehrlich, Ricky, solche Mädchen sind nicht cool. Sie sind arrogant und haben bestimmt selbst Angst gemobbt zu werden. Sie nur in der Gruppe stark, wenn sie alleine sind, rennen weg, wenn sie angepöbelt werden oder weinen sogar. Gut aussehen, große Klappe haben und sich auf spielen ist nicht cool. Toleranz, Engagement, Freundschaft, Teamgeist, Liebe, Akzeptanz und Hilfsbereitschaft sind die wahren Werte. Hast du noch nie darüber nachgedacht, dass solche Mädchen wie Jana oder Lilly auch Selbstzweifel und ein geringes Selbstbewusstsein haben?“

„Wie soll ich das sehen, wenn sie die ganze Klasse dominieren?“, sagt Henrike entrüstet.

„Man sieht erst wie feige und unsicher sie sind, wenn sie alleine sind und ihre Freunde nicht für sie da sind. Sie haben die wichtigsten sozialen Werte nicht erlernt. Mobbing, Machtdemonstration, Ausgrenzung und Angeberei sind total uncool“, erklärt ihr Daniela. „Bei uns lernen die Kinder diese Werte und den Umgang mit anderen Menschen. Sport soll Menschen verbinden und nicht gegeneinander aufbringen.“ 

Henrike verbringt einen wunderschönen Abend mit all ihren Freunden und unterhält sich auch locker mit den anderen Leuten. Erst als es sehr spät ist und ihre Mutter sie auf ihrem Handy anruft, geht Henrike mit Jule und ihren Geschwistern nach Hause.

 

10. Kapitel: Henrike hat die Schnauze voll

Die Winterferien sind im Nu vorbei, die Tage ohne ihre Klassenkameraden haben Henrike Kraft gespendet. Lustlos verlässt sie an dem Morgen, als es wieder an der Zeit ist in die Schule zu gehen, das Haus. Als Henrike die Pausenhalle betritt, wird sie von Madita, Maren, Jana, Johanna und vier Jungs aus ihrer Klasse empfangen. Mit finseren Blicken ziehen sie Henrike in die hinterste Ecke der Pausenhalle. Johanna beginnt: „Hennirikikiki, du blöde Kuh! Am Zeugnistag wurden wir von Frau Mannig wegen dir zum Direktor zitiert. Du hast uns ganz viel Ärger eingebrockt, nur wegen dir müssen wir die ganze Woche jeden Tag eine Stunde nach sitzen. Boa, ganz ehrlich, du kannst nicht anderes als zu petzen und zu deiner Mutti laufen und dich dort ausheulen!“

Die rotblonde Madita, die sich meist aus den Ärgereien raushält, tritt Henrike kräftig gegen das Schienbein.

 

Henrike wird knallrot und schreit: „Wer ist daran Schuld, dass ihr Ärger kriegt? Ganz bestimmt ihr selber. Könnt ihr verstehen, dass ich euer Gemobbe und eure Schikane nicht länger ertragen kann. Es geschieht euch ganz Recht, dass ihr Ärger bekommt und wieso könnt ihr mich nicht akzeptieren wie ich bin?“

„Weil du hässlich und feige bist! Zudem fängst du immer gleich an zu weinen“, faucht Maren.

„Guck dich doch mal im Spiegel an! Du wirst doch ohnmächtig, wenn du dich selbst siehst“, sagt Jana zynisch.

„Tue ich ganz bestimmt nicht“, zischt Henrike wütend. „Habt ihr immer noch nicht geschnallt, dass ich mich mag, so wie ich bin?“

„Du kannst sowieso nur petzen und Lügen erzählen“, meldet sich Madita, die inzwischen auch im Kreis steht, zu Wort: „Nur weil du es deiner Mutti gesagt hast, hat die natürlich unsere Frau Manning angerufen daher durften Lilly, Isa, Jana, Jojo und Lara nur wegen dir nachsitzen. Am Tag der Zeugnisausgabe hatten sie ein langes Gespräch mit Frau Manning und dem Schulleiter. Sie werden schlechte Bemerkungen auf dem Zeugnis kriegen. Alles wegen deiner Petzerei!“

 

„Wenn du willst, dass wir nett zu dir sind, musst du dich gewaltig ändern. So wie du jetzt rum läufst, würde jedem schlecht werden. Binde dir endlich deine zotteligen Haare zusammen oder mach dir Zöpfe oder Haarbänder rein, wie wir auch. Zieh dir doch mal Jeans an, anstatt deiner Schlabberhosen. Ich würde dir empfehlen, neue Schuhe zu kaufen, denn in Wanderstiefeln läuft außer dir keiner mit rum und warum trägst du nie Schmuck? Ich weiß, du bist anders als wir, aber trotzdem kannst du dich auch einmal ändern. Ich war früher auch so wie du und auch ich habe es geschafft mich modischer zu kleiden“, sagt Ellen, die dem Kreis beigetreten ist. Normalerweise ist sie eine derjenigen, die Henrike in Ruhe lässt. Henrike stehen die Tränen in den Augen und ihr Frosch im Hals wächst auf eine überfröschliche Größe, sodass ihr jedes Wort stecken bleibt.

 

Auf Henrikes Platz liegt ein Brief. „Zur Versöhnung“ steht auf dem Umschlag. Obwohl Henrikes Hand zittert und ihr Puls zu rasen anfängt, öffnet sie den Umschlag. Sie liest den ganzen Brief, „Liebe Henrike, es steht uns sehr leid, wie wir dich behandelt haben. Wir alle wollen uns mit dir vertragen und dir mit gut ausgekommen. Aber wir wollen auch, dass du deinen Teil dazu beisteuerst:

1.Kauf dir Jeans, Stiefel, Sweatshirts und T-Shirts mit Ausschnitt. Lass dir Ohrlöcher stechen, damit du auch coole Ohrringe tragen kannst. Das ist ein Must-have bei Mädchen.

2. Besuche einen Tanzkurs, gehe reiten oder melde dich zu schwimmen an, weil das Mädchensportarten sind.

3. Schmink dich mal (davor musst du dir natürlich das Gesicht mit Seife waschen, damit es nicht mehr dreckig ist)

4. Benutze Deo, sonst gibt es Stinkalarm!

5. Isabella und Lilly bieten dir eine gratis Stylingberatung an :)

6.Werde selbstbewusster und lass nicht immer deine Freundinnen und Eltern für dich sprechen (wie vor kurzem im Kaufhaus)!

7.Trete deine dreckigen Schuhe ab, bevor du das Klassenzimmer betrittst!

8. Sei nicht so komisch und bitte werde lockerer und lustiger!

9. Leg deinen merkwürdigen Schweizer Akzent ab!

10. Halte dich an unsere Vereinbahrungen!!!

Es ist kein Witz, wir wollen mit dir zurechtkommen und dich integrieren, aber dafür musst du dich ändern. Bleibst du so, können wir nicht akzeptieren und wir raten dir auf eine andere Schule zu gehen. Deine Klasse 7c

 

Henrike kann sich kaum auf den Unterricht konzentrieren. Dieser abscheuliche Brief kommt beinahe einer Erpessung gleich. Bestimmt hat Lilly ihn geschrieben. Nur weil sie die Klassensprecherin ist, meint sie, dass sie sich alles erlauben kann! Henrike bastelt sich im Kopf einen Plan zurecht: Sie will in der großen Pause abhauen, denn sie hat all diese Demütigungen satt. Als es zur Pause klingelt, steht sie vor der großen Entscheidung. Soll sie abhauen oder nicht? Noch nie im ihrem Leben, hat sie Schule geschwänzt oder ist weg gelaufen. Auf dem Schulhof sind so viele Leute, dass würde auffallen, wenn sie verschwinden würde. Alleine schlendert Henrike mit ihrer Schultasche auf dem Rücken über den Schulhof und sucht eine Möglichkeit zu entwischen. Plötzlich steht eine Lehrerin vor ihr und fragt, warum sie über die Straße will.

„Nein, ich will doch gar nicht über die Straße", antwortet Henrike schnell. Nun musste sie sich einen neuen Plan ausdenken, wie sie entkommen kann. Schließlich kommt sie an ihrem „Tränenbusch“ vorbei.

„Das ist es!“, denkt sie, „Jetzt sieht mich niemand mehr.“

 

Hinter dem Busch ist niemand mehr und der Lärm der Schüler kommt nur noch gedämpft zu ihr rüber. Sie schleicht vorsichtig weiter, sie krabbelt durch mehrere Büsche, bis sie aus Unachtsamkeit gegen einen Zaun läuft. Henrike verzieht ihr Gesicht und reibt ihr schmerzendes Knie. Schnell klettert sie über ihn drüber und landet in einem Garten, in dem Moment hört sie, dass es zum Pausenschluss klingelt. Auf Zehenspitzen durchquert sie den Garten und läuft um das Haus herum. Bald landet sie auf einer Straße, die Henrike immer weiter verfolgt. Rasch wirft sie einen Blick auf ihr Handy, um zu wissen, ob jemand noch etwas geschrieben hat. Gerade als sie den Klassenchat öffnet, werden ihr dort über acht ungelesene Nachrichten angezeigt.

 

Frau Manning: „Wo befindest du dich, Henrike? Die Pause ist seit einer Viertelstunde rum und du bist nicht zum Unterricht erschienen."

Lilly: „Henrike, wo steckst du? Johanna, Alex, Isabella, Leon, David, Ellen und ich suchen den ganzen Schulhof nach dir ab."

Isabella: „Es ist echt nicht witzig, einfach so wegzulaufen. Frau Manning und wir machen uns riesige Sorgen."

Rene: „Ohne scheiß, Frau Manning ruft die Polizei, wenn du dich nicht meldest."

Maren: „Henrike, wie kann man nur so egoistisch sein und alle in Panik versetzen? Wir dachten zwischenzeitlich, du wärst entführt worden wärst."

Jana: „Du machst uns es deutlich einfacher, wenn du uns eben ein Update schickst."

Ellen: „Chillt mal! Sie taucht schon wieder auf."

Nora: „Ganz genau!"

 

Ohne zu antworten macht sie ihr Handy aus und läuft schnurrstracks weiter. An einer Bushaltestelle macht sie Halt und nimmt den nächsten Bus. Nun befindet sich Henrike auf den Weg in die Innenstadt. Im Gegensatz zur Mittagzeit sitzen nur wenige Fahrgäste im Bus. Als der Bus am Hafen hält, steigt sie aus und geht in die City. Auf einer Bank macht sie eine Pause und holt ihr Butterbrot heraus. Sie lauscht den Straßengeräuschen und dem Kreischen der Möwen. Danach läuft sie durch die Fußgängerzonen und Shoppingmeilen. An einem Einzelhandelsladen für Mode bleibt Henrike stehen. Dieses Geschäfft gehörte den Eltern von Jule. Ab und zu ist sie dort mit ihrer Freundin drin gewesen, um zu stöbern. In diesem Moment wagt sie keinen Schritt in den Laden, da eventuell Jules Mutter am Verkaufstresen stehen könnte. Auf keinen Fall will sie das Risiko eingehen von Jules Mutter gesehen zu werden und dutzende Fragen über sich ergehen zu lassen, warum sie nicht in der Schule sei. Stattdessen holte sie sich am Hafen ein Fischbrötchen und dazu noch eine Dose Sprite.

 

 Am Nachmittag, als Henrike zuhause ankommt, ist der Ärger groß. Ihre Mutter zitiert sie zu sich ins Arbeitszimmer, wo sie auf einem Stuhl platz nehmen muss.

„Henrike, ich muss mit dir ein ernstes Wörtchen reden!“, schimpft ihre Mutter, „Deine Lehrerin hat vorhin angerufen, dass du einfach verschwunden bist und sie hat erst einmal die Polizei gerufen. Das geht nicht. Hast du das verstanden? Ich werde gleich deine Klassenlehrerin und die Polizei anrufen und ihnen mitteilen, dass du zuhause bist, damit sie sich aufhört Sorgen zu machen. Henrike, sag mal,  warum hast du das getan? Möchtest du eventuell einen Schulausschluss riskieren?“

Nach der Standpauke ihrer Mutter fällt es Henrike schwer, etwas zu erwidern. 

Dann sagt sie zaghaft: „Na ja, also ich habe nicht böse gemeint. Ich wollte dich nicht böse machen. Das war so, ich hatte die Schnauze voll von dem Gemobbe meiner Klassenkameraden. Sie hacken ständig auf mir herum, obwohl ich gar nichts getan habe. Es reicht wohl, dass ich da bin. Mal ganz ehrlich, ich will nicht mehr diese Schule besuchen.“

Kommentarlos drückt sie ihrer Mutter den „Versöhnungsbrief“ in die Hand, den ihre Mutter anfängt zu lesen.

„Dieser Brif ist eine Unverschämtheit!“, ruft ihre Mutter. „Henrike, wer könnte ihn geschrieben haben?“

Henrike denkt kurz nach: „Das ist Lillys Handschrift, aber auch Isabella und Jana könnten ihn geschrieben haben. Dieses Trio macht mich am schlimmsten fertig.“

„Ich werde Frau Manning auf den Brief ansprechen. Derjenige, der ihn geschrieben hat, braucht einen großen Einlauf“, stellt ihre Mutter eindeutig klar.

 

Frau Manning verspricht Henrikes Mutter am Telefon, härter gegen das Mobbing vorzugehen und mit den betreffenden Schüler ein ernstes Wort zu reden.

„Mama, willst du mich noch länger auf dieser Schule lassen?“, fragt Henrike sofort nach dem Telefonat.

„Du sollst erstmal auf dieser Schule bleiben“, antwortet ihre Mutter. „Frau Manning will etwas gegen das Mobbing machen und dich darin unterstützen, dass du Anschluss bei deinen Klassenkameraden findest.“

„Inzwischen möchte ich nicht mehr mit Lilly, Isabella, Jana, Marcel und meinen anderen Mitschülern befreundet sein“, lehnt Henrike rigoros ab. „Ich kann ihnen überhaupt nicht mehr vertrauen. Bestimmt hassen sie mich nach der Standpauke noch mehr.“  

„Warte es doch erstmal ab, es renkt sich bestimmt wieder ein!“, sagt ihre Mutter ermunternd.

„Mama, du hast ja keine Ahnung!“, regt sich Henrike auf. „Du weißt gar nicht wie schlimm das für mich ist, du unterschätzt die Situation!“

„Frau Manning und ich wollen dir nur helfen!“, entgegnet ihre Mutter im gleichen Tonfall. „Entweder du lässt zu, dass wir dir helfen oder eben nicht!“

Noch bevor Henrike die Tränen kommen konnten, rennt sie wütend die Treppe hinauf in ihr Zimmer.

 

Oben in ihrem Zimmer heult sich Henrike fast eine halbe Stunde lang die Augen aus dem Kopf.

„Ich werde nie wieder diese Schule betreten, viel lieber würde ich vom Dach eines Hochhauses springen oder mich vor einen Zug schmeißen", sagte sie weinend zu ihrem Stofftiererdmännchen, das sie fest in ihre Arme geschlossen hat. In der Schreibtischschublade findet sie ein grünes Notizbüchlein. Sie schlägt es auf. Alle Seiten waren noch unbeschrieben. „Mobbing ist wie ein Messer", beginnt sie in das Büchlein zu schreiben. „Messer können Dinge zerschneiden und das kann Mobbing auch. Nun habe ich gar keinen mehr in der Klasse, der mich leiden kann. Ellen hat mich auch vor der ersten Stunde angefeindet. Alina und Nora reden nun gar nicht mehr mit mir und David nimmt mich nicht mehr in Schutz. Ich glaube, meine Seele wird nun zerschnitten und fängt an zu verbluten. Ich will nicht mehr! Nie wieder will ich diese Schule mehr sehen. Es wäre für mich sogar leichter mein Leben wegzuwerfen oder mich in Staub aufzulösen, als dort weiterhin zur Schule zu gehen."

 

Die negative Gedankenspirale lässt sie nicht mehr los. Als Henrike sich in Erinnerung ruft, dass sich Jule, Miriam und Björn sich bei ihr seit einigen Tagen nicht mehr gemeldet haben, rollen ihr erneut die Tränen über die Wangen.

„Wer will schon freiwillig mit mir befreundet sein? Ich bin doch uncool, dumm und hässlich. Kein Wunder, dass ich meist allein bin. Ich bin es doch nicht wert, dass andere gut mit mir befreundet sind. Immer bin ich diejenige, die sich melden muss", jagt ihr der nächste düstere Gedanke durch den Kopf. Nun fühlt sich noch minderwertiger und elendiger als zuvor. Am liebsten will sie einen tiefen Tunnel in die Erde graben und erst in Australien wieder an die Erdoberfläche gelangen oder sich am besten gleich in Luft auflösen. Wahrscheinlich würde ihr niemand außer ihrer Familie hinterher trauern.

 

Der nächste Weinkrampf erfolgt wenige Tage später, als Henrike versuchte sich auf ihre Mathehausaufgaben zu konzentrieren.

„Was soll ich da bitteschön machen? Ich weiß noch nicht mal wie ich anfangen soll?", fast eine halbe Stunde grübelt sie nach, ohne ihrem Ziel einen Millimeter näher zu kommen. Zu allem Überfluss fällt ihr ein, dass Morgen ein Geschichtstest ansteht. Beinahe hätte sie es vergessen, bis sie eine Notiz auf ihrer Geschichtsmappe sieht.

„Verdammt!", flucht sie leise. Die Mappe ist wirklich nicht gerade dünn. Wie soll sie sich das alles an einem Nachmittag merken? So viele Jahreszahlen, Namen, Orte, Geschehnisse und ihre Zusammenhänge: in Henrikes Augen ein hoffnungsloses Unterfangen.

 

„Ich werde es irgendwie versuchen!", entschlossen schlägt sie ihre Mappe auf. Zu allem Überfluss lässt ihre Konzentration schnell nach.

„Wie soll ich die Arbeit überhaupt bestehen?", denkt sie verzweifelt und ihr steigen die Tränen in die Augen. Nach der Hälfte gibt Henrike völlig desillusioniert auf, vergräbt ihr Gesicht in den Händen und weint hemmungslos. Nun war sie nicht nur die krasseste Außenseiterin in der Schule, sondern eventuell auch gefährdet sitzen zu bleiben. In Physik und Musik hat sie letztens eine glatte Fünf zurück bekommen und selbst in Biologie hat es im letzten Test nur für eine Vier plus gereicht.

„Ich bin eine verdammte Versagerin! Kein Wunder, dass mich niemand ernst nimmt und mag", schlägt sie mit ihrer rechten Faust auf den Schreibtisch.

11. Kapitel: Eine große Standpauke für die Mädchenclique

Am nächsten Morgen ist Henrike elend zu Mute. Müde, lustlos und mit Bauschmerzen schleppt sie sich zum Auto ihrer Mutter, welches vor der Garage steht. Einerseits ist sie froh, dass ihre Mutter sie zur Schule fährt, aber andererseits schämt sie sich auch ein wenig deswegen. Was würden ihre Klassenkameraden sagen, wenn sie ihre Mutter sehen? Auf den ganzen Weg sagt Henrike kein Wort und als sie auf dem Lehrerparkplatz parken, wird ihr kurz kurz schummrig.

„Komm, Henrike! Oder willst du hier Wurzeln schlagen?", reißt ihre Mutter die Beifahrertür auf. Nun gibt es keine andere Wahl als ihr zu folgen. Als sie den Zebrastreifen überqueren, schnürt sich Henrike der Hals zu und gleichzeitig friert auch ihre Mimik ein. Hoffentlich kommt ihnen niemand aus ihrer Klasse entgegen oder an ihnen vorbei. Das wäre wirklich verdammt peinlich.

 

Henrikes Mutter klopft am Lehrerzimmer an und fragt einen jungen Mann, der wahrscheinlich noch ein Referendar ist, nach Frau Manning. Henrike bleibt ein Stück zurück. Ihr Herz fängt an automatisch schneller zu schlagen, als ihre Klassenlehrerin auf sie und ihre Mutter zuschreitet. Henrike tritt ein Stück weit zurück.

„Guten Morgen, Frau Lustenberg, schön Sie zu sehen“, begrüßt die Lehrerin ihre Mutter und gibt ihr die Hand. „Sehr gut, dass Sie das Beweisstück mitgebracht haben. Ich lese mir den Brief kurz durch."

Wortlos reicht Henrikes Mutter Frau Manning das Stück Papier und sieht diese mit zusammengekniffenen Lippen an.

„Aha! Ich sehe, das ist Lillys Handschrift. Sie ist unverkennbar.“, sagt die Klassenlehrerin und nickt bestätigend.

 

„Wer ist diese Lilly, Frau Manning?“, fragt Henrikes Mutter. Obwohl sie vordergründig versucht ruhig zu bleiben, klingt sie dennoch etwas hastig und aufgebracht.

„Lilly Sinkiewicz ist ein eigentlich ein sehr ordentliches und kluges Mädchen, ihr Vater kommt, glaube aus Tschechien oder Polen und ihre Mutter ist Deutsche. Bis vor kurzem ist sie nie wegen Mobbings aufgefallen. Früher war sie sehr sozial und hat anderen Mitschülern bei Problemen geholfen. Sie ist zudem eine talentierte Tänzerin, reitet in ihrer Freizeit und singt im Chor. Sie ist immer dadurch aufgefallen, dass sie sich gegenüber Mitschülern durchsetzen konnte und ist schon immer sehr beliebt gewesen. Deswegen ist sie auch Klassensprecherin“, erzählt Frau Manning, die zu einer langen Erzählung ausholt. Henrike traut ihren Ohren nicht. Es scheint fast so, als ob ihre Klassenlehrerin nur so von Lilly schwärmen würde, die ihr in den letzten Monaten das Leben zur Hölle gemacht hat. 

 

„Okay, das reicht mir!“, erwidert Henrikes Mutter und unterbricht Frau Manning: „Wie kann diese Mädchen meine Tochter so fertig machen, bloß weil sie aus der Schweiz kommt, wenn sie selbst einen ausländischen Vater hat? Ich möchte, dass Sie gegen dieses Mädchen und gegen ihre Mitstreiter vorgehen. Henrike leidet mittlerweile schon ziemlich heftig unter dieser Situation. Wir werden eine Anzeige erstatten, wenn noch etwas Schlimmeres passiert!“, droht Henrikes Mutter.

„Selbstverständlich wollen wir nicht, dass Sie eine Anzeige erstatten“, sagt die Klassenlehrerin kleinlaut. „Soweit wird es nicht kommen. Ich werde Henrikes Hauptmobbern einen großen Einlauf verpassen und wenn sich das danach nicht bessert, werden wir sie ein paar Tage vom Unterricht suspendieren müssen.“

„Ich hoffe, dass Ihre Gespräche eine Besserung für Henrike bringen werden, sonst rufe ich den Schulleiter und eventuell auch die Schulaufsichtsbehörde an“, sagt Henrikes Mutter und verabschiedet sich wieder.

 

Die Schüler der 7c befinden sich bereits im Klassenzimmer, als Frau Manning und Henrike eintreten. Nicht wenige flitzen durch den halben Raum, als sie die Klassenlehrerin sehen. Natürlich hat es auch Lilly, die gerade mit ihren Freundinnen auf der Fensterbank gehockt hat, sehr eilig und huscht auf ihren Platz. Henrikes Blick klebt förmlich an Lilly. Sie betrachtet ihre Klassenkameradin ganz genau. Lilly trägt ein dunkelblaues Sweatshirt, eine Hotpants und eine schwarze Strumpfhose darunter. Ihre Freunde haben auf ihren lila Chucks unterschrieben. Ihre hellblonden Haare hat sie sich zu einem langen Fischgrätenzopf geflochten. Ihre hübschen Wangen und Augen hat sie dezent mit Rouge, Kajal, Lidschatten und Wimperntusche betont. Eine silberne lange Kette mit einem Schlüsselanhänger, ein lilablaues Freundschaftsarmband und herunter hängende Ohrringe mit schilllernden blauen Plättchen setzen ihrem Style nochmal die Krone auf. Wie immer sieht Lilly "perfekt zurechtgemacht" aus, während sich Henrike in diesem Moment wie ein Waldtrampel fühlt.

 

„Guten Morgen, ich habe heute ein sehr wichtiges Thema mit euch zu besprechen. Als erstes sage ich euch, dass Henrike wieder da ist und zweitens ich will mit euch über Mobbing sprechen“, sagt die Lehrerin streng. „Es ist in letzter Zeit sehr viel Negatives vorgefallen. Ich weiß, dass Henrike sehr heftig gemobbt wird und David manchmal auch. Lukas und Alina, haben sich vor kurzem auch bei mir beschwert, weil sie beleidigt wurden oder ihnen die Sachen weggenommen wurden. Ich finde dieses Verhalten nicht in Ordnung und werde es nicht länger mehr dulden!“

In der Klasse ist es ganz ruhig geworden. Lilly, Lara, Jana, Maren und Isabella tauschen untereinander hilflose Blicke aus. Auch Max, Jonas und ein paar andere Jungs schauen drein als hätte sie der Blitz getroffen.

„Lilly, komm sofort mit mir vor die Tür! Mit dir muss ich ein ernstes Wort reden!“, sagt Frau Manning etwas lauter.

 

Ein gewaltiges Donnerwetter ging über die Klassensprecherin nieder. Henrike hat ihre Lehrerin noch nie so wütend erlebt. Fast jedes Wort, das vor der Tür gesprochen wird, ist zu verstehen. Kurz darauf kommen Frau Manning und Lilly wieder in die Klasse. Lilly schaut emotionslos ihrer Klassenlehrerin mit ihren eisigen grauen Augen ins Gesicht.

„Ich wollte am Anfang Henrike in die Klasse integrieren, aber es ist gar nicht möglich an sie heran zu kommen. Sie verschließt sich vor Allen und sie redet mit Keinem“, sagt Lilly und reißt vor Unschuld ihre Augen weit auf. Mit einem Mal wird Frau Manning richtig wütend: „Ich weiß ganz genau, dass du die Anführerin der ganzen Geschichte bist. Du hast zuerst deine Freundinnen und dann die Jungen in dein fieses Spiel gegen Henrike eingespannt. Ich merke, dass du aus der Standpauke gerade eben nichts gelernt hast. Deshalb erkenne ich dir deine Klassensprecherehre ab, du musst zwei Wochen lang dem Hausmeister helfen, wir werden deine Eltern informieren und es wird einen schlechten Vermerk auf dem Zeugnis geben. Besserst du dein Verhalten nicht, kannst du dir eine neue Schule suchen!“

 

Lilly ist inzwischen ganz blass um die Nase geworden. Die kleine zierliche Blondine ist zu einer Eisstatue erstarrt und schaut in die Richtung von Frau Manning und Henrike, ohne groß Emotionen zu zeigen.

„Meine Eltern sind nicht zuhause, mein Vater ist fast immer auf Dienstreise und meine Mutter nach einem schweren Autounfall im Krankenhaus, sie ist immer noch nicht ansprechbar und liegt auf der Intensivstation. Ich bin momentan fast immer allein zuhause, außer wenn unsere Nachbarin oder mein älterer Halbbruder mal vorbei kommen“, sagt sie mit bebender Stimme und ihre Augen füllen sich langsam mit Tränen.

„Ich weiß, dass es deiner Mutter schlecht geht, aber das ist kein Grund für dich, Henrike zu mobben. Du willst wohl nicht von deiner eigenen Schuld ablenken oder? Bitte setz dich sofort wieder hin!“, sagt die Klassenlehrerin kühl. Henrike hat Lilly noch nie mit Tränen in den Augen oder geschweige denn jemals weinen sehen.

 

Lilly trottet nach dem Donnerwetter mit hängendem Kopf zu ihrem Platz zurück. Sie legt ihren Kopf auf ihre Hände und fängt geräuschlos an zu schluchzen. Nur ihr Körper zuckt immer wieder leicht zusammen.

„Sie weint wirklich“, denkt Henrike und verspürt einen heimlichen inneren Triumph. Nun nimmt sich Frau Manning die übrigen Mobber und Mitläufer vor.

„Zufällig konnte bewiesen werden, dass das nackte Weihnachtsehepärchen von dir stammt, Isabella. Deine Kunstlehrerin hat mir gezeigt, wie du zeichnest und die Zeichnung war deinen anderen Zeichnungen sehr ähnlich“, sagt Frau Manning mit fester Stimme. Isabella schnieft nur, bringt kein Wort aus sich heraus und wischt sich mit einem Taschentuch die Tränen von der Wange.

„Jana, du hast den absolut widerlichen Spruch „Ich wünsche euch ein sexy Weihnachten, eure Henrike“ darunter geschrieben“, wendet sich die Lehrerin an Jana.

„Es sollte nur ein Spaß sein. Mehr nicht“, weint Jana. Henrike sitzt still da und nimmt die einzelnen Standpauken gegenüber ihren Mitschülern auf, ohne eine Reaktion zu zeigen. Innerlich freut sich, dass ihre Klassenkameraden großen Ärger kriegen. Am Ende der ersten Stunde sind bei den meisten Mädchen die Tränen getrocknet, nur Lilly sitzt immer noch weinend an ihrem Tisch. Keiner tröstet sie und schenkt ihr Beachtung.

 

Am Ende der Doppelstunde spricht Frau Manning mit der Klasse noch einmal über Cybermobbing.

„Ich dachte, ich hätte ich vor einem Monat deutlich genug ausgedrückt, wie wir uns im Chat verhalten", sagt die Klassenlehrerin ernst. „Die allererste Regel ist, dass wir wertschätzend und respektvoll miteinander umgehen. Ist euch nicht klar, dass ihr eine Spur im Netz hinterlasst und euch noch Dinge nachzuweisen sind, die ihr vermeintlich gelöscht habt."

„Frau Manning, ich muss etwas gestehen", zeigt Alex auf. „Ich habe einiges an Cybermobbing ins Rollen gebracht."

Wenig später gestehen auch Lilly, Isabella und sieben weitere Schüler die Cyberattacken organisiert, Fakeaccounts erstellt und weitere Personen aus anderen Klassen dazu angestiftet zu haben. 

„Ihr werdet nachher in der sechsten Stunde mit mir zum Rektor gehen und dann sehen wir weiter", sagt Frau Manning nur.

 

Nach der Schule kommt Lilly auf Henrike zu.

„Es tut mir wirklich leid, wie ich dich in den letzten Monaten behandelt habe“, gibt Lilly kleinlaut zu und reicht ihr die Hand. Ihre Hand ist eiskalt und ihre Augen sind von Weinen noch ganz rot. offenbar hat es beim Rektor eine ordentliche Standpauke gegeben. Henrike weiß nicht, wie sie auf ihre Feindin reagieren soll. Auf jeden Fall ist das Vertrauen schon längst zerstört und Henrike spürt, dass sie Lilly niemals vertrauen will.

„Ich war am Anfang neidisch auf dich, weil du dich mit Madita und vielen anderen Mädchen gut verstanden hast. Ich habe gedacht du nimmst mir alle meine Freundinnen weg“, gesteht Lilly offen. „Du hast dir mit deiner lustigen Art am Anfang viele Freunde gemacht und ich war nur neidisch. Deshalb habe ich angefangen falsche Gerüchte über dich zu erzählen und meine besten Freundinnen Johanna, Jana, Isabella und Maren haben mich dabei unterstützt. Wir haben unsere anderen Freunde auf unsere Seite gezogen und danach die ganze Klasse.“

Henrike ist geschockt, noch nie zuvor hat ihr eine Person so übel mitgespielt und jetzt tut es dieser Lilly auch noch leid. Wenn das mal bloß keine Finte ist! Obwohl Henrike nach Worten sucht, spürt sie instinktiv, dass Lilly in dieser Situation Überwasser hat und es geschickt anwendet, um ihr fieses Verhalten zu entschuldigen.

„Eigentlich brauch ich vor der linken Göre keine Angst zu haben“, denkt sie und schaut auf Lillys Storchenbeine. Lilly ist ein Stück kleiner als sie und zudem relativ zierlich und schmal. Körperlich ist Henrike ihr allemal überlegen.

 

Mit gemischten Gefühlen fährt Henrike nach Hause. 

„Bestimmt haben Lilly und ihre Freundinnen Krokodilstränen nur geweint, weil sie ihr Strafmaß abmildern wollten", ist sie der festen Überzeugung und steigt im nächsten Moment aus dem Bus. All die vielen Tränen und überschwänglichen Entschuldigungen: eindeutig zu viel Drama für Henrikes Geschmack! Als ehrliche Haut kann sie jegliche Form der Heuchelei nicht ertragen. Jedes Mal, wenn der Name "Lilly" in ihrem Gedächtnis auftaucht, verkrampft sie innerlich vor Zorn. Immerhin hat die blöde Göre dafür gesorgt, dass sie sich die letzten Monate mieserabel und minderwertig gefühlt hat. 

„Vielleicht hilft ein Wechsel in eine der beiden Parallelklassen", denkt sie, aber verwirft diesen Gedanken rasch. In den Parallelklassen sind auch einige Schüler unterwegs, die sich wiederholte Male sich über sie lustig gemacht haben. Generell ist der ganze Jahrgang für sie einfach unerträglich.

 

Am nächsten Schultag fehlen zehn Schüler, da sie aufgrund des Mobbings insgesamt fünf Tage vom Unterricht suspendiert worden sind. 

„Es tut mir so furchtbar leid, dass ich dir nicht geholfen habe. Ich habe wirklich Angst und zwar Angst davor hier zur Schule zu gehen", entschuldigt sich Alina. 

„Oh ja, die Klasse ist wirklich grausam geworden", schlägt Nora die Augen nieder. 

„Wenn dir noch mal etwas Schlimmes passieren sollte, dann sag mir bescheid, denn mein Onkel ist Anwalt und kann die ganze Schule rein rechtlich auseinander nehmen", bietet ihr David an. Insgesamt verlaufen die nächsten Tage ohne Beleidigungen, fiese Sprüche und Anfeindungen.

 

Nur einmal fängt Madita sie nach Schulschluss an der Eingangstür ab und stellt sich ihr in den Weg.

„Weißt du eigentlich, was für einen Ärger Lilly, Jana, Isabella und all die anderen haben? Ist dir bewusst, dass Isabella und auch Jana wegen dieser Sache von ihren Vätern geschlagen wurden? Johanna hat einen Monat Hausarrest und Lillys Oma hat erstmal zwei Stunden lang geheult, als sie von der Suspendierung ihrer Enkelin erfuhr. Ist dir bewusst, was dein Petzen für Wellen schlägt, Henrike? Wir haben doch die ganzen Beleidigungen wieder eingestellt, weil wir selbst eingesehen haben, dass es zu heftig war", wirft sie Henrike wütend vor.

„Beruhig dich mal, Maddy! Kein Wunder, dass es so einen Ärger gab. Schließlich waren wir echt schlimm zu Henrike", hakt sich Angelina bei Madita ein und zieht sie von Henrike weg. Eine Gruppe von Mädchen, die Henrike nur vom Sehen kennt, läuft an ihr vorbei und zwei der Mädchen werfen ihr scheele Blicke zu. 

„Ich gehöre hier eindeutig nicht hin", wird ihr in diesem Moment nochmal schmerzlich bewusst.

12. Kapitel: Ein Happy End für Henrike

In den nächsten Tagen und Wochen wird Henrike von ihren Klassenkameraden völlig links liegen gelassen. Kein Wort wird mit ihr gewechselt, aber zumindest wird sie nicht mehr beleidigt. Lilly hat alle ihre Gemeinheiten gegenüber Henrike eingestellt, aber trotzdem versucht sie ihr aus dem Weg zu gehen. Kurz vor Ostern Henrike geht alleine über den Pausenhof und schaut nebenbei in ihr Vokabelheft, um sich mit Französischvokabeln von ihrer Einsamkeit abzulenken. Sie sieht wie Maren, Lilly, Johanna, Jana und Isabella Hand in Hand über den Schulhof laufen. In Henrike wird die Sehnsucht nach einer guten Schulfreundin wach, mit der sie sich die Geheimnisse teilen und mit der sie gut reden könnte. Zwar muss Henrike nicht mehr unter Beschimpfungen und fiesen Attacken leiden, aber ignoriert zu werden, tut auch ziemlich weh. Wären bloß Jule und Miriam hier, dann hätte sie schon einmal zwei gute Freundinnen und sie wäre nicht so einsam.  

 

Einmal bekommt Henrike beim Mittagessen in der Mensa mit, wie sich Lilly mit Paulina aus der Parallelklasse über sie unterhält.

„Wer ist denn diese graue Maus mit den komischen Klamotten bei euch in der Klasse?“, fragt Paulina.

„Ach, das ist nur Henrike Lustenberg aus der Schweiz. Sie ist bei uns eine Außenseiterin und dagegen lässt sich nichts machen. Sie passt einfach nicht zu uns“, erwidert Lilly und setzt sich mit ihrem Tablett an einen freien Tisch.

„Das sieht man sofort. Sie hat keinen mit dem sprechen kann“, sagt Paulina und geht weiter. Henrike fühlt sich wieder schwer getroffen und hat plötzlich keinen Hunger mehr. Sie schafft es gerade einmal ein bisschen Brokkoli und ein paar Bratkartoffeln in sich hinein zu zwingen. Am Nachbartisch sitzen Lilly und ihre Freundinnen beim Essen und kichern wieder über irgendeine Nichtigkeit.

„Warum setzt sich niemand an meinen Tisch?“, fragt sich Henrike insgeheim und starrt melancholisch vor  sich hin. Zu ihrer Überraschung steht aus dem Nichts ein fremder, älterer Junge an ihrem Tisch.

„Darf mich dazu setzen?“, fragt er freundlich. „Ich habe keinen Platz mehr gefunden.“

Henrike nickt nur und der Junge stellt sein Tablett neben ihr hin. Bald darauf steht sie auf und geht, sie sie hat einfach keinen Hunger mehr und lässt ihr Essen zu Hälfte stehen.

 

Als sie die Cafeteria verlässt, lauern ihr vier jüngere Schüler auf, von denen ihr ein Mädchen versucht ein Bein zu stellen. 

„Du Hässliche!", sagt das Mädchen mit den schwarzen Haaren nur. 

„Pfui, das ist Henrike aus der 7c", macht einer der beiden Jungen ein würgendes Geräusch. 

„Die größte Außenseiterin der ganzen Schule", spottet ein kleines blondes Mädchen und zieht Henrike am Ärmel ihrer Jacke.

„Bäh! Alice, du hast sie gerade berührt. Du kriegst jetzt Cholera", sagt eine Rothaarige, die sich zu ihren Freunden gesellt. Erst als ein Lehrer um die Ecke kommt, verziehen sich die Fünftklässler wieder und der Junge aus der Cafeteria begegnet ihr erneut. 

„Nimm dir das alles nicht so zu Herzen! Die Leute, die dich so behandeln, sind alle unreif und minderbemittelt. Zudem fühlen sie sich selbst ziemlich schwach und hilflos, sonst würden sie so eine Kacke nicht abziehen", redet er auf Henrike ein. Sie lächelt ihn dankbar an, obwohl sie sich tief in ihrem Inneren verletzt fühlt.

 

 Kurz vor den Osterferien hat Henrikes Mutter ein Einsehen, dass es ihrer Tochter auf der Schule nicht bedeutsam besser geht. Auch wenn, Henrike nicht mehr beschimpft und bloßgestellt wird, fühlt sie sich in der Klasse so ausgeschlossen wie eh und je. Nicht selten kommt Henrike ausgelaugt nach Hause und wirkt sehr niedergeschlagen. Mit rotgeweinten Augen verkrümelt sie sich dann meistens bis zum Abendessen in ihrem Zimmer und an manchen Tagen, sind ihre depressiven Verstimmungen so hartnäckig, dass sie noch nicht mal zum Turnverein geht.

„Ich habe mir es doch anders überlegt“, sagt Henrikes Mutter eines Tages. „Ich habe dich auf Jules Schule angemeldet. Jule geht in die siebte Klasse einer Gesamtschule am anderen Ende der Stadt. Du wirst daher einen langen Schulweg haben.“

„Ab wann werde ich dort zur Schule gehen?“, fragt Henrike aufgeregt.

„Gleich nach den Osterferien“, antwortet ihre Mutter. Henrike springt hoch und tanzt vor Freude.

„Ich habe noch eine weitere Überraschung für dich. Deine Schweizer Freundin Hannah besucht uns über die Osterferien“, teilt ihr ihre Mutter mir.

„Yippie, ich habe meine liebe alte Hänni schon so vermisst!“, jubelt sie überglücklich.

 

Sofort schnappt sie sich das Telefon und ruft Jule an.

„Hi, weißt du schon, dass ich nach den Osterferien in deine Klasse komme“, ruft Henrike aufgeregt.

„Nein, das wusste ich tatsächlich nicht. Das hat mir meine Mutter noch nicht erzählt. Wahrscheinlich haben unsere Mütter heimlich miteinander telefoniert“, antwortet Jule überrascht.

„Außerdem besucht mich meine beste Freundin aus der Schweiz über die Osterferien. Sie heißt Hannah. Macht es dir etwas aus, dass ich neben dir noch eine andere beste Freundin habe?“, fährt Henrike aufgeregt fort.

„Natürlich nicht“, meint Jule. „Ich habe in meiner Klasse auch eine zweite beste Freundin, sie heißt Fiona und du wirst sie bald auch kennen lernen. Du wirst dich bestimmt auch prima mit ihr verstehen.“ 

„Und du wirst bald Hänni kennen lernen und bestimmt wirst du sie auch gut leiden können“, freute sich Henrike.

 

Der letzte Tag, an dem Henrike ihre Schule besuchen muss, rückt immer näher. Als sie morgens zu ihrem Platz kommt, findet sie eine aus Papier angefertigte Maske aus Papier vor. Henrike nimmt sie in die Hand und betrachtet sie von allen Seiten. Schlecht sieht sie jedenfalls nicht aus. Die Maske ist mit vielen Blümchen und Sternen bemalt und mit vielen glitzernden Stickern beklebt. Auf ihrem Stuhl findet sie einen kleinen Zettel.

„Hallo Henrike, das ist ein schönes Abschiedsgeschenk für dich! Ich hoffe du freust dich darüber. Die Maske wird dir sicherlich stehen. Sie wird deine schreckliche Visage verdecken, also trag sie! Mit lieben Grüßen, deine 7c! Ps: Viel Glück in deiner neuen Klasse :) !!“, liest sie sich das Briefchen durch. Was für eine Verarschung! Voller Wut zerreist Henrike zuerst den Brief und dann die Maske und lässt die Fetzen im Mülleimer verschwinden.

„Oh, da hat jemanden die Maske nicht gefallen, dabei war es so eine Mühe gewesen sie zu basteln“, hört sie im Hintergrund Johanna flüstern.

„Und dafür habe ich meine Glitzersticker geopfert!“, schaut Isabella böse drein.

„Henrike gefällt doch gar nichts, bei ihr braucht man mit schönen Dingen nicht ankommen“, bemerkt Lilly spöttisch und beißt von ihrem Kinderriegel ab. Natürlich hat Lillys blöde Clique etwas mit dieser bekloppten Maske zu tun, das ist Henrike schon von Anfang an klar.

 

Henrike spricht das Thema mit der Maske und dem dazugehörigen Briefchen nicht bei Frau Manning an, als sie ihr zum Abschied einen Blumenstrauß überreicht. Heute besucht sie die schreckliche Schule eh zum letzten Mal. Gott sei dank, teilt ihnen Frau Manning mit, dass sie nach der vierten Stunde frei haben, da ihre Kunstlehrerin sich gestern bei einem Treppensturz sich das Bein gebrochen hatte.

„Nur noch heute und dann muss ich nie wieder hier hin“, denkt sie, als sie alleine über den Schulhof geht und aus der Entfernung der fiesen Mädchenclique beim Tischtennisspielen zuguckt. Von wegen es hat sich nach der Standpauke vor zwei Monaten gebessert! Zwar wird Henrike weitestgehend in Ruhe gelassen, aber trotzdem spricht kaum jemand mit ihr und bei Gruppenarbeit findet sie nach wie vor keinen Partner. Selbst Ellen, Sarah und Nora wenden sich komplett von ihr ab und zeigen sich sehr desinteressiert, wenn Henrike sich mit ihnen unterhalten möchte.

Gelangweilt schlurft Henrike wieder in Richtung Schulgebäude.

„Vielleicht kann ich mir die Zeit in der Bibliothek totschlagen“, denkt sie sich. In der Schülerbücherei ist es schön ruhig, als sie den Fuß hineinsetzt. Kein lautes Geschrei, keine umher fliegenden Bälle und keine blöden Mitschüler! Henrike schnappt sich einen Abenteuerroman, setzt sich damit auf die alte Ledercouch und taucht gleich ein in die Welt der Abenteuer und Piraten.

 

Verdammt! Henrike fährt der Bus gerade vor der Nase weg, obwohl sie die Beine in die Hand genommen hat. Wenigsten waren kaum noch Schüler an der Bushaltestelle, die sie hätten piesacken können. Gerade als sie sich für ganz allein wähnt, taucht Lara auf.

„Henrike, ich habe extra auf dich gewartet“, schreitet Lara auf sie zu.

„Auf mich?“, erwidert Henrike völlig überrascht.

„Klar, du kommst nach den Osterferien nicht wieder und ich wollte mich für mein beschissenes Verhalten entschuldigen“, meinte ihre Mitschülerin. Henrike spürt einen Kloß im Hals und starrt ununterbrochen auf Laras braunen Pferdeschwanz. Sie weiß nicht, ob sie ihr noch vertrauen kann. Lara ist mit Lilly, Jana, Angelina und den anderen Zicken befreundet. Oh nein, was will diese Mitläuferin nur von ihr? Lara hat noch bis zu den Halbjahreszeugnissen bei dem ganzen Mobbing mitgemacht. Henrike ist sich unschlüssig, ob sie weggehen soll oder sich mit ihr auf ein Gespräch einlassen soll. Ihr ist Lara immer noch nicht geheuer, obwohl sie gerade nicht so aussieht, als sie etwas Böses im Sinn hat.

 

Kurz darauf kommt der Bus.  Zu Henrikes Erstaunen steigt Lara auch ein und setzt sich neben sie.

„Ich muss zugeben, dass mir nachher Lilly, Jana, Maren, Johanna und Isa nicht mehr geheuer waren“, fährt Lara fort. „Vor nicht all zu langer Zeit war ich mit ihnen gut befreundet, aber seid fast einem Vierteljahr fang ich sie an immer weniger zu mögen. Früher waren sie noch cool, aber jetzt werden sie immer gemeiner. Nun fangen sie auch Angelina an zu dissen und sie aus ihrem Freundeskreis auszugrenzen und nur weil sie zurzeit ganz schlimme Akne hat und durch eine Schilddrüsenerkrankung an leichtem Übergewicht leidet.“

„Ja, ich habe gesehen, dass Angelina mittlerweile mit Alina, Nora und dir abhängt“, nickt Henrike, als sie endlich mal zu Wort kommt.

„Lilly ist eine richtige Zicke geworden, genauso wie Jana und Maren auch“, ereifert sich Lara. „Sie lästern bei jeder Gelegenheit und suchen ständig nach Makeln. Ich habe Lilly und ihre Freundinnen nicht mehr zu meiner Geburtstagsfeier am kommenden Mittwoch eingeladen, außer Madita, die eine ganz Zeit lang meine beste Freundin war. Nun nervt es mich, dass sich Maddy die ganze Zeit bei Lilly, Isabella und Jana beliebt machen will.“

Ohne etwas zu sagen, lässt Henrike den Wortschwall über sich ergehen. Lara entschuldigt sich mehrmals und redet auf sie ein, dass sie doch ein nettes und hübsches Mädchen sei.

„Es waren Lilly, Johanna, Isa und Maren, die dir diese hässliche Maske gebastelt haben“, offenbart sie gegenüber Henrike.

„Na klar, wer denn sonst!“, erwidert diese trocken. An der nächsten Haltestelle steigt Lara aus und umarmt sie noch mal kurz. Henrike atmet erleichtert auf, wenigstens ist sie diese Quasselstrippe nun los.

 

Am Nachmittag trifft sich Henrikes Sportgruppe zum Waldlauf. Endlich ist das Wetter so frühlingshaft, dass sie nach draußen gehen können.

„Meine Güte, Ricky, du legst aber ein Tempo vor!“, kam Jule kaum hinterher.

„Ja, heute ist ein wahrer Freudentag für mich“, strahlt Henrike, die sich nun ganz frei und stark fühlt.

„Erzähl doch mal, wie der letzte Tag war!“, fordert ihre beste Freundin sie auf. Henrike kommt nicht drum herum, Jule die Geschichte mit der Maske zu erzählen.

„Was für bescheuerte Weiber!“, schüttelt sie den Kopf. „Jetzt bist du sie endlich los und denk daran, dass du viel hübscher als diese Schminktussis bist, weil man bei dir im Gegensatz zu ihnen noch dein wahres Gesicht entdeckt.“

„Vorsicht! Gleich überqueren wir den Bahnübergang“, hörten sie Danielas raue Stimme von vorne. Erst als genau geguckt wurde, dass kein Zug kommt, geht es weiter.

„Läuft bei dir Ricky!“, schließt Björn zu ihnen auf. „Heute machst du das Rennen!“

„Ja, weil ich so glücklich wie seit Langen nicht mehr bin! Wusstest du, dass ich nach den Ferien mit Jule in einer Klasse bin?“, ist Henrike überglücklich.

„Sei froh, dass du bei uns bist!“, greift Jule nach Henrikes Hand. „Bei uns sind die Zicken und Machos in der absoluten Minderheit. Wenn sie meinen dich ärgern zu müssen, ärgern wir sie umso doller.“

„Oh ja, das tun wir!“, nickt Henrike heftig.

„Du wirst dich bestimmt prima mit Fiona und Kirsten verstehen, die sind mit dir auf der gleichen Wellenlänge“, redet ihre Freundin weiter.

 

 Am ersten Ferienabend der Osterferien findet eine Welcome-Party für Hannah im Partykeller im Haus von Henrikes Familie statt. Henrike hat sich extra schick gemacht. Sie trägt eine hautenge Jeans und ihr neues Oberteil, das an der Taille mit einem schmalen Gürtel zusammen gehalten wird. Jule hat ihr die Haare hochgesteckt, sie geschminkt und ihr eine Kette geliehen. Von allen Seiten erntet sie sehr viele Komplimente. Björn hat seine besten Kumpels Alexander, Joshua und Leon angeschleppt. Henrike hat ihm es zuvor erlaubt seine drei Kumpels mitzubringen und natürlich sind auch Rosanna, Marieke und Miriam mit von der Partie. Gnädigerweise hat Henrike ihren beiden kleinen Geschwistern erlaubt mitzufeiern, obwohl sie zunächst niemanden unter zehn Jahren dabei haben wollte.

„Ricky, schau mal, was deine Geschwister machen!", zieht Miriam sie am Arm und Henrike dreht sich um. Zu ihrem Leidwesen bewerfen sich die Zwillinge gegenseitig mit Gummibärchen und trinken Cola um die Wette. Erst als Henrike ein Machtwort spricht, benehmen sich ihre Geschwister wieder gesitteter.

 

Henrike hakt sich ihre Freundin Hannah unter und geht mit ihr an den Tisch, wo ihre anderen Freundinnen sitzen.

„Das ist meine Schweizer Freundin Hannah, aber ihr könnt sie ruhig Hänni nennen“, stellt Henrike sie vor.

„Hallo, ich bin Juliane Schnarrenberger. Aber nenn mich einfach Jule!“, sagte Jule und gibt ihr die Hand.

„Ich bin Miriam Sophia Feldbusch“, ruft Miriam aus der Ecke. Hannah lächelt freundlich und ihre blauen Augen strahlen vor Freude. Sie klemmt sich eine Strähne ihres lockigen braunen Haares hinter das Ohr und begrüßt alle weiteren Freunde und Bekannte.

„Mädels, wollt ihr tanzen?“, ruft Björn in das Mikrofon und legt ein Tanzlied auf. Alle hüpfen und springen durch den Raum. Joshua bleibt vor Henrike stehen und betrachtet sie eine Weile. Bereits seit Minuten schien er seinen Blick nicht mehr von ihr lassen zu können.

„Hast du Lust mit mir zu tanzen?“, fragt er. Henrike nickt: „Warum nicht?“

 

„Björn, leg einen Schmusesong auf! Henrike und Joshua tanzen zusammen“, ruft Leon laut. Björn legt „Hero“ von Enrique Iglesias auf und schon tanzen mehrere Pärchen auf der Tanzfläche. Leon hat Jule zum Tanz aufgefordert, Alex und Hannah tanzen zusammen und Björn tanzt mit Marieke. Miriam und Rosanna tanzen jeweils für sich, während Malte pflichtbewusst mit seiner Zwillingsschwester tanzt. 

 Björn legt an diesem Abend viele tolle Partysongs auf. Zu „Ai se eu te pego“ von Michel Telo, „Diamonds“ von Rihanna, „She Wolf“ von David Guetta und vielen weiteren Liedern wird ausgelassen getanzt. Henrike strahlt, als sie Joshuas Hand hält und ein angenehm warmes Gefühl macht sich in ihr breit.

 

„Henrike, kommst du mit? Ich will kurz nach draußen“, fragt Joshua.

„Wieso?“, will Henrike wissen.

„Mir ist hier unten zu warm“, sagt Joshua. Ein Moment später stehen sie zu zweit auf der Terrasse und reden miteinander.

„Willst du wissen, wie ein Kuss schmeckt?“, fragt Joshua und legt einen Arm um ihre Schulter.

„Ich habe noch nie einen Jungen geküsst“, gibt Henrike offen zu. „Ich bin erst dreizehn und werde erst in drei Monaten Vierzehn.“

„Darf ich dich kurz küssen?“, fragt er. Henrike wird ganz flatterig und spürt bald seine Lippen auf ihren eigenen Lippen. Sie spürt, dass Joshua sehr an ihr interessiert ist und sie sehr mag. Doch Henrike fühlt sich für eine Beziehung noch zu jung.

„Wir können uns mit der Liebe noch Zeit lassen, du bist ja erst Dreizehn“, meint Joshua. „Das Beste ist, wir lernen uns erst richtig kennen.“

Er merkt, dass Henrike etwas zurückgeschreckt ist. Aber er ist sich ganz sicher, dass sie in ein paar Jahren ein wunderschönes junges Mädchen sein wird.

„Wir können in den nächsten Tagen zusammen Eis essen gehen“, schlägt Joshua vor.

„Gerne! Warum nicht?“, nickt Henrike und strahlt über ihr ganzes Gesicht, sodass sich ihre Sommersprossen kräuseln.

 

„Uh, du hast mit einem Jungen geflirtet!", nehmen ihre Freundinnen sie in Empfang.

„Und wir haben uns ganz kurz geküsst, aber unsere Lippen berührten sich nur ganz leicht", erzählt Henrike.

„Aber das war ja kein richtig leidenschaftlicher Kuss", hat Jule einzuwenden.

„Egal, aber dafür war es das erste Mal für Ricky!", meint Hannah. Nun schwebt Henrike den ganzen Abend lang auf Wolke Sieben. Selbst als Hannah und sie gegen ein Uhr die Zähne putzen, summt sie gutgelaunt vor sich hin.

„Wir haben sogar unsere Nummern ausgetauscht", verrät Henrike ihrer Freundin, als sie sich in ihre Betten legen. 

„Ui, dann hast du ja bald ein richtiges Date mit ihm", freut sich Hannah.

„Genauso ist es, Hänni. Gute Nacht!", lächelt Henrike und löscht das Licht. 

Nachwort

 Wahre Freunde halten auch in schwierigen Situationen zusammen und zueinander! (von links nach rechts: Rosanna, Björn, Marieke, Henrike, Jule und Miriam)

 

Henrike hat an sich noch Glück im Unglück gehabt, obwohl sie ein halbes Jahr sehr schlimm von ihrer Klasse schikaniert wurde. Immerhin hat sie mit Jule, Björn, Rosanna, Miriam, Marieke und Hannah einen Freundeskreis, der zu ihr gehalten hat, als es ihr so schlecht ging. Ihre Freunde respektieren sie so, wie sie ist und reden ihr ein, dass es nicht ihre Schuld ist, dass sie gemobbt wird.

Nicht jeder in einer vergleichbaren Situation hat das Glück solche Freunde und Unterstützer zu haben. Ihre Freunde wenden sich auch nicht ab, als es Henrike immer schlechter geht und sie ein paar Male nicht zum Sport kommt und sich zurückzieht. Einige Freunde, darunter Björn und Miriam, wissen selbst, wie es ist gehänselt, gedemütigt und ausgegrenzt zu werden. Aus diesem Grund können sie Henrike sehr gut verstehen und versuchen für sie da zu sein, wenn sie traurig ist.

 

Die Mobbinglage bei Henrike spitzte sich so zu, dass ihre Mutter schlussendlich die Notbremse zog und sie von der Schule nahm. Auch wenn Henrike nicht mehr offen gemobbt wurde, so war der Schulalltag immer noch unerträglich für sie. Niemand sprach freiwillig mit ihr und jeder zeigte ihr die kalte Schulter. Zudem bekam sie mit, dass Lilly und Co immer noch schlecht über sie redeten. Die Situation war für Henrike aussichtslos, da sie sich von alleine nicht aus der sozialen Isolation befreien konnte.

Ihre Klassenlehrerin Frau Manning schaffte es die offenen Angriffe zu stoppen, aber sie konnte offenbar keinen Einfluss auf ihre Mitschüler nehmen, sodass Henrike wieder in die Klassengemeinschaft aufgenommen wurde. Das Mobbing hörte daher nicht auf, sondern wandelte sich von der laut agressiven Variante in die stille Form. Auch Ausgrenzung kann seelische Schäden anrichten. So ist es Henrike anzusehen, dass sie sich immer ausgelaugter fühlt, ihr Selbstwertgefühl immer schwächer wird und sie sogar für einen Moment das Vertrauen in ihre Freunde verliert. Für Henrike ist es fast schon lebensrettend, dass ihre Mutter ein Einsehen hatte und sie von Schule genommen hatte.

 

Dass Mobbing in Henrikes Klasse ein ganz großes Problem ist, ist daran zu erkennen, dass außer Henrike noch weitere millionen Schüler hierzulande sich in ihren Klassen nicht wohlfühlen. Auch sie sind immer wieder Mobbingattacken ausgesetzt. So trifft es auch den pummeligen David, der ebenfalls Hohn und Spott ausgesetzt ist. Auch Alina und Nora berichten davon, dass sie immer wieder schlecht von einigen Mitschülern behandelt werden. Als feststeht, dass Henrike die Schule verlässt, sucht sich Lillys Clique ihr nächstes Opfer: Angelina! Obwohl Angelina zunächst am Rande zu ihrer Freundesgruppe gehörte, wird nun auch von ihnen ausgegrenzt und beleidigt.

Lilly, Isabella, Jana und Maren, die den Kern dieser Gruppe bilden, bestimmen gnadenlos darüber, wer "in" und wer "out" ist. Madita und Johanna sind als Mitläuferinnen mit von der Partie. Nun trifft das Mobbing Angelina, die ein wenig übergewichtig ist. Lara hält hingegen zu Angelina und lässt sie nicht fallen. Stattdessen ist sie sauer auf das Verhalten ihrer alten Freundinnen und grenzt sich von ihnen ab. Lara und Angelina tun sich nun mit Alina und Nora zusammen, mit denen sie eine neue Clique aufmachen.

 

Mobber haben auch sehr häufig Probleme, so wie auch Lilly. Vor ihren Freunden markiert sie die "starke Meinungsführerin" und zeigt selten "Schwächen". Ihre eigenen Probleme überdeckt sie mit ihrer lauten, extrovertierten, quirligen und selbstsicheren Art. Daheim geht es ihr nicht gut, da ihr Vater selten zuhause ist und sich nicht oft meldet. Sie fühlt sich von ihm zurückgesetzt. Ihre Mutter ist mit dem Auto verunglückt und nun muss Lilly darum bangen, dass ihre Mutter wieder gesund wird. Für eine 13-Jährige eine enorme psychische Belastung.

Aus der Geschichte geht nicht hervor, ob Lilli noch Geschwister hat oder sich ihre Verwandten in dieser Zeit um sie kümmern. Mit 13 ist sie noch eindeutig zu jung, um wochenlang alleine zu wohnen. Auch Isabella scheint Probleme mit sich zu haben und achtet sehr auf ihren Ruf. Zum Teil mag es der Pubertät geschuldet sein, dennoch kontrolliert sie fast schon zwanghaft ihr Aussehen und schminkt sich mit ihren dreizehn Jahren sehr stark. Sie hat panische Angst vor Pickeln und anderen äußeren "Makeln".

 

Mitläufer wie Madita, Johanna und Jonas wollen einfach nur dazu gehören. Johanna möchte zeigen, weil sie die Klassenbeste ist, dass sie auch cool, frech und selbstbewusst sein kann wie Lilly und Jana. Sie will keinneswegs auf ihre sehr guten Noten reduziert werden und als "brave Streberin" darstehen. Madita macht bei dem Mobbing mit, um nicht den Anschluss an ihre Clique zu verlieren. Zu ist zwar mit Lilly und Co befreundet, doch Lilly und ihre drei besten Freundinnen sind so dicke, dass sie kaum dazwischen kommt. Sie ist absichtlich gemein zu Henrike, um Lilly zu zeigen, dass sie auf ihrer Seite steht und signalisiert, dass sie mit "dazugehört". Die Jungs treten auch eher als Mitläufer auf, da sie sehr unreif sind und u.a. auch unbedacht handeln. Überall wo Action ist, wollen sie ebenfalls mitmischen und teilhaben.

 

Andere Klassenkameraden schauen nur zu und trauen sich nicht Henrike zu helfen, weil sie Angst haben, selbst unter die "Räder" zu kommen. Alina, Ellen und Nora haben eigentlich nichts gegen Henrike, doch sie wollen auch nicht mit ihr gesehen werden. David, der selbst zum Teil gemobbt wird, versucht immer wieder Henrike zu verteidigen. Als er sieht, dass seine Verteidigungsversuche nichts bewirken, wirft er selbst die Flinte ins Korn. Frau Manning geht sehr energisch gegen die Mobbingstrukturen vor und kann die offenen Angriffe beenden, dennoch schafft sie es nicht, Henrike wieder in die Gemeinschaft zu integrieren. Sie kann nichts dagegen bewirken, dass Lilly und ihre engsten Freunde, sich nach und nach auch weitere Schüler zum Schikanieren raussuchen.

 

Eine wichtige Person, die eigentlich eher eine Nebenrolle spielt, aber trotzdem einen hohen Stellenwert hat, ist Jule. Sie ist ein sehr sozialstarkes und gutmütiges Mädchen mit einem Sinn für Gerechtigkeit. Da ihre Eltern ein Modegeschäft besitzt, legt sie auch Wert auf gute Kleidung und Aussehen. Manchmal schminkt sie sich auf und trägt Schmuck. Trotzdem ist sie längst nicht so oberflächlich wie Lilly und Isabella. Ganz im Gegenteil: Sie ist sehr tolerant, sie kann gut Menschen mit einbeziehen und für sie sind die inneren Werte eines Menschens wichtig. Nicht umsonst ist sie eine von Henrikes besten Freundinnen und stellt für sie eine wichtige Stütze dar. Jule kann Mobbing gar nicht ausstehen. Sie wird wütend, als Henrike ihr davon erzählt und gerät in Rage, als Henrike von Klassenkameradinnen im Cafe gedisst wird. Im Gegensatz zu Henrike ist sie sehr taff und lässt sich nicht an der Nase herumführen.

 

Auch Angehörige spielen in einem Mobbingprozess eine wichtige Rolle. Es ist wichtig, sich nahestehenden Personen anzuvertrauen, um sich den Kummer von der Seele zu reden und ggf. zusammen Handlungsstrategien zu überlegen. Bei Henrike ist diese Person in erster Linie ihre Mutter, die schon früh ahnt, dass etwas nicht stimmt. Sie hakt nicht weiter nach, als Henrike zunächst behauptet, alles sei "okay". Henrike möchte ihrer Mutter keine unnötigen Sorgen bereiten und nimmt Rücksicht darauf, dass ihre Mutter auf der Arbeit oft Stress hat. Als ihre Mutter dann doch über Dritte erfährt, dass Henrike so stark gemobbt wird, fällt sie aus allen Wolken. Ihr ist es ein Dorn im Auge, dass es die eigene Tochter trifft und deswegen schaltet sie entrüstet die Klassenlehrerin ein.

 

Bei eigener Betroffenheit ist es sehr wichtig, zügig zu handeln und Personen, die einen helfen können, in Kenntnis zu setzen. Es ist kein Petzen, die eigegen Angehörigen (Eltern, Partner,...), Mitschülern/Kollegen und Lehrer/Chefs davon zu berichten. Henrike wandte sich nicht an ihre Eltern und an ihre Lehrer, sondern an ihre Freunde, Kinder im Alter von 11 bis 13. Sie wissen selbst nicht, was sie genau tun müssen, obwohl sie Henrike intuitiv den Rücken stärken. Von ebenso großer Bedeutung ist es, Beweise zu sammeln und ein Mobbingtagebuch zu führen. Nur so können Außenstehende den Mobbingprozess verstehen und entsprechend handeln. Im Fall von Henrike ist es wichtig z.B. gemeine Briefchen aufzubewahren und als Beweismittel gegen die Mobber zu verwenden. Von enormer Bedeutung ist auch das Durchgreifen der "Leitwölfe" wie Lehrer und Chefs/Abteilungsleiter. In der Geschichte hätte ganz anders gegen Lilly und Co vorgegangen werden müssen, anstatt es nur bei einem "Du-Du-Du" zu belassen. Es hätten in diesem Fall bei den 4-5 Hauptmobbern Klassenkonferenzen einberufen werden müssen, um eindeutig zu signalisieren, dass Mobbing in keinerlei Hinsicht geduldet wird.

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Tag der Veröffentlichung: 23.05.2013

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