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Prolog ~ Finn

Finn

Habt ihr euch jemals gefragt, wer diese ganzen Personen sind, die in euren Träumen vorkommen? Damit meine ich nicht die, die in eurem realen Leben auch existieren. Die sind nur eure Gedanken und Erinnerungen. Nein, ich meine die, die nur in euren Träumen vorkommen. Die es nur dort und nirgendwo anders gibt. Ihr glaubt diese Menschen würden nur eurer Fantasie entspringen und irgendwie tun sie das auch, zumindest ist eure Fantasie dafür verantwortlich, was sie in euren Träumen tun und sagen. Ob sie gut oder böse sind, euch retten oder töten, euch lieben oder hassen - das alles entscheidet ihr. Doch diese Personen existieren nicht nur in euren Träumen, sondern auch in den Träumen anderer und nicht nur dort, sie haben auch ein eigenes Leben. Ein Leben, das dem eurem gar nicht so unähnlich ist. Auch sie werden geboren, wachsen, essen, trinken, leben, lieben, lachen, weinen, schlafen und sterben auch irgendwann. Es gibt nur drei Dinge, in denen sich ihr Leben von dem eurem unterscheidet. Sie leben in einer anderen Dimension und träumen, wenn sie schlafen, anders als ihr nicht. Dafür kommen sie, wenn sie schlafen, und das ist der dritte Unterschied, in euren Träumen vor. Sie sind die Personen, die in euren Träumen vorkommen. Sie sind so eine Art Schauspieler, die Rollen spielen, die ihr euch für sie ausgedacht habt. Eigentlich kommen diese Personen nur einmal oder in so großen Abständen in euren Träumen vor, dass ihr euch nicht mehr an sie erinnern könnt. Doch manchmal, ganz selten, kommt es vor, dass sie verbotenerweise in kleinen Abständen oder sogar in jedem eurer Träume vorkommen, sodass ihr euch an sie erinnern könnt und eure Fantasie ihnen immer die selbe Rolle zuteilt. Und noch seltener kommt es vor, dass sie Beziehungen zu euch aufbauen, sich mit euch anfreunden oder sich gar in euch verlieben. Letzteres ist strenger verboten als alles andere in unserer Welt und es gibt nicht schlimmeres, was einem von uns, einem Morpheuser passieren kann. Vor allem dann, wenn diese Liebe von euch erwidert wird. Und genau das ist Xenia und mir passiert.

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 Xenia
Träumen. Es gab nichts schöneres und gleichzeitig auch nichts schlimmeres für Xenia. Nichts liebte und hasste sie mehr. Nichts machte sie glücklicher und trauriger. Nichts brachte sie näher zu ihm, nichts zeigte ihr mehr, dass es unmöglich war.
Auch jetzt, hier im Bus, während sie aus dem Fenster staarte und die vorbeiziehende Landschaft beobachtete, wäre sie fast eingeschlafen und ihrer Traumwelt versunken, wäre da nicht ihre kleine Schwester Lucia gewesen, die an ihrem Arm rüttelte und sie so aus ihrer Traumwelt hollte.  >>Nia nicht einschlafen! Wir sind gleich da!<<, weckte die Siebenjährge Xenia aus ihrem Halbschlaf. Xenia wandte ihren Blick von der Landschaft ab und sah stattdessen ihre kleine Schwester an. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden Mädchen war fast schon erschreckend. Lucia sah genauso aus, wie Xenia vor neun Jahren ausgesehen hatte. Sie hatte dasselbe fuchs rote Haar, dieselbe blasse Haut, dieselben rehbraunen Augen, dieselben schmalen Lippen und dieselbe kleine Stupsnase. Ihr Aussehen unterschied sich nur in zwei Dingen - während Xenias Haar einfach nur glatt herunterhing, hatte ihre jüngere Schwester von Natur aus wunderschöne Wellen in den Haaren, für die Xenia sie manchmal ganz schön beneidet und dann sah man den Schwestern natürlich den Altersunterschied von neun Jahren an. >>Ich wäre gar nicht eingeschlafen!<<, sagte Xenia und versuchte dabei so ernst, wie möglich auszusehen. Aus dem ernsten Gesichtsausdruck wurde allerdings nichts, denn Lucia grinste sie mit einem so großen Grinsen an, dass auch sie grinsen musste. >>"Na gut, vielleicht schon."<<, gab Xenia, die von ihrer kleinen Schwester immer "Nia" genannt wurde, schließlich zu. Auch wenn es Xenia für unmöglich gehalten hatte, das Grinsen ihrer kleinen Schwester wurde noch breiter. So breit, dass man jede ihrer Zahnlücken sehen konnte. >>Jetzt grins nicht so, sondern schnappt dir deinen Rucksack, wir müssen gleich raus!<<. Kurz grinste die Kleine Xenia noch frech an, dann georchte sie ihrer älteren Schwester jedoch, schulterte ihren pinkfarbenen Rucksack kletterte aus der Sitzbank und lief durch den noch fahrenden Bus zur Tür. Xenia hing sich ihre Tasche über die Schulter und tat es Lucia nach.

 Finn
Finn hielt den Unterricht für unsinnig, für unsinnig und für eine riesige Zeitverschwendung. Tag für Tag war er dazu gezwungen, mehrere Stunden in einem stickigen Klassenzimmer zu verbringen und Lehrern zuzuhören, die entweder Techniken des Traumspringens erklärten, die er schon längst beherrschte oder Geschichten von Morpheus, dem Vorfahren all jener, die wie er Morpheuser waren, oder den griechischen Göttern erzählten. Jeder Morpheuser beherrschte das Traumspringen instiktiv seit seinem dritten Geburtstag, man musste also nicht erst lernen. Es gab zwar ein paar Tricks, die ganz hilfreich waren, aber auf die konnte man eigentlich selbst kommen, wenn man nicht komplett bescheuert war. Unterricht darin zu bekommen, war also mehr als nur unnötig.
Und die Geschichten von Morpheus und den griechischen Göttern brauchte auch keiner. Viele von ihnen wurden den meisten sowieso schon in der Kindheit von den Eltern und Großeltern erzählt und diese reichten völlig aus. Wieso musste man auch die komplette Ilias oder Odyssee kennen? Man brauchte sie doch sowieso nicht. Finn verstand sowieso nicht, weshalb man überhaupt etwas über die Götter wissen musste. Sie waren schon lange nicht mehr da. Früher, vor mehreren tausend Jahren, als Zeus, Poseidon und Co. noch da gewesen sind, haben sie zu ausgewählten Morpheusern gesprochen, ihnen die Aufgabe erteilt in den Träumen bestimmter Menschen zu erscheinen und diese zur Vernunft zu bringen. So waren Kriege verhindert und viele Menschenleben gerettet worden. Doch irgendwann glaubten immer weniger Menschen an die Götter und die Götter wurden böse. Sie wandten sich den Menschen ab und fortan interessierten sie die Probleme der Menschheit nicht mehr. Die Morpheuser brauchten sie nun auch nicht mehr, weshalb auch seit Jahrtausenden kein einziger Morpheuser etwas von den Götter gehört hatten.
Endlich klingelte es zum Schulschluss, der Lehrer, dessen Namen Finn vergessen hatte, versuchte verzweifelt, den Lärm der Schüler, die eilig ihr Bücher, Blöcke und Stifte in ihre Taschen stopften, um so schnell wie möglich aus der Schule und nachhause oder irgendwo anders hin zu kommen, zu übertönen, in dem er die Aufgaben, die sie bis morgen erledigen sollten brüllte. Bis auf ein paar wenige, interessiert sich keiner für das Gebrüll des Lehrers. Finn gehörte zu denen, die sich nicht dafür interessierten. Er erledigte, seine Aufgaben, wenn überhaupt erst kurz vor Beginn der Stunde und das tat er auch nicht selber, sondern schrieb sie von seinen Klassenkamaraden ab. Er hatte auch schon ohne die Schularbeiten, mehr als genug zu tun und die wertvolle Freizeit, die ihm noch blieb mit Hausaufgaben verschwenden, die im sowieso nichts nutzten? Nein danke.

Xenia
Noch ehe Xenia ihren Haustürschlüssel aus der Tasche hatte kramen oder klingeln können, war auch schon die Tür aufgerissen worden und ihre Mutter stand kopfschüttelnd vor ihr. "Xenia! Wie oft habe ich dir gesagt, dass du aufhören sollst in diesen schrecklich Jeans herumzulaufen! Und diese Schuhe!", beschwerte sich die junggebliebene Vierzigjährige mal wieder lautstark über das Outfit ihrer ältesten Tochter. Wenn es nach Xenias Mutter ging, dann sollte es jedem Mädchen und jeder Frau gesetzlich verboten sein in Hosen oder gar in Sneakers herumzulaufen. Ihrer Meinung nach, hatten alle weiblichen Wesen in Kleidern oder zumindest Röcken und Ballerinas oder Sandalen herumzulaufen. Im Winter waren außerdem noch Stiefel gestattet, aber nur welche die feminin und nicht zu grob und männlich aussahen. Allerdings intressierten Xenia die Kleidervorschriften ihrer Mutter schon lange nicht mehr. Die Sechzehnjährige trug wirklich nur zu den besondersten der besonderen Ereignisse Kleider oder Röcke und noch seltener Schuhe die ihre Mutter für angemessen empfand. Meistens sah man das Mädchen in mit Farbklecksen übersehten und zerissenen Jeans, einfachen Pullovern, und ausgetretenen Chucks oder Stiefeln, die ganz sicher nicht in die Kategorie feminim sondern grob und männlich fielen. Lucia hingegen trug genau die Klamotten, die ihre Mutter für angemessen hielt und beschäftigte sich in ihrer Freizeit auch mit Dingen, die die Vierzigjährige für anständig hielt. Während Xenia ihre Freizeit vor allem damit verbrachte an irgendwelchen Kunstprojekten zu abeiten oder ihre Zimmerwände zu verschönern, wovon ihre Mutter alles andere als begeistert war, nahm Lucia Ballettunterricht und gewann auch regelmäßig Tanzwettbewerb, was sie zum Liebling ihrer Mutter machte. "Und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass ich in den Klamotten rumlaufen die mir gefallen und du dir unbedingt ein Hobby suchen solltest, damit du etwas besseres zu tun hast als aus dem Fentser zu sehen und nach Lucia und mir Ausschau zu halten, um schon die Tür aufreißen zu können, bevor wir auch nur daran denken konnten zu klingeln?!", erwiederte Xenia frech. "Junge Dame...!" begann Xenias Mutter, doch die Frau hatte keine Chance ihren Satz zu beenden, denn das übernahm ihre Tochter für sie. "Ich weiß, ich weiß 'Nicht in diesem Ton'." sagte Xenia und war schon die alte Treppe aus Eichenholz, die zu ihrem Zimmer führte hinaufgelaufen.
Ihr Zimmer lag im Dachgeschoss des Hauses und war ein großer, heller Raum, dessen Wände bunt bemalt und mit Bildern und Fotos beklebt waren. Xenia hatte sich dieses Zimmer nicht wegen seiner Größe ausgesucht, sondern wegen dem großen Dachfenster durch das man den ganzen Wald, der nur wenige Meter hinter dem Grundstück der Familie begann, überblicken konnte. Sie hatte es sich auch ausgesucht, weil sie gewusste hatt, dass sie mit diesem Raum anstellen konnte was sie wollte, denn hier hoch kam ihre Mutter so gut wie und konnte sich somit auch nicht über das Aussehen des Raumes beschweren. Um in das Zimmer der Sechzehnjährigen zu gelangen, musste man nämlich nicht nur die Treppe hinaufsteigen sondern auch eine Leiter und das tat ihre Mutter alles andere als gerne. Als Mädchen war Johanna einmal von einer Leiter gestürzt, hatte sich dabei den rechten Arm gebrochen und mied seither jegliche Art von Leitern.
Was Xenia an ihrem Zimmer auch so gut gefiel waren die dunklen Dachbalken, an denen sie viele ihrer Zeichnungen, Bilder und Fotos aufhing. Zurzeit hingen an diesen Balken vor allem Zeichnungen und Bilder von einem Jungen mit schwarzen, lockigen Haar, bernsteinfarbenen Augen und dem schönsten Lächeln, das sie je gesehen hatte - Zeichnungen und Bilder von Finn, dem Jungen aus ihren Träumen, dem Jungen in den sie sich verliebt hatte.

 

Impressum

Tag der Veröffentlichung: 02.11.2013

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