Cover

Prolog

An einem Ort, weit entfernt

 

Er rennt davon. Unfähig, auch nur einen Blick zurück zu werfen. Die schweren Stiefel an seinen Füßen hämmern auf den Asphalt und verursachen bei jedem Schritt ein dumpfes Pochen in seinem Kopf. Seine Augen füllen sich mit Tränen, die Welt um ihn herum verschwimmt, aber er schluckt alles herunter, er braucht einen klaren Kopf. Und ein Soldat weint nicht.

Sein Ziel ist der Hafen. Dort wartet ein Schiff. Es wird in von hier wegbringen. Fort von jener brennenden Stadt am Wasser, die er einst seine Heimat nannte. Er kennt jede Straße, jeder der kleinen Gasse auswendig und noch vor ein paar Stunden wäre er bestimmt binnen kürzester Zeit am Hafen gewesen. Aber nun, wo sich fast überall rauchende Trümmerberge vor ihm auftun und keine einzige Laterne die Nacht erhellt, fühlt er sich völlig fremd an diesem Ort.

Hinter ihm ertönen die Rufe seiner Verfolger. Sie kommen immer näher. Er nimmt seine Beine in die Hand und rennt schneller, viel schneller. Sie dürfen ihn nicht bekommen. Er hat es ihr versprochen, damals.

Er erinnert sich an ihr letztes Gespräch, vor ein paar Monaten, auch, wenn er sich gerade nicht erinnern will.

Pass auf dich auf, hatte sie gesagt, ich muss jetzt gehen.

Es ist besser so, meinte er nur, es ist die beste Lösung.

Es ist die Einzige.

Vielleicht.

Lass dich nicht schnappen, versprich es mir.

Ich verspreche es.

Und dann war sie gegangen. Er hätte ihr gerne noch gesagt, dass er sie liebt, er bereut es bis heute. Aber im Nachhinein ist man immer klüger. Am Ende der Gasse erscheinen die Lichter des Hafens, doch seine Verfolger haben ein gutes Stück aufgeholt, sie sind jetzt ganz nah hinter ihm.

Sie schreien ihm zu, dass er stehen bleiben soll, sonst würden sie schießen. Und wenn schon, denkt er, früher oder später hätten sie mich sowieso getötet. Also, rennt er einfach weiter, die Augen fest auf die Umrisse des kleinen Schiffes gerichtet, dass noch ruhig im Hafen liegt. Er erkennt, dass auf dem Deck Matrosen umherwuseln, sich bereit machen zum Ablegen.

Wenn er sich beeilt, dann schafft er es noch. Er muss es schaffen, schließlich hat er es ihr versprochen. Lediglich wenige Meter trennen ihn noch von einem Leben voller Chancen, die er hier nicht mehr haben wird. Einem Leben, das er sich immer gewünscht hat, bevor das alles passiert ist. Ein Lächeln entringt sich seinen Lippen.

Und dann stürzt er plötzlich. Stolpert über etwas und fällt zu Boden. Er landet mit dem Kopf auf einem Trümmerteil und die Welt beginnt vor seinen Augen zu verschwimmen. Etwas läuft sein Gesicht herunter, warm und dickflüssig. Die Stimmen seiner Verfolger sind nun sehr nah, ihre Schritte kommen vor seinem Körper zum Stehen. Dumpf nimmt er wahr, wie sie ihre Waffen scharf machen und auf ihn richten.

Ist er tot?, fragt einer der Soldaten. Er kann sich vage an die Stimme erinnern.

Jemand prüft seinen Puls.

Nein, noch nicht, aber er ist sehr schwach.

Wie auch immer, festnehmen!

Vier starke Hände packen seine Arme und ziehen ihn auf die Beine. Ein Gesicht erscheint vor seinem Auge, er braucht ein wenig, bis er es erkennt. Es gehört dem Leutnant. Sie starren sich an.

Abführen, befiehlt der Leutnant, steckt ihn in das dreckigste Loch, dass wir haben.

Die Soldaten setzen sich in Bewegung und seine Füße schleifen über den Boden. Er ist zu schwach, um sich selber auf den Beinen zu halten. Das Letzte, an das er denkt, ehe er sich der Ohnmacht hingibt, ist ihr Gesicht, sein Versprechen. Wie er sie anguckt und ihr sagt, es tut mir leid, Sophie, ich habe es nicht geschafft. Aber ich liebe dich.  

1. Kapitel

 

Ich stehe am Rande der Klippen und blicke hinaus auf einen tiefschwarzen Ozean, der jegliche Farbe zu verschlingen scheint. Weit unter mir brechen sich seine Wellen an den zerklüfteten Felsen. Der Horizont dahinter ist wolkenverhangen und alle paar Minuten ertönt ein Donnern in der Ferne.

Es ist ein wahrlich trostloser Ort, der nicht für die Lebenden geschaffen wurde, vielleicht nicht einmal für die Toten. Irgendwas zwischen Himmel und Hölle, weit ab von der Erde und unserem Universum.

Und doch bin ich hier, in diesem Moment und lasse zu, dass die Trostlosigkeit mein Herz erfüllt. Ich möchte nicht wirklich bleiben, aber etwas hindert mich am Gehen.

Es ist der Ozean. Er ruft nach mir, ruft meinen Namen. Er verzerrt sich vor Sehnsucht, ich spüre das. Ich und der Ozean, wir sind miteinander verbunden.

Spring, flüstert er mir zu, werde Eins mit meinen Fluten.

Aber ich kann nicht. Es fühlt sich nicht richtig an.

Meine Füße bewegen sich nicht, mein innerer Kompass zeigt in die entgegengesetzte Richtung.

Vielleicht beim nächsten Mal, antworte ich und hebe meine Hand zum Abschied, ich komme wieder, versprochen.

Warte, geh nicht!

Ich kann nicht anders, wirklich. Es tut mir leid.

Aber das Gleichgewicht, ruft der Ozean mir zu, du musst das Gleichgewicht zwischen den Welten wieder herstellen.

Ein Sturm zieht auf. Die leichte Brise verwandelt sich in einen Orkan. Blitze zucken am Himmel, Donnergrollen ertönt. Es ist eine Warnung. Meine Zeit an diesem Ort ist abgelaufen. Es wäre nicht richtig, länger zu bleiben. Niemand tut das.

Nicht jetzt, schreie ich gegen das Tosen des Windes an, ich muss gehen.

Ich schließe die Augen und lasse los. Der Wind hebt mich in die Höhe wie eine Feder, weht mich weit hinauf in den Himmel, während der Ozean unter mir immer kleiner wird. In letzter Verzweiflung streckt er seine Hände nach mir aus und flüstert meinen Namen. Er treibt die Wellen hoch hinaus, bis zu dem Punkt, an dem ich so eben noch gestanden habe, aber er erreicht mich nicht.

Sophie, Sophie.

Die Wolkendecke über mir lichtet sich ein wenig. Abertausende funkelnde Lichter heißen mich willkommen. Traurig hebe ich die Hand zum Abschied, winke ein letztes Mal, ehe ich mich strecke und nach den Sternen greife.


 

Ich erwache am Morgen mit Tränen in den Augen, während die letzten Momente des Traumes noch vor meinen Lidern flimmern, wie ein Kinofilm aus den zwanziger Jahren. Es ist das dritte Mal in dieser Woche, dass ich weinend aufwache und auch, wenn ich mich bei den anderen beiden Malen nicht an ihn erinnern konnte, so bin ich mir sicher, dass es sich um immer denselben Traum gehandelt haben muss.

Ich reibe mir die Augen und schlucke die Trauer herunter, die sich tief in mein Herz gegraben hat, Nacht für Nacht, Stunde um Stunde, während ich mich innerlich dazu zwinge, mich zusammenzureißen.

Wirklich lächerlich, Sophie, sagt eine Stimme in meinem Kopf,  jetzt weinst du schon wegen eines Traumes. Du solltest dich wirklich mal behandeln lassen.

Aber dieses eine Mal brauche ich länger und die Bilder der vergangenen Nacht hängen mir selbst noch nach, als ich kurze Zeit später unter die Dusche steige und mich gedanklich auf meinen arbeitsfreien Tag vorbereiten will. Stattdessen analysiere ich fünf Minuten lang meine Eindrücke und versuche sie mir logisch mit irgendwelchen psychologischen Fakten zu erklären. Das warme Wasser scheint dabei zu helfen und ich komme schließlich zu dem Fazit, dass der Ozean eine Zusammenfassung aller unverarbeiteten Erlebnisse meiner Vergangenheit verbildlicht und mir darstellen soll, dass ich mich nun näher damit beschäftigen muss. Die beiden Welten, die ich ins Gleichgewicht bringen soll, symbolisieren Körper und Seele. Innerlich lobe ich mich für diese Interpretation. Jedes seriöse Traumdeutungsforum im Internet wäre stolz darauf gewesen. Mich beruhigt es ungemein. Es gibt für alles eine logische Erklärung, sogar für die seltsamsten Dinge.

Das Klingeln meines Handys reißt mich augenblicklich aus meinen Gedanken. Ich mache einen Hechtsprung aus der Dusche, wickle mir in höchster Eile ein Handtuch um die Brust und laufe vom Badezimmer über den Flur in die winzige Nische, die in meinem Mietvertrag als Einbauküche bezeichnet wird, eine Spur aus Wassertropfen hinter mir zurücklassend. Das Handy liegt auf der Anrichte, ich werfe einen raschen Blick auf das gesprungene Display und befinde den Anrufer für mehr als würdig, um ranzugehen.

Die brüchige Stimme meines Chefs erklingt am anderen Ende der Leitung, dumpf und undeutlich und ich vermute, dass er wieder seine Finger auf dem Mikrofon hat. Simon Corell ist bereits weit über achtzig, ein kleiner, runzeliger Mann, mit wissenden Augen und einem Faible für gute Bücher und er gehört eindeutig zu der Sorte alter Menschen, die sich in einem ständigen Kampf mit moderner Technologie befinden. Ein Wunder, dass er sich überhaupt ein Mobiltelefon zugelegt hat.

„Sophie, hier ist Simon“. Ein Rascheln ertönt, dann spricht er erneut, diesmal lauter, deutlicher. „Sophie? Hörst du mich?“.

„Laut und deutlich“, antworte ich, klemme mir das Handy zwischen Ohr und Schulter und binde mir die nassen Haare mit einem Gummiband zusammen, „Was gibt es denn?“.

„Ich habe eine Bitte. Ich weiß, es ist eigentlich dein freier Tag, aber ich muss dringend zum Arzt um ein Rezept abzuholen und ich brauche jemanden, der in der Zeit auf den Laden aufpasst“.

Der Laden, von dem Monsieur Corell spricht, ist ein altes Antiquariat in einer Seitengasse in der Nähe der Promenade, in dem ich seit zwei Jahren als Buchhändlerin angestellt bin. Die meiste Zeit dort verbringe ich mit lesen oder im Internet, da sich nur wenige Menschen in das Antiquariat verirren, das schon vor langer Zeit in Vergessenheit geraten ist. Die meisten von ihnen sind entweder sehr spezielle Sammler oder aber in den meisten Fällen Touristen, die nach dem Weg fragen. Mein Angebot, manche der alten Bücher im Internet zu versteigern, lehnte Monsieur Corell trotz der hohen Schulden ab. Er nannte nie eine Begründung für diese Entscheidung, aber vermutlich liegt es wohl an der Tatsache, dass er nichts mehr hasst, als Veränderungen.

An anderen Tagen hätte mich seine Bitte wohl genervt, auch wenn ich sie ihm selbst dann nicht hätte ausschlagen können. Aber heute bin ich froh über ein wenig Ablenkung, froh darüber, rauszukommen aus meiner winzigen Wohnung.

„Sophie, bist du noch dran?“.

„Äh. Ja, natürlich. Ich übernehme den Laden solange. Bin in einer halben Stunde da. Gehen Sie ruhig zum Arzt“.

Monsieur Corell bedankt sich und legt auf. Ich trockne mich ab und schlüpfe in Jeans und Kapuzenpullover, trockne meine Haare und binde sie erneut zusammen. Dann stecke ich Handy und Schlüssel in meinen ausgewaschenen Rucksack und verlasse das Haus.

Draußen ist es kälter, als erwartet. Die Temperatur ist in den letzten Tagen deutlich gesunken, der Himmel eine undurchdringliche Decke aus schweren, dicken Wolken. Die Luft schmeckt nach Regen, gepaart mit dem salzigen Geschmack des Meeres, dass nicht weit entfernt ist.

Die Erinnerung an den Traum blitzt vor meinen Augen auf. Der tiefschwarze Ozean, der meinen Namen ruft. Das Gewitter, das mich mit sich reißt. Schnell vertreibe ich den Gedanken und ersticke das aufkeimende Gefühl der Verzweiflung im Keim, in dem ich mir Kopfhörer in die Ohren stecke und die Musik auf volle Lautstärke drehe.

Dann setze ich mich in Bewegung und mache auf dem Weg noch einen Abstecher in die hiesige Bäckerei, dessen kleiner Verkaufsraum zwischen zwei Souvenirläden und drei Chinarestaurants beinahe untergeht.

Trotz der Nähe zum Wasser und den angenehmen Temperaturen im Sommer, die durchaus einige Touristen anlocken, hatte man das Städtchen mit den Jahren heruntergewirtschaftet und sich irgendwann nicht mehr drum gekümmert. Viele der einst schönen Häuserfassaden hat das Salz irgendwann zerfressen, sodass der einstige Glanz einer tristen, gräulichen Farbe weichen musste, die den Großteil des Stadtbildes prägt.

Der Einkaufsstraße am Strand fehlt es an Gemütlichkeit, an Moderne, an kleinen Lädchen die einem sagen: Schau, hier ist es schön, kauf doch etwas, du bist im Urlaub. Stattdessen reiht sich dort eine schmuddelige Imbissbude an die andere und manchmal, wenn der Wind günstig steht, zieht der Geruch von fettigen Pommes bis ins Antiquariat und setzt sich in den kleinsten Ritzen fest.

Heute jedoch habe ich Glück. Als ich den Laden betrete, schlägt mir gewohnte staubig trockene Luft entgegen. Es riecht nach alten Buchseiten, vergilbten Einbänden. Vertraut. Ich gehe nach hinten ins Büro und schaue nach Monsieur Corell, aber er scheint schon weg zu sein. Irgendwann habe ich es aufgegeben, ihn daran zu erinnern, die Tür vom Laden abzuschließen, bevor er geht. Kein normaler Mensch klaut Bücher und schon die Fassade verrät jedem potenziellen Dieb, dass es hier nichts anderes zu holen gibt.

Ich lasse meinen Rucksack im Hinterzimmer, suche mir ein Buch aus und setze mich nach vorne in die Leseecke, die aus einer Couch und einem Tisch besteht und von der aus ich die Tür gut im Blick habe. Hier steht auch ein alter Computer, der ewig lange zum Hochfahren braucht. In meiner Anfangszeit habe ich manchmal eigene Geschichten daran geschrieben, aber das ist schon lange her. Irgendwann gingen mir die Ideen aus und ich verlor den Spaß an der Sache.

Du könntest deinen Traum aufschreiben, zuckt es mir durch den Kopf und für einen winzigen Moment, habe ich wirklich das Bedürfnis dazu. Aber dann ist dieser Moment vorbei und ich vertiefe mich in das Buch.

Als ich auf der Hälfte angekommen bin, werfe ich einen sehnsüchtigen Blick auf die Uhr und stelle fest, dass erst eine Stunde vergangen ist. Lustlos lege ich das Buch beiseite, lehne mich auf der Couch zurück und stecke mir erneut die Kopfhörer in die Ohren.

Süße Violinenklänge ziehen mich in ihren Bann, lullen mich gänzlich ein. Eine Sängerin stimmt traurige Töne an, sie erzählt die Geschichte eines Mannes, der nach dem Krieg in seine Heimat zurückwill, aber niemals ankommen wird. Ich gebe mich ihren Worten hin und schließe die Augen. Nur einen Moment, denke ich und bemerke nicht mehr, wie mich der Schlaf hinab in die Tiefe zieht.

2. Kapitel

 Wieder stehe ich am Rande der Klippen und schaue hinaus auf den Ozean. Der Himmel ist wolkenverhangen, aber diesmal weiß ich, dass dahinter ein Lichtermeer auf mich wartet. Etwas hat sich verändert, seit meinem letzten Besuch. Statt der Trostlosigkeit empfängt mich Wärme. Diesmal ist der Ozean ruhig. Keine Welle bricht sich an den Felsen. 

Sophie, du bist zurückgekommen, zurück zu mir. Bist du nun bereit, dich mit mir zu vereinen?

Ein Windstoß fährt mir durch die Haare, zerrt an meinen Kleidern.

Ich weiß nicht. Ich habe Angst, antworte ich, leise, aber der Ozean hört es trotzdem.

Aber, Sophie, du brauchst keine Angst zu haben. Es ist deine Bestimmung, dein Schicksal. Du bist das Band, das die Welten vereint. Du musst sie ins Gleichgewicht bringen.

Was meinst du damit? Was für ein Band? Welche Welten? Wovon redest du nur?

Hast du denn etwa alles vergessen? Die Spiegelwelt? All die Dinge, die du getan, all die Menschen, die du über die Brücke geführt hast. Erinnerst du dich nicht?

Verwirrung keimt in mir auf, ein Gefühl der Hilflosigkeit, während ich all die Worte in meinem Kopf wiederhole, in der Hoffnung, sie würden für mich irgendeinen Sinn ergeben. Aber das tun sie nicht.

Du musst mich verwechseln. Mit Sicherheit tust du das.

Aber nein, ich bin mir sicher. Du bist es. Ich würde dich unter tauschenden wiedererkennen, Sophie. Du und ich, wir sind eins, wir werden eins sein. Komm zu mir und du brauchst dir keine Gedanken mehr zu machen.

Ein erneuter Windstoß zerzaust meine Haare, diesmal stärker. Ein stetiges Lüftchen kommt auf, kaum bemerkbar, aber ich weiß, was es bedeutet. Meine Zeit neigt sich dem Ende zu, erneut. Die Böe wird kommen und mich davon tragen, hinauf zu den Sternen. Auch der Ozean bemerkt die Veränderung, er bauscht sich auf und streckt seine Arme nach mir aus, prescht seine Wellen bis zu mir hinauf. Ich gehe auf Abstand.

Nicht, Sophie, ruft er, du darfst nicht zögern. Du kannst es kontrollieren, du musst nur springen. Jetzt, sofort. Du hast es mir versprochen!

Ich kann nicht anders. Ich kann nicht springen, ich kann einfach nicht. Ich bin nicht die, für die du mich zu halten glaubst. Lass mich gehen, ich bitte dich.

Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Du kannst nicht vor deinem Schicksal davon laufen. Die Welten brauchen das Band. Das Gleichgewicht muss wieder hergestellt werden. Komm zu mir und erinnere dich.

Eine Welle schwabbt weit über den Rand der Klippe hinüber und überschwemmt meine Schuhe, meine Knöchel und ich begreife es zu spät, dass das Wasser wandert und meinen Körper übernimmt und mich zum Abgrund zieht.

Nein, schreie ich, bitte, ich bitte dich. Ich will nicht. Ich flehe dich an.

Aber die Kälte bahnt sich weiterhin einen Weg, ich spüre sie in meinen Fingern, meiner Brust. Ein Gefängnis, aus dem ich nicht entkommen kann. Der Wind zerrt an mir, versucht das Wasser zu bekämpfen, mich mit sich in die Luft zu heben, aber der Ozean ist stärker, größer und ich weiß, dass es ein unmöglicher Kampf zweier Naturgewalten ist.

Meine Beine bewegen sich gegen meinen Willen in Richtung Abgrund, Schritt für Schritt, während die Kälte mein Herz erreicht und ich nach Luft schnappe. Ich Blicke hinab in das schwarze Nichts und ich gebe mich innerlich geschlagen. Man kann seinem Schicksal nicht entkommen. Ich bin das Band. Das Gleichgewicht muss wieder hergestellt werden.

Gut, so, Sophie, hab keine Angst. Vertrau mir. Bald sind wir wieder eins.

Ich bin nur noch fünf Schritte von meinem Verderben entfernt. Vier Schritte. Drei Schritte. Vor meinem inneren Auge falle ich bereits, sehe mich sterben. Zwei Schritte. Ertrinken, in den eiskalten Wassermassen…Ein Schritt. Du kannst es kontrollieren!

Ich erinnere mich an die Worte des Ozeans, erinnere mich und befehle dem Wind, mich fortzutragen. Das Wasser lässt von mir ab, als hätte es sich verbrannt, es zieht sich zurück und fällt über den Rand der Klippen.

Nein, was tust du denn?

Eine Windböe hebt mich in den Himmel, fort von der Erde, fort vom Ozean, der tobt und schäumt vor Wut.

Du hast es mir versprochen, Sophie, du hast es mir versprochen!

Die Wolkendecke über mich lichtet sich und ich blicke hinauf in den Sternenhimmel, meine Rettung. Ich treibe den Wind schneller voran, befehlige ihn, während die trostlose Welt unter mir immer kleiner wird. Der Ozean beschimpft mich, aber ich höre ihn nicht mehr, so weit oben bin schon.

Und obwohl ich froh darüber bin, von hier wegzukommen, in einen sicheren Hafen eizulaufen, macht sich Traurigkeit in mir breit und eine Stimme, eine sehr leise in meinem Kopf flüstert mir zu, dass der Ozean recht hat. Er ist ein Teil von mir, ein Teil meines Schicksals und auch, wenn ich mich dagegen weigere, ich werde zurückkommen, jede Nacht und irgendwann…irgendwann werde ich springen.

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 17.10.2016

Alle Rechte vorbehalten

Nächste Seite
Seite 1 /