Die geheime Seite der Dinge wird gern ihre uns abgewandte Rückseite genannt, die nicht selten peinliche und recht gewöhnliche „Kehrseite der Medaille“. Oder wenden viele jungen Dinger uns ihren Rücken zu, so dass wir ihnen nie ins Gesicht oder ins Herz sehen können, so oft wir auch um sie herumgehen oder in sie dringen? „Erkenne dich selbst!“ : Im Grenzfall sind wir selbst dieses Ding, das sich uns oft hartnäckig verschließt oder uns abspeist mit schmeichelhaften Illusionen über uns selber. Laut Seelenforscher Freud neigen wir dazu, unter dem Druck des sozialen „Über-Ich“ (vormals „Gewissen“) aus unserem Bewusstsein unangenehme bzw. sozial geächtete Dinge zu „verdrängen“, bis sie hinterrücks in unerkannter Gestalt unser Verhalten bestimmen, solange der neurotische „Krankheitsgewinn“ größer ist als der therapierbare „Leidensdruck“.
Menschen neigen dazu, vor je sich selbst wie auch voreinander zu verbergen, wessen sie sich (vorm Ich-Ideal) schämen oder (vorm Über-Ich) schuldig wissen. Zuweilen verschleiern wir voreinander geheime finstere Absichten hinter entgegenkommendem Gehabe, um den Argwohn des anderen einzuschläfern und ihn dann bequemer auszunutzen und zu übervorteilen.
Wie aber steht es mit der verborgenen Seite nichtmenschlicher Dinge? Verbergen uns potenziellen Todfeinden die Tiere und Pflanzen ihre letzte Wahrheit mehr oder weniger absichtlich? Steckt hinter der Unerforschlichkeit gewisser „toter Sachverhalte“ eine geheime Absicht oder nur unser aller mehr oder weniger prinzipielles Unvermögen, in ihr Innerstes einzudringen und ihren Wesenskern herauszuschälen? Ist der Forscher ein Jäger, der einer scheuen Natur nachstellt und ihr den keuschen Schleier entreißen will, um mit geilen Blicken die „nackte Wahrheit“ zu enthüllen oder das widerspenstige Wild zu vergewaltigen und zu erlegen? Existenzialist Sartre verglich jedes Forschungsobjekt mit einer insgeheim beobachteten und überraschten „nackten Diana im Bade“.
Das Experiment des Physikers oder Chemikers ist eine ausgeklügelte Versuchsanordnung, die ihre Objekte wie Verbrecher stellt und zu hochnotpeinlichen Geständnissen unter der Folter zwingt, verrät somit eine menschliche Vernunft, die eher einer raffinierten Vernehmung gleicht. Naturwissenschaft vor allem hört nicht auf ihre Objekte, was die von sich aus „freiwillig“ zu sagen hätten, sondern unterzieht sie einem recht gewaltsamen und m(eth)odisch strengen Labor-Verhör, um ihr letzte (möglichst profitable) Geheimnisse zu entlocken oder besser abzupressen. Meist „handelt“ es sich nicht um „Erkenntnisse um ihrer selbst willen“ und um Wissen als Selbstzweck theoretischer Neugier, sondern um bloßes Werkzeug höchst praktischer Habgier der investierenden Reichen, welche auch „Grundlagenforschung“ nur fördern, wenn diese eine künftige Profitmaximierung verspricht, und die Forscher als ihre Lakaien mit „Drittmitteln“ versorgen unter gar nicht so geheimen Hintergedanken. Erkenntnis wird dann Ergebnis erkennungsdienstlicher Praxis.
In Immanuel Kants Transzendentalismus hat es jeder Mensch nur mit Produkten seiner eigenen (anthropologischen) Urteilskräfte zu tun, wenn er die Dinge erforschen will, wie sie objektiv „an sich“ sind und nicht nur subjektiv „für ihn und für andere“. Gab Kant der Natur überhaupt Gelegenheit, selber den Mund aufzutun, oder studierte er nur die Erscheinungsmaske, die sie ihm zukehrt, da er sie ihr selber zuvor konstitutionell aufsetzen musste? Dann würde vermeintliche Naturerkenntnis also letztlich nur menschliche Selbsterkenntnis anstreben?
Aber glaubt Kant praktisch seinem eigenen Idealismus und intelligiblen Subjektivismus? Sah er z.B. in seiner eigenen „Kritik der reinen Vernunft“, wenn er das gedruckte Buch in der Hand hielt, ein auch ihm völlig unbekanntes „Ding an sich“? Nein, er war doch persönlich sicher, die von ihm selber geschriebenen „Kritiken an sich “ vor sich zu haben und zu lesen - gegen seine eigene offiziöse Erkenntnistheorie - wie der Kieler Neophänomenologe Hermann Schmitz zurecht unterstellen durfte.
Im Übrigen können wir die Natur durchaus realistisch erkennen, sofern unser „Erkenntnisapparat“, wie Freud schrieb, sich ja evolutionär aus genau dieser Natur herausdifferenziert habe, die er irgendwann untersuche. Oder sind wir nur Dolmetscher, welche die stuimme Sprache der Dinge in menschliche Sprache zu übersetzen versuchen? Ist das "Buch der Natur in mathematischen Lettern geschrieben", wie Galilei vermutete, dann bleibt es fuer Nichtmathematiker unverstaendlich.
Aber die Kehrseite der erhabenen Goldmedaille ist allzu oft eine sehr platte Blechseite, wie jeder gern allzu genüßlich dem auftrumpfenden Nebenmann unter die Nase reibt.
Oder hat der Schöpfer seinen Ebenildern verwehrt, Ihm allzu tief in die Sternkarten zu gucken - aus weiser Voraussicht, denn Er kennt Seine Pappenheimer, denen die biblische Gebrauchsanleitung der Schöpfung genügen muss mit den moralpraktischen Konsequenzen aus den Naturgesetzen. "Es lst alles eitel", sprach der Prediger, mehr wissen zu wollen, was die Welt im Innersten zusammenhaelt, dass sie nicht auseinanderfaellt.
Hinter jedem Dahinter gibt es immer ein weiteres Dahinter, und das wahre Gesicht hinter allen maskierten Masken ist laut Kant nur die Idee endloser Annäherung an eine zurückweichende Fata Morgana, die uns ewig narrt? Ist die Wirklichkeit nur eine tränentreibende Zwiebel, die unter allen Schalen am Ende gar keinen Pudels Kern umschliesst?
Wir enthüllen Frau Welt nur, um ihre nackte Wahrheit als dichtesten ihrer Schleier zu entdecken. Wir enträtseln ihre Geheimnisse nur, um sie dadurch rätselhafter als vorher erstrahlen zu lassen. Wir decken nur Schritt vor Schritt ihr Verdecktsein selber auf. Wir loesen Probleme nur, um sie problematischer zu machen, und nicht, um sie zu beseitigen. Jede Antwort schafft exponentiell mehr und schwerere Fragen, als sie beantwortet, und wir schaffen erst die geheime Hinterseite zu allem, was wir zur sonnenklaren Vorderseite machen.
Tag der Veröffentlichung: 22.04.2025
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