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Grenzgänger

Es war kalt, als wir zusammengepfercht und frierend im Trabi Richtung Norden, zurück in unsere Heimat fuhren. Die vielen Eindrücke mussten wir erst verarbeiten, denn aus dem Staunen waren wir an diesem Tag kaum herausgekommen. Dabei hatte noch wenige Monate zuvor kaum einer aus unserem Umkreis überhaupt daran gedacht, dass diese Reise mal möglich sein würde.

 

Ein paar Wochen zuvor, Anfang Oktober 1989, lag ich mal wieder auf der Kinderstation einer Spezialklinik. Genannt wurde es eine Fußkorrektur, aber viel gebracht hat es letztlich nichts – außer wochenlangem Ausfall in der Schule und der Tatsache, dass ich danach wieder laufen lernen musste. Eigentlich hätte ich - wie alle anderen aus meiner Klasse - in diesen Tagen mein rotes Halstuch bekommen sollen. Im Schrank hing es schon, aber die offizielle Verleihung fand ohne mich statt.

 

Draußen liefen die Vorbereitungen zum 40. Jahrestag der DDR, der am 7. Oktober gefeiert werden sollte. Auch diese Veranstaltung würde ohne mich stattfinden müssen. Darauf konnte ich allerdings gut verzichten – Marschieren war eh nicht so mein Ding und außerdem gab es schon seit längerem Gerüchte, dass es in der DDR bröckeln würde. Damals verstand ich nicht wirklich, was damit gemeint war. Aber ein Junge aus meiner Klasse war vor nicht allzu langer Zeit über Nacht mit seiner Familie verschwunden. „Rübergemacht“, hieß es inoffiziell - auch wenn unsere Lehrer es anders verkaufen sollten.

 

Die Feierlichkeiten waren dennoch üppig, wenn auch vielleicht ein wenig verhaltener als erwartet.

Der Oktober ging also vorbei und keiner konnte ahnen, dass sich bald alles ändern würde.

 

Am 9. November, einem Donnerstag, hatte mein Opa Geburtstag. Da wir kein Auto besaßen, fuhren wir immer mit Bus und Bahn zu meinen Großeltern und das meistens am Wochenende oder in den Ferien. Gefeiert werden sollte also am darauffolgenden Samstag. Als wir an diesem Morgen in der Telefonzelle am Postamt bei ihm anriefen um zu gratulieren, wussten wir nicht, dass das eigentliche Ereignis am Wochenende in den Hintergrund rücken würde. Erst als am Abend die Nachrichten im Fernsehen kamen, wurde uns bewusst, dass das Leben, das wir kannten, nicht mehr so bleiben würde. Der Westen war für uns bis dahin unerreichbar. Meine Eltern waren nicht in der Partei und hatten auch keine Posten, bei denen sie durch Beziehungen mal raus kamen. Zur Geburtstagsfeier meines Opas gab es also nur ein einziges Thema: Die Grenzöffnung und was jeder so damit verband – Träume, Hoffnungen, aber auch Ängste.

 

Mein anderer Opa war irgendwann mal über Berlin nach Flensburg abgehauen. Ich hatte seine Adresse und zu Geburtstag und Weihnachten kamen Karten und ab und zu Westpakete, wenn sie nicht abgefangen wurden. Natürlich wollte ich ihn gern mal kennenlernen und das wäre ja nun endlich möglich.

 

Zum Zeitpunkt des Mauerfalls hatte ich noch immer einen Gipsfuß und konnte nur an Krücken gehen. Also fuhr meine Mutter mit meiner Schwester mit dem Zug nach West-Berlin zum Einkaufen. Es gab 100 DM Begrüßungsgeld pro Person – für unsere Verhältnisse eine Menge Geld.

 

Wir hatten eine kleine Wunschliste geschrieben und soweit das ging, versuchten sie alles mit dem Zug zu transportieren. Eine Stereoanlage, zum Beispiel, war gerade so machbar. Das Gerät spielt übrigens heute noch im Garten Musik ab und wird von meinem Vater in Ehren gehalten.

 

Im Dezember war es dann schließlich auch für mich so weit, dass ich mit meinem Vater in den Westen fahren durfte. Unser Nachbar hatte einen Trabant und bot uns an, zusammen mit seinem Jungen, der ein paar Jahre jünger als ich war, nach Süden zu fahren. Unser Heimatort lag nur wenige Kilometer von der Autobahn entfernt, die uns zu unserem Ziel führen sollte: Bayreuth, eine Stadt in Bayern und damals wohl ziemlich beliebt bei Begrüßungsgeld-Touristen.

 

Die Fahrt kam uns ewig lang vor. Es war eng im Auto, denn außer uns mussten ja auch noch meine Krücken mit. Außerdem gab es keine funktionierende Heizung, was wir aber von Anfang an wussten und deshalb auch Decken mitgenommen hatten. Dazu kam noch der Stau, denn die A9 bestand zu dieser Zeit fast nur aus Kolonnen von Ostfahrzeugen. Als wir irgendwann doch unser Ziel erreicht hatten, suchten wir uns erst einmal einen Parkplatz und reihten uns dann in die Schlange der Wartenden ein, die ihr Startkapital entgegen nehmen wollten.

 

Lange dauerte es nicht, weil ich mit meinen Krücken wohl doch ein wenig bevorzugt wurde. Auch wenn mir das im Grunde peinlich war, waren wir doch dankbar dafür. Nachdem wir die für uns ungewohnten Scheine in der Hand hielten, mussten wir uns erst einmal neu orientieren. Es war nicht geplant, sich in dieser Stadt etwas anzusehen – dafür hatte man später noch genügend Zeit. Jetzt ging es erst einmal darum, sich mit Sachen einzudecken, die man zuhause nicht kaufen konnte oder nur über Beziehungen und für sehr viel Ostmark bekam.

 

Auf dem Weg vom Rathaus zur Innenstadt kamen wir an einem Zeitungskiosk vorbei und mein Blick blieb an den Mickey-Maus-Heften im Fenster hängen. Mein Vater versprach, dass wir auf dem Rückweg nochmal vorbeischauen würden und falls noch Geld da wäre, könnte ich mir eine Zeitung aussuchen.

 

Wir hatten nicht viel Zeit, denn am Abend wollten wir wieder zurück sein und für den Hinweg hatten wir schließlich mehr als 4 Stunden gebraucht. Nachdem wir ein paar Einkäufe getätigt hatten, kamen wir noch zu einem Supermarkt. Schon allein die Größe war beeindruckend. Von den Waren im Schaufenster ganz zu schweigen.

 

Leider musste ich mit meinen Krücken draußen bleiben – der Boden war einfach zu rutschig und das matschige Wetter sorgte dafür, dass selbst standhafte Leute leicht ins Straucheln kamen. Ich wartete daher brav zusammen mit unserem Nachbarsjungen im Eingangsbereich des Ladens. Mein Vater hatte versprochen, dass er mir etwas von drinnen mitbringen würde und das reichte mir. In erster Linie wollten wir natürlich Sachen für zuhause einkaufen.

 

Wahrscheinlich mussten wir für die Leute, die an uns vorbeihasteten, ein komisches Bild abgegeben haben. Vielleicht erkannten sie auch, dass wir aus dem Osten kamen. Einige fragten mich, warum ich dort wartete und ich erklärte artig, dass es mir zu gefährlich wäre auf dem glatten Boden. Eine Frau öffnete daraufhin ihre Geldbörse und steckte mir einen 10-DM-Schein zu. Als ich fragte, wofür der wäre, sagte sie nur, ich solle mir etwas dafür aussuchen. Mein Eindruck von den Leuten in dieser Stadt war also durchweg positiv. Es war nicht die einzige „Spende“, die wir unfreiwillig erhielten, und unsere Väter staunten nicht schlecht, als sie mit ihren vollen Einkaufstüten zurückkamen.

 

Auf dem Weg zum Auto kamen wir wieder an dem Zeitungskiosk vorbei und dieses Mal durfte ich mir die ersehnten Comics kaufen. Der Verkäufer war sogar so nett und schenkte mir ein paar ältere Ausgaben, die er nicht mehr verkaufen konnte. Zum Lesen war es zwar schon zu dunkel, aber für die nächsten Tage war ich erst einmal versorgt.

 

Als wir im kalten Auto saßen und in die Decken eingemummelt waren, kamen wir vor Aufregung kaum zur Ruhe. Wir fragten ständig, was es denn in dem Laden alles gegeben hätte und konnten von den Erzählungen nicht genug bekommen. Es war trotz der Kälte eine kurzweilige Rückfahrt.

 

Meine Eltern haben Anfang der Neunziger Jahre ihren Führerschein gemacht und wir waren in den Jahren danach öfter in Bayern im Urlaub. Trotzdem sollte es ganze 13 Jahre dauern, bis ich Bayreuth wiedersehen würde – zu einem Vorstellungsgespräch, das dafür sorgte, dass ich schließlich hier hängen geblieben bin. Damals ahnte keiner, dass das mal mein Zuhause werden würde.

 

Als meine Eltern vor einiger Zeit – etwa 23 Jahre nach unserem ersten Besuch hier - die Schule meines Sohnes besichtigten, meinte mein Vater plötzlich, dass ein Haus an der Ecke des jetzigen Busbahnhofes der Supermarkt von damals sei. Ich selbst konnte mich nicht genau erinnern – aber erstaunlich ist es doch, was einem nach so langer Zeit alles noch so auffällt.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 06.08.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Für Wolfgang und Nico für die Mitnahme im Trabi.

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