Wer bestimmt eigentlich, was Mut ist? Manchmal sind es Kleinigkeiten, die einen große Überwindung kosten, während andere es nicht als Herausforderung sehen und für normal halten. Wann ist man besonders mutig? Wenn man sich etwas traut, das noch niemand zuvor gemacht hat? Oder reicht es schon, wenn es für einen selbst das erste Mal ist? Muss es etwas sein, das eine schwierige Aufgabe darstellt, oder etwas, das man sich nur bisher nie getraut hatte?
Ob die folgende Episode ein Zeichen von Mut war, soll jeder Leser für sich selbst entscheiden.
Ich weiß es selbst nicht so genau. Tatsache ist aber, dass ich solch einen Schritt vorher nie gegangen war.
Es war ein milder Tag im Mai letzten Jahres. Ich hatte die gleitende Arbeitszeit genutzt, um an einem Brückentag zuhause bleiben zu können. Der vorige Feiertag war anstrengend, weshalb ich den Freitag zur Regeneration vor dem Wochenende brauchte. Nachdem alle Männer aus dem Haus waren und die Küche einigermaßen aufgeräumt wirkte, hätte ich eigentlich Zeit für mich gehabt. Zeit, meine Gedanken zu ordnen, die in den letzten Wochen und Monaten zu sehr ins Grübeln geraten waren. Zeit für so vieles, das liegen geblieben war und darauf wartete, endlich erledigt zu werden. Doch im Innern spürte ich einen Drang, etwas längst Fälliges nachholen zu müssen.
Es gab sicher mehrere Dinge, die ich in meinem bisherigen Leben nicht gemacht hatte – aus den verschiedensten Gründen. Aber eine Sache beschäftigte mich in letzter Zeit besonders stark und ich befürchtete jedes Mal, wenn ich über sie nachdachte, dass es beim In-Gedanken-Durchspielen bleiben würde. Denn bisher waren alle Anläufe in diese Richtung im Sande verlaufen, weil mich meistens an irgendeinem Punkt der Mut verließ.
Als ich an diesem Tag anfing zu recherchieren, war ich überzeugt davon, es durchzuziehen. Ich hatte keine Ahnung, was mich erwartete – bisher hatte ich nur in verschiedenen Berichten über den Ablauf gelesen. Was ich wusste war, dass es nicht einfach werden würde, kein Spaziergang – bei Weitem nicht.
Die richtige Stelle war schnell ausfindig gemacht und mein Entschluss gefasst. Heute würde ich das wagen, was ich in den letzten 20 Jahren nicht gekonnt hatte. Es war Zeit, die schützende Deckung zu verlassen und egal, was passieren würde, ich würde das hinter mich bringen mit allen Konsequenzen, die danach folgen sollten.
Als ich die Treppen zur Tiefgarage hinablief um zu meinem Fahrrad zu kommen, merkte ich, wie die Anspannung in mir stieg und mich zu verunsichern drohte. Dieses Mal wollte ich mich nicht umstimmen lassen. Meine Entscheidung stand fest. Trotz des mulmigen Gefühls fuhr ich aus der Einfahrt hinaus und bog erst links, dann wieder rechts ab und nahm für die letzten Meter den Fußweg. Für den Weg brauchte ich keine 5 Minuten und dennoch überlegte ich auch in dieser Winzigkeit von Zeit, ob mein Vorhaben wirklich richtig war, ob ich das ganz bestimmt wollte und keinen Rückzieher machen würde.
Ich hätte einfach wenden und zurückfahren können. Es hätte niemand etwas mitbekommen von meinem erneuten Anlauf, endlich alles loszuwerden. Dennoch entschied ich mich dafür, die Stimmen in meinem Kopf zu ignorieren und fuhr weiter. Als ich vor dem Tor stand und auf die Klingeltafel starrte, ging zunächst nichts mehr. Meine Hand wollte den Knopf nicht drücken, so sehr mein Gehirn es ihr auch befahl. Irgendwann war der Wille doch stärker und ich läutete vorsichtig. Noch immer hätte ich einfach fahren können. Es war noch nichts passiert. Kein Wort war zu diesem Zeitpunkt über meine Lippen gekommen. Mein Gedankengang wurde jäh unterbrochen, als eine Stimme aus der Sprechanlage zu vernehmen war. Also schilderte ich knapp, worum es ging und wurde dann eingelassen.
Die Treppen zur entsprechenden Abteilung ging ich eher gemächlich hinauf – es war nichts Erfreuliches, was ich vorhatte, also kein Grund zur Eile oder gar Freude. Ich hatte bewusst Niemanden mitgenommen, obwohl ich gelesen hatte, dass diese Möglichkeit durchaus bestünde. Der Grund dafür war simpel: Es reichte völlig, wenn ich alles hier zu Protokoll geben würde – jemand Vertrautes dabei zu haben und mit meinen Berichten zu konfrontieren, wollte ich nicht. Nicht nur, dass bisher alle, die in irgendeiner Art auch nur ansatzweise von meiner Vergangenheit erfahren haben, mich mit anderen Augen sahen, es kannte einfach keine Person Einzelheiten und das wollte ich in dem Augenblick auch nicht. Wenn ich mich bis dahin noch für mutig gehalten hatte, so wurde mir jetzt schlagartig klar, dass dem eigentlich gar nicht so war. Ich war hier alleine, wusste nicht, was mich erwarten würde, und glaubte nicht, dass ich das durchstehen würde.
Was machte ich hier überhaupt?
Nach einer knappen Begrüßung wartete ich in einem Gang, wo zunächst die Personalien aufgenommen wurden. Noch immer war nichts passiert, es gab noch keine Notiz oder auch nur den kleinsten Hinweis auf den Grund meiner Anwesenheit. Mir war gar nicht gut und ich fröstelte. Es war relativ warm für Anfang Mai und trotzdem war mir kalt in meiner Jacke. Als man mich in ein Büro bat, zog ich sie nicht aus – auch nicht für den Rest der Vernehmung.
Während ich Fragen beantwortete, erst nur knapp in Umrissen, dann noch einmal mit allen Details und unter Wiederholungen, die mehr als nur einmal unangenehme Erinnerungen weckten, wurde mir langsam bewusst, was ich da gerade tat. Es gab kein zurück mehr. In dem Moment, als ich meine Daten angegeben und den Grund meiner Anwesenheit genannt hatte, war eine Maschinerie in Gang gesetzt worden, auf die ich keinen Einfluss mehr hatte und die ich nicht aufhalten konnte. Irgendwann war es dann vorbei und ich unterschrieb das Protokoll, bevor ich die Wache verließ und zurück nach Hause radelte.
Von dem Moment an, als ich mich auf mein Fahrrad setzte, war mein Kopf leer. Ich wusste nicht, was mich erwarten würde und warum ich diesen Schritt eigentlich gegangen war. Und ich war mir nicht sicher, ob ich das Richtige getan hatte und warum. Ich weiß, dass viele Leute der Meinung sind, dass meine Entscheidung mutig war - ich war davon nicht überzeugt. Und im Nachhinein, wenn ich darüber nachdenke, was alles darauf folgte, kommt mir manchmal der Gedanke, dass es eher Unüberlegtheit war. In manchen Situationen nannte ich es auch Dummheit, weil mir ohne diesen Schritt wohl Manches erspart geblieben wäre.
Im Moment kann ich nicht einmal sagen, was es gebracht hat. In den letzten Monaten ging ich durch ein Wechselbad der Gefühle. Nach einer Verfahrenseinstellung, einer zwangsweisen Auszeit, beruflichen Konsequenzen und ersten Erfahrungen im Gerichtssaal, wollte ich das nicht auf sich beruhen lassen und ließ die Ermittlungsbehörden wissen, dass ich nicht so einfach aufgeben würde. Mittlerweile dauert das Verfahren an und je mehr Zeit vergeht, umso weniger Hoffnung mache ich mir auf einen positiven Ausgang. Und umso weniger mutig kommt mir meine Aktion vor.
Tag der Veröffentlichung: 08.10.2017
Alle Rechte vorbehalten
Widmung:
Für alle, die vor Entscheidungen stehen und überlegen, ob sie einen Schritt aus der Anonymität wagen wollen.