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Nimmt's denksportlich!

  1.  

 

 

Kapitalismus ist nur die falsche Übertragung der geistigen Konkurrenz auf die wirtschaftliche Sphäre oder umgekehrt. Gewöhnlich fördert er leider
die menschlichc Rivalität gerade dort, wo sie nicht herrschcn solltc. und
hemm sie dort, wo sie am Platz wäre. Wir sollten richt rivalisieren müs-
sen, um lebcn zu können, sondern leben, um miteinander nicht nur um die
Gunst der Schönen statt der Mächtigen zu wetteifern.


Wenn man sagt, einer sei besser als der andere, meint man die Moral oder
gewisse Geschicklichkeiten. In Wirklichkeit nennt das, was landläufig Mo-
ral geschimpft wird, eigentlich nur die unerläßlichen Rahmenbedingungen
eines jedes fairen Wettkampfes unter Menschen um den Ruhm. »Wenn die
Menschen den Ruhm nicht liebten, hätten sie weder Verstand noch Tu-
gend, ihn zu verdienen«, sagte Vauvenargues. Wie läßt sich das Spiel sinn-
voll zu Ende bringen, solange dem Teilnehmer das Leben oder der Besitz
oder der Let)enspartner von den Mitspielern oder Zuschauern genommen
zu werden droht? Die Zehn Gebote der Bibel sind die notwendigen Spiel-
regeln, deren Einhaltmg im wohlverstandenen lnteresse jedes siegeswilli-
gen Mitspielers liegt.


Ob nun sozialistisch oder nicht, die Kapitalismuskritik entzündet sich
auch daran, daß vielen Menschen die Vision einer agonalen Gesellschaft
eher ein Alptraum als eine Utopie ist. Das Schlimme aber ist nicht, daß die
geistige Welt eine permanente Olympiade, sondern daß sie ein verdeckter
materieller Existenzkampf ist, wie Marx gezeigt hatte. Man tut so, als gehe
es um den Sieg der besseren ldee, wo es in Wirklichkeit nur um den Sieg
ihrer materiellen Nutzungsrechte geht. Kurz: der Amateurstatus des gei-
stigen Ringens verlangt keine Dilettanten, sondern Menschen, die fuer gei-stige Arbeit und nicht von geistiger Arbeit leben. Der Verlierer dieses
Kräftemessens sollte nicht um seine materielle Existenz bangen müssen,
sondem der Reiche seines Reichtums oline den Ruhm nicht froh werden
können. Gibt es Naturrecht des Stärkeren oder des Schwächeren?


Daß es gleichgültig sei, auf welchem Feld gesiegt werde, ist der große lrr-
tum unserer Zei.  Wichtig ist weniger der Sieg über Rivalen in einer belie-
bigen Disziplin als der Sieg jener Disziplin, in der ein Sieg am meisten loh-
nen würde, über alle anderen Disziplinen. Wer einen ehrenvollen Frieden
mit sich schließen will, muß einen gerechten Krieg gegen den führen, der
einen faulen Frieden mit sich schließt. Wer sich selbst gefunden hat, wie es heißt, hat aber sein Ziel nicht schon erreicht, sondem erst die richtige Zielscheibe aufgestellt. Das lch ist eine Gottesgabe, das Selbst eine Lebensaufgabe. Das >wahre Selbst< wird nicht am Fließband hergestellt und wächst nicht auf Bäumen. Wenn es kein Witz ist, ist es eine Rekordmarke und kein Ruhekissen.

 

Wer richts anderes von sich will, als was andere von ihm wollen, ist des-
halb noch nicht der, der er sein könnte, aber um bei sich selbst anzukom-
men, genügt es kaum, anderen nicht zu folgen. Um zu werden, der ich bin,
muß ich den zcrstören, der ich bin, verlangt das Sclbstbestimmungspara-
dox. Wenn der Mensch genau jenes Wesen ist, das mehr ist als er selbst,
dam muß ich mich ablehnen, um mjch mit mir anfreunden zu können, und
mich selbst übertreffen, um mich zu erreichen. »Man ist man selbst«, sagt
Heidegger: Um zu werden wie andere, jeder ein anderer, genügt es, sich
gehenzulassen.


Nicht jedcr Masochismus ist deshalb schon Selbstgesetzgebung, aber eine
Selbstbestimmung, ohne unter dem ]och des eigenen Gesetzes Blut und
Wasser zu schwitzen, ist Heuchelei. »Freheit ist Unabhängigkeit der Will-
kür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit«, sagte Kant nicht,
um den Leuten ihren Spaß zu nehmen, sondem weil sie fremdbestimmt le-
ben, sobald sie sich von ihren Trieben treiben lassen. Wenn der Mensch
kein Mittel für andere ist, ist er ein Mittel für sich selbst, und er ist Selbst~
zweck, sobald er sich als lnstrument seiner selbst vergeudet. Wer das so-
ziale Plansoll verweigert, hat deshalb noch keinen eigenen kategorischen
lmperativ erfunden.


Wer den Melirwert nur am Arbeitsplatz erarbeitet und nur dort mehr aus
sich macht, als seine Arbeitskraft zu reproduzieren, muß begreifen, daß die
Wiiederaneignung des abgeschöpften Mehrwerts noch keine Selbstver-
wirklichung ist, sondem nur eine ihrer möglichen Voraussetzungen. Was
Sportler mit ihren Körpern machen, machen lntellektuelle mit ihren Köp-
fen, sie beuten sich selbst für sich selbst aus und sind deshalb die utopi-
schen Prototypen des Menschen unter heute möglichen Bedingungen. Der
Mensch ist soviel wert wie der Mehrwert, den er aus sich macht, und seine
Menschenwürde besteht in dem, was er aus sich machen »würde«, wenn er
könnte. Wer für sich nicht das Äußerste aus sich herausholt, wird nie wis-
sen, was er ist. Liebe deinen Nächsten wie dich selbst, ja, aber ich kann
mich nur lieben als den, der sich haßt?


Der Mensch findet sich vor als Fabrikat seiner Eltem, Lehrer, Chefs, Erb-
anlagen und Milieus, aber ich bin das, was mich noch tremt von dem, was
auf dem Spezialgebiet meiner konkurrcnzlosen Unverwechselbarkeit noch
möglich ist. Das Nerven- und lmmunsystem dient dazu, das Eigene vom
Fremden zu unterscheiden und das eine nicht mit dem anderen zu verwechseln, Kein anderer sein heißt, unnachsichtig mit mir gegen mich selbst zu wüten. Wer sich zärtlich so hinnimmt, wie er ist, hat schon denen pariert, die ihn so gemacht haben. Ich kann mich nur akzeptieren als den, der sich nicht akzeptiert, und akzcptiere nicht den, der sich selbs. akzeptiert.

 

Wer mehr von sich verlangt, als von ihm verlangt wird, bescraft sich, wenn
er sein Plansoll unterschreitet, und scheitert lieber am Unerreichbaren, als
das Mögliche zu erreichen. Kurz: Autcinomie ist nur als Auto-Aggression
möglich? Mit anderen Worten: Die Teilnahme muß frei bleiben, und wer
die Siegeschance nicht mit dem Verlustrisiko bezahlen will, sollte dafür
nicht materiell bestraft sein.

 

Es geht um freien und chancenglcichen Zugang nicht zu einem >kommunikativen Diskurs<, wie Habermas möchte, sondern zu einem dissonanten Konkurrenzkampf. Es war nicht ihre Schuld, daß die altgriechischen Sophisten ihre Redegewalt auf dem freien Markt der ldeen verkaufen mußten, um leben und nachdenken zu können. Die materiell Abgesicherten haben gut reden von objektiven Behauptungen; die materiell Abhängigen sprechen von subjektiver Selbstbehauptung. Jede Behauptung ist Selbstbehauptung und geistige Enthauptung des Kontrahenten.

 

 

Nietzsches Philosophie des Machtwillens war die überkompensatorische Kopfgeburt des erfolglosen Außenseiters, der »hors de concours« lief. Das Paradox besteht also darin, daß der edle Wettstreit erst beginnen kann, wenn die mörderische »Leistungsgesellschaft« aufgehoben sein wird. Das gesellschaftliche Leben ist noch kein Ritterturnier und Denksportwettkampf, sondern ein materieller Existenzkampf, der sich auch geistiger Wtifen bedient.


Wenn die Existenzphilosophen sagen, der Mensch sei eine Transzendenz
und sein Wesen bestehe darin, sich selbst zu »überschreiten«, dann läßt
sich das auch so verstehen, daß er nicht leben kann, ohne seine Mitmen-
schen in bestimmten »Disziplinen« zu »übertreffen«.  Er ist das Wesen, das
Rekordmarken hinausschiebt. Der Kampf gegen die Überquantifizierung
der modemen Welt hat auch seine regressive Seite, wenn in der höheren
Qualität keine wirkliche Überlegenheit verteidigt wird. Unter der Maske
des Miteinander spiele ein geheimes Gegeneinander, erkannte Heidegger
als Kennzeichen des Man. Man arbeite »eigentlich« gegeneinander, wem
man sich miteinander verbrüdere. Aber das existenzielle »Sich-vorweg-
sein« Heideggers ist eigentlich auch nur ein Sich-hervor-tun seiner »Jemei-
nigkeii«. Das existenzielle »Sein-können« deutet auf Potenz, die bloße
»Möglichkeit« auf reales Vermögen. Das menschliche Dasein sei das, »was
es in seiner Unbezüglichkeit je selbs. ist«.


Das lndividuum differenziert sich aus der Masse seines Verbandes nicht
heraus, indem es sich als lndividuum unter anderen erkennt, sondem in-
dem es andere Mitglieder seines Vereins übertrifft - in Disziplinen, die

diese Mitglieder zusammengeführt haben. Dieser Wettkampf zerstört
nicht, sondem schafft erst mögliche Solidarität, denn Gemeinsamkeit, die
keine symbiotische Zwangsintegration ist, setzt ausdifferenzierte lndivi-
duen voraus, die gemeinsame lnteressen an gerechten Bedingungen ihrer
Auseimndersetzungen entwickeln kömten. Der Sieger ist eine Klasse für
sich, ohne seine Klasse zu verraten. Er fühlt sich schon heute als Anwalt
einer besseren Solidarität von morgen. An dem Ort, den er erreicht hat, ist
er einsame Spitze, und »Ort« bedeutet etymologisch »Speerspitze«. Der
Mensch ist ein potentes Potential, ein abgeschwächtes Ebenbild der götth-
chen Allmacht und Allwissenheit. Selbst das klassische ldeal einer »harmonischen Entfaltung
dler Kräftc« kann nicht ganz vergessen machen, daß Kräfte sich messen,
Wirkungen zu erzeugen und Geschichte zu beschleunigen. Der Mcnsch ist
das Wesen, das sich selbst übertrifft?


Heideggers »Grundbefindlichkeit der Angst« läßt sich nicht nur mit
Adomo als Klaustrophobie lesen, sondern auch als Rivalitäts- und Piii-
fungsangst, von anderen überholt zu werden. MAN überholt eimnder,
aber »ich je selbst in mcinem jemeinigen Da-seim sei mir selbst und allen
anderen »immer schon voraus«. Heideggers berühm.es »Vorlaufen zum
Tode« bezahlt die Siegeschance mit dem Todesrisiko, und das »eigentliche
Ganz-sein-können« gehe aufs Ga,nz(heitlich)e. Das Endspiel hat scin Fi-
nale.


Die Grund-lage des menschlichen Daseins ist die jederzeit mögliche Nie-
derlage - gegen andere Existenzen oder Naturgewalten. citius, altius, for-
tius. Wer springt am höchsten und weitesten aus dem Ur-sprung heraus,
welcher Lebenslauf läuft am schnellsten und ist »immer schon« am Ziel?
Welcher »Entwurf« wirft den Speer am weitesten, trifft ins Schwarze und
ins Tor? Hier entsteht ganz zwanglos die Frage nach den sozialen Start-
chancen und Wettbewerbsverzerrungen.


Benjamin hat daran erinnert, daß Kunstwerke einander eifersüchtig aus-
schließen, verdrängen und nicht gelten lassen. Sie lassen sich nur mit Ge-
walt unter das Dach eines Museums zusammenzwängen und führen einen gnadenlosen Vemichtungskrieg gegeneimnder. Wer hier das Höchstlei-
stungsprinzip und die Ausscheidungskämpfe abschafft, hebt Künste und
Wissenschaften selbst auf. Ein mittelmäßiges Kunstwerk ist auch schon ein
mißlungenes, und guter Wille genügt nicht. Der Kapitalismus jenseits des
lndustrialismus, jenseits der oralen Einverleibung, der Verdauung von
Rohstoffen und des analcn Ausstoßes von Waren, ist das schöpferische
Prinzip selbst, wenn wir von der materiellen Produktion zur geistigen
Kreation übergehen.


Vielleicht ist der Mensch weniger ein Rclllenspieler auf der sozialen Bühne,
wie die Soziologen meinen, als ein Wettkämpfer in der sozialen Arena. Das
Rollenspiel des Schwächeren ist die Fortsetzung des Wettkampfs mit anderen Mitteln.

 

Was einander nicht tritt, tritt immer noch gegcneinander an,

ohnc materielle Vorteile und Rücksich.en, Ring frei für neue Runden. Das
lnteresse am Sieg gilt ganz zu unrecht als unzulässige Verquickung von
persönlichen mit sachlichen lnteressen. Es kann mir gar nicht um mich
selbst gehen, wenn es nicht gegen andere um die Sache geht, um die es mir
nicht gehen kam, wem es nicht gegen andere um mich selbst geht: Wie
will ein Künstler anerkannt sein, dessen Narzißmus nicht den Narzißmus
seiner Bewunderer befriedigt?


Menschen haben keine Flügel und wollen einander überflügeln. ]eder Ehr-
geizigc sucht das urethrale Feld, auf dem er sich vor Mitbewerbern aus-
zeichnen kann, und die wichtigsten Wettkämpfe wären solche um die Dis-
ziplin. in dcr ein Sieg ein Sieg`wäre über die Sieger in anderen Sportarten.
Ein kaum noch ernstgenommener philosophischer Grundtopos besagt, daß
der Sieger im Denksport der Sieger über die Sieger aller Sportarten ist.
Und niemand kam auf allen Ebenen zugleich gegen alle anderen antreten.
Um den Rücken freizuhaben für ihre Spielchen, haben die Menschen im-
mer einige Betätigungsfelder ausdrückhch vom Wettkampf freigehalten
und gleichsam rivalitär neutralisiert.


Die Zivilisation besteht darin, daß das Geistesleben ein Wettkampf ist, aber
nicht auf Leben und Tod. Theorien haben den unleugbaren Vorteil, daß sie
keine Menschen, sondern nur ldeen vernichten, hat Wissenschafts.heoreti-
ker Popper ausdrücklich hervorgehoben. Der geistige Sieger, wenn er einer
ist, verhält sich zum Besiegten nicht wie der Herr zum Knecht. Wam wird
endlich eine Gesellschaft favorisiert, in der Frauen nicht nur die Sieger so-
zialer Showdowns und Männer nicht nur die Siegerinnen von Mißwahlen
favorisieren? Demokratien stellen Foren für alle zur Verfügung.


Es kommt nicht darauf an, das geistige Leben erst zu einem geistigen
Überlebenskampf zu machen, sondern zu erkennen, daß es das immer
schon war. Und wo man nicht siegen kann, Goethe hat es gewußt, muß
man sich in die Liebe und Bewunderung des Überlegenen flüchten. Die
Menschen unterscheiden sich nicht zuletzt darin, daß die einen lieber be-
neidet, die anderen lieber bewundert werden wollen. Thomas Mam hat es
gewußt: Die Blonden des Nordens benciden die Brünetten des Südens, und
diese bewundem jene. Wer einen Menschen bewundert, macht ihn zu ei-
nem Wunder an Geschicklichkeit oder bestaunt sein schicksalhaftes Natu-
rell. Wunder heben Selbstverständlichkeiten auf. Bewunderung ist neidlose
Freude an der anerkanntcn Überlegenheit anderer, während das Ressenti-
ment an anderen herabsetzt, was es selbst mcht kann und weil es das nicht
kann, was es insgeheim doch liebend gern können würde.

 

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Tag der Veröffentlichung: 28.02.2025

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