Wir schreiben den 16. Februar 2021. Es ist Faschingsdienstag und an diesem Tag haben alle unsere Mitarbeiter einen halben Tag frei. Ich weiß nicht mehr, wann ich in den letzten Jahren meine Soll-Stunden an diesem Quasi-Feiertag erreicht habe, ohne mein Arbeitszeitkonto zu überziehen, aber heute habe ich es geschafft. Mehr noch, ich habe sogar Überstunden gemacht. Warum? Weil ich Veränderungen zugelassen habe.
Noch vor wenigen Monaten hätte ich nicht mal daran gedacht, dass ich das kann - dass es ok ist - dass es nötig ist.
Der Weg dahin war steinig - nicht, weil mir Steine in den Weg gelegt worden sind, sondern weil ich das selbst erledigt hab. Heute weiß ich, dass ich das alles schon viel eher hätte haben können, oder vielmehr haben müssen. Die Zeit, die ich dazwischen vertrödelt habe, hätte ich besser, anders nutzen können.
Seit 10 Arbeitstagen bin ich keine Vollzeitkraft mehr - das letzte Mal war das der Fall, als ich nach der ersten Mutterschutzfrist an meinen Arbeitsplatz zurückgekehrt bin. Das ist jetzt mehr als 15 Jahre her und damals war es eine Entscheidung auf Zeit und das Ende absehbar. Es war notwendig, um Kindererziehung und Arbeit überhaupt managen zu können. Und schon da musste ich mich fast rechtfertigen für meine 30-Stunden-Woche, die ja immer noch nicht dem allgemeinen Mutterbild entsprach.
Jetzt gibt es andere Gründe, aber nicht weniger wichtige. Jetzt geht es mal nicht um meine Kinder, meine Familie, die Anderen - jetzt geht es um mich. Das zu verstehen hat gedauert. Es hat Kraft gekostet, die ich nicht hätte aufbringen müssen, wenn ich vorher eingesehen hätte, dass nicht alles an mir hängen muss. Dass ich die Reißleine gezogen habe, bedeutet nicht, dass ich jetzt einsichtiger bin - dazu braucht es viel mehr. Aber ich habe gelernt, dass ich abwägen darf, was sein muss. Besser noch, ich muss zwingend abwägen und ich darf (und muss) auch nein sagen. Das zu begreifen war am schwersten - und ist es immer noch.
Meine Reduzierung war nicht ganz freiwillig und doch schon lange absehbar. Angefangen hatte es mit längeren Krankheitsphasen, von denen die Wenigsten wussten, weshalb es mir nicht gut ging. Es folgten Gespräche mit Betriebsärzten, die mir nach Kenntnis meines Backgrounds zu Auszeiten rieten und die schließlich dazu führten, dass ich selbst der Meinung war, nicht mehr die Leistung erbringen zu können, die für mein Team nötig war. Ich wollte nie anderen zur Last fallen, aber ich wusste, dass das der Fall war - auch wenn Niemand etwas sagte, sich nicht zu sagen traute.
Alle Lösungsansätze, meinen Kollegen Freiraum zu verschaffen - denn darum ging es mir in erster Linie - hätten zwar vielleicht meinem Dienstherrn geholfen, aber nicht mir.
Mein Problem war und ist es noch immer, die Grenzen zwischen Gemeinschaftsdenken und Selbstfürsorge zu erkennen und vor allem zu ziehen und einzuhalten. Ich werde wohl nie der Typ Mensch sein, der nur an sich selbst denkt und einfach mal etwas nur für sich macht. Das sollte ich dringend tun, aber das ist ein Ziel, das in weiter Ferne liegt. Die Ratschläge, die ich von vielen Seiten zu hören bekam, reichten von "lass die anderen auch etwas machen" bis zu "du kannst nicht ewig so weiter machen". Und schlimm für mich war, dass alle recht hatten, ich es aber nicht einsehen wollte.
Eine Teilzeittätigkeit in dem Umfang, der mir vielleicht guttun würde, konnte ich mir nicht leisten als Hauptverdiener. Also wurden die Pläne konkreter, meine Dienstfähigkeit überprüfen zu lassen. Die Einschätzung meiner Vorgesetzten war ernüchternd: 40% Leistungsfähigkeit hätte die Pensionierung bedeutet, was ich nie gewollt hätte. Ich brauchte meine Arbeit und meine Kollegen um mich herum - und sei es nur als Ansprechpartner. Die Zeiten, in denen ich krank geschrieben war, waren schrecklich. Das für immer haben zu müssen war eine Horrorvorstellung. Und genau das war mein Hauptargument bei der unabdingbaren Begutachtung, die darauf folgte.
Ergebnis war eine Vereinbarung, deren Ende noch immer in der Schwebe hängt. Ich bekam eine zweite Chance auf einen Aufenthalt in einer Tagesklinik - alles andere war nicht machbar mit zwei Kindern. Und dieses Mal - anders als bei meinem ersten Anlauf vor ein paar Jahren - stand mein Arzt hinter der Entscheidung, mich aufnehmen zu lassen. Anfang 2020 war klar, dass ich ein paar Wochen teilstationär in unsere Klinik gehen würde und anschließend nach einer Erprobungszeit meine Dienstfähigkeit erneut eingeschätzt werden sollte.
Wirklich genießen konnte ich den Aufenthalt dank der Pandemie nicht, aber ich habe in der Zeit viel gelernt. Das Wichtigste war wahrscheinlich, dass ich meine Diagnosen annehmen konnte. Ich durfte Menschen kennenlernen, denen ich vermutlich sonst nie begegnet wäre. Und mir wurde bewusst, dass es ok ist, nicht immer für andere zu springen. Das mache ich immer noch, aber ich weiß eigentlich, dass ich nicht muss. Ich muss überhaupt nichts!
Die Umsetzung fällt mir bei vielen Dingen nicht leicht - dafür bin ich einfach zu eingefahren in meinen Abläufen. Dass sich etwas in meiner Tagesplanung ändern muss, merkte ich aber schon in meiner Wiedereingliederung. Mein schöner Plan, den wir noch in der Klinik ausgearbeitet hatten, wurde bereits nach der Hälfte der Zeit verworfen, weil es schlicht und ergreifend nicht funktionierte.
Ohne die zusätzliche Belastung mit Homeschooling der Pubertiere wäre es vielleicht gegangen, aber so merkte ich ziemlich schnell, wo die Grenzen sind. Mein Vorgesetzter riet mir schließlich, zurückzuschalten und es langsamer angehen zu lassen. Nach diesem halben Desaster war für mich klar, dass ich nicht warten konnte, bis meine vereinbarte Arbeitserprobung vorbei war. Die Begutachtung und Entscheidung über die weitere berufliche Zukunft musste vorgezogen werden. Ich haderte damit, wie viele Stunden ich reduzieren konnte um dennoch allen Verpflichtungen, die so anlagen, nachkommen zu können. Als endlich ein Mittelweg klar war, wurden alle Begutachtungen lockdownbedingt gecancelt. Da meine Situation kein Dauerzustand sein sollte, traf letztlich unser Betriebsarzt die Entscheidung darüber, dass ich maximal 25 Stunden einsatzfähig wäre. So wenige Stunden hatte ich noch nie zuvor gearbeitet.
Langsam gewöhne ich mich an die neuen Arbeitszeiten, auch wenn es sich drastischer anhört, als es ist. Effektiv komme ich eher nach Hause, die Arbeit mit den Kindern und im Haushalt bleibt aber dennoch größtenteils an mir hängen. Ich habe einen freien Tag, auf den ich meine Termine lege. So entfällt der Stress mit der Pendelei zwischen Arbeit und Ärzten. Und ich habe mich endlich mal durchgesetzt, als unsere komplette Abteilung ins Homeoffice geschickt wurde. Auch wenn es mich ein Gespräch mit Betriebsarzt und Erklärungen gegenüber meinen Kollegen gekostet hat, konnte ich zumindest erreichen, an jedem Arbeitstag ins Büro zu dürfen. Eine Woche Homeoffice war ein Graus für mich und hätte mich beinahe zurückgeworfen auf den Punkt vor dem Klinikaufenthalt. Das musste ich aber erst mal den Beteiligten klar machen. Es hat ihnen nicht gefallen, aber letztlich muss ich an mich denken.
Wie lange meine jetzige Situation andauern wird, steht noch nicht fest. Aber ich weiß, dass es der Anfang von mehreren Veränderungen war und bis jetzt ist diese nicht so schlimm wie ich anfangs befürchtet hatte.
Texte: Jasmin Frei
Tag der Veröffentlichung: 16.02.2021
Alle Rechte vorbehalten