Liebe dich selbst wie deinen Nächsten!
Das würde genügen.
"Wie kann ich meinen Naechsten lieben wie mich selbst, wenn er nicht innerhalb der Reichweite von Schneebaellen ist?"" (Gilbert Chesterton)
Der Herzog Francois de Larochefoucauld, gescheitert als politischer Frondeur gegen den absolutistischen Autokratismus des Versailler Sonnenkönigs Ludwig XIV., schrieb im 17. Jahrhundert 500 Salonmaximen, in denen er nachwies, dass in allen vermeintlich altruistisch selbstlosen Handlungen der Menschen nur versteckte Eigenliebe, amour propre, wirksam sei, die sich aber verschämt als ihr Gegenteil maskiere und verberge. Diese kurzen, geistreich pointierten Sentenzen machten ihn zum Ahnherrn der europäischen Literaturaphoristik, die mit bissiger bis bitterer Entlarvungspsychologie das gesellschaftliche Treiben als Karneval hemmungsloer Egoismen vorführte, durch Höflichkeitsrituale gemilderte Kollision der Selbstsüchte.
Der deutsche Lebensphilosoph Friedrich Nietzsche radikalisierte zum Ende des 19. Jahrhunderts diese hochliterarische Kunst zu einem aphoristischen System von fast freudianischer Tiefenpsychologie, die z. B. selbst in hilfsbereiten Personen vor allem Egoisten sah, welche die armen Hilfsbedürftigen von herablassender Höhe aus oft nur demütigen wollen, um die eigene moralische wie materielle Überlegenheit guten Gewissens genießen zu können.
Egoismus ist die beliebteste Form der Nächstenliebe und diese die unbeliebteste Form der Eigenliebe. Der mitleidlose Philosoph des barmherzigen Mitleids, der romantische Vertreter eines metaphysischen Pessimismus und einer hundeliebenden Misanthropie, Arthur Schopenhauer, war Nietzsches "Erzieher", aber hier wie in der Verneinung des Lebenswillens folgte Nietzsche ihm bekanntlich nicht, jedoch beide, der Buddhist wie der Atheist, verachteten die "Sklavenmoral der Schlechtweggekommenen", die sie als das Wesen des Christentums missverstanden.
Natürlich bist du dir selbst der Nächste und sollst und darfst es auch bleiben, sofern du dir mit Kant nur klarmachst, dass du andere stets als Mittel benutzt, aber eben nicht nur als Mittel zu betrachten hast, sondern immer auch als Selbstzweck, der seinerseits auch mich Selbstzweck als Mittel benutzt etc. …
Jedes Subjekt lässt sich vom Fremdsubjekt als Objekt benutzen, um es selbst als Objekt benutzen zu können, und so nutzt mir nur, dass ich dir nutze, und nutze dir nur, sofern du mir nutzt bei diesem Dirnutzen etc. ad infinitum. Hegel nennt es gegenseitige sittliche „Anerkennung“ zweier gleichberechtigter Subjekte, die einander objektivieren, um das zu werden, was sie je selbst sind und sein wollen. Dir nützt nur dein Nutzen für andere, denen nur ihr Nutzen für dich nützt. Jeder Egoist ist mit sich selbst durch andere Egoismen vermittelt.
„Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewusstsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selbst zu haben und zu besitzen.“ (Hegel) Kurz : Der wahre Egoismus ist gerade an die Nächstenliebe gekettet und ohne sie gar nicht wirklich zu haben - wie auch umgekehrt. Am meisten habe ich von dir, wenn du das meiste von mir hast und nicht etwa das Allerwenigste. Wer keinen anderen liebe, liebe nicht einmal wirklich sich selbst, sondern klammere sich nur an einen nichtswürdigen Rest oder fragwürdigen Anfang.
Laut Hegel ist jedes Selbstbewusstsein paradox nur durch fremdes Selbstbewusstsein „mit sich selbst vermittelt“ und unmittelbar gleichsam noch gar nichts, nicht einmal nackter Egoismus pur. Ohne Hingabe keine Hinnahme u. u. Nützen kann dir nur dein Dichbenutzenlassen als Nießnutzer. Nur menschliche Selbstzwecke können einander als bloße Mittel gebrauchen, und nur Mittel können einander als Selbstzwecke respektieren. Das ist die (quasi religiöse) Dialektik der Eigenliebe und der Nächstenliebe, die wesenhaft untrennbar ineinander verschränkt sind und im Grunde unmittelbar weder miteinander nicht ohne einander können, also nur im Konflikt koexistieren und zugleich nur als Einheit im Streit liegen. Nur im Fremden bin ich ganz bei mir, und selbstbewusst in mich gehe ich paradox nur, wo ich ausser mir bin.
Der Pariser Existenzialist Jean-Paul Sartre hat dann 1943 in seinem frühen Hauptwerk „Das Sein und das Nichts“ gegen diese Traditionssicht vehement Einspruch erhoben. Will man ihm glauben, können zwei Subjekte sich und einander nicht respektieren, ohne einander zu Nutzobjekten herabzusetzen. Der Herr erkennt den Knecht an – als Knecht.
Bin ich freies Subjekt, bist du unfreies Objekt, oder eben umgekehrt. Für Sartre heißt Nächstenliebe, den Nächsten in seinem sonst sinnlosen Sein erst zu rechtfertigen. Durch deine Liebe bekomme ich gleichsam erst einen Wert und Existenzberechtigungsausweis. In der Nächstenliebe, ob nun erotisch der caritativ, mache ich mich selbst freiwillig zu deinem begehrenswerten Objekt, um dich zu bewegen, deinerseits nun auch mir meinen Seinswert begehrend zu bestätigen. Aber du kannst mich nicht lieben und im Sein rechtfertigen, ohne deinerseits nur von mir geliebt und in deinem Sein gerechtfertigt werden zu wollen.
Die Liebe sei somit letztlich ein Betrug, das jeder der beiden nur vorgebe, den anderen zu lieben und zu rechtfertigen, um zu verbergen, nur vom anderen geliebt und gerechtfertigt werden zu wollen. So bleibe in der Liebe, die stets unwahrhaftig sei, am Ende jedermann mit sich selbst und seinem ungerechtfertigten Dasein allein, da jeder nur gerechtfertigt wird von einem, den er erst rechtfertigen soll, und ich nur als Rechtfertiger gerechtfertigt werde und dann nolens volens nur einen Rechtfertiger rechtfertige. Q. e. d.
Der liberale Ökonom Adam Smith sah das gesellschaftliche Gemeinwohl gerade aus dem Wettkampf der Einzelegoismen hervorgehen. Wer direkt fürs Gemeinwohl arbeite, verkenne dabei nur sein Eigeninteresse, aber es genuege, dass jedermann seine Privatinteressen verfolge, um dem Gemeinwohl optimal zu dienen. Der Konkurrenzkapitalismus wirtschafte gleichsam sozialistischer als der Kommunismus selber. Wenn jeder sich selbst der Nächste bleibe, seien dadurch alle Naechsten und Fernsten am besten versorgt - in the long run.
Dagegen : Liebe deinen Nächsten, denn du bist wie er. Liebe sogar deinen Feind, denn er ist wie du. Widerstehe niemals dem bösen Egoismus anderer, um nicht den Widerstand deines Todfeindes gegen dich erst aufzureizen, und beschäme ihn stattdessen durch gelassenes Nachgeben. Duldungsstarre durch Sichtotstellen rettet schon im Tierreich das eigene Leben. Hilfe hilft den Helfern zuerst. "Geben ist seliger als Nehmen", weil es selber ein Nehmen ist. Du hast mehr als andere von dem, was sie von dir haben, (und das mitnichten als profitabel amortisierte Investition in den Nächsten)..
Tag der Veröffentlichung: 24.09.2024
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