WILD
JUNE
MAYBERRYS
ERSTER
FALL
von
JULES MARCH
Sowas wie ein Krimi.
TRACKLIST
Leona | Millencolin
Loyalty. | Kendrick Lamar feat. Rihanna
Stay The Same | Bonobo
She’s Lost Control | Joy Division
How To Disappear Completely | Radiohead
Cigarettes & Alcohol | Oasis
Space Oddity | David Bowie
Ego Brain | System Of A Down
Sam, As In Samantha | Tiger Lou
Takk… | Sigur Rós
Lullaby | Dillon
Forest | Deine Lakaien
You Don’t Know Me | Son Lux
Murmuration | GoGo Penguin
Mr Lonely | Portugal. The Man
Desired Constellation | Björk
A Stranger | A Perfect Circle
Whiteout | Warpaint
Land Of All | Woodkid
Stumbleine | The Smashing Pumpkins
03.45 : No Sleep | The Cardigans
gewidmet
Helena + Allison + Cosima + Sarah
01 | LEONA
Der Percy Circus im Norden von Londons Viertel Clerkenwell war kein guter Ort, wenn man zu viel getrunken hatte. Die kreisrunde Straße, die für die britische Hauptstadt typisch einen kleinen, von einem schwarzen, eisernen Zaun umsäumten Grünbereich einfasste, schien in alle Richtungen eine Steigung zu haben. Zumindest kam es June Mayberry so vor, als sie sich noch immer schwankend auf den Weg nach Hause machte. Über die King’s Cross und Farringdon Road wäre es nur ein Fußmarsch von fünfzehn Minuten gewesen, doch der Londoner Verkehr war auch jetzt, mitten in der Nacht, kaum weniger aktiv als am Tag, und June konnte den Lärm der Hauptstraßen beim besten Willen nicht ertragen.
Die Kopfschmerzen hatten eingesetzt, noch bevor sie aufgestanden war. Wäre sie zu Hause in ihrem Bett gewesen, sie hätte ihren körperlichen Zustand ignoriert und bis zum nächsten Abend durchgeschlafen, doch das war in dieser Nacht in mehrerlei Hinsicht keine Option.
Es war schon nach halb fünf am frühen Morgen, als June in einem völlig zerwühlten Hotelbett aufgewacht war. Die Tatsache, dass es nicht ihr eigenes Zimmer war und ein fremder Arm auf ihrem Rücken lag, war dabei nicht der schockierendste Aspekt, denn dieses Erlebnis hatte June beileibe nicht zum ersten Mal. Doch der Umstand, dass sie sich im ersten Moment an gar nichts seit dem Vorabend erinnern konnte, alarmierte sie.
Sie legte den schmalen, fremden Arm zur Seite und stellte erleichtert fest, dass das tiefe, gleichmäßige Atmen in der Dunkelheit neben ihr dadurch nicht gestört wurde. Im Licht, das durch einen Spalt zwischen den zugezogenen Vorhängen fiel, sammelte sie mühsam ihre Klamotten zusammen, die vor dem Bett auf dem Boden lagen, in einem Durcheinander mit Kleidern, die definitiv nicht ihre waren.
Sie machte ein paar vorsichtige Schritte zur Tür des kleinen Badezimmers und kämpfte dabei gegen die horizontale und vertikale Orientierungslosigkeit an, die das überwältigende Schwindelgefühl in ihrem Kopf auslöste. Im Bad angekommen, knipste sie das Licht an und zog die Tür hinter sich zu. Wankend stand sie vor dem Spiegel und betrachtete sich, während das Pochen in ihren Schläfen die Sekunden runterzählte, bis ihr Gehirn schließlich feststellte, dass es ihren Gleichgewichtssinn beim besten Willen nicht mit dem Bild vor ihren Augen in Einklang bringen konnte. June spürte das Unausweichliche.
Der Klodeckel war oben, und das war ein Glück, denn ihr Körper ließ ihr kaum Zeit zur Reaktion. June fiel auf die Knie und warf den Kopf nach vorne, während sie sich schmerzhaft übergab. Ihr Herz raste, als sie Augenblicke später gegen die nachhallenden Magenkrämpfe ankämpfte. Sie fluchte innerlich, als sie ihre völlig durchwühlte Masse an Haaren sah, die rund um ihr Gesicht im Porzellan hing.
Dies, dachte June, ist dann wohl ein neuer Tiefpunkt meiner Existenz. Anstatt wie ein weiblicher Casanova nachts aus dem Zimmer einer Liebhaberin zu fliehen, kotze ich mir beim Fluchtversuch in die Haare.
Sie setzte sich auf den kalten, gefliesten Boden und lehnte sich mit geschlossenen Augen an die Wand. Immerhin hatte ihr Körper nun für einen hoffentlich andauernden Moment das Gefühl, sich der Giftstoffe entledigt zu haben. Ihr Magen beruhigte sich, und mit einigen tiefen, bewussten Atemzügen schaffte es June, ihren Puls zu normalisieren.
Seufzend stand sie auf, zog die Duschabtrennung von der kleinen Badewanne zurück und griff nach der Brause. Sie wollte nicht riskieren, dass sie beim Duschen Lärm machte und die Person im Bett aufweckte, doch sie musste sich die Haare waschen, bevor sie das Zimmer verließ, daran ging kein Weg vorbei.
Sie trocknete ihre wellige, voluminöse Haarpracht, so gut es ging, mit einem Handtuch und warf es dann achtlos auf den Boden, dann griff sie nach ihrer Kleidung. June musste einen Fluch unterdrücken, als sie feststellte, dass ein entscheidendes Stück fehlte. Für einen Augenblick überlegte sie, ob sie zurück in das Hotelzimmer gehen und nach der fehlenden Unterhose suchen sollte, doch sie wollte nicht riskieren, vor ihrem Verschwinden entdeckt zu werden. Also schlüpfte sie mit einem Seufzen direkt in ihre Hose und zog die restliche Kleidung an. Sie stopfte ihre feuchten Haare unter die große Kapuze ihrer schwarzen Weste mit dem aufgestickten Sex-Pistols-Schriftzug auf dem Rücken, tastete dann die hinteren Taschen ihrer Jeans ab, um sicherzugehen, dass Portemonnaie und Handy an ihrem Platz waren, und warf noch einmal einen prüfenden Blick in den Spiegel. Immerhin, der schwarze Lidstrich saß, und der Mascara war kaum verschmiert, sodass June nun äußerlich ein Bild bot, das nach einer langen Samstagnacht akzeptabel war.
Sie nahm die Steigung zum Percy Circus hinauf, vorbei an der Nummer 16, in der Lenin mit seiner Frau vor einhundertzwölfeinhalb Jahren für einige Wochen für den dritten Kongress der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands residiert hatte. June hielt an, um die nahenden Lichter eines Autos passieren zu lassen, bevor sie Great Percy Street überquerte und den Circus südwärts zum Prideaux Place umrundete.
Der Blick zu Nummer 16 und den neueren Gebäuden nördlich des Circus’ brachte eine Erinnerung zurück. Sie hatte Stunden zuvor hier gestanden mit einer anderen Frau ...
»Lenin hat schon vorher hier in Clerkenwell gewohnt, aber nicht am Percy Circus, sondern am Holford Square«, sagte Leona, »das war 1902 oder so. Er musste aus Munschen abhauen, weil ihm die Polizei dort auf den Leib rückte wegen der Zeitung, die er rausbrachte.«
»Meinst du München?«, fragte Jessica lachend und sprach den Namen der Stadt in akzentfreiem Deutsch aus.
»So, genau das nämlich«, bestätigte Leona unbeirrt und zog sich die Kapuze vom Kopf. Ihre dunkelbraunen Haare fielen ihr in welligen Strähnen bis auf die Schultern.
»Du weißt viel über Lenin und seine Bande«, stellte Jessica fest und stützte sich auf der Motorhaube eines parkenden Kleinwagens ab. »Wir sind gleich in meinem Hotel, ich kann mich auch kaum noch auf den Beinen halten.«
»Du hast zu viel getrunken«, Leona rülpste geräuschvoll, »aber ohne Stoff keine richtige Party, oder?«
»Benimm dich.« Jessica kicherte gleichermaßen schockiert und fasziniert von der Fremden. Leona war für sie ein Geschenk des Himmels in dieser Nacht. Jessica hatte früher am Abend Informationen erhalten, die in Kürze ihr ganzes Leben auf den Kopf stellen würden. Ein Leben, das sie sich mühsam erarbeitet hatte. Und das nur, weil sie der falschen Person vertraut hatte. Trotz aller Vorsicht.
»Man hat Lenin sogar ein Denkmal errichtet am Holford Square«, führte Leona weiter aus, »später, als er es an die Macht geschafft hatte. Der damalige russische Botschafter in London – ich hab’ seinen Namen vergessen ... vielleicht Strugatzky oder so? Jedenfalls der hat sein Denkmal enthüllt.«
»Ist das weit von hier?«, fragte Jessica.
»Nicht geografisch«, gab Leona zurück.
»Hä?«
»Aber zeitlich«, erklärte Leona, »die Nazis haben es dem Erdboden gleichgemacht. So wie auch den ganzen Holford Square. Gib’s nich’ mehr!«
Jessica schwieg. Wenn das Gespräch auf die in London allgegenwärtig scheinenden Narben des Zweiten Weltkriegs kam, hielt sie sich zurück, das hatte sie in ihrer Jugend gelernt.
»Wo ist dein Hotel?«
»Komm mit«, Jessica atmete erleichtert auf, »nur noch ein paar Schritte.«
June ging die Fernsbury Street entlang in Richtung Wilmington Square. Die Oktobernacht war angenehm mild, auch wenn June bei knapp über zehn Grad froh war, unter der Weste ein langärmeliges Shirt zu tragen. Die Bewölkung des Vortags löste sich nach und nach auf, und für einen Moment gab sich June der Illusion hin, nach einigen Stunden Schlaf zu Hause frisch und munter in einen ruhigen Sonntag zu starten.
Auch wenn Clerkenwell beileibe kein Geheimtipp war und die Straßen der Gegend von hippen Geschäften und verwöhnten, finanziell bessergestellten Neueinwohnern überliefen, so hielt Junes Liebe zu dem Viertel noch immer. Der linke Geist vergangener, radikalerer Tage, als sich Lenin und Trotzki in den Gassen Londons trollten und die Pubs leer soffen, weil alle Gehirne großer Denker in Junes Welt Alkohol als Treibstoff und Trostpflaster gleichermaßen brauchten, war in Clerkenwell präsent, wenn man um ihn wusste.
Natürlich machte sie sich keine Illusionen, zu was die Ideologie dieser Köpfe am Ende geführt hatte. June war nicht direkt ein Fan, sie war nur fasziniert von diesem Teil der Geschichte und wünschte sich, dass mehr Menschen, die sich heutzutage, da viele Teilzeitlinke es sich im Bürgertum bequem gemacht hatten und ihre halbgaren Statements über die sozialen Netzwerke in die Welt pusteten, bewusst wurden, wie die Vordenker wie Lenin mit seiner Arbeit für die Zeitung Iskra für ihre Ideologie gekämpft hatten. Spätestens im nüchternen Zustand hatte June zu dieser eindeutig nostalgischen Einstellung natürlich auch differenziertere Gedanken, doch das interessierte sie in diesem Moment nicht so sehr.
June spürte erneut ein flaues Gefühl im Magen. Es wuchs bereits, seitdem sie den Percy Circus verlassen hatte. Anfangs versuchte sie es zu ignorieren, doch bald war es zu stark dafür. Sie hielt am Wilmington Square an und lehnte sich gegen einen der klobigen, schwarzlackierten Mülleimer, die das Tor zur kleinen Parkanlage flankierten. Sie hatte nicht das Gefühl, sich erneut übergeben zu müssen, doch irgendetwas stimmte nicht. Ihr Puls war wieder schneller, und sie merkte, dass sie trotz der leichten Kleidung und mäßigen Temperaturen schwitzte.
Vorsichtig ging sie weiter ostwärts entlang der Tysoe Street. Das Schwindelgefühl und der schwankende Gang hatten nachgelassen. June war Alkohol gewöhnt und konnte auch mit heftigeren Abstürzen wie dem in dieser Nacht mit einer gewissen Routine umgehen. Doch das ungute Gefühl, das sich in ihr breitmachte, hatte eine andere Ursache. Und zwar keine körperliche, wie ihr kurz darauf klar wurde.
Körperlich hingegen war ein ganz anderes Problem. Vor den stärkeren Drinks, die sie in der Nacht mit Sicherheit gehabt hatte, konnte sie sich noch an einen Pub und diverse Pints Pale Ale erinnern, die sich nun meldeten.
Vor einigen Jahren hatte June an einem anderen Sonntagnachmittag verkatert vor ihrem Computer gehangen und aus Langeweile Informationen zum Thema Penisneid gegoogelt. Sie hatte dieses Phänomen – so es denn überhaupt existierte – nicht nachvollziehen können, mit einer rein praktikablen Ausnahme: Die Anatomie hatte eindeutig Männer darin begünstigt, nachts betrunken in die Grünanlage zu pissen. Eine himmelschreiende Ungerechtigkeit war das, fand June.
Als sie zwei Minuten später auf den Fußweg durch den Spa Fields Park abbog, steckte sie die Hände in die Taschen ihrer Weste und ertastete neben Kleingeld, zwei Tampons, ihrem Schlüssel, zwei Kronkorken und einem Pappbierdeckel, von dem sie keine Ahnung hatte, wie dieser dort gelandet war, eine fast leere Packung Taschentücher.
Sie warf einen Blick in die Umgebung, schickte eine Danksagung gen Himmel an die Stadtplaner von Clerkenwell für die Berücksichtigung mehrerer Grünanlagen und schlug sich in die Büsche.
»Hat dich deine Freundin hier sitzen lassen?«, fragte die Fremde und platzierte sich kurzerhand auf dem Stuhl neben Jessica an dem kleinen, runden Tisch in der Ecke des Pubs.
»Sie ist nicht meine ...«, Jessica schüttelte den Kopf, »ach egal.«
»Cool«, kommentierte die Frau. »Ich setze mich hierhin, ist doch okay, oder?«
»Äh«, entgegnete Jessica perplex. Abgesehen davon, dass die Unbekannte sich bereits gesetzt hatte, bevor sie die Frage stellte, war sie nicht gerade daran interessiert, jetzt alleine zu sein. »Ist okay.«
Sie sah die Fremde interessiert an. Sie war etwa in ihrem Alter, vielleicht ein paar Jahre jünger, aber das konnte auch daran liegen, dass sie sich offensichtlich nicht um ein besonders erwachsenes Outfit scherte.
»Weißt du, dass sich an diesem Tisch Lenin und Stalin zum ersten Mal getroffen haben?«, fragte die Fremde.
»Bitte was?«, entgegnete Jessica verwirrt.
»Lenin und Stalin kennst du? Zwei tote Russen?«
»Stalin war Georgier, oder?«, konterte Jessica und stellte zufrieden fest, dass es in den Augen der Unbekannten erfreut aufblitzte.
»Besserwisser!«, urteilte sie.
Jessica lachte. »Du brichst das Eis, indem du völlig unvermittelt mit irgendwelchen historischen Fakten kommst, aber nennst mich einen Besserwisser?«
»Es hat funktioniert«, die Fremde grinste, »du machst nicht mehr so ein Gesicht wie drei Tage Regenwetter!«
»Es war nur ein anstrengender Tag, nichts Besonderes«, log Jessica, »aber ja, du hast recht. Du hast es geschafft, mich mit deinem Bullshit aufzuheitern.«
»Was heißt hier Bullshit?«, fragte die Fremde mehr interessiert als empört.
»Dieser Tisch ist ganz sicher noch keine hundert Jahre alt.« Jessica klopfte auf die hölzerne Tischplatte.
»Möbelexpertin?«
»Gesunder Menschenverstand«, entgegnete Jessica.
»Der wird überbewertet«, die Frau lachte rau, »aber du hast natürlich recht. Es war nicht dieser Tisch, die beiden saßen sicher an der Bar.«
»Aha«, gab Jessica skeptisch zurück.
»Doch, kannste nachlesen, hier ist irgendwo eine Plakette, auf der das steht, ... und Plaketten lügen nicht, oder?«
»Wenn du das sagst«, kommentierte Jessica unbestimmt.
»Mein Bullshit kann sehr unterhaltsam sein, wenn man den gesunden Menschenverstand mal ausschaltet. Es ist Samstag, das ganze Viertel macht sich bereit für die Wochenendpartys, ... oder wie die gentrifizierende Masse ihre abendlichen Wochenendaktivitäten sonst so nennt.«
»Wie wäre es«, schlug Jessica vor, ohne zu ahnen, welchen Pfad sie und die Fremde damit betraten, »wenn du mir einen Drink ausgibst? Du scheinst den Pub hier zu kennen, ich bin nicht mal aus London.«
»Du trinkst, was ich dir bestelle?«, fragte diese und bleckte die Zähne. Sie wirkte gefährlich auf Jessica, aber gerade so sehr, dass sie die richtige Gesellschaft für den Abend war.
»Du zahlst, ich trinke«, bestätigte Jessica heroisch, »und wenn du es übertreibst, musst du dafür sorgen, dass ich später zurück zu meinem Hotel finde.«
Die Clerkenwell Close zog sich durch die alten Häuser bis zum südlich angrenzenden Clerkenwell Green. Dabei war das Green historisch nicht begrünt gewesen, sondern hieß nur so, weil es dem Vorbild anderer Greens – einer Art Dorfanger – folgte, die in den Ortsteilen und Vororten Londons üblich waren.
Vom Green war es nur noch ein Katzensprung bis zur Turnmill Street, in der June zu Hause war. In elisabethanischen Zeiten, als Clerkenwell noch außerhalb der Stadtgrenze Londons lag, war der Straßenzug berüchtigt für seine Bordelle. Die puritanischen Gesetze endeten am Rand der Hauptstadt, was den Vororten eine Grundlage für ihre ganz eigenen Geschäftszweige gab. Dass sich in einem Ort, der nach der frühen Präsenz von Geistlichen benannt war, eine Halbwelt befreit von strengen Gesetzen gebildet hatte, stellte sich June gerne als Ursprung einer freiheitlichen, anarchischen Grundhaltung vor. Vermutlich war es in Wahrheit in erster Linie ein Nährboden für zwielichtige Gestalten, die den eigenen Vorteilen und nicht einer Ideologie folgten, doch June wusste, dass die Anfänge revolutionärer Gesellschaftsumbrüche nicht selten den Preis florierender Verbrechen mit sich brachten.
Sie stellte sich gerne vor, dass sich Lenin und Stalin wirklich im Crown & Anchor, der heutigen The Crown Tavern, am südlichen Ende des Greens getroffen hatten, auch wenn es gute historische Gründe gab, die dieser Legende widersprachen. Der radikale Idealist Lenin trinkt ein Pint dünnes Ale mit dem Ganoven aus Georgien, nicht wissend, dass der seine Ideologie Jahre später, als Lenin, von Schlaganfällen gezeichnet, sein Wort bei seinen eigenen Gefolgsleuten gegen Iosseb Bessarionis dse Dschughaschwili alias Stalin nicht mehr durchsetzen konnte, in eine Schreckensherrschaft verwandeln würde.
Lenin war sicher kein Heiliger – auf welchen Revolutionsführer traf das schon zu? –, doch June dachte oft über eine alternative Realität nach, in der er Stalin nicht getroffen und stattdessen seinen Gefährten Trotzki in seiner Nachfolge gestärkt hätte. So hatte das Pub in Junes unmittelbarer Nachbarschaft die Atmosphäre weltpolitischer Tragik. Zumindest in ihren Augen.
»Wie heißt du eigentlich?« Jessica war sich alles andere als sicher, ob sie die Fremde schon nach ihrem Namen gefragt und diesen wieder vergessen hatte, oder ob ihr diese Idee bisher noch nicht gekommen war. Sie hatten sich mittlerweile aus ihrer Kneipenecke hervorgewagt und saßen nun am Ende der langen Bar in unmittelbarer Nähe zu den Zapfhähnen.
»Alpha Leonis.«
»Na klar ...«, Jessica lachte, »ich nenne dich Leona.«
»Davon würde ich dir abraten.«
»Warum?«
»Laserkanone.« Die Fremde klopfte beiläufig auf die speckige, dunkelbraune Aktentasche, die sie achtlos auf den Barhocker neben sich geworfen hatte.
»Dann nicht Leona.« Jessica griff nach der Hand der Fremden und führte sie von der vermeintlichen Laserkanone weg. »Aber ich werde dich nicht Alpha Leo... sowieso nennen.«
»Gut.« Die Unbekannte seufzte theatralisch und zog ihre Hand nicht zurück. Zum ersten Mal. »Ich bin Harey. Harey Kelvin.«
Jessica hob die Brauen. »Harry?«
»Ja, nenn mich Harry.« Die Fremde zuckte mit den Schultern und schob sich die ins Gesicht gerutschte Kapuze ein Stück zurück, wodurch mehr von ihrer voluminösen dunklen Haarpracht hervorquoll.
Jessica nahm ihren Drink und biss auf den Strohhalm, bevor sie die letzten, verwässerten Reste ihres Cocktails, an dessen Namen sie sich schon nicht mehr erinnern konnte, zwischen den Ruinen der Eiswürfel hervorsog.
Die Fremde passte optisch in das Ambiente. Sie zeigte eindeutig eine gewisse Punk-Attitüde in ihrem Sex-Pistols-Hoodie mit den abgeschnittenen Ärmeln, dem breiten Nietenband um ihr Handgelenk, der kunstvollen, aber etwas farblosen Tätowierung eines Löwen auf dem Oberarm, den mit roten Bändern hochgeschnürten Stahlkappenstiefeln und der engen Hose aus schwarzem Lederimitat. Und gleichzeitig waren da die kleinen Zeichen eines intellektuellen Hintergrunds, den man in einem solchen Pub irgendwo zwischen Islington und Bloomsbury erwartete.
»Leona«, versuchte es Jessica erneut, nachdem sie entschieden hatte, dass diese ihre Laserkanone nicht zücken würde, solange sie deren Hand festhielt, »ich bin Jess.«
»Ja.«
»Was?«
»Das sagtest du bereits vor ein oder zwei Drinks.« Die Fremde, die nicht Leona genannt werden wollte, lachte.
»Oh, whoops.« Jessica war von Leonas dreckigem Lachen sofort angetan. »Hab ich vergessen.«
Vergessen war ein gutes Stichwort. Es funktionierte ganz gut an diesem Punkt. Und Jessica wollte vergessen mehr als alles andere.
Sam vergessen. Antonia vergessen. Das Abendessen, das Gespräch, die Enthüllungen. Und den Plan, den sie zu fassen noch nicht ganz bereit war.
»Was machst du für ein Gesicht?«, fragte Leona. »Ich lass dir das mit dem Namen für heute Nacht ausnahmsweise durchgehen. Aber nur, weil ich schon betrunken bin.«
»Ich muss dich also nicht Harry nennen?«
»Nope.«
»Was für eine Erleichterung!«
»Warum? Ist Harry ein Stimmungskiller?« Erneut das dreckige, heisere Lachen.
»Oh, Harry wäre immer und definitiv ein Stimmungskiller.« Jessica grinste, konnte aber nicht verhindern, dass ihr Gesichtsausdruck erneut kurz versteinerte.
»Hey«, Leona zog ihre Hand zurück und drehte Jessicas Barhocker zu sich, »irgendwas auf dem Herzen? Wenn ja, dann sag es mir jetzt, bevor ich wieder so nüchtern bin, dass mich anderer Leute Probleme einen Scheiß interessieren.«
»So schnell wirst du bestimmt nicht wieder nüchtern.« Jessica deutete auf die leeren Gläser, die vom Barkeeper, der sich am anderen Ende der Theke durchgehend im Gespräch mit seinen Stammgästen befand, nicht weggeräumt worden waren.
»Bis morgen früh ganz sicher«, entgegnete Leona ungerührt.
»Was meinst du damit?«, fragte Jessica und spürte einen leichten, angenehmen Anfall von Schwindel. »Willst du etwa die Nacht mir mit verbr...«
»Shhht!«, zischte Leona. »Mach die anderen nicht neidisch!«
Jessica sah sich irritiert um. Niemand saß in Hörweite. Und außerdem taten die Manic Street Preachers mit ihrem Motorcycle Emptiness aus den basslosen Boxen der Musikanlage des Pubs ihr Übriges.
»Aber ernsthaft, erst der Spaß, dann das Vergn... nee... oder so ähnlich?« Leona verzog albern das Gesicht. »Was hast du auf dem Herzen?«
Jessica seufzte. »Willst du jetzt wirklich darüber sprechen?«
»Warum nicht?«
»Weil ... also erstens, das Thema killt definitiv jede deiner Hoffnungen für heute Nacht, und –«
»Hey!«, unterbrach Leona und deutete auf das Löwentattoo auf ihrem Oberarm. »Siehst du das? Das ist das Zeichen einer Göttin, die für Krieg und Sex steht. Die hat mich noch nie im Stich gelassen.«
»Äh ... klar ...«, Jessica fragte sich, ob sie den Geisteszustand der Fremden nicht doch etwas zu optimistisch eingeschätzt hatte, »aber ... zweitens: Wenn ich dir von dem erzähle, was mich beschäftigt, dann müsste ich dir eine Frage stellen, die zu beantworten du später bestimmt bereuen würdest.«
»Wetten, dass nicht!«, entgegnete Leona und schlug ihr zur Verdeutlichung mit der flachen Hand auf das Knie.
Jessica sah die Unbekannte an. Ihr Gesichtsausdruck verriet ihr, dass Leona – oder wie sie auch heißen mochte – wohl so ziemlich alles ernst meinte, was sie sagte. Der feste, direkte Blick, ihr wildes Aussehen, hinter dem Jessica so viel mehr vermutete als nur einen rebellischen Pseudo-Punk aus der Bürgerschicht, die permanente Anspannung, die die Muskeln an Armen und Schultern verrieten und die im Kontrast zu ihrer zur Schau getragenen coolen Gleichgültigkeit stand ...
»Ich stelle dir die Frage«, sagte Jessica schließlich, »aber nicht jetzt. Später. Hast du eine Wohnung in der Nähe?«
»Ja, aber die kommt nicht infrage«, sagte Leona trocken.
»Freundin?«
»Nope.«
»Freund?«
»Nope.«
»Was dann?«
»Neugierige Mitbewohner und mein echter Name auf dem Klingelschild.«
Jessica lachte erleichtert. Das war ein rationaler Grund, den sie verstehen konnte. Sie selbst war hier in London fast völlig anonym. Die wenigen Kontakte, die sie noch hatte und die sie erkennen würden, waren in dieser Gegend mit großer Wahrscheinlichkeit nicht anzutreffen. Und der kleinen Ort, an dem sie ihr echtes ... reguläres Leben führte, würde hier wohl niemandem etwas sagen.
»Ich habe ein Hotelzimmer«, sagte Jessica und spürte ihr Herz pochen und das Blut in den Ohren rauschen. Das geschah immer, wenn sie dabei war, etwas zu tun, das sie sonst nicht tat. Und eine fremde Frau aus einer Bar abgeschleppt hatte sie schon seit langer Zeit nicht mehr.
»Ich besorge uns einen Wagen.« Leona rutschte vom Barhocker, wühlte sich durch die welligen Haare und zog die Kapuze zurecht. Dann ging sie zum anderen Ende der Bar und wechselte einige Worte mit dem Barkeeper, den sie offenbar kannte.
Die Crown Tavern war beleuchtet. June beobachtete den jungen Mann, der beneidenswert behände den Boden wischte. Er würde ganz sicher nicht den halben Sonntag mit dem Kampf gegen einen kolossalen Kater verbringen. Andererseits war es früher Sonntagmorgen, und er musste Geld verdienen. Das war nur aus Junes jetziger Situation eine verlockende Aussicht.
Hier hatte die Nacht begonnen.
June hatte durchaus vorgehabt, einige Bier zu trinken und sich wehrlosen Fremden aufzudrängen, immerhin war Clerkenwell ihr Revier. Doch dass es so heftig werden würde, hatte sie nicht erwartet.
Sie war sich mittlerweile ziemlich sicher, dass das Hotelzimmer, in dem sie orientierungslos erwacht war, auf eine Frau namens Jessica gebucht war. Und vermutlich war es ebendiese Jessica gewesen, deren ruhigen Atem sie neben sich im Dunkel gehört hatte, als sie das Hotelbett verließ.
Doch warum war sie so abgestürzt? June behielt gerne einen letzten Rest Kontrolle über sich. Irgendetwas musste sie aus dem Konzept gebracht haben.
Während sie darüber nachdachte, meldete sich das flaue Gefühl in der Magengegend wieder. Es war so, als hätte sie irgendetwas unglaublich Dummes angestellt, ohne dass sie sagen konnte, was es war.
Sie lehnte sich an die Hausecke gegenüber der Crown Tavern und warf einen Blick die Straße zurück auf die Kirchturmuhr von St. James. Kurz vor fünf.
Was für ein Glück ist die Existenz von Kirchen doch für Betrunkene, dachte June, wenn ich in diesem Zustand mein Handy aus der Tasche holen müsste, um die Uhrzeit zu checken, würde es mir bestimmt auf den Boden fallen. Und in tausend Stücke zerbrechen.
June fasste an ihre Wange. Der Gedanke an ein hypothetisch zerbrochenes Handy hatte ihr Tränen in die Augen getrieben.
»Scheiße, June!«, sagte sie halblaut zu sich selbst. »Geh nach Hause, dein Kopf fängt an, verrücktzuspielen.«
Doch ein Gedanke hatte sich festgesetzt.
Ihr Handy!
Wenn sie die Dunkelheit, die ihre jüngere Erinnerung umgab, richtig durchdrang, dann hatte sie einen Freund angerufen, als sie den Pub verlassen hatte, oder?
»Okay, jetzt die Frage«, sagte Leona, als sie mit Jessica kurze Zeit später in einem Uber zum Hotel saß.
»Die Sache ist nicht für fremde Ohren bestimmt.« Jessica warf einen schnellen Blick auf den Fahrer.
»Yo, Rizhwan ist ein Freund«, entgegnete Leona, schob sich dann aber auf der Rückbank näher an Jessica heran, »außerdem spricht er wie alle Uber-Fahrer nur gebrochen Englisch und hat bald keinen Job mehr, wenn die Stadt den Laden dichtmacht.«
Jessica schluckte. Meinte die Fremde das ernst?
»Fick dich!«, rief der Fahrer nach hinten, doch sein Tonfall war eher belustigt.
»Hör mal«, Leona sah Jessica tief in die Augen, »was ich da gerade gesagt habe, war rassistischer Scheißdreck, und dafür hättest du mir sofort eine reinhauen müssen, klar?«
»Äh«, entgegnete Jessica. Sie hatte auf einmal wieder das Gefühl, sich auf die falsche Person einzulassen.
»Ich habe dir doch gesagt, dass die Leute deinen Humor nicht verstehen, Harey«, meinte der Fahrer in akzentfreiem Englisch.
»Dann heißt du wirklich Harey?« Jessica war von sich selbst überrascht, dass ihr ausgerechnet diese Frage am wichtigsten schien.
Die Fremde lächelte, streckte eine Hand aus und griff nach Jessicas Kinn. Jessica spürte wieder ihr Herz klopfen. Worauf ließ sie sich gerade ein? Eine Nacht in einem mittelmäßigen Londoner Hotel mit einer betrunkenen Verrückten, die sich zudem für eine Wegstrecke von knapp zwei Kilometern einen Fahrer kommen ließ – Jessica war sich längst nicht mehr sicher, dass es wirklich ein Uber war –, den sie persönlich kannte. Und doch hatte der Griff der Fremden an ihr Kinn etwas eindeutig Verführerisches in diesem Moment.
»Die Frage, die du mir stellen wolltest ...«
Jessica blinzelte, als Leona – oder Harey? – sie losließ und auffordernd ansah. Was sollte sie jetzt tun? Sie war sich ziemlich sicher, dass sie sich auf diesen ganzen Abend, die fremde Frau, die Drinks und die Einladung ins Hotel nur eingelassen hatte, weil es ihr beim Vergessen half. Und jetzt fragte diese Fremde nach dem Grund für all das.
Sicher, Jessica hätte sich irgendeine Geschichte einfallen lassen können, zumindest wenn sie etwas nüchterner gewesen wäre, aber andererseits war sie nun an einem Punkt angelangt, an dem sie sich genauso gut Rat von einer irren Fremden mit komischem Namen holen konnte.
»Wenn jemand, den du lange kennst, etwas Schlimmes tut, ... seit langer Zeit, was machst du?«
»Darf ich Rückfragen stellen?«, fragte Leona. »Oder muss ich mir die Begleitumstände selbst zusammenreimen?«
»Entschuldige«, Jessica nickte und starrte auf die Kopfstützte des Fahrersitzes vor ihr, »ich weiß nicht, was ich dir erzählen soll und was nicht ...«
»Schon okay.« Die Fremde lehnte sich zurück, und ihr Gesicht verschwand im Schatten der Kapuze. Nach einigen Sekunden fragte sie: »Das Schlimme, was die Person, die du schon lange kennst, getan hat, betrifft dich selbst?«
»Hm.« Jessica dachte nach. »Ja, ein bisschen schon.«
»Ein bisschen?«
»Es betrifft mich in einem Ausmaß, sodass ich die Freundschaft kündigen würde, weil ich der Person nicht mehr vertraue, aber ich könnte die Sache damit abhaken.« Jessica merkte, dass sie mit der Antwort nicht zu viel preisgegeben hatte.
»Aber du bist nicht die Einzige«, vermutete die Fremde unter ihrer Kapuze richtig, »andere sind betroffen. Und sie sind so betroffen, dass du davor nicht die Augen verschließen kannst.«
»Genau.« Jessica konzentrierte sich darauf, sachlich zu bleiben, auch wenn sie die Erinnerung an das, was ihr Antonia gezeigt hatte, noch immer den Tränen nahebrachte.
»Ist das Schlimme, von dem du sprichst, eine Straftat?«, fragte die Fremde.
»Ich könnte zur Polizei gehen«, sagte Jessica zur Bestätigung, »aber ... es fühlt sich nicht richtig an. Es fühlt sich so an, als müsste ich mehr tun. Als sei ich irgendwie mitschuldig, weil ich es nicht früher bemerkt habe.«
»Ich verstehe«, entgegnete die Fremde und klang plötzlich sowohl nüchtern als auch mitfühlend. Beides kam für Jessica unerwartet. »Ich kann dir nur sagen, was ich tun würde.«
»Und das wäre?«, fragte Jessica.
»Ich würde es selbst in die Hand nehmen.«
June entschied sich dagegen, Rizhwan in dem Moment anzurufen, als die Erinnerung schemenhaft zurückzukehren begann. Sie war zu betrunken, müde und verwirrt. Doch sie dachte noch daran, nachdem sie es irgendwie durch das Treppenhaus bis zu ihrer Wohnungstür geschafft hatte, sich eine Notiz zu machen, dass sie ihn am nächsten Tag anrufen musste. Vielleicht hatte er etwas von dem mitbekommen, was sie mit dieser Jessica besprochen hatte?
Sie schaltete das Display ihres Handys aus und ließ es auf den runden Teppich im Flur fallen. Mühsam schleppte sie sich die letzte Treppe in ihrer zweistöckigen Wohnung nach oben. In ihrem Zimmer angekommen, schaffte sie es gerade noch, aus ihrer Hose zu schlüpfen, dann fiel sie vornüber auf ihr Bett und bewegte sich bis zum fortgeschrittenen Sonntagnachmittag nicht mehr.
02 | LOYALTY.
»Brauchst du jetzt wieder so lange mit deiner Technik, bis das Essen kalt ist?«, fragte Matt und schaufelte Kartoffeln in die beiden Schüsseln auf dem Wohnzimmertisch. Missbilligend beäugte er dabei einen ringförmigen Wasserfleck. Sicher war June wieder dafür verantwortlich. Warum konnte sie nicht zumindest eine von Anoushkas unzähligen Zeitschriften und Heften, die auf dem Sofa verteilt lagen, unter die Kaffeetasse stellen, wenn ihr die Untersetzer aus Kork zu spießig waren?
»Ich bin gleich so weit, eigentlich müsste das ...«, hörte er Anoushkas Stimme aus dem Kabelgewirr hinter dem großen Flat Screen hervordringen und wieder verebben.
Matt seufzte. Er liebte seine beiden Kolleginnen, doch sie machten ihn fertig. Wobei man sagen musste, dass es bei Anoushka nur die kleinen Eigenheiten waren, die man bei jemandem, der den Großteil seiner Lebenszeit vor Bildschirmen verbrachte, wohl erwarten durfte. June hingegen war ein ganz anderer Fall. Und zwar einer, über den er nicht mit leerem Magen nachdenken wollte.
»Nouuuu«, sagte er gedehnt, »vergiss doch die blöden Nachrichten und iss mit mir! Es muss doch nicht immer der Bildschirm laufen, wenn wir essen.«
Der Flat Screen flackerte auf, und der Livestream eines Nachrichtensenders, dessen Kürzel Matt in wenigen Minuten wieder vergessen haben würde, erhellte den Raum.
»Ging doch ganz schnell«, behauptete Anoushka. Sie klopfte sich den Staub von ihrem grünen, weiten Strickkleid und ließ sich im Schneidersitz neben Matt auf dem Sofa nieder.
Bilder eines schwelenden Hausbrands erschienen auf dem Bildschirm. Offensichtlich handelte es sich um einen großen Wohnblock. »Leytonstone« verriet die am unteren Bildrand durchlaufende Schlagzeile über die Lage des Gebäudes.
»Ein zweiter Grenfell Tower?« Matt fühlte sich sofort an den verheerenden Brand in einem Londoner Hochhaus vor einigen Monaten erinnert. »Mach mal den Ton an, Nou!«
»Nicht nötig«, sie winkte ab und griff nach ihrem Teller und ihrer Gabel, »die Nachricht läuft seit Stunden in Schleife. Irgendein Häuserblock ist abgebrannt. Leerstehend.«
»Leerstehend?« Matt nickte und zerlegte mit der Gabel eine Kartoffel in mundgerechte Teile.
»Peacock Place«, sagte Anoushka mit Verzögerung, da sie erst zu Ende kauen und herunterschlucken musste. Sie hätte nie mit vollem Mund gesprochen oder hastig, ohne gründliches Kauen, Essen heruntergeschluckt. Matt vermutete die strenge Erziehung ihres indischen Vaters als Ursache, sprach das aber nie aus, denn eigentlich war das nur eine auf Stereotypen basierende Annahme, für die er sich bisweilen vor sich selbst schämte.
»Nie gehört«, entgegnete er.
»Sozialwohnungsprojekt«, erläuterte Anoushka, »hätte vor Monaten fertig sein sollen. Aber seit Grenfell checken die Brandschutzmaßnahmen und Bausubstanz gründlicher, und der Investor hinter dem Projekt hat die Arbeiten gestoppt. Jetzt sind da endlich neue Wohnungen im Rahmen des Programms für erschwinglichen Wohnraum, und sie werden nicht fertiggestellt.«
»Eigentlich doch ganz gut, wenn man den Brand bedenkt«, warf Matt ein.
»Der Peacock Place ist seit dem Sommer berüchtigt dafür, dass sich dort Dealer und Junkies eingerichtet haben«, entgegnete Anoushka abfällig, »wetten, dass Rivalitäten zwischen denen für den Brand verantwortlich sind? Hätte es nie gegeben, wenn der Investor nicht kalte Füße bekommen hätte.«
»Ich weiß nicht, Nou«, er deutete mit einem aufgespießten Backfischstück zum Bildschirm, was ihm einen missbilligenden Blick von Anoushka einbrachte, »wenn ein fast fertiges Gebäude so ausbrennt, dann war das Zögern vielleicht berechtigt.«
»Auf der Straße leben ist keine sonderlich gute Alternative«, entgegnete sie.
Matt schob sich die Gabel in den Mund und schwieg. Er kannte Anoushka mittlerweile seit fast einem Jahr, doch er wusste noch immer nicht besonders viel über ihren Hintergrund. Ihre Mutter war als Flüchtling aus Mali gekommen, ihr Vater illegal aus Indien eingereist. Das ließ auch Anoushkas rechtlichen Status im Unklaren. Sie hatte laut eigener Aussage nie längere Zeit ohne Obdach gelebt, doch ihre Kindheit und Jugend musste sich zu einem großen Teil auf der Straße abgespielt haben. Oder besser: in Kellern und Internet-Cafés, denn dort hatte sie gelernt, mit Computern und anderen elektronischen Dingen umzugehen.
»Zwei Leichen wurden in dem Gebäude gefunden«, ergänzte sie, während auf dem Schirm die Bilder vom ausgebrannten Peacock Place in Schleife liefen, »ein Teenager, ein Junkie.«
»Der Jugendliche war kein Junkie?«, fragte Matt.
»Meine Quellen sagen jedenfalls, er war nicht als Junkie bekannt.« Anoushka deutete mit dem Kinn in Richtung ihres Laptops. Matt wusste, dass sie über Social Networks und ihre sonstigen Online-Kontakte meistens besser informiert war als die Nachrichtensender. Manchmal allerdings stellten sich die Informationen als nicht besonders zuverlässig heraus. »Der Junge war angeblich nicht mal aus London ... weiß nicht, wie gesichert diese Info ist.«
»Hmm ...« Matt brummte wenig überzeugt.
»Der Junkie ist aber viel interessanter«, sagte Anoushka und ließ die Gabel auf ihren Teller sinken, »der war nicht verbrannt, lag aber im abgefackelten Haus.«
»Der ist nach dem Brand ins Haus gegangen und hat sich da einen tödlichen Schuss gesetzt?«, fragte Matt.
»Tödlicher Schuss«, sie nickte, »aber nicht selbst gesetzt. Und auch nicht aus einer Spritze.«
»Wie?« Matt blickte interessiert auf. »Jemand hat ihn nach dem Brand erschossen?«
»Scheint so.« Anoushka sah Matt zufrieden, dass ihre Informationen sein Interesse geweckt hatten, an und griff nach ihrem Smartphone. Kurz darauf erklang der Ton der Nachrichtensprecherin, die gerade zu einer neuen Meldung übergegangen war.
»... wird seit Montag vermisst. Die Robert Graves High School in Taunton wandte sich an die örtliche Polizei, nachdem die Lehrerin nach dem Wochenende nicht mehr an ihrer Arbeitsstelle erschienen war. Nach Aussage der Polizei in Taunton gibt es Anzeichen für eine mögliche depressive Erkrankung der Vermissten. Sachdienliche Hinweise auf den Verbleib von Jessica L. können an die Taunton Police unter der eingeblendeten Telefonnummer übermittelt werden.«
Das Bild einer Frau, die Matt auf Mitte bis Ende dreißig schätzte, wurde eingeblendet. Sie trug das blondierte Haar kurz in einem modischen Schnitt und ein schwarzes, elegantes Kleid mit einer schlichten Halskette. Einzig der etwas zu auffällige, glitzernde Stecker im linken Nasenflügel brach den dezenten Stil. Matt war sofort klar, warum diese vergleichsweise unspektakuläre Nachricht es zwischen zwei Beiträge zum Top-Thema des Tages gebracht hatte. Das Gesicht von Jessica L. hatte etwas Puppenhaftes, ihr Blick regte im Betrachter das unterschwellige Gefühl, dass es um eine junge, hübsche Frau ganz besonders schade war, wenn sie vermisst wurde oder ihr womöglich etwas zugestoßen war. Matt widerten solche Gedanken an, auf die sich die Medien verließen, wenn sie ihre Schlagzeilen nach Wichtigkeit sortierten, doch er konnte auch nicht leugnen, dass sie funktionierten. Auch bei ihm selbst.
»Laaaaangweilig«, murrte Anoushka und schob den leeren Teller von sich weg, »kommen wir zurück zu dem erschossenen Junkie. Man hat an ihm Blut gefunden, das nicht seins war!«
Matt war froh, dass die Nachrichtensendung ebenfalls zurück zum Brand in Leytonstone wechselte und er Jessica L.s Puppengesicht nicht mehr vor Augen hatte.
»Einen Fall wie diesen bräuchten wir«, fuhr Anoushka fort, »stattdessen bekommen wir fast nur langweiliges Zeug.«
Matt hielt dem Reflex stand, ihr zu widersprechen. Es war gerade ein Jahr her, seitdem sie ihre Detektei gegründet hatten. Es war Junes Idee gewesen – natürlich. Sie hatte Anoushka und ihn bei einer Silvesterparty einander vorgestellt, betrunken gemacht und gegen sechs Uhr am Neujahrsmorgen davon überzeugt, dass sie zu dritt eine Detektei eröffnen sollten.
Matt hatte kurz vorm letzten Weihnachten seinen Job aufgegeben und sich darauf eingestellt, ein Jahr Auszeit zu nehmen, die Welt zu bereisen oder sich ein Hobby zu suchen. Doch die erste Woche des neuen Jahres war noch nicht um, da lud ihn June zu sich ein und legte ihm seinen Arbeits- und Gesellschaftervertrag für die Detektei Mayberry & Shields vor. Anoushka war ebenfalls dort und mindestens genauso perplex wie er. Der Unterschied war nur, dass sie einen neuen Job finanziell brauchte, während Matt vor allem Ruhe gebraucht hätte.
Doch June war überzeugend gewesen, und er hatte schließlich zugesagt – wenn auch nur deshalb, weil er nicht damit gerechnet hatte, dass die Detektei für mehr als drei Monate durchhalten würde. Außerdem war er in Junes absurde Art, ihr Leben zu bestreiten, verliebt. Die Aussicht, für eine Zeit Teil ihres inspirierenden Wahnsinns zu werden, hatte damals etwas Anziehendes.
Und nun, zehn Monate später, sah die Unternehmung wirtschaftlich gar nicht übel aus. Dafür mussten sie eigentlich dankbar sein, doch er musste Anoushka recht geben. In der Zwischenzeit waren die ständigen Hintergrundchecks, die bei ihnen in Auftrag gegeben wurden, und die gelegentlichen Überwachungen zu einer wenig aufregenden Routine geworden.
»Wir müssen einfach Geduld haben«, sagte Matt schließlich, »wir machen uns erst mal einen Namen in Sachen Zuverlässigkeit und Professionalität, dann wird irgendwann auch mal ein interessanter Fall an die Tür klopfen.«
Anoushka schaffte es nicht mehr, ihre sichtbare Skepsis zu äußern, denn Matts Handy begann zu vibrieren. Er warf einen Blick auf das Display und hielt es in ihre Richtung.
»Siehst du? Vielleicht meldet sich da schon der Fall internationaler Spionage.«
»Ich sehe nur, dass sich unser Assistent meldet«, entgegnete Anoushka.
Matt seufzte und nahm das Gespräch an. »Mr. O, was gibt es?«
Will Orange war von June bereits kurze Zeit nach Gründung der Detektei eingestellt worden, da sie die Diskussion, wer sich um die formalen Schritte der Unternehmensgründung, die Buchhaltung und Ablage und – Zitat June – »den sonstigen Scheiß« kümmern sollte, gar nicht erst führen wollte. Streng genommen war Will Orange, den sie seit dem ersten Tag nur »Mr. O« nannten, Junes persönlicher Assistent, denn er lief nicht auf der Gehaltsliste der Detektei. Matt wollte gar nicht so genau wissen, wie June ihn angestellt hatte, doch der praktische Nutzen von Mr. O war unbestreitbar.
Außer es ging um August. In dem Fall konnte Matt auf den Nutzen des Assistenten gut und gerne verzichten. August war Junes Sohn, ein pubertierender Junge. Und Mr. O – obwohl ansonsten ein umgänglicher Mensch – hatte höchst antiquierte Ansichten, was gesellschaftliche Rollenbilder anging. In dieser Hinsicht erinnerte er Matt an seinen eigenen Vater, und das war das Letzte, was er einem Heranwachsenden zumuten wollte. Und da June sich äußerst schwer damit tat, August eine gute Mutter zu sein, sprang Matt in dieser Funktion ein, wann immer der Junge zu Besuch war.
August lebte bei seinem Vater und dessen neuer Familie, doch jeden Freitag nach der Schule kam er in der Detektei vorbei, um den Abend mit seiner Mutter zu verbringen. Und nicht selten war June nicht da. Anfangs beschäftigte Mr. O als guter Assistent den Jungen, bis Matt irgendwann einschritt, als er hörte, wie dieser seine Lehrer als »behindert« und »gay« beschimpfte und Will Orange offensichtlich nicht daran dachte, ihn zurechtzuweisen. Matt stellte den Assistenten zur Rede. Seitdem war August Matts Aufgabe, wann immer June nicht anwesend war.
So auch jetzt. Mr. O informierte Matt einsilbig, dass der Junge angekommen wäre. Im geräumigen Eingangsbereich in der unteren Etage der zweistöckigen Wohnung, die außer Junes Räumlichkeiten und dem Wohnzimmer im oberen Geschoss die Arbeitszimmer von Anoushka, Mr. O und Matt, den Besprechungsraum und die Küche enthielt, warteten August und Mr. O bereits. Die Stimmung schien eigenartig gedrückt, als Matt die Treppe hinunterkam.
»Ich habe August im Innenhof getroffen, als ich den Müll rausgebracht habe«, berichtete der Assistent, »es geht offensichtlich um ein Thema, bei dem meine Expertise nicht gefragt ist.«
Mr. O machte eine Geste, als würde er seinen Mund mit einem Schlüssel verschließen, verbeugte sich und ging zurück in sein Büro. August musste über die alberne Show lachen.
»Hi August«, begrüßte Matt den Jungen, »was liegt denn an? Wieso hast du im Hof gewartet? Du weißt doch, dass du zu uns reinkommen kannst.«
Matt hielt es für unnötig ihn darüber zu informieren, dass seine Mutter noch nicht aufgetaucht war. Eigentlich war das Gegenteil der Fall. Wäre sie bereits anwesend, wäre das die eindeutig größere Schlagzeile gewesen.
»Ich habe noch telefoniert«, entgegnete August in heiserem, noch nicht ganz aus dem Stimmbruch zurückgekehrtem Ton.
»Als würdet ihr jungen Leute das Smartphone noch freiwillig zum Telefonieren nutzen.« Matt schüttelte den Kopf, dann deutete er auf eine nahe Tür. »Na komm. Ich mache dir was zu essen.«
In der modern eingerichteten, großzügig geschnittenen Küche schmiss August seine Tasche in die Ecke und setzte sich an den langen Esstisch. Matt warf einen Blick in die Töpfe. Er hatte genug gekocht, um nicht nur Anoushka und sich satt zu kriegen, auch für den Jungen sollte es noch reichen.
»Soll ich dir helfen?«, fragte August mehr aus Höflichkeit als aus Überzeugung.
»Geht schon«, entgegnete Matt und füllte einen Teller, den er kurz darauf in die Mikrowelle verfrachtete, »erzähl mir lieber, was dir auf der Seele liegt.«
»Nichts«, unternahm August einen halbherzigen Ausweichversuch.
»Selbst Mr. O hat mitbekommen, dass etwas nicht stimmt.« Matt lehnte sich gegen die Kante der Arbeitsplatte und verschränkte die Arme. »Du glaubst doch nicht, dass du mich so leicht abwimmeln kannst, oder?«
»Es ist wirklich nichts«, brummte August, »nicht mit mir. Ein Freund von mir hat Ärger.«
»Und welchen Ärger hat dieser Freund?«
»Er hat Stress mit so ein paar Mädels aus der Schule.« August zuckte beiläufig mit den Schultern, doch Matt wusste, dass da mehr dahinter war. Und er war wieder einmal froh, dieses Thema nicht Mr. O überlassen zu haben.
»Und was hast du damit zu tun?«, fragte er forschend.
»Nichts«, sagte August.
»Natürlich«, entgegnete Matt sarkastisch, »deshalb guckst du auch wie ein Dackel, dem man befohlen hat, auf einem Barhocker Platz zu nehmen.«
»Na ja«, August zuckte erneut beiläufig mit den Schultern, »ich war halt dabei, und jetzt denken die, ich wäre blöd.«
»Warum das?«, fragte Matt.
»Ich habe Anthony zur Seite gestanden.« August starrte auf den Tisch vor sich. Es war klar ersichtlich, dass dahinter noch mehr steckte, was dem Jungen unangenehm war, und Matt überlegte, ob er es besser dabei belassen sollte. Doch sein Vater hatte früher, als Matt jung gewesen war, bei erster Gelegenheit schwierige Gespräche vermieden. Rückblickend war das nicht das, was Matt damals gebraucht hätte.
»In Ordnung«, Matt drehte sich auf das Piepen der Mikrowelle hin um, »was genau hat dieser Anthony getan, dass er jetzt Stress mit den Mädels hat?«
»Er hat sich über Theresa Woodrows Kleidung lustig gemacht«, erklärte August und bekam rote Ohren.
»Das ist nicht nett«, entgegnete Matt und stellte dem Jungen den Teller hin, »aber ich glaube nicht, dass das alles war.«
August nahm die Gabel und begann so schnell zu essen, dass er sich die Zunge verbrannte.
»Gehe ich richtig in der Annahme, dass es dir nicht egal ist, dass die Mädchen jetzt sauer auf dich sind?«, fragte Matt.
Der Junge zuckte die Schultern.
»Lass mich raten«, Matt lächelte, »zumindest bei einer der Damen ist es dir nicht egal, richtig?«
August nickte fast unmerklich und ließ die Gabel noch schneller zwischen Teller und Mund wandern, sodass er sich verschluckte. Matt musste innerlich lachen. Die Pubertät war eine Zeit, die er definitiv nicht noch ein zweites Mal erleben wollte. Man benahm sich albern und dumm, war aber alt genug, sich dessen schon bewusst zu sein.
Ein Geräusch aus dem Eingangsbereich ließ ihn aufhorchen. Es war ein leises, unauffälliges Klicken im Schloss der Wohnungstür, gefolgt von einem hörbaren Quietschen und einem ebenso hörbaren Fluchen.
»Iss in Ruhe«, sagte Matt zu August, »wir sprechen gleich weiter.«
Er verließ die Küche, so lautlos er konnte. Im dämmrigen Eingangsbereich sah er einen Schatten an der Garderobe vorbei zur Treppe schleichen. Matt bewegte sich seitwärts zum Lichtschalter, atmete tief ein, dann betätigte er diesen und schrie: »Hab dich!«
»Fick dich, Matt!«
Die Antwort kam erwartungsgemäß, der Anblick hingegen überraschte ihn. June war bereits einige Stufen hochgegangen. Es war nicht ungewöhnlich für sie, dass sie sich erst mal die Treppe zu ihrer Wohnung hochschlich und sich umzog, um dann den anderen unter die Augen zu treten, doch jetzt bot sie ein Bild, das Matt kurzzeitig die Sprache verschlug.
Sie sah schlimm aus. Ihre Kleidung war dreckig, die Hosenbeine schlammverkrustet und an den Knien zerschlissen. Junes normalerweise schon kaum zu bändigende Haare waren völlig durcheinander, an Stirn und Wange hatte sie blutige Schrammen, und sie war leichenblass. Matt waren mit einem Mal alle vorher zurechtgelegten sarkastischen Bemerkungen entfallen. Besorgt ging er auf sie zu, doch June hielt die Hände abwehrend hoch.
»Bleib weg, Matt! Ich bin nicht in der Stimmung, irgendjemanden zu sehen. Nicht jetzt!«, fauchte sie.
»Ach wirklich?«, gab er zurück. »Also auch nicht deinen Sohn? August sitzt in der Küche und könnte eine Mutter gerade sehr gut gebrauchen.«
June warf Matt einen Blick zu, als wäre es seine Schuld, dass sie in einer so unpassenden Gelegenheit ein Kind hatte. Matt war nicht zum ersten Mal beeindruckt, wie bedrohlich June mit ihren 1,65 m Höhe wirken konnte, wenn sie ihn so anstarrte. Andererseits galt ihre geringere Körpergröße in diesem Moment nicht, denn sie befand sich auf der Treppe vier Stufen über ihm.
Matt blieb stehen und betrachtete sie näher. Da waren doch Blutflecken an ihrem Hals und ihrer Schulter. Wo war sie gewesen, was hatte sie gemacht? Sie war verschwitzt und zitterte leicht, ob vor Kälte oder Anspannung, konnte er nicht sagen. Er musste einsehen, dass es besser war, sie würde duschen und sich herrichten, bevor sie August unter die Augen trat. Mit einem Seufzen nickte er und deutete auf die Tür zur Küche.
»Ich bin bei August. Beeil dich!«
Als Matt den Raum wieder betrat, sah ihn August an. Matt war sich sicher, dass der Junge an der Tür gestanden hatte, als er June auf der Treppe abgefangen hatte. Er fragte sich, ob er mit August darüber sprechen sollte, doch was konnte er ihm schon sagen? June verschwand immer mal wieder. Für Stunden oder Nächte. Manchmal auch für mehrere Tage. Er hatte sie schon betrunken nach Hause kommen sehen – nicht immer nur abends – und auch schon nach Schlägereien, in die sie geraten war. Einmal war June high gewesen, als August auf sie gewartet hatte. Doch in einem solchen Zustand wie jetzt hatte sie Matt selbst noch nicht erlebt.
»Was ist mit Mum?«, fragte August einfach nur.
»Sie ist in den Regen gekommen und zieht sich schnell um«, versuchte es Matt mit dem harmlosesten Auszug der Wahrheit, »das Wetter draußen ist fies. Und deine Mama steht auf Kriegsfuß mit Regenschirmen, die im November ansonsten angemessen wären.«
»Ich komme mit Schirmen auch nicht klar«, sagte August stolz.
»Das ist nicht gerade eine Superkraft«, erwiderte Matt lächelnd, »aber es freut mich, dass du offensichtlich nicht die allerschlechteste Eigenschaft von June geerbt hast.«
»Sie prügelt sich wie ein Junge, hat Mr. O gesagt.« Erneut schien August stolz.
»Mr. O weiß nicht, was er von sich gibt«, entgegnete Matt, »aber wenn ich jemals zwischen die Fronten gewaltbereiter Hooligans gerate, würde ich nicht zögern, June mein Leben anzuvertrauen. Aber du, mein Freund, lenkst ab.«
August presste die Lippen aufeinander.
»Du bist mir noch eine Antwort schuldig«, Matt setzte sich zu dem Jungen an den Tisch, »dieser Anthony hat sich über die Mädchen lustig gemacht? Das wird doch nicht alles gewesen sein. Ihr seid doch keine Grundschüler mehr.«
»Na ja, er hat ...«, August zögerte, dann gab er sich einen Ruck, »er hat Theresa den Rock hochgezogen und sich über ihre ... ihre Unterwäsche lustig gemacht.«
»Was?«, fragte Matt etwas schärfer als beabsichtigt.
August wandte den Blick ab und biss die Zähne zusammen.
»Du willst mir nicht sagen, dass du ihn dafür verteidigt hast, oder?«
»Er ist mein bester Freund«, murmelte August.
»Das spielt keine Rolle, August«, Matt schüttelte den Kopf, »was er da gemacht hat, das kann man nicht verteidigen.«
»Es sollte nur ein Witz sein«, rechtfertigte sich August eingeschnappt.
»Ein Witz?« Matt seufzte. »Das ist überhaupt nicht witzig. Wenn dir jemand morgen vor deinen Freunden die Hose runterzieht, weil er das witzig findet, was würdest du sagen?«
»Das ist doch was anderes«, entgegnete August.
»Ist es das?« Matt lehnte sich zurück. »Das musst du mir erklären.«
August schwieg.
»Na los! Ich bin gespannt.«
August schwieg.
»Ich warte, August«, Matt sah gespielt auf die nicht vorhandene Armbanduhr, »erklär mir den Unterschied.«
»Wenn Mädchen einen Rock tragen, dann ..., wenn sie eine Hose tragen würden, dann ...« August guckte unsicher zu Matt und verstummte.
»Wie auch immer dein Satz weitergegangen wäre«, sagte Matt, »ich bin froh, dass du zumindest den Anstand hast, ihn nicht zu beenden.«
»Aber Anthony wurde von Theresas Freundinnen beschimpft«, versuchte es August noch einmal, »ich kann ihn doch nicht hängen lassen.«
»Das tust du aber, wenn du ihm nicht ins Gewissen redest, August«, erwiderte Matt etwas freundlicher. Er war enttäuscht, und das versteckte er nicht. Er bildete sich ein, einen positiven Einfluss auf August zu haben, doch jetzt stellte er fest, dass das offensichtlich nicht ausgereicht hatte.
Matt war in seiner Jugend ein eher schmächtiger Junge, der damals nicht selten für ein Mädchen gehalten worden war. Während der Matt jener Tage nie verstanden hatte, warum es etwas Schlechtes für ihn sein sollte, mädchenhaft zu wirken, wo es doch eindeutig etwas Positives zu sein schien, wenn sich die Lehrer oder Eltern über Mädchen unterhielten, wurde ihm schnell klar, dass einige seiner Mitschüler es als Anlass sahen, ihn zu drangsalieren. Auch der Hinweis darauf, dass die eiserne Regel »Mädchen schlägt man nicht« im Widerspruch dazu stand, dass man ihn ein Mädchen nannte und dennoch verprügelte, war nicht gerade hilfreich für seine Stellung in Schule und Nachbarschaft.
»Wenn du keine Loyalität für deine Freunde hast«, sagte August jetzt eingeschnappt, »hast du keine Freunde verdient!«
»Loyalität ist keine Entschuldigung für falsches Verhalten«, erwiderte Matt und spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg. Er atmete tief ein und aus. Er musste daran denken, dass er mit einem Halbwüchsigen sprach. Und dass August nichts dafürkonnte, wie es ihm als Kind ergangen war. »Ich denke, das Gespräch solltest du besser mit June führen, August.«
»Als würde sie mir zuhören«, entgegnete der Junge patzig.
»Das tut sie«, versicherte Matt müde, »na ja ..., wenn sie denn mal da ist.«
Es sollte eine lockere Bemerkung sein, etwas, um die angespannte Situation zu lösen. Doch Matt bereute sie in dem Moment, als er sie gemacht hatte. Der Junge sah ihn an, stand auf und fegte mit einer schnellen Geste den Teller auf den Boden. Dann stapfte er durch die Scherben aus der Küche. Matt reagierte nicht. Er sah ihm nach und empfand Mitleid. Es war nicht leicht das Richtige zu tun, wenn es so viele fehlerhafte Dinge in der eigenen Familie gab. Matt hatte das selbst erlebt.
Als er gerade die Reste des zersprungenen Tellers aufgesammelt hatte, erschien Anoushka in der Küche. Sie warf ihm einen interessierten Blick zu, raffte dann ihr Strickkleid und stieg mit ihren langen Beinen über ihn.
»Der Weg um den Tisch herum war dir wohl zu weit, was?«, bemerkte Matt.
»Schokolade«, entgegnete Anoushka zur Entschuldigung und kletterte auf die Arbeitsplatte. Aufgrund ihrer Körperlänge hatte June ihr die oberen Hängeschränke in der Küche zugeteilt, doch bei den hohen Decken der Altbauwohnung kam auch Anoushka nicht vom Boden aus daran.
»Du bist da reingetreten.« Matt deutete auf die fettigen Fußabdrücke, die sie hinterlassen hatte.
»Oh«, bemerkte sie, schnappte sich ein Küchentuch für ihre Fußsohle.
»Ich mache schon den Boden sauber, tu dir keinen Zwang an«, kommentierte Matt.
»Schlechte Laune?«, fragte Anoushka.
»Ich glaube, ich habe als Mutterersatz für August versagt«, entgegnete er.
»Deshalb macht der so ein langes Gesicht«, Anoushka warf Matt die Küchenrolle zu, »sitzt eingeschnappt oben im Wohnzimmer. Ich dachte, es wäre mal wieder wegen June.«
»Kannst du mit ihm reden, Nou?«, bat Matt. »Lass dir von ihm erzählen, was vorgefallen ist. Er könnte eine weibliche Perspektive gebrauchen.«
»Worum geht es denn? Ich bin nicht die Richtige für Erziehungsscheiß, Matt.«
»Ein Freund von ihm hat einem Mädchen den Rock hochgezogen und sich über sie lustig gemacht«, er riss ein paar Blätter von der Küchenrolle ab und begann damit, den Boden zu säubern, »und August denkt, er hätte seinen Freund verteidigen müssen. Außerdem scheint er der Meinung zu sein, dass das Tragen von Röcken das Handeln seines Freunds ausreichend erklärt.«
»Ah«, entgegnete Anoushka. Sie warf einen Blick an ihrem Kleid hinab, schnappte sich zwei Tafeln Schokolade und warf Matt einen Riegel hin. »Gut, den Bastard kaufe ich mir!«
Matt betrachtete Anoushka, wie sie dieses Mal auf seine Geste hin auf der anderen Seite des Esstischs die Küche verließ. Erleichtert unterbrach er das Putzen, nahm den Schokoriegel auf und ließ sich auf einen Stuhl fallen.
»Kriege ich Schokolade?«, fragte August. Anoushka war einige Minuten zuvor ins Wohnzimmer zurückgekommen und saß wie immer im Schneidersitz auf dem Sofa vor ihrem Laptop. Sie hatte zwei verschiedene Sorten geöffnet und links und rechts neben sich bereitgestellt, die Tafeln in einzelne Stücke gebrochen, fertig zum häppchenweisen Verzehr. Und jetzt lutschte sie seit geschlagenen fünf Minuten an einem einzigen Schokoladenstück. August machte es wahnsinnig ihr dabei zuzusehen.
»Klar.« Anoushka streckte die Hand aus, um eine der Tafeln zu ihm rüberzuschieben. Dann zögerte sie. »Aber beantworte mir vorher eine Frage: Warum, glaubst du, trage ich ein Kleid?«
August sah sie an und wusste nicht, was sie von ihm wollte.
»Ähm«, entgegnete er unschlüssig, »was weiß ich.«
»Na komm«, Anoushka breitete die Arme aus, »versetz dich in meine Lage. Warum sollte ich das wohl tun?«
»Weil es bequem ist?«, mutmaßte August und war froh, als sie nickte.
»Eigentlich vor allem, weil ich mich selbst ziemlich heiß in diesem Kleid finde, aber auch wegen der Bequemlichkeit.« Anoushka nahm ein Stück Schokolade zwischen die Finger und deutete damit auf August. »Aber immerhin ist dir klar, dass ich diese Wahl getroffen habe, weil ich mich darin wohlfühle. Und nicht, weil ich andere dazu animieren will, mir den Rock hochzuziehen.«
»Matt ist eine Petze!«, stöhnte August. »Er hat das ganz falsch verstanden! Ich finde es ja auch nicht richtig, was Anthony gemacht hat.«
»Ach Anthony heißt der Knilch«, Anoushka lachte, »und ich denke, Matt sieht das ganz richtig. Du weißt, dass es falsch war, aber du hast deinen Freund trotzdem verteidigt. Das ist nicht in Ordnung. Ich würde dir ja gerne mal vorführen, was es heißt, wenn man unfreiwillig in der Öffentlichkeit entblößt wird. Aber wenn ich das machen würde, ließe dich dein Vater nicht mehr zu uns.«
»Wäre einfacher für Mum«, bemerkte August.
»Aber Matt wäre traurig«, entgegnete Anoushka mit einem Lächeln, »und ja, deine Ma auch.«
Er gab einen abschätzigen Laut von sich, sagte aber nichts dazu. Er beugte sich vor und griff nach einem Stück Schokolade.
»Und?«, fragte Anoushka.
»Ich werde Anthony sagen, dass er das nicht noch mal tun soll«, beschloss August.
»Gut«, sie machte eine gönnerhafte Geste in Richtung der Schokolade, »und noch besser wäre es, wenn du dich bei dem Mädchen entschuldigst.«
»Aber ich habe doch gar nichts gemacht!«, protestierte August.
»Klar hast du das«, entgegnete sie ungerührt, »dein Freund war sexuell übergriffig, und du hast nicht nur diese Tat nicht verhindert, du hast ihn auch noch verteidigt. Wäre ich an der Stelle des Mädchens, ich würde ihn nie wiedersehen wollen. Deine Entschuldigung würde ich vielleicht annehmen.«
August hielt mitten in der Bewegung inne, dann aber schob er sich ein Stück Schokolade in den Mund und begann langsam zu kauen. Anoushka warf ihm einen Seitenblick zu, dann konzentrierte sie sich wieder auf die eingehenden Chat-Nachrichten zum Leytonstone-Brand.
Es vergingen einige Minuten. Während Anoushka immer schneller die Schokolade aß, weil alle Informationen, die sie von ihren Online-Kontakten bekam, keine wirklichen Neuigkeiten mehr mit sich brachten und sie allmählich ungeduldig wurde, tippte August unablässig auf seinem Smartphone.
»Danke, Nou.«
Sie sah irritiert auf. August hatte das Smartphone schließlich zur Seite gelegt und wirkte entspannter als zuvor.
»Keine Ursache«, entgegnete Anoushka, »für was auch immer.«
»Ich habe Theresa Woodrow, ... das Mädchen mit dem Rock ... du weißt schon«, er rieb sich verlegen den Nacken, »ich habe ihr geschrieben, dass ich es scheiße finde, was Anthony getan hat, und ... dass ich ihm das nächste Mal eine knalle.«
Anoushka zog eine Braue hoch. Scheinbar konnte sie mit Jugendlichen ganz gut. Das war ihr zwar neu, aber sie entdeckte öfter ungeahnte Fähigkeiten an sich.
»Sie will mit mir am Montag in der ersten Pause reden«, sagte August nicht ohne Stolz.
»Sieh an«, Anoushka nickte zufrieden, »wer hätte gedacht, dass ich es so draufhabe?«
»Du hast eine ganze Menge drauf«, bestätigte er etwas zu enthusiastisch, »zum Beispiel Mathe und –«
»Halt!«, unterbrach sie ihn. »Keine Chance! Hätte ich Anfängern was beibringen wollen, wäre ich Lehrerin geworden! Hausaufgaben machst du schön mit Matt!«
»Aber Matt ist bestimmt noch sauer auf mich«, entgegnete August enttäuscht.
»Zwei Entschuldigungen an einem Tag werden dich schon nicht umbringen«, sagte Anoushka, »hier, nimm noch ein Stück Schokolade und verzieh dich nach unten!«
Anoushka hatte ihre jüngsten erzieherischen Erfolge gerade mit Zoë geteilt, einer ihrer besten Kontaktpersonen, als June ins Wohnzimmer kam. Ihre Haare tropften noch nach dem Duschen und durchnässten langsam ihre weiße Bluse, die sie zu einer schwarzen, glänzenden Strumpfhose trug.
»Hat das Geld nicht mehr für eine richtige Hose gereicht?«, fragte Anoushka, als sich June breitbeinig in einen der Sessel fallen ließ. Das Outfit passte nicht unbedingt zu June und deutete darauf hin, dass ihr Arbeitstag noch nicht zu Ende war.
»Selber hallo!«, entgegnete June. »Der Abfluss der Dusche ist immer noch verstopft. Das ganze Bad steht unter Wasser.«
Anoushka sah June verständnislos an, und als diese nicht reagierte, hakte sie nach: »Ja, und ...?«
»Der fucking Rock ist mir runtergefallen und hängt jetzt auf der Heizung zum Trocknen«, antwortete June, »und bevor zu fragst: Ja, ich bin heute Abend noch verabredet. Muss einen Freund zu Dinner und Theater treffen.«
»Das erklärt deine Laune, Sweetie«, bemerkte Anoushka mit einem provozierenden Lächeln.
»Fick dich!«
Im Fluchen war June großartig, und Anoushka hatte eine Schwäche dafür, ihr mit ihrer rauen Alt-Stimme dabei zuzuhören. Ganz generell mochte sie Junes unangepasste Art, die sie innerhalb von Sekunden in den Griff kriegen konnte, wenn es der Job verlangte.
»Und wie war dein Tag, Schatz?«, erkundigte sich Anoushka ungerührt.
»Echt, Nou«, wehrte June ab, »kein guter Zeitpunkt.«
»Ich will doch nur Anteil an deinem Leben nehmen«, gab Anoushka gespielt eingeschnappt zurück, »ich sitze ja den ganzen Tag zu Hause.«
Anoushka war die einzige Person, die June auch bei schlechter Laune reizen konnte, ohne Vergeltung befürchten zu müssen. Sie hatten sich vor fast zwei Jahren kennengelernt. Nach dem ersten Tag eines Hacker-Treffens in Shoreditch hatte Anoushka mit ein paar Bekannten, mit denen sie sich wesentlich wohler fühlte, solange der Kontakt auf das Internet beschränkt blieb, in einem Pub gesessen und Neuigkeiten und Gerüchte über die aktuellen Indie Games ausgetauscht, als sich June zu ihnen setzte. Es war vom ersten Moment an klar, dass sie keine Ahnung von dem hatte, worüber Anoushka mit ihren Bekannten sprach, doch irgendwie schaffte sie es, das ohnehin unbeholfene Gespräch auf sich zu lenken und am Laufen zu halten. Erst später stellte sich heraus, dass niemand aus der Runde June zuvor schon einmal getroffen hatte. Jeder der Anwesenden hatte angenommen, dass einer der anderen mit ihr bekannt gewesen wäre.
Junes Punk-Outfit passte zu einem bestimmten Typ politischer Aktivisten, die sich oft im Dunstkreis von Hackern herumtrieben, auch wenn sie selbst wenig Ahnung von der Technik hatten. Zudem gab sie sich als Jane Shepard aus, eine Referenz zum Protagonisten aus einem von Anoushkas Lieblingsspielen. Also fasste sich Anoushka ein Herz, als June die Runde aufforderte, mit ihr noch durch die Clubs zu ziehen, und sie erlebte die verrückteste Nacht seit Langem. An die sich Anoushka allerdings nur noch schemenhaft erinnern konnte. Seitdem waren sie befreundet.
Anoushka betrachtete June. Sie wirkte müde und blass. Es war nichts Neues, dass June übernächtigt, verkatert, betrunken oder high nach Hause kam. Auch schlechte Laune war nicht selten, doch selbst im schlimmsten Zustand hatte sie noch eine Energie, die sie auf Trab hielt. Zur Ruhe kam sie eigentlich nur in den seltenen Momenten ausgelassener Laune und Zufriedenheit. Müde und schlecht drauf war eindeutig alarmierend.
»Sicher, dass du nicht reden willst?«, fragte Anoushka jetzt ohne jeden Sarkasmus. »Du siehst echt beschissen aus. Außerdem ist deine Bluse gleich zur Hälfte durchnässt. Du brauchst wirklich mal einen leistungsstärkeren Fön.«
»Mir geht es gut«, gab June zurück und stand aus dem Sessel auf, »ich warte nur auf den blöden Rock.«
»Dir ist bewusst, dass August unten bei Matt ist, oder?«, fragte Anoushka.
»Ich werde mit ihm Zeit verbringen, bevor ich losmuss«, entgegnete June, »Treffen zum Dinner ist erst um neun.«
»Dir ist klar, dass August 15 Jahre alt ist und mittlerweile nicht mehr um acht ins Bett muss, oder?«
»Ich bin nicht doof«, knurrte June, »aber er muss heute Abend noch zu seinem Vater zurück.«
»Ah«, entgegnete Anoushka. Immerhin ein Thema, das an diesem Abend keinen weiteren Zündstoff zwischen June und Matt lieferte. Anoushka zog sich meistens zurück, wenn zwischen den beiden die Fetzen flogen, aber bislang war der Abend im Web so langweilig gewesen, dass sie auf eine etwas geselligere Atmosphäre in der Detektei hoffte.
June warf den Kopf zur Seite und fuhr sich durch die Haare, um das Wasser herauszuschütteln. Tropfen flogen umher und landeten großflächig auf dem Wohnzimmertisch. Anoushka dachte an Matt und seine Korkuntersetzer und freute sich diebisch. Vielleicht hatte sie bei so viel Schadenfreude allerdings auch keinen harmonischen Abend verdient. Vielleicht war es besser, wenn sie ausnahmsweise zeitig in ihre Wohnung fuhr, sich in ihrer Badewanne versenkte und früh schlafen ging.
Ihre Gedanken wurden unterbrochen, als Junes Anblick erneut ihre Aufmerksamkeit erregte. Die nach links geworfenen Haare gaben die Sicht auf Junes rechte Seite frei. Die Bluse war an der Schulter völlig durchnässt, und der schwarze Träger und der obere Rand ihres BHs schimmerten durch. Und an der Stelle färbte der feuchte Fleck den Stoff der Bluse in ein schwaches Rot.
»June?«, fragte Anoushka alarmiert. »Was hast du da?«
June hielt in ihrer Bewegung inne, sah zu Anoushka und folgte dann ihrem Blick. »Oh Mist!«
»Bist du verletzt?«, hakte Anoushka nach. »Ist das Blut?«
»Zu hastig die Achseln rasiert«, entgegnete June, »ich suche besser nach einer dunklen Bluse.«
»Das sieht mir aber nach mehr Blut aus«, warf Anoushka ein und schlug sich entgeistert die Hand vor den Mund. June war aufgestanden und hatte sich zur Tür gedreht, und da bemerkte Anoushka, dass an Junes Seite und am hinteren Rippenbogen noch mehr frische Blutflecken waren. Mit einem Satz über den Tisch war sie bei June und hielt sie am Arm fest.
»Es ist okay«, protestierte June, doch Anoushka dachte nicht daran, nachzugeben.
»Deine ganze Seite ist voller Blut, June. Was hast du gemacht?« Anoushka merkte, dass June sich weniger als erwartet gegen ihre Hilfe wehrte, ein sicheres Anzeichen dafür, dass es ihr nicht gutgehen konnte. »Bleib hier, ich helfe dir.«
Anoushka brachte sie dazu, sich wieder in den Sessel zu setzen, dann knöpfte sie die halb durchnässte Bluse auf und zog sie June vom rechten Arm. Darunter kam ein Verband zum Vorschein, der jedoch das Blut kaum zurückhielt. Anoushka hatte keine Zweifel, dass June sich diesen selbst angelegt hatte. Die leitende Detektivin von Mayberry & Shields war nicht gerade dafür bekannt, sich gerne helfen zu lassen. Doch das hier ging eindeutig zu weit!
Während Anoushka ihr Smartphone vom Tisch angelte und hastig Matts Nummer wählte, blieb June regungslos auf der Kante des Sessels sitzen und protestierte nicht weiter. Jetzt bekam Anoushka langsam Angst.
Eine halbe Stunde später hatte sich ihre Aufregung etwas gelegt. Kelly-Anne Teagan, die Ärztin, die zwei Stockwerke unter ihnen wohnte und ihnen schon öfter in medizinischen Fragen geholfen hatte, saß auf dem Wohnzimmertisch und prüfte den Sitz des Verbands, den sie angelegt hatte, nachdem sie Junes Wunde gesäubert und, so gut es ging, versorgt hatte.
»Ist dir schwindelig?«, fragte sie in professionellem Tonfall, während Anoushka und Matt angespannt auf dem Sofa warteten.
»Mir geht es gut, Kel«, sagte June, die unterdessen etwas Gesichtsfarbe zurückgewonnen hatte. Sie saß noch immer in Strumpfhose und BH auf dem Sessel und ließ die medizinische Prozedur über sich ergehen. Zweimal hatte Kelly-Anne ihr dazu geraten, die Wunde professionell nähen zu lassen, doch June hatte mit deutlicher Bestimmtheit abgelehnt.
»Du wirst dich hinlegen sobald ich diesen Raum verlassen habe«, mahnte Kelly-Anne, »wenn du in Zukunft noch mal auf meine Hilfe zählen willst, machst du keine dummen Sachen mehr heute Abend, klar?«
»Ich habe mein Date für heute Abend bereits abgesagt«, gab June zur Antwort, »und August ist mit Mr. O auf dem Weg zu seinem Vater.«
»Bettruhe!«, insistierte Kelly-Anne, dann wandte sie sich an Matt und Anoushka. »Und ihr habt ein Auge auf sie!«
»Ich brauche keine Aufseher«, sagte June, »ich werde das Bett bis morgen nicht verlassen. Ich schwöre!«
»Darum geht es mir nicht«, Kelly-Anne schüttelte den Kopf, »aber ich habe Sorge, dass die Wunde wieder aufgehen könnte und du es zu spät merkst. Du kannst dich doch jetzt schon kaum auf den Beinen halten.«
»Ich kann meine Sachen holen und hier übernachten«, bot sich Anoushka an, »ich hatte mich zwar schon auf ein ausgiebiges Schaumbad gefreut, aber ...«
»June hat einen Whirlpool«, warf Matt hilfreich ein, »ich könnte auch über Nacht bleiben. Ich habe unten noch einen Satz frischer Wäsche für Notfälle.«
»Du musst heim«, sagte June, »und deine Sachen packen.«
»Äh ... wieso?«, fragte er verwundert.
»Wir müssen morgen früh einen Zug erwischen. Wir haben einen Fall. Vorausgesetzt, Frau Doktor erlaubt mir, mich morgen wieder wie ein normaler Mensch zu bewegen.«
»Frau Doktor«, entgegnete Kelly-Anne, »besteht darauf, dass du morgen früh zum Check zu ihr kommst und den Verband wechseln lässt. Wenn dann keine Bedenken bestehen, kannst du meinetwegen fahren.«
»Sehr großzügig«, gab June zurück, berührte Kelly-Anne jedoch kurz am Arm. Es waren kleine Gesten wie diese, an denen man Junes wahren Gemütszustand am besten ablesen konnte. Irgendwo unter dem Mantel aus Sarkasmus und Erschöpfung zeigte sie Kelly-Anne ihre Dankbarkeit, auch wenn sie es nicht aussprach.
»Was immer du getan hast«, sagte die Ärztin, »pass bitte besser auf dich auf. Diese Wunde, ... ich vermute ein Messer? Und wir sprechen nicht von einem Küchenunfall, richtig?«
June hielt stumm Kelly-Annes Blick stand und verzog keine Miene.
»Wäre das tiefer durch die Rippen gegangen, hätte es deine Lunge treffen können«, ergänzte die Ärztin, »und trotz deiner kindischen Widerspenstigkeit, es wäre irgendwie schade um dich.«
June beugte sich vor und angelte sich die Flasche Bourbon, die unter dem Wohnzimmertisch deponiert war. Sie beobachtete, wie Kelly-Anne ihre Sachen zusammenpackte, nahm einen großen Schluck und lehnte sich im Sessel zurück.
»Gut, ich gehe«, sagte die Ärztin, »bleibt sitzen, ich finde den Weg. Und Matt, ... du steigst mit ihr morgen nicht in irgendeinen Zug, bevor sie nicht bei mir gewesen ist.«
»Aye!« Er salutierte lässig. »Danke, Kelly-Anne!«
Minutenlang war es still, nachdem die Ärztin aus dem Zimmer verschwunden war. June starrte ins Leere und nippte hin und wieder am Whisky. Anoushka hatte sich auf das Display ihres Smartphones konzentriert. Und Matt wartete darauf, dass ausnahmsweise mal nicht er derjenige war, der die Stimme der Vernunft spielen musste. Doch schließlich war es ihm zu blöd.
»Wir sollten reden, oder nicht?«, fragte er in den Raum.
Anoushka fokussierte sich noch intensiver auf ihr Handy, und June starrte Matt wortlos an.
»Die Wunde hätte lebensgefährlich sein können«, versuchte er es erneut, »willst du uns nicht erzählen, was passiert ist? Hat es mit dem Fall zu tun? Wir sollten so etwas wissen.«
»Der Fall?« June brach ihr Schweigen und nickte. »Klar, du hast recht, Matt. Wenn wir morgen früh fahren, solltet ihr alles über den Fall wissen.«
»Hat die Wunde etwas damit zu tun?«, fragte Matt, der die Antwort schon ahnte.
»Nope«, entgegnete June, »und jetzt konzentriere dich bitte auf das Wesentliche, Matt!«
Er seufzte und verdrehte die Augen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Also gut, worum geht es?«
»Ein Vermisstenfall«, sagte June, »eine Lehrerin aus Taunton ist verschwunden.«
»Die Meldung lief doch heute in den Nachrichten.« Anoushka hatte plötzlich das Interesse an ihrem Smartphone verloren. Sicher nur vorübergehend.
»Ach wirklich?«, fragte June.
»Mit Foto«, ergänzte Matt, »hübsches Gesicht, falsche Blondine, junge Lehrerin ... genau die richtige Story für eine Zwei-Minuten-Meldung.«
»So jung ist sie eigentlich gar nicht.« June zuckte mit den Schultern, doch Matt hatte das Gefühl, dass sie nicht besonders begeistert darüber war, dass der Fall schon in den Nachrichten kam. Er wusste, dass June nicht gerne unnötige Aufmerksamkeit auf sich zog.
»Na umso besser!« Anoushka hingegen schien begeistert. »Das könnte der Fall sein, der unseren Namen bekannt macht! Oder vielleicht eher eure Namen ...«
Damit spielte Anoushka auf den Namen der Detektei an. Mayberry & Shields war eigentlich nicht zutreffend. Sie hatten darüber lange diskutiert. June wollte die Detektei Akhtar, Mayberry & Shields nennen, nach ihrer aller Familiennamen, alphabetisch sortiert. Doch Anoushka brachte den Einwand, dass sie aufgrund des ungeklärten Aufenthaltsstatus‘ von Teilen ihrer Familie nicht unnötig auf ihren Nachnamen aufmerksam machen wollte. Matt hatte infolgedessen darauf bestanden, dass auch sein Name nicht genannt werden sollte, schließlich brachte June die gesamten Finanzmittel für die Gründung, die Räumlichkeiten und den Großteil der anfänglichen Initiative mit ein.
June lehnte ab, und der Grund dafür war leider sehr einleuchtend: Sie wollte Matts Nachnamen im offiziellen Unternehmensnamen haben, denn sie wusste aus Erfahrung, dass ein Mann als sichtbarer Partner im Unternehmen Tür und Tor für Geschäftsbeziehungen öffnete, die Frauen in vielen Fällen immer noch verschlossen blieben. Selbst andere Frauen nahmen oftmals auf professioneller Ebene Männer als seriösere Geschäftskontakte wahr.
Wann immer er an diese Zustände dachte, spürte Matt eine Wut auf die Gesellschaft im Allgemeinen aufsteigen. June hingegen nahm es pragmatisch. Zudem war Matts Familienname Shields ein durchaus passender für eine Detektei, hatte sie ergänzt und die Gewerbeanmeldung ausgefüllt. Die Tatsache, dass Matts Stimme in dieser Sache nicht berücksichtigt wurde und die Entscheidung von June und Anoushka getragen wurde, beruhigte sein Gewissen ein wenig.
»Wenn du sagst, dass diese Lehrerin so jung nicht wäre«, wandte er sich an June, »dann gehe ich davon aus, dass du mehr Informationen hast als wir durch die Nachrichten?«
»Das will ich hoffen.« June machte zum ersten Mal an diesem Abend einen zufriedenen Eindruck. »Die Vermisste ist Jessica Lewis, 36, unterrichtet seit sieben Jahren Englisch, Deutsch und Sport am Robert Graves College in Taunton und ...«
»High School!«, warf Anoushka ein.
»Was?«, fragte June irritiert.
»Robert Graves High School, nicht College«, entgegnete Anoushka, »so haben sie es in den Nachrichten gesagt.«
Matt lachte. Er bewunderte Anoushkas Gedächtnis für alles, das irgendwann irgendwo mal über einen Bildschirm gelaufen war, während sie in der Offline-Welt so alltägliche Dinge wie Essen, Einkaufen und manchmal sogar Schlafen völlig vergaß.
»Okay, was auch immer«, June zuckte mit den Schultern, »Jessica Lewis ist wohnhaft in Upper Ile, einem idyllischen kleinen Kaff irgendwo im Nichts. Von Taunton muss man einen Bus oder ein Taxi nehmen, also die absolute Provinz.«
»Ich weiß noch nicht mal, wo Taunton liegt«, gestand Matt, »also hoffe ich, du kümmerst dich um die Reiseplanung, June.«
»Somerset«, warf Anoushka mäßig hilfreich ein.
»Reiseplanung ist schon erledigt«, meinte June, »wir nehmen die Grand Western um kurz nach elf von Paddington bis Taunton, danach finden wir irgendeinen Taxifahrer, der sich da auskennt.«
»Wir sollten über Dienstwagen nachdenken«, sagte Matt nicht ganz ernst gemeint.
»Wenn wir in Zukunft öfter Fälle auf dem Land übernehmen sollten, besorge ich uns eine Karre«, erwiderte June.
Matt sah June nachdenklich an. Vermutlich würde sie einen fetten alten Rolls Royce samt Chauffeur besorgen. Oder aber eine altersschwache Kiste vom Festland, mit dem Lenkrad auf der falschen Seite und eigenartigen, mottenzerfressenen Dingen, die vom Rückspiegel baumelten. Egal wie, eine konventionelle Lösung würde es mir ihr nicht geben. Also vertiefte Matt dieses Thema nicht weiter.
»Mayberry & Shields kommen auch zu dir aufs Dorf!«, versuchte sich Anoushka an einem Werbeslogan.
»Nein.« June sah sie ermahnend an.
»Ist dein Kaff selbst Scotland Yard zu abgelegen? Mayberry & Shields übernehmen den Fall!«, schob Anoushka nach.
»Oder kurz und knapp: Am Arsch der Welt? M&S kommen!«, half Matt.
»Klappe!«, murrte June. »Und würdest du uns bitte nicht M&S abkürzen, Matt?«
»Liegt die Leiche auf dem Feld«, begann Anoushka mit etwas, das sich nach einem gereimten Slogan anhörte.
»Stopp! Aus! Habt Erbarmen!« June warf sich theatralisch im Sessel zurück, woraufhin Anoushka in Lachen ausbrach. »Das hier ist Arbeit, keine Zeit für Albernheiten!«
»Ich feile an unserer Marketingstrategie«, beteuerte Anoushka.
»Mach das, wenn ich schlafe«, entgegnete June.
»Mal was anderes«, versuchte Matt das Gespräch in vernünftige Bahnen zu lenken, »wer hat uns beauftragt?«
»Eine Anwältin«, sagte June, »sie darf ihren Klienten nicht nennen, aber ich habe Jessica Lewis’ Eltern im Verdacht.«
»Warum das?«, fragte Matt.
»Ich weiß nicht, nur so ein Gefühl«, entgegnete sie, »die Art, wie sie von ihrem Klienten sprach ... Außerdem fällt mir sonst nicht ein, wer ein Interesse daran haben sollte, wenn nicht Familie oder Freunde.«
»Aber warum wollen die Klienten dann nicht, dass man sie nennt?«, rätselte Matt.
»Keine Ahnung. Aber gerade bin ich über jeden Fall froh, der mal mehr ist als ein Überwachungsjob.«
»Allerdings«, pflichtete Anoushka ihr bei, auch wenn sie die Nachricht am frühen Abend noch als langweilig abgetan hatte, wie sich Matt erinnerte.
»Na gut«, Matt nickte, »keine Fragen zum Auftraggeber – vorerst. Was weißt du noch, June?«
»Leider nicht besonders viel«, sie rieb sich die Stirn, »Jessica schien wohl wenig enge Kontakte zu haben. Sie lebt in Upper Ile, seit sie den Job in Taunton angenommen hat, davor war sie in London an der Uni.«
»Hm«, machte Matt, »das ist nicht viel.«
»Deshalb ist es gut, dass sie in einem so kleinen Ort wohnt«, sagte June, »wir befragen die dort ansässigen Hobbits, die Pfeife rauchend vor ihren Hütten sitzen, was Jessica Lewis so in Narnia getrieben hat.«
»Auenland«, warf Anoushka ein, »die Hobbits leben im Auenland.«
»Narnia«, erklärte Matt, der mittlerweile wusste, wie June tickte, »geschrieben von CS Lewis. So wie Jessica Lewis.«
»Das macht überhaupt keinen Sinn«, murrte Anoushka.
»In Junes Welt schon«, gab er zurück.
»In Junes Welt«, sagte diese, »macht sich Matt jetzt auf den Weg nach Hause und packt seinen Koffer. Stell dich mal auf drei oder vier Tage ein. Und Anoushka bewegt ihren Hintern in den Whirlpool. Von da aus ist mein Bett sichtbar, falls sich mein Körper fürs Verbluten entscheiden sollte.«
»Ich weiß aber nicht, ob ich in dem Fall wirklich den Whirlpool verlassen werde«, sagte Anoushka.
»Ist in deinem Sinne«, entgegnete June, »sonst musst du das Bett neu beziehen, wenn ich weg bin.«
Anoushka fuhr nicht mit nach Upper Ile. Niemand musste das aussprechen, denn so hatten sie ihre Rollen festgelegt. Anoushka hielt die Stellung in der Detektei und widmete sich ihren Online-Recherchen, sobald June oder Matt etwas in Erfahrung bringen würden, zu dem sie mehr Infos brauchten. Anoushka übernahm für diese Zeit dann regelmäßig Junes Wohnung im oberen Geschoss der Detektei.
»In den Nachrichten wurde etwas über mögliche Depressionen bei Jessica Lewis gesagt«, erinnerte sich Anoushka, als sie einige Zeit später in das sprudelnde Wasser des Whirlpools eingetaucht war. Sie spähte aus dem mit spärlichem Kerzenlicht beschienen Bad durch die offene Tür in Junes Zimmer. Die lag auf der Bettdecke und bewegte sich nicht. »Vielleicht sollte ich mal herausfinden, ob sie in Behandlung war?«, fragte Anoushka etwas lauter.
»Ich glaube nicht, dass da was dran ist«, gab June nach einer Weile zurück, drehte sich auf den Rücken und wandte das Gesicht Anoushka zu, »aber du kannst dem ja trotzdem mal nachgehen. Und jetzt lass mich schlafen!«
»Okay.« Anoushka nickte und konzentrierte sich wieder auf das Blubbern um sie herum.
Woran erkannte man eigentlich, ob ein Mensch gerade verblutete? Vermutlich gab es keine automatische Fehlermeldung, die Anoushka aufs Handy geschickt wurde. Und auch wenn das Licht in Junes Schlafzimmer eingeschaltet war und sie ein weißes T-Shirt zum Schlafen trug, wenn sie auf dem Rücken lag, erkannte Anoushka vielleicht erst, dass die Wunde aufgegangen war, wenn es bereits zu spät war.
»June? Bist du noch wach?«, fragte Anoushka und stand in der Wanne auf.
»Nein«, knurrte June, »in meiner Welt nicht.«
»Mach etwas Platz für mich, ich bin gleich da.«
03 | STAY THE SAME
Erol Onder, der Besitzer des Islander’s Inn, der einzigen Pension in Upper Ile, sah das Taxi schon von Weitem. Das geschah nicht ganz zufällig, immerhin wusste er, dass er Gäste aus London erwartete. Er kannte die Zugverbindungen von Paddington nach Taunton sowie die Fahrtzeit nach Upper Ile und konnte in etwa abschätzen, in welchen Zeiträumen das Taxi in Sichtweite kommen würde.
Natürlich war es nicht das erste Mal, dass Erol Gäste aus London oder einer anderen größeren Stadt hatte, doch fast immer waren es Bekannte oder Verwandte der Bewohner von Upper Ile oder Geschäftskontakte der Stappletons. Und damit wusste Erol bereits vor deren Ankunft, wer seine Kunden waren und aus welchem Grund sie nach Upper Ile kamen.
Nicht so dieses Mal. Die beiden Gäste hatten sich über das digitale Buchungssystem für die Zimmer angemeldet. Das geschah sonst fast nie. Erol hatte vor drei Jahren auf Drängen seiner Tochter Işıl das digitale System eingeführt und mit viel Aufwand eingerichtet. Buchte man ein Zimmer im Islander’s Inn über eine Webseite, dann erhielt man eine ausführliche E-Mail, in der Erol all die Fragen stellte und Annehmlichkeiten anbot, die er sonst am Telefon klärte. Das führte in der Regel dazu, dass der Online-Buchung noch ein Telefonat folgte, denn E-Mails mit mehr als fünf Sätzen schienen die meisten Menschen zu überfordern.
Doch auch das war nicht geschehen. Außer den Namen, der Privat- und Rechnungsanschrift, dem Geburtsdatum und dem Buchungsumfang – 2 Einzelzimmer für 3 Nächte – wusste er nichts über die zu erwartenden Gäste. Das war nicht schlimm, Erol hatte nichts gegen Fremde, aber es sorgte bei ihm für eine gewisse Aufregung.
Und so saß er an dem von ihm ansonsten eher selten benutzten kleinen Tisch im zugigen Erker des Salons im ersten Stockwerk des ehemaligen Bauernhauses und machte den Kassenabschluss für das zurückliegende Quartal. Von hier hatte er den besten Blick auf die schmale Straße, die sich durch die seichten Hügel Somersets zog. Das Islander’s Inn stand auf einer leichten Anhöhe, die zur Westseite die Straße nach Taunton, nach Norden den kleinen Fluss Ile und ostwärts das Dorf überblickte. Nur Richtung Süden war die Sicht hinter einer großen Wiese durch einen dichten Wald verstellt.
Erol klappte seinen Laptop zu, als das Taxi von der Straße in den noch etwas schmaleren Schotterweg hoch zur Pension abbog. Er ging die alte, ächzende Holztreppe nach unten und sah sicherheitshalber noch einmal in die Notizen, die er sich zu den Neuankömmlingen gemacht hatte. Auch wenn Erol mit seiner Tochter Işıl die Pension und den benachbarten Pub zu einem Großteil der Zeit alleine führte, neue Gäste sollten nicht das Gefühl haben, an einem menschenleeren Ort einzutreffen. Fremde willkommen zu heißen war ein Grundsatz für Erol. Seine Eltern hatten das Glück gehabt, als sie vor Jahrzehnten aus der Türkei nach Taunton übergesiedelt waren, und er – durch und durch Brite – sah es als seine Pflicht, diese Offenheit weiterzugeben.
»Ms. Mayberry, nehme ich an?«
June sah überrascht auf, als die Autotür geöffnet wurde, sobald das Taxi stand. Nicht dass sie Matts Skepsis geteilt hätte, der während der gesamten Fahrt Bedenken geäußert hatte, ob ohne vorherigen Anruf in einer so abgelegenen Gegend die Rezeption einer Pension überhaupt besetzt wäre. Doch sie hatte auch nicht gerade erwartet, dass sie schon vor dem Gebäude empfangen wurden.
»Gehen Sie schon rein, ich kümmere mich um Ihr Gepäck«, sagte der mittelalte Mann mit dem schütteren schwarzen Haar und den beeindruckenden Oberarmen, die June in Kombination mit dem zurückhaltenden Händedruck, als er ihr aus dem Wagen half, ganz sympathisch fand.
»Ich habe nur den hier«, entgegnete sie und klopfte auf den dunklen Armeerucksack, der auf der Rückbank des Taxis seinen Platz gefunden hatte. »Mein Kollege mit seinem fahrenden Wandschrank nimmt Ihre Hilfe aber sicher gerne an.«
Sie grinste, als sie Matt beobachtete, der besorgt seinen großen Trolley begutachtete, den der Taxifahrer rustikal aus dem Kofferraum
Verlag: Zeilenfluss
Texte: Jules March
Bildmaterialien: mjdiseo: (153442823) - Octopus poster. Draw of tentacles; tave_luigi: (50381391) - astronaut on black background; simo_cris: (39513547) - London Street; moonriver59: (47027281)
Cover: Vivian Tan Ai Hua
Lektorat: Dr. Andreas Fischer
Satz: Zeilenfluss
Tag der Veröffentlichung: 21.10.2019
ISBN: 978-3-96714-031-6
Alle Rechte vorbehalten