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Vorwort

25. Mai 2018

Evelin war ursprünglich alles andere, als ein materialistisch eingestellter Mensch. Und sie hatte früher einmal ganz bestimmt keinen materialistischen Umgang nötig. Sie war vom Ursprung her ein bescheidener Mensch. Sie hatte ein Herz für Menschen, denen es nicht gut ging. Evelin war großzügig und teilte gerne das Wenige, was sie hatte.

Evelin muss zu ihrer ursprünglichen Reinheit zurück, denn sie trägt das Wesen eines Engels in sich.

Ralf Dellhofen
Bray, Irland

Einleitung

Niemand mag übertrieben tragische Menschen oder tragische Geschichten.

Jeder Mensch hat seine ureigenen, täglichen Probleme und das mehr oder weniger große Päckchen zu tragen. Trotz dessen möchte ich dich bitten, lieber Leser, dieses kleine Buch bis zum bitteren Ende zu lesen.

Du kannst in ihm vielleicht nicht die ganz große Weisheit finden, vielleicht jedoch einen kleinen Helfer darin sehen, der dich zukünftig dabei begleitet, dein Päckchen besser durchs Leben zu tragen. Oder du findest zumindest einen kleinen Trost in ihm. Jeder Mensch braucht einmal Trost und einen guten Freund, der diesen Trost spendet, in welcher Form auch immer. Sei es durch Zuhören, lesen konstruktiver Worte in einer Nachricht oder dadurch, dass dieser Freund dir einen Rat von Angesicht zu Angesicht gibt. Manchmal reicht es schon zu wissen, dass im Extremfall jemand da wäre, an den man sich wenden könnte.

Ich bin momentan mit meinen Gedanken und mit der Trauer, die diese Gedanken mit sich bringen, ziemlich alleine. Vielleicht habe ich dieses »allein sein müssen, mit meinen Gedanken und der daraus entstandenen Trauer« verdient. Vielleicht auch nicht. Ich suche den Sinn in dem noch, was mir gerade passiert ist.

Menschen in bedrückenden Lebensabschnitten sind eben auf der Sinnsuche. Manche wenden sich dem Glauben und den verschiedenen Religionen zu, manche philosophischen Lebensweisheiten. Andere haben diese Sphären längst verlassen und ihr Ego gleich ganz ins Universum verfrachtet. Sie haben, meiner Meinung nach, durch zu große Ich-Bezogenheit den Kontakt zu und den Kampf um die Menschheit längst aufgegeben. Ich bin immer noch hier, bin immer noch erdgebunden und mag den Kampf um jede menschliche Seele, um die es sich noch zu kämpfen lohnt, nicht aufgeben.

Ich habe kürzlich einen geliebten Menschen verloren und ich trauere um diesen Menschen mehr, als dieser Mensch um sich selbst, geschweige denn um mich trauern würde. Ich vermisse diesen Menschen, trotz dessen Kälte mir gegenüber.

Dieser Mensch hieß Evelin und sie war mehr als drei Jahrzehnte ein Teil meiner inneren Familie und ein großes Stück dessen, was ich als Herz und Seele in mir trage.

Das Kennenlernen

Ich lernte Evelin unter ihrem zweiten Vornamen Esther Anfang der 1980er Jahre kennen.

Sie kam zu uns in die Klasse einer kleinen Hauptschule, in die Eltern der eher unteren Einkommensschicht ihre Kinder steckten, weil sie es eben selbst nicht anders und besser kannten. Esther kam verspätet zu uns, nachdem die allgemeinen Einschulungen bereits stattgefunden hatten. Sie war anfangs eher verschwiegen und ruhig, eher schlicht und unauffällig gekleidet, ein einfacher Haarschnitt. Sie hatte zunächst wenig soziale Kontakte zu den Mitschülern.

Ich beobachtete sie oft aus sicherer Entfernung, ohne, dass sie es merken konnte, und auch nur innerhalb des Unterrichts. Ich habe immer heimlich Menschen betrachtet, um aus ihrer Mimik und ihrem Gesichtsschnitt erste Erkenntnisse über ihr Wesen in Erfahrung bringen zu können. Menschen interessieren mich.

Esther bedeutete mir damals noch nichts. Ich hatte meine feste Jugendfreundin, Heike, der ich ein treuer Freund war und die in mir das gleiche sah.

Esthers Verschwiegenheit und ihre höfliche Umgangsform, ihre leise und sanfte Art mit ihren weiblichen Mitschülern im Unterricht zu flüstern, brachten mich dazu, hinter ihrer Art ein Geheimnis zu vermuten. Erst viele Monate nach der Einschulung, bekam ich so langsam gewahr, was sich hinter ihrer entzückend, sanften Verschwiegenheit verbarg.

Eine ihr vertraute Schulfreundin verriet mir, dass Esther früh zur Waise wurde. Ihre Mutter starb früh, über den Vater wussten wir nichts. Sie litt bereits an einer leichten Form von ADS, einer Abwandlung des ADHS-Syndroms. Sie mochte den Namen »Esther« nicht besonders, der ihren zweiten Vornamen bildete. Sie bevorzugte es Evelin genannt zu werden. Es war der Name ihrer verstorbenen Mutter, die sie sehr mochte.

Zu damaliger Zeit wusste ich noch nicht, dass sie diesen Vornamen bevorzugt. Ich liebte den Namen »Esther«. Er klang fremdartig, orientalisch. Ich fand ihn geheimnisvoll, biblisch und jüdisch. Nie zuvor hatte ich ein Mädchen mit diesem besonderen Namen gekannt.

Ich hatte als Kind mit meiner Freundin Heike in einem Zirkus ausgeholfen und den Tieren das Heu zurechtgemacht. Dort gab es einen Elefanten, der Evelin hieß. Zu dem Elefanten hatte ich kein gutes Verhältnis, daher nannte ich Evelin all die Jahre bei ihrem zweiten Vornamen, ohne zu wissen, dass ich ihr damit eher keinen Gefallen tat. Ich wusste es einfach nicht besser. Heute weiß ich es und aus Liebe, Zuneigung und Respekt zu ihr, schreibe ich ab jetzt nur noch von Evelin.

Es vergingen Monate und plötzlich wechselte ihr Nachname. Nicht nur ich, sondern auch ein Großteil der Mitschüler waren etwas verwirrt aufgrund der Unsicherheiten ihrer Vor und Nachnamen. Evelin kam in einer Pflegefamilie unter. Sie war mir zu dem Zeitpunkt aber immer noch relativ egal. Ich hatte selbst genügend Probleme mit meinem Vater, der uns zwar tagsüber mit Nahrung und Kleidung versorgte, aber niemals mit Liebe. Wenn er abends von seinem Job als Kraftfahrer kam, holte er oft die Ersparnisse weg, fuhr mit dem Taxi in eine Kneipe oder ein Bordell und erschien dann mitten in der Nacht, singend und grölend, betrunken bis zum Umfallen und wurde dann meist sadistisch und brutal. Heike war meine Familie und mein Fels in der Brandung. Bei ihr und ihrer Familie fand ich oft Schutz.

Es war im 8. Schuljahr als ich erstmals so etwas wie Zuneigung für Evelin empfand. Evelin kleidete sich schon schicker, sie gab sich befreiter, achtete auf Mode und stylte ihr Haar. Auch traute sie sich erstmals so etwas wie Schminke zu, wenn auch noch sehr dezent. Ich kann mich noch an einzelne Fragmente erinnern. Bilder, die ich noch im Kopf von ihr habe. Es regnete einmal sehr stark und sie kam verspätet zum Unterricht. Sie trug eine dünne, blaue Windjacke und ihre Popper-Frisur mit dem dazugehörigen Seitenscheitel war durch den Regen ruiniert. Sie jammerte vor sich hin und war sichtlich genervt, da sie gerade erst beim Frisör ihre Haare hat machen lassen. Sie wollte schön sein, wollte begehrenswert sein und dazu gehören, wie das nun einmal so der Trieb bei Menschen mit ADS und ADHS mit sich bringt.

An diesem Tag zeigte sie Nerven, wurde erstmals etwas lauter, kam aus ihrer Verschwiegenheit und ihrem Schneckenhaus heraus.

Und rückte damit näher in mein Herz.

 

Die erste Nähe

Wir fuhren auf Klassenfahrt, in die Nähe von Nümbrecht, in ein kleines Dorf, in dem es nur eine Kneipe, einen Tante-Emma-Laden und die üblichen zwei Kirchen gab. Es gab dort keine Diskotheken und auch sonst keine Möglichkeit für die Jugend, sich entfalten zu können. Es gab generell keine Attraktionen irgendwelcher Art. Übrigens gab es dort nicht einmal Jugendliche. Das gesamte Dorf bestand aus ein paar alten Straßen, über die wohl früher einmal eine Menge Panzer gerollt sein müssen. Straßen, in denen ein paar alte Leute wohnten, die man aber so gut wie nie zu Gesicht bekam. Keiner von uns wusste, was unsere Klassenlehrerin dazu bewegt hatte, ausgerechnet in dieses Kaff zu fahren. Wir scherzten und versicherten uns, dass sie dort eine Freundin oder Verwandte besuchen wollte, und die Klassenkasse und uns dazu benutzte, diesen Besuch zu finanzieren. Die Toten mussten sich dort langweilen.

In unserer Klasse gab es den üblichen Klassenclown, einen rothaarigen Jungen namens Olaf. Seine Art von Clownerie beinhaltete, dass er den Schülern beim gemeinsamen Schwimmunterricht unaufgefordert seine Genitalien zeigte oder sein Arschloch und dabei furzte. Er war extrem abartig und dreist.

Zu damaliger Zeit erfuhr ich durch Evelins beste Freundin, eine gemeinsame Klassenkameradin, dass Evelins Pflegevater sie oft misshandelte. Die Pflegefamilie bestand aus Zeugen Jehovas, die für Evelin gutes Geld vom Jugendamt kassierten, dafür, dass sie Evelin züchtigten und der Pflegevater sich an ihr vergehen konnte. Ich dachte damals, dass es mich mit dem eigenen Vater hart getroffen hatte, doch Evelins Situation war noch weit komplizierter und grausamer. Ich hatte schon immer ein übersteigertes Empfinden für Recht und Gerechtigkeit und verabscheute Ungerechtigkeiten zutiefst.

Evelin rückte damit weiter in mein Herz und stand an der Eingangspforte meiner Seele.

Auf besagter Klassenfahrt im 8. Schuljahr kam es zu einer ausschlaggebenden Situation. Ich schlief in einem Zimmer mit einem Teil der männlichen Mitschüler und dem abartigen Olaf. Ich hasste ihn, hasste seine dreiste und wenig freundschaftlich ausgerichtete Art. Du hättest ihm ein kleines Geldstück anvertrauen können, er wäre damit abgehauen. Ich hatte ihm einmal eine Musikkassette geliehen, die er sich überspielen wollte. Da seine Aufnahme nichts wurde, hatte er sich die Mühe gemacht, sein schlechtes Band mit meinem guten Band zu vertauschen. Dafür musste er die Kassetten aufschrauben und die Bänder tauschen. Dies stellte für ihn keinerlei Mühe dar, wenn er nur hinterhältig sein konnte. Er war so! Ich bemerkte den Betrug sofort.

Olaf zog sich plötzlich nackt aus, um den Beweis anzutreten, dass im Gegensatz zu seinem Haupthaar das Haar an seinen Genitalien nicht rot ist. Einige der Mädchen, unter anderem Evelin und ihre engste Freundin befanden sich mit im Raum. Evelin wusste nicht genau, was sie von Olafs Aktion halten sollte, der nun vollkommen ungeniert, nackt und fröhlich von einem Etagenbett zum anderen sprang und mit seinem Pillemann herumwedelte. Ihr Blick und ihre Reaktion reichten von ungläubigem Staunen über studierend bis hin zu vergnügtem Lachen.

Sie saß auf meinem Etagenbett ganz oben, direkt bei mir und so sehr ich Olaf auch wegen seiner nervenden Art hasste, so dankbar war ich ihm in dem Moment, als er vor meinem Bett herumsprang und sich Evelin zum ersten Mal eng an mich schmiegte.

Ihre Wärme und ihren Duft werde ich nie vergessen!

Die Liebe voll entfacht

Es war im Jahr 1986. Wir absolvierten das 10. Schuljahr.

Eine Zeit des Kampfes und der beginnenden Befreiung lag hinter uns. Ich hatte mich nur ein Jahr zuvor erstmals richtig gegen unseren brutalen und alkoholkranken Vater verbal zur Wehr gesetzt. Ich hatte die Magersucht durch Fitnesstraining und Kampfsport korrigieren können und wog nun anstatt 66 Kilogramm ganze 79, bei fast einem Meter neunzig Körpergröße.

Evelin hatte sich aus eigener Kraft von der satanischen Pflegefamilie befreien können und pendelte zwischen Heim und »bei Freunden unterkommen«. Sie hatte zumindest noch eine ältere Schwester, die annähernd so bezaubernd war, wie sie selbst.

Ich legte an Muskeln ordentlich zu und der eigene Vater sah mich plötzlich als Konkurrenten und Feind in seinem Haus. Das Leben mit und unter ihm wurde mir langsam und stetig zu einer unerträglichen Qual. Ich hatte schon als kleiner Junge an seiner großen Faust gehangen, wenn er unsere Mutter schlug, während die Brüder alt genug waren, nachts bei ihren Freunden unterzukommen. Mir blieb der Weg zur Flucht verwehrt, ich stand daher unserer Mutter bei. Ich musste sie einmal aus dem verschlossenen Ölkeller retten, in den sie sich eingeschlossen hatte, mit einer Flasche Schnaps und einer Überdosis an Schlaftabletten. Ich war das einzige Kind der Familie, das so mager war, durch das winzige Kellerfenster zu passen, um sie zu retten.

Evelin wurde durch ihre Befreiung selbstbewusster. Sie kleidete sich schicker und trat insgesamt befreiter auf.

Wir machten unsere Abschlussfahrt nach Brake an die Weser. Ich wusste zu der Zeit nicht, ob Evelin einen Freund und erste sexuelle Erfahrungen sammeln konnte. Ich war immer noch mit meiner Jugendfreundin Heike zusammen. Heike und ich hatten unsere gemeinsame Erfahrung bereits hinter uns gebracht. Ich liebte Heike und war ihr treu. Evelin stand mir von Herz und Seele her nahe. Ich bewunderte, wie tapfer sie ihrerseits ihr Schicksal meisterte. Wie sie ihr Päckchen trug.

Zu Beginn der Abschlussfahrt mochte ich sie sehr gerne, war jedoch nicht in sie verliebt. Ich hatte Evelin sicher einige Male auf Geburtstagsfeiern von Mitschülern flüchtig geküsst, wenn wir die üblichen Partyspiele für Teenager spielten und auch schon mit ihr etwas getan, was wir damals als »Blues tanzen« betitelten und das mehr damit zu tun hatte, sich gegenseitig auf die Füße zu treten, als den Vorteil zu bieten, die gemeinsame Nähe genießen zu können.

Auf der Abschlussfahrt in Brake passierte es dann. Evelin lief an einem warmen Tag im Bikini herum. Er war neongrün. Sie hatte eine traumhafte Figur. Es lag irgendetwas in der Luft, eine Spannung, etwas, was sie plötzlich mit mir verband. Ein unsichtbares Band, das sonst niemand sah und niemand fühlte. Wir tauschten Blicke aus, die sonst niemand sah. Meist nur für Sekunden, dafür jedoch innig und lange genug, um etwas in mir auszulösen. Ich liebte sie plötzlich unheimlich.

Sie rückte von der Eingangspforte meines Herzens und meiner Seele weg und erhielt vollständigen Zugang in mein inneres Haus.

Ich war unheimlich verwirrt. Ein Teil in mir dachte an Heike, die zu Hause saß, bei ihren Eltern, ihren gewohnten Tagesablauf abspulte und gelangweilt auf meine Wiederkehr wartete. Esther lieh sich abends oft einen dicken, grünen Wollpullover, den ich mit hatte, wenn wir mit der Klasse an der Weser saßen und das Lagerfeuer ihr Herz nicht vollständig zu wärmen vermochte. Ich hätte ihr menschlicher Wollpullover sein müssen, sie umschlingen, lieb und warm halten sollen, doch ich lieh ihr stattdessen nur den Pullover, während das Gewissen zu Hause bei Heike blieb.

Evelin machte Andeutungen, dass sie bei mir übernachten möchte. Ich schlief in einer Blockhütte in einem eigenen Zimmer, da die männlichen Mitschüler sich oft Scherze erlaubten, wenn einem nach Schlaf war. Doch meine Zimmertür blieb in der Nacht verschlossen, weil ich den Schlüssel zum Gewissen und zum späteren Glück in Heikes Schoß legte.

Ich trug Evelin einmal durch den Sand der Weser auf dem Rücken und obwohl sie zierlich und leicht wie eine Feder war, wog die Last sie zu lieben Tonnen schwer auf meinem Gewissen.

Auf der Busfahrt von der Weser zurück nach Leverkusen, in unsere Heimat, saßen Evelin und ich ganz alleine im hintersten Teil des Busses. Sie trug ein Sweatshirt in den Farben Orange und Schwarz. Sie sah wie eine Biene aus. Sie hätte mich augenblicklich stechen und töten können, es wäre mir egal gewesen, so sehr liebte ich sie.

Verträumt sah ich aus dem Fenster in die Landschaft, doch ich erkannte nichts von dem, was dort draußen so idyllisch an uns vorbeizog. Die Idylle war direkt hier, bei mir, nur wenige Millimeter entfernt. Evelins Kopf ruhte Schutz und Wärme suchend auf meinem Schoß und ich hätte ihr wunderschönes, weiches und seidiges Haar gerne gestreichelt, dann geküsst, doch ich war nicht fähig dazu.

Evelin war damals so rein und auf der Suche nach Liebe, Wärme und Zuneigung. Nach einem Menschen, dem sie etwas bedeuten konnte und der ihr etwas bedeuten würde. Es gab nicht viel, was sie verlangte, um einem Menschen voller Dankbarkeit das zu sein, was sie ihm als Gegenleistung sein wird. Ihr fehlte etwas, was sie in ihrem nicht vorhandenen Elternhaus nie hatte und etwas, was mir selbst zur Hälfte durch den eigenen Vater verwehrt blieb. Doch ich hatte Heike und sie machte jenen Teil wett, den Vater mir nicht geben konnte, da auch er, als verarmtes und bettelndes Kriegskind, niemals Liebe bekam.

Wie sehr bereue ich noch heute den Moment, da ich Evelins Haar nicht gestreichelt habe!

Das Ende der Schulzeit

Auf der Abschlussfeier der Schulklasse betrank ich mich zum ersten Mal richtig. Ich hatte als Kind erste Erfahrungen mit Alkohol gesammelt, doch seitdem viele Jahre nichts getrunken. Ich ging lieber ins Fitnessstudio, machte Kampfsport und versuchte für den täglichen Fight gegen den eigenen Vater und das bevorstehende Erwachsenenleben, mit all seinen neuen Verantwortungen, gewappnet zu sein.

Mir kam es vor, als ob ich plötzlich, nach Ausscheiden aus der Schule, meine geliebte Evelin allen gemeinen Kerlen und dem grausamen Leben ausliefere und sie damit und mit ihrem Leben hängen lasse.

Die Wochen nach Beendigung der gemeinsamen Schulzeit waren für mich qualvoll. Ich vermisste Evelin sehr. Ich steckte in einer handwerklichen Ausbildung, die mich frustete, da der Großteil der Altgesellen sich als Arschlöcher entpuppten, die Vater in Sachen Sadismus und Sarkasmus in nichts nachstanden. Nicht ein einziger Tag der Lehrzeit war einfach oder auch nur ansatzweise schön und lehrreich. Abends ging ich regelmäßig ins Fitnessstudio, powerte mich zusätzlich mit Kampfsport aus, nur um Evelin vergessen zu können.

Heike wurde mir mehr und mehr fremd. Ich fing an sie zu vernachlässigen. Ich schrieb Evelin erstmals einen Liebesbrief. Ich wusste, dass sie schlecht und nicht immer lange zuhören konnte. Ihr fehlte die Konzentration dazu, aufgrund ihrer Erkrankung. Wie hätte ich sie in ihrem Heim aufsuchen und ihr von Angesicht zu Angesicht all das erklären können, was in mir vorging. Wie dort ihr meine aufrichtige Liebe gestehen? Ich musste ihr schreiben, obwohl ich mich niemals als zu feige ansah, es ihr tausendmal selbst ins Gesicht zu flüstern. Flüstern war oft ihre Sprache, als ich sie kennenlernte. Nun wollte ich am liebsten ihre ursprüngliche Sprache mit ihr sprechen und ihr meine Liebe ins Haar flüstern, von wo es an ihre Ohren dringen wird, wenn ich es nur oft genug wiederholt hatte. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Liebesbrief an das kalte Ding zu adressieren, was sie ihr Heim nennen musste. In der Hoffnung, dass meine Worte sie zumindest auf diesem Weg erreichen würden. Was blieb mir, außer Hoffnung?

Obwohl ich seit 1983 fast regelmäßig Kurzgeschichten, Gedichte und Anekdoten schrieb, tat ich mich bei dem Brief sehr schwer. Ich schickte den Brief an das Heim, in dem sie damals wohnte oder zumindest postalisch zu erreichen war. Ob es die Adresse noch gab?

Ich war viele Monate im Ungewissen, ob der Brief sie erreichte, ob mein Brief ihr Herz erreichen konnte. Gegen Ende des zweiten Ausbildungsjahres, traf ich einen älteren Bruder, der mir mitteilte, dass er gerade eine Fortbildung des Arbeitsamtes absolvierte. Er berichtete mir von einer jungen Frau, die in seinem Kurs ist. Diese junge Frau hatte ihm erzählt, dass sie mich kennt und das sie von mir einen Liebesbrief erhalten hatte. Schon vor vielen Monaten.

Evelin hatte meinen Brief also erhalten. Sie ließ fragen, was denn nun aus uns wird?

 

 

Traurige Jahre

Es war spät im Frühling des Jahres 1989.

Ich stand kurz vor der Gesellenprüfung zum Maler, als ich zufällig Evelin vor der Berufsschule stehen sah, die ich montags und freitags besuchte. Ich weiß bis heute nicht genau, was sie dort machte. War sie nur zufällig dort erschienen?

Es gab eine Bushaltestelle vor dieser Berufsschule und möglicherweise war sie nur zufällig dort ausgestiegen, um eine Umsteigemöglichkeit zu nutzen. Sie unterhielt sich mit einem gemeinsamen Schulkollegen, der zu einem späteren Zeitpunkt dieser wahren Geschichte noch einmal in Erscheinung treten wird.

Ich saß auf einem Fahrrad und befand mich gerade auf dem Weg nach Hause. Ich nickte ihr nur kurz zu, da sie mir keine besondere Beachtung schenkte. Sie musste enttäuscht von mir sein. An ihrer Stelle wäre ich es auch gewesen. Trotzdem war ich traurig, aufgrund ihrer Reaktion. Wir sprachen nicht einmal über den Brief.

Irgendwie war unsere enge Verbindung schlagartig nicht mehr vorhanden. Das Band gerissen. Es war nicht so, als ob ich sie nicht mehr liebte. Meine Liebe zu ihr war ununterbrochen stark, doch sie kam mir fremd und kalt vor.

Fremd und kalt mir gegenüber?

Ich wusste das Gefühl, was ich an diesem Tag hatte, nicht richtig einzuordnen. Es verwirrte mich nur noch mehr. Wir sprachen nicht einmal miteinander. Traurig fuhr ich meinen Weg, sie ihren. Jeder zurück in das, was man Leben nennen muss. Leben, ohne die Liebe des Lebens.

In den darauffolgenden Jahren sah ich sie ab und zu in einem Modehaus, in der Innenstadt Leverkusens, das heute schon lange nicht mehr existiert. Es nannte sich Wehmeyer. Es war kein Modehaus der ganz gehobenen Klasse, schickte sich aber an, als solches zu streben. Ich ging selten und recht ungern in Modehäuser, da ich mich zu der Zeit in Kreisen bewegte, wo man vorwiegend schwarze Kleidung trug oder eben Punk war. Punk war man nicht nur äußerlich, man wurde meist als Punk geboren. Besondere Kleidung war in der Szene nicht immer der ausschlaggebende Faktor, um dazu gehören zu dürfen. Evelin blieb mir in Erinnerung als eine Frau, die auf Mode und Styling wert legte, auf gepflegte Menschen und einen gewissen Status im Leben. Sie war ursprünglich eher bieder und bescheiden, doch ihre Sehnsucht nach Geltung brach mit der Befreiung aus ihrem Ersatz-Elternhaus aus.

Ich selbst lief als eine Mischung aus Wave-Punk und Rockabilly, einer Mischform aus Rock'n Roller und Punk herum. Nicht asozial und unansehnlich, doch eben auffällig und gegen das System gerichtet, das mir in meinem bisherigen Leben nicht gerade viel Glück eingebracht hatte.

Immer, wenn ich Evelin bei Wehmeyer sah, war sie alleine dort. Ich sah sie nicht ein einziges Mal in Begleitung eines Freundes. Ich sah sie allerdings auch niemals in Begleitung einer Freundin. Sie war immer alleine.

Shane MacGowan, Sänger der Band »The Pogues« hat einmal gesagt, »wir kommen alleine auf die Welt und gehen alleine wieder«. Ich wusste nie, was Shane damit meinte. Ich wuchs im Bauch meiner Mutter heran und wurde von vielen Menschen in einem Kreißsaal empfangen. Ich fühlte mich in der Hinsicht nicht alleingelassen. Mittlerweile weiß ich, was Shane damit ausdrücken wollte.

Manchmal kam Evelin mir auch nur auf der gegenüberliegenden Rolltreppe des Modehauses entgegen. Oft sah sie mich nicht und wenn, dann sah sie mich nur stumm und eher beiläufig an. So, als ob man einem Fremden beiläufig ins Gesicht schaut, weil man eben zufällig in diese Richtung blickt. Es zerriss mich jedes Mal innerlich. Ich wollte so gerne mit ihr reden, wollte dieses Band zurück, das uns einmal zusammenhielt. Ich wäre am liebsten von einer Rolltreppe zur anderen gesprungen, nur, um dieses Band neu zu knüpfen.

Doch ihr Blick gab mir das Gefühl eine völlig fremde Person für sie zu sein. Ich sah den Fehler bei mir, eindeutig. Ich fühlte mich generell in der Lage einem Menschen so treu zu sein, dass ich diesen Menschen auf Ewigkeit an mich binden kann.

Ich hätte sie niemals gehen lassen sollen. Hätte gleich, nachdem mein Bruder mir ihren Kommentar bezüglich des Liebesbriefes übermittelt hat, zu ihr stürmen und sie für immer in meine schützenden Arme nehmen sollen.

Irgendetwas in ihrem Blick verriet mir, dass sie sich auf keinem wirklich guten Weg durchs Leben befand. Äußerlich sah sie schick und bezaubernd aus, wie immer. Doch irgendetwas in ihrem Blick strahlte Kälte aus. Ihr schöner, reiner Blick war etwas lauerndem, abwartenden und raffiniert Kaltem gewichen.

Es lähmte mich. Ich konnte keinen Bezug zu ihr zurück finden, war nicht einmal in der Lage mit ihr zu reden oder sie überhaupt nur zu grüßen. Wir fuhren aneinander vorbei. Ich starrte sie genauso emotionslos an, wie sie mich ansah. Zwei emotionslose Roboter auf einer Rolltreppe in einem schön designten Modehaus. Keine Gefühlsregung in einer Welt aus Glas, Metall und Marmor. Keine Wärme, trotz Unmengen an schön zurecht gestapelter Kleidung. Mein grüner Wollpullover war auf dem Müll außerhalb meines inneren Hauses gelandet. Durchlöchert, alt und ausgedient. Lieblos entsorgt, ohne weiteren Nutzen.

Wir fuhren in gegensätzliche Richtungen, jeder zurück in sein Leben oder das, was man dafür hielt. Und ich liebte sie mehr denn je, da mir Heike immer fremder wurde.

Heike hatte nie Interesse an meinem Freundeskreis gezeigt. Heike war vorwiegend unter älteren Brüdern aufgewachsen, die eine härtere Gangart lebten. Sie war burschikos genug, niemals ein Kleid tragen zu wollen. Sie tat sich schwer mit Emotionen. Entweder ich war mit Heike alleine oder mit meinen Freunden zusammen. Einige meiner Freunde, selbst die engeren unter ihnen, wussten nicht einmal, wer Heike ist und, dass sie überhaupt meine Freundin war. Ich weiß nicht, wieso Heike so reagierte, wieso sie meine Freunde mied. Sie war so gar nicht arrogant, hielt sich für nichts Besseres. Vielleicht, so vermute ich, wollte sie mich einfach nur ganz alleine für sich haben. Wir kamen die meiste Zeit bestens miteinander aus und verstanden uns seit Jahren stillschweigend. Heike war auch äußerst unkompliziert und ein recht einfach gestrickter Mensch, der einen Menschen niemals unnötig reizte. Sie spielte niemals die üblichen Psychospiele mit mir, die ein Mann manchmal so gar nicht gebrauchen kann. Heike forderte mich niemals heraus oder setzte mir die Pistole auf die Brust, in dem Sinne, dass ich mich besonders anstrengen muss, damit sie bei mir bleibt. Sie ließ mich, kurz und knapp beschrieben, einfach nur leben und atmen. Ich brauchte so etwas, da der tägliche Kampf schon auf genug anderen Ebenen stattfand.

Trotzdem wandte ich mich immer öfter meinen Freunden zu und verbrachte immer weniger Zeit mit Heike.

Und ich trauerte dem verlorenen Band nach, das mich einmal mit Evelin verknüpfte.

Der Versuch zu vergessen

Es waren viele Jahre vergangen, in denen ich weder etwas von Evelin gesehen noch irgendetwas von oder über sie gehört hatte.

Ich war ein früher Pionier des Internets, hatte gleich zu Anfang der 1990er Jahre einen eigenen Computer konfiguriert und zusammengebaut. Aufgrund einiger unvorhergesehener Erkrankungen musste ich mich beruflich oft umorientieren, in viele wechselnde Aufgabengebiete neu einarbeiten, was mir nicht besonders schwerfiel, da ich ohnehin im Jahr so fünfzig bis sechzig Bücher las. Bildung war für mich einfacher zu handhaben, als aufrichtige, reine und beständige Liebe.

Ich gehörte zu den ersten Usern in Deutschland, die überhaupt ins Internet gingen. Viele Jahre verbrachte ich damit, Petitionen im Bereich Menschen- und Tierrechte zu unterzeichnen, eigene Webseiten zu erstellen, Menschen in Not und auch Künstler miteinander bekannt zu machen, sie zu verbinden, zu beiderseitigem Nutzen. Ich half Gefangenen mit Briefen und Petitionen, schrieb an Gouverneure. Ich vergaß darüber hinaus vieles. Doch niemals konnte ich Evelin vergessen.

Ich schaute gelegentlich in die ersten, entstehenden Netzwerke, ob ich etwas über sie in Erfahrung bringen konnte. Die mit Abstand übelsten Netzwerke waren, meiner Meinung nach, StayFriends und wer-kennt-wen oder, wie ich es nannte, »wer-fickt-wen«. Sie waren sicherlich gut gemeint und gut erdacht, doch es tummelten sich dort zu viele gescheiterte Existenzen, die abchecken wollen, was es bei ehemaligen Freunden und Klassenkameraden noch zu holen gibt. Tiefer kann man nicht mehr sinken! Ich würde mich eher freiwillig von einer professionellen Prostituierten beklauen lassen. Ich fand nichts über Evelin, nicht einmal dort. Das Kinderheim, in dem sie einst vegetierte, gab es schon lange nicht mehr und sie war ohnehin dieser Zeit und diesem Lebensabschnitt entwachsen. Sie war jetzt wohl eine eigenständige Frau, mitten im Leben. Wie immer ihr Leben auch aussah. Ich wünschte ihr von Herzen alles Gute und vertraute in den Gedanken, dass sie immer eine zähe Kämpferin war, die zwar manchmal ins Straucheln kam, so wie wir alle das tun, sich jedoch immer wieder aufzuraffen weiß. Kurz beschrieben, hielt ich sie sogar für stärker, als mich selbst.

Es waren mehr als dreißig Jahre vergangen, seit unsere gemeinsame Schulzeit endete.

Ich habe all diese Jahre fast täglich einmal an sie gedacht. Und ich habe gerne an sie gedacht. Ich wusste innerlich irgendwo, dass sie mir mehr bedeutet haben musste, als ich ihr. Oft habe ich daran gedacht, wie es ihr wohl ergangen ist, in diesen drei Jahrzehnten.

Dass sie im Leben vor die Hunde geht, daran habe ich nie gedacht!

Ich konnte mir ausmalen, dass ihr Leben sicher nicht einfach war. Ihr schwerer Start ins Leben ließ mich so denken und empathisch fühlen. Der frühe Tod ihrer Mutter, die Misshandlungen durch die Pflegefamilie, gefühlsmäßig immer wieder hin- und hergerissen zu sein, wo man für sich jetzt das Wort und den Ort »Heimat« festlegen kann. Wo man diesen Ort real finden kann. Sie musste früh erwachsen werden und erwachsen denken, musste früh Strategien fürs tägliche Überleben entwickeln, um überhaupt durch ihre Art Leben zu kommen.

Gleichzeitig wollte ich immer die Person sein, die bei ihr ist, wenn sie einmal zusammenbricht. Ich wollte sie dann betten, zudecken und pflegen, wollte ihr meine Energie und Liebe übertragen, bis sie vollständig wiederhergestellt ist.

Würde ich jemals noch die Chance dazu erhalten?

Ich bewunderte ihren Mut, ihre Kraft und ihr Durchhaltevermögen, bewundere ihn noch heute, da sie schon nicht mehr da ist, und auch niemals mehr wiederkommen kann.

Doch ich will an dieser Stelle dem Ende nicht vorgreifen.

 

Eine neue Chance?

Es war mittlerweile Februar 2018.

Ich hatte wieder einen ersten Kontakt zu einem ehemaligen Schulkollegen von Evelin und mir. Er war Maler, wie ich und mit einem kleinen Unternehmen selbstständig. Wir hatten nach Beendigung der Schulzeit gemeinsam die Berufsschule besucht und zu einem viel späteren Zeitpunkt zufällig auch die Meisterschule. Ich verlor dann um 2010 herum meine Selbstständigkeit als Malermeister und musste in die Frühverrentung. Ein psychisch kranker, alter Mann war in das Mietshaus gezogen, in dem ich von 1996 bis 2010 wohnte. Dieser alte Mann hatte die gesamte Nachbarschaft terrorisiert, gerade, als ich selbstständig war. Er terrorisierte auch mich dauerhaft, da ich unmittelbar über ihm wohnte. Er zerschoss mit einem Jagdgewehr unsere Autos, zerstach die Reifen oder drehte Schrauben hinein, während wir nachts versuchten zu schlafen. Er beleidigte die Nachbarschaft, wo und wann er nur konnte. Die Polizei erschien unzählige Male vor Ort, tat aber nichts. Selbst die Fotos meiner demolierten Autos, mit den Einschusslöchern, die Schäden am Firmenwagen, am privaten PKW und das zerstörte Motorrad, gaben der Polizeidienststelle Leverkusen keinerlei Anlass gegen den psychisch kranken, alten Mann vorzugehen. Anzeigen bei der Staatsanwaltschaft Köln blieben ohne Ergebnis und wurden einfach eingestellt. Zuletzt musste ich gegen den Mann, der mich nicht einmal mehr eine einzige Nacht ruhig schlafen ließ, der mich täglich im Treppenhaus abfing und beleidigte, handgreiflich werden, was mir im Gegenzug eine Anzeige wegen Körperverletzung einbrachte. Nach vierzehn Monaten Dauerterror, Untätigkeit der Vermieterin, der Polizei und der Staatsanwaltschaft, schoss der alte Mann an einem Samstag mit seinem Jagdgewehr auf mich, verletzte mich dabei an Brust und Arm. Ich war körperlich und psychisch so gestresst, dass ich einen leichten Herzanfall bekam, ins Krankenhaus eingeliefert wurde, einen Schrittmacher brauchte und nicht mehr in dieses Haus, in dem ich dreizehn Jahre lang friedlich gelebt und der Vermieterin brav meine Miete gezahlt hatte, zurückkehren konnte. Ich verlor Mitte 2010 die Wohnung, musste die Selbstständigkeit aufgeben, bei meiner Mutter unterkommen, bis ich eine neue Wohnung fand und wurde psychisch krank. Nach Beantragung der EU-Rente, geriet ich erstmals in den Kreislauf der Psychiater, Psychotherapeuten und musste Neuroleptika nehmen, die ich bis dahin niemals gebraucht hatte. Das bis dahin schwärzeste Jahr in meinem gesamten Leben lag hinter mir.

Ich fing im Februar 2018 an im Betrieb des ehemaligen Schulkollegen einen Minijob auszuführen, nachdem ich zuvor einige andere Minijobs ausprobierte, um die EU-Rente aufzubessern. Der Schulkollege und ich hatten zuvor einige Jahre keinen Kontakt und in der Zwischenzeit baute er einen engeren Kontakt zu Evelin auf, der bereits etwas länger als zwei Jahre anhielt.

Anfang Mai 2018 bezog ich eine andere, größere Wohnung, in einer Sackgasse. Ich hatte einen Balkon, Tauben vor dem Balkon und die Häuser waren ruhig gelegen und von vielen Grünflächen und Bäumen umgeben. Es fühlte sich alles einfach idyllisch an. Ich berichtete dem Schulkollegen, für den ich nun tätig war, dass ich früher sehr in Evelin verliebt war und sie immer noch sehr mag. Und, da er regelmäßigen Kontakt zu ihr pflegte, tauchte er irgendwann mit ihr bei mir auf. Ich renovierte gerade die neue Wohnung.

Von dem Moment an, als ich sie vor der Haustür stehen sah, war mir klar, dass ich mich sofort wieder nach ihr sehnen werde und sie dann niemals wieder gehen lassen möchte. Ich war Narr genug sie all die Jahre nicht aufzusuchen und wenn es an meiner nachlässigen Dummheit noch etwas wiedergutzumachen gab, wenn nur der Hauch einer Chance bestand, sie für immer an mich zu binden, dann musste ich das jetzt, hier und sofort tun.

Vater war lange tot und begraben. Heike starb nur wenige Monate nach ihm an Lungenkrebs, nachdem sie eine bessere Partie gefunden und diese geheiratet hatte. Meine Vergangenheit war tot. Ich hatte einige halbherzige Kontakte zu anderen Frauen gepflegt, über die Jahre verteilt, aber niemand davon war jemals auch nur annähernd mit Evelin zu vergleichen.

Man sollte weder in der Vergangenheit noch in der Zukunft leben wollen. Die Vergangenheit ist allein dazu da, sich der schönen Dinge aus ihr zu erinnern und aus den begangenen Fehlern zu lernen. Fehler macht jeder Mensch. Nur jene Menschen, die an ihrer eigenen Entwicklung interessiert sind, vermeiden es, die gleichen Fehler immer und immer wieder zu begehen. Die Zukunft ist noch nicht geboren. Es zählt nur das Hier und Jetzt. Es ist die Grundlage für die Verbesserung unser aller zukünftigen Lebensweise.

Evelin war zwar auch einer der schönsten Teile meiner Vergangenheit, doch sie bewohnte immer noch ein Haus in meinem Inneren, das sich Herz und Seele nennt. Sie wird von dort niemals vertrieben werden.

Sie ist Teil dieser inneren Familie!

Neue Hoffnung für uns beide?

Bevor der Schulkollege und neue Arbeitgeber mit Evelin vor der Tür stand, um mich zu besuchen, hatte er eine Warnung ausgesprochen. Er sagte, dass sie extrem schwierig ist.

Ich war etwas sauer über seine Ankündigung, da ich Evelin ganze drei Jahre länger kannte, als er und ich genau wusste, wer, was und wie Evelin ist. Wenn sie schwierig war, dann nur, weil das Leben sie hart und schwierig werden ließ. Im Grunde ihres Herzens wird sie sich nicht verändert haben. Ihr innerer Kern wird immer noch gut sein.

Als sie dann mit dem Schulkollegen vor der Haustür stand, plante ich sie zu umarmen, zumindest erst einmal nach der Art, wie gute Bekannte sich umarmen würden, die sich zufällig und nach langer Zeit auf der Straße treffen. Vielleicht noch nicht einmal so, wie sich die Franzosen auf der Straße üblicherweise begrüßen. Evelin wollte es nicht.

Ich wusste nicht, ob sie blockte, weil ich in der Wohnung renoviert hatte und leicht verschwitzt und schmutzig in Malerhosen vor ihr stand. Ob sie sich vor mir ekelte oder ob sie generell niemanden näher an sich heranließ. Ich wurde sofort unsicher. Der Besuch dauerte nicht besonders lange. Der Kollege führte sie durch die Wohnung und wir ließen sie ein paar Anweisungen geben. Wie niedlich sie war, als oberste Kommandantin in meiner eigenen Wohnung, in der ich selbst noch nicht einmal wohnte oder schlief. Der Kollege vereinbarte zwischen ihr und mir, dass wir, sobald die Küche einmal fertig aufgebaut sein würde, zusammen kochen könnten, nur sie und ich. Mir tat sich der Himmel ein Stück weit auf, als sie diesen Vorschlag begrüßte. Ich habe nie einen Entwicklungshelfer für ein Date gebraucht, hasste es, wenn gerade er sich überall einmischen musste, doch diesmal war ich froh, dass er diesen Vorschlag unterbreitete.

Ich freute mich riesig auf diesen Tag, wenn sie zu mir kommen würde und wir gemeinsam kochen. Ohne ihn, natürlich! Doch meine Freude bekam schnell einen ersten Dämpfer.

Auf einer Baustelle berichtete er mir, dass sie gesagt habe, sie möchte nicht verkuppelt werden und das ich gar nicht ihr Typ wäre. Außerdem habe sie ja aktuell einen Freund. Diese eilig vom Kollegen heraus gehauenen Kommentare, die er auch noch halbwegs lustig fand, führten zu einer totalen Blockade in meinem Inneren. Irgendwie blockierte Evelin mich ständig, immer gerade dann, wenn ich versuchte mich ihr zu nähern. Ob sie alle so behandelte? Ich war darauf eingestellt, sie in aller Ruhe neu kennenlernen zu können, doch jetzt so etwas? Gleich zu Beginn? Ich erfuhr weiterhin, dass sie oft sehr einsam ist, dass ihr neuer Freund sich nicht besonders für sie interessiert und das sie in der Vergangenheit generell viele Probleme mit Partnern hatte. Sie war wohl aktuell und schon längere Zeit unglücklich, fühlte sich einsam, obwohl sie ein paar gute Freundinnen traf, die sie gelegentlich um sich versammeln konnte.

Ich saß danach alleine auf meiner Baustelle und wusste gar nicht mehr, woran ich momentan war. Konnte man die ganze Vergangenheit nicht einfach ruhen lassen und gemeinsam ganz klein, in aller Ruhe und ohne jegliche, äußere Störungen und Einflussnahmen neu anfangen? Ich hatte Zeit für sie. Ich würde ihr Zeit geben, bis ans Ende unserer Tage, wenn sie nur Zeit und Vertrauen in uns investieren mochte.

Noch bevor ich überhaupt Hoffnungen oder auch Zweifel hegen konnte, klingelte das Smartphone. Es war Evelin. Sie stellte einen ersten Kontakt zu mir her, damit wir uns in meiner Wohnung treffen konnten. Sie musste unheimlich mutig sein. Normalerweise trifft man sich ja zu einem ersten Date, wenn man es überhaupt so nennen darf, auf neutralem Boden. Also, weder bei ihr noch bei mir. Sie wollte ganz ungeniert vorbeikommen, möglichst zeitnah und mir einige Taschen mit neuen und gebrauchten Einrichtungsutensilien für die neue Wohnung bringen.

Es war Freitag, kurz vor Feierabend und ich kam mir plötzlich vor, als ob Geburtstag, Weihnachten, Ostern und Silvester zusammen auf einen Tag verlegt wurden, inklusive meiner Geburt und unsere Neueinschulung in die Hauptschule. Trotz dessen, dass ich sie so viele Jahre innig vermisst hatte, fühlte ich Angst in mir aufsteigen. Eigene Versagensängste. Ich gebe es offen zu, da es meiner Männlichkeit keinen Abbruch tut.

Ich hatte niemals wirklich ein Männlichkeitsproblem.

 

Ein erstes Date bei mir zu Hause

Evelin kam dann noch ganze zweimal zu Besuch, nachdem sie mich zuvor angerufen hatte und wir bis nach Mitternacht telefonierten. Ich stand an einem milden Frühlingstag in Unterhosen auf dem Balkon im ersten Stock der neuen Wohnung, da der Empfang in der Wohnung gleich Null war und ich noch keinen Festnetzanschluss freigeschaltet bekam.

Als Evelin dann das erste Mal alleine vor meiner Tür erschien, strahlten ihre Augen das reinste Licht aus. Ich sah vor mir das gleiche junge Mädchen, wie noch 32 Jahre zuvor. Es hatte etwas von einer Zeitreise zurück in unsere gemeinsame Jugend.

Zu dieser ersten »Zwei Personen Einweihungsparty«, brachte sie ganze fünf große Taschen randvoll gefüllt mit Einrichtungsutensilien aus ihrem persönlichen Besitzstand mit. Es waren einige neue und einige gebrauchte Gegenstände. Teller, Tassen, Schneidebretter, Brotkörbe, Küchenhandtücher, weiche und frische Frotteehandtücher, die sie selbst ausgelagert hatte und sehr vieles mehr. Es war nicht ein Gegenstand dabei, den ich nicht gut gebrauchen konnte. Als sie im Bad aufräumte und einrichtete, roch ich an den frischen Frotteehandtüchern. Sie rochen himmlisch!

Sie fegte wie ein geölter Blitz durch meine Wohnung, die ich sofort als die ihre freigab und mit ansah. Sie dekorierte etwas hier, stellte etwas dort um. Sie tat das aber immer höflich und leise und jedes Mal fragte sie nach, ob es mir recht so ist. Mir war alles recht. Bevor ich etwas sagen konnte, sah ich sie bereits wieder an mir vorbeifegen. Wie lange hatte ich so etwas vermisst!

Evelin war dermaßen süß. Sie gab mir das Gefühl, als ob es meine erste, eigene Wohnung ist und sie mir folglich tausend Tipps geben müsste, damit ich auch ja klarkomme. Dabei hatte ich die erste, eigene Wohnung bereits 25 Jahre zuvor. Seitdem war ich einige Male umgezogen. Ich wurde so selbst Profi im Einrichten und Überleben. Doch da ich Gentleman bin und einer ADS-Kranken das Gefühl von Wichtigkeit nicht nehmen wollte, ließ ich sie in meiner Wohnung alles gestalten und umdekorieren, was ihr Spaß und Laune brachte. Mir war die eigene Planung und Einrichtung dieser Wohnung plötzlich scheißegal. Ich wollte sie nur glücklich in ihrem Element belassen. Ich sah sie nicht nur als persönliche Innendekorateurin an, sondern auch als eine zukünftige Mitbewohnerin, wie ein neues Mitglied einer WG, das sich wohl, geborgen und zu Hause fühlen soll, immer dann, wenn Evelin Lust und Notwendigkeit verspürte, mich besuchen zu wollen. Und um an dieser Stelle ehrlich zu sein, wünschte ich mir, dass sie niemals mehr geht, sondern für immer und ewig bei mir bleibt.

Ich liebte sie nun bereits seit 32 Jahren abgöttisch und sie wusste es nicht einmal. Wusste nicht einmal mehr, dass wir uns einmal nahestanden. Und das ich drei Jahrzehnte fast täglich einmal an sie gedacht hatte. Wie sollte sie es auch wissen, nach dieser langen Zeit ohne Kontakt? Sie konnte es eventuell nur ahnen. Doch selbst daran glaubte ich nicht. Ihr Leben verlief zu hektisch, zu schnell.

Sie brachte Kuchen und ein Glas Kaffee mit. Ich trank recht selten Kaffee, hatte eine Sammlung an Tee und gewöhnte mir das Kaffeetrinken gerade erst wieder an. Mein Lebensstil und die damit verbundene Lebensweise ist seit vielen Jahren buddhistisch geprägt, da eine Schwägerin Buddhistin ist und ihr Sohn in einem buddhistischen Kloster lebt.

Evelin und ich saßen am neuen Tisch im Wohnzimmer einander gegenüber und ich ließ sie stundenlang erzählen. Ich hatte gar keine Lust etwas über mich zu erzählen. Ich fühlte, was sich in ihr aufgestaut hatte. Sie sollte einfach nur reden können, ohne, dass sie jemand unterbrach. Ich sog jede Silbe und jegliche Information von und über sie und ihr Leben auf. Es interessierte mich aufrichtig, was sie zu berichten hatte.

Sie versicherte mir zu Beginn ihres Monologes, dass sie es nicht gut findet, dass uns der gemeinsame Schulkollege zu verkuppeln plant, da sie ja einen Freund hat und ich auch gar nicht ihr Typ bin. Ich wusste nicht, was wirklich an all diesen Informationen stimmte. War es eine Feststellung ihrerseits? Eine Warnung an mich? Eine fragende Herausforderung? Konnten wir ehrlich miteinander kommunizieren? War ich unromantisch? Uninteressant? Hässlich? Sie hielt mir vor, dass ich ja noch nicht viel erlebt haben kann, im zurückliegenden Leben, wenn ich mich an alles, was sie betrifft, so gut erinnere. Wenn sie wüsste, wie verdammt viel ich erlebt habe. Ich hielt auch alles, was sie betrifft so gut in Erinnerung, weil sie mir eben besonders war. Und gerade weil ich so viel erlebt hatte, lebte ich nun eher zurückgezogen. Besuchte lieber Freunde, Bekannte und Verwandte außerhalb und nutzte meine Wohnung als Oase für den Rückzug und der Regeneration.

Ich gab mich so Gentleman like wie nie zuvor. Und es fiel mir bei ihr nicht einmal schwer. Aus einem Ex-Wavepunk machte ich innerhalb von Sekunden einen Mann von Welt mit Manieren. Ich hatte mehr als 2000 Bücher gelesen und wusste sicher von vielen Dingen einiges. Nur fiel es mir noch zu Anfang schwer in ihrem Buch zu lesen.

Ihre ADS-Erkrankung war schon ziemlich ausgeprägt. Sie konnte anfangs gar keinen Blickkontakt halten. Es war mir recht, da auch ich nie Menschen mit einem längeren Blickkontakt belästigen mochte.

Mit Fortdauer ihres Monologes wurde sie immer ruhiger, sie hatte bereits einige Male zu weinen begonnen. Hinter meinen Augen war es ebenfalls schon verdammt feucht und ich musste mich sehr beherrschen nicht aufzuspringen, um sie fest in meine Arme zu schließen. Es hätte sie sicher verschreckt und ich hatte einfach Angst, dass sie gleich wieder geht.

Sie wurde ruhiger und ruhiger und traute sich sogar schon, mir tiefer in die Augen zu schauen. Wie viel Reinheit und Ursprünglichkeit in ihren Augen lag.

Wenn sie an einen Rollstuhl gebunden, mit nur noch einem Arm und einem Bein vor mir sitzen würde, so hätte ich sie nicht einmal gegen eine Übermacht an begehrenswerten Models eingetauscht. Ich hätte sie für nichts auf der Welt eingetauscht. Ich blickte tief in ihre Augen. Ich vergaß, wie sie aussah, welche Kleidung sie trug. Mir war die Schminke und ihr Parfüm ganz gleich, ich wusste sogar die Farbe ihrer Augen und ihrer Haare nicht mehr genau, da ich durch sie hindurch, genau in ihr Herz und ihre Seele schaute und die Ursprünglichkeit des Mädchens von einst in ihr wiederfand.

Kannst du dir nun vorstellen, wie sehr ich sie liebe?

 

Der Anfang wovon?

Der Abend ihres ersten Besuches war beendet. Für mich ging er viel zu schnell vorbei.

Als sie weg war, kam es mir vor, als ob ihr Herz und ihr Seele die Wohnung verlassen hatte. Die neue, große Wohnung fühlte sich plötzlich kalt, leblos und leer an. So, wie iin einem Mausoleum.

Ich lag wie erschlagen auf dem leeren und viel zu großen Bett. Habe es nie gemocht, wenn Menschen in eine neue Wohnung einziehen und alle Räume unnötig voll stellen. Ich liebe den schlichten, japanischen Einrichtungsstil, mit möglichst wenig Möbeln und ohne Schnickschnack und unbrauchbaren Nip, den man nur ständig sauber halten musste. Alle Räume sollten so leer wie möglich und plan überschaubar bleiben. Enge Räume nahmen mir die Luft. Türen, Gardinen und Fenster, waren für mich Freiheitsberaubung.

Jetzt standen überall kleine Mitbringsel von Evelin herum und ich war froh über die Wärme, die diese Gegenstände in mein Herz brachten. Ich erhob mich aus dem Bett und betrachtete in allen Räumen die Veränderungen, die Evelin in sie gezaubert hatte. Ich hob jeden noch so kleinen Gegenstand an und betrachtete ihn im Licht, schaute sogar, ob an ihnen Fingerabdrücke von ihr waren. Alles sah so sauber aus. Einige Dinge befanden sich noch in den Taschen, in der Küche, da ich noch keine Küchenzeile besaß. Diese war bestellt und ich wartete sehnsuchtsvoll auf die Lieferung, um mit Evelin kochen zu können. Sie sagte, sie habe auch nicht viel Geld, doch ab und zu würde sie sich auf dem Markt frischen Spargel kaufen und diesen selbst zubereiten.

War der Spargel nicht ein Phallussymbol? War es nicht bald Saison für den Spargel? War ich nicht vielmehr an ihrem Inneren interessiert?

Sie hatte klar und deutlich versprochen, bald wiederzukommen und ich hing an ihren hübschen Lippen. Ich nahm jedes ihrer Worte für bare Münze und legte sie auf die Goldwaage.

Ich ließ mich wieder auf das Bett fallen und spulte den gesamten Nachmittag bis zum Abend noch einmal zurück, die kompletten dreieinhalb Stunden, die sie bei mir war, um mich möglichst an jedes Wort zu erinnern. Dabei kam mir ein weiterer Spruch in den Sinn, den ich einmal geschrieben hatte,

»das Leben ist wie ein langer Film, den du dir auf einem Player anschaust und in dem du selbst der Hauptdarsteller bist. Du spulst gelegentlich zurück in die Vergangenheit und schaust dir die besten Szenen noch einmal an. Manchmal flüchtest du auch in die zukünftigen Szenen, um zu schauen, was der Film noch so an Highlights zu bieten hat, besonders dann, wenn dir die momentane Handlung des Filmes keinen Anreiz mehr bietet. Jeden Tag hoffst du, dass der Player nicht kaputtgeht, dass der Film nicht abnutzt oder dir die Fernbedienung abhandenkommt. Ist der Film die Realität?«.

Dieser Film war gar keiner, er war die Realität, und er hatte gerade erst begonnen!

Ich wollte ein neues, eigenes Studienfach an der Universität meines Geistes einführen, in dem ich Evelin einige Semester zu studieren plante, bis der Professor meiner überdrüssig wurde, weil ich der Student wurde, der dieses Fach länger und intensiver studierte, als alle anderen Schüler vor mir. Es fiel mir gar nicht schwer, mich an alles genau zu erinnern, was Evelin mir erzählt hatte, da ich seit der Kindheit ein besonderes Talent, eine leichte Form des Asperger Syndroms, besaß und jetzt doppelt dankbar für diese Gabe sein konnte.

Ich lag noch eine Weile auf dem Bett und dachte über alles genau nach. Hatte dabei auch die Worte des Schulkollegen im Kopf, der mir sagte, wie schwierig Evelin angeblich geworden ist. Auch Evelin bestätigte mir diese Worte. Ich konnte das in keiner Weise bestätigen.

Sie hatte von jeher den Spruch drauf, dass sie nur einen reichen Typen als Freund haben möchte und ein Kerl für die Frau zahlen sollte. Manche Frau dachte ähnlich, doch Evelin gab es offen zu. Manche Frauen sehnen sich nach sozialer Absicherung, wenn sie nicht selbst die Möglichkeit haben oder bekamen, einen eigenen, vom Mann unabhängigen Status im Leben einrichten zu können. Nicht jede Frau war dazu in der Lage. Manchmal spielte das Leben eben anders, kreuzte die Pläne einer Frau, den Wunsch nach Unabhängigkeit. Frauen, die soziale Absicherung wünschen, haben dieses, mehr oder weniger stark ausgeprägt, in ihrer Genetik verankert. Es ist ein Teil ihrer Bestimmung. Es ist ihr Mutter-Gen, welches dafür Sorge zu tragen hat, dass der Mann in der Lage ist, Frau und eventuell vorhandene oder geplante Kinder ausreichend versorgen zu können. Diese Denkweise ist zwar bereits veraltet, doch sie ist immer noch Teil der Genetik einer Frau.

Bei Evelin war diese Denkweise stärker ausgeprägt, da ihr ADS-Syndrom nichts anderes zuließ. Gleichzeitig zeigte es mir auch etwas, was sie so niemals sehen würde. Ich denke, dass sie eine verdammt gute Mutter geworden wäre, wenn sie eigene Kinder hätte haben wollen.

Der gemeinsame Schulkollege, für den ich nun arbeitete, war nicht besonders empathisch veranlagt. Er blieb die meiste Zeit ein grob denkender und handelnder Arbeiter, der sich nicht besonders entwickelte, sondern immer nur funktionierte und dem ich über Jahre so etwas wie Bildung, zwischenmenschliches Verhalten und Empathie beizubringen versuchte, soweit es seine Genetik zuließ. Einige seiner besten Charakterzüge hatte ich ihm mühsam und stillschweigend antrainiert. Und dabei verlor ich oft viel Kraft. Du kannst einen Menschen nicht ändern und solltest das auch nicht verlangen, doch man ist für Freunde insoweit verantwortlich, als das man ihnen bei der Entwicklung hilft. Wer sich nicht entwickeln mag und meint, er wäre schon perfekt so, der läutet den Stillstand ein. Ich selbst analysiere mich täglich, überdenke mein Wissen und meine Taten, um auch meine Entwicklung voranzutreiben. Wer würde das sonst übernehmen, wenn nicht man selbst? War es Carnegie, der sagte, »wenn du eine helfende Hand suchst, findest du sie am ehesten an dem unteren Ende deines Armes!«.


Der Schulkollege vergaß oft die eigene Entwicklung wieder und machte mit dem weiter, was er gewohnt war – funktionieren! Und zwar immer dann, wenn wir längere Zeit keinen Kontakt hatten und er wieder in die alten, einfachen Gewohnheiten zurückverfallen konnte. Diese Sturheit führte bei uns immer wieder einmal zu einem Streit. Ich lernte, er funktionierte!

Es stimmte schon, was er sagte. Evelin hatte ihre ewige Masche, sich möglichst Typen mit Geld suchen zu wollen. Sie gab es auch offen zu, dass sie materialistisch eingestellt ist und auf Luxus steht. Sie hatte angeblich auch jede Menge Freunde und Bekannte in gehobenen Positionen, mit besonderem Lebensstil. Hinter all dem vermutete ich allerdings ihre Sehnsucht nach Liebe, Geltung, Zuneigung und ein schier unstillbares Verlangen, dass sich jemand um sie kümmert. Das sie jemandem wirklich jemals etwas bedeuten wird.

Mir bedeutete sie schon lange alles, doch ich war nicht besonders vermögend. Ich besaß nur meine Frührente und das Einkommen aus dem Minijob. Für eine Frau hätte ich mich in Windeseile erfolgreich machen können, aber für mich selbst gesehen, sah ich nie die Notwendigkeit dazu. Mein Reichtum lag im Inneren. Ich konnte allerdings Evelin etwas bieten, etwas von ganzem Herzen versprechen, und das war, dass ich alles in meiner Machtstehende und dieses aus voller Kraft tun werde, damit sie Liebe, Aufmerksamkeit und Zuneigung bekommt.

Ihre Tour hatte sie bis jetzt nicht glücklich gemacht. Und irgendwann musste sie sich entscheiden, würde Kompromisse einzugehen haben oder eben für immer unglücklich bleiben. Sie würde irgendwann wie viele der verbitterten, alten Menschen einsam und unglücklich und nie vollkommen von echter Liebe durchdrungen sterben.

Ich lebte ohnehin seit Jahren von Tee und Brot. Es war meine bescheidene, buddhistische Lebensweise, die ich ausschließlich an mir praktizierte und sicher keinem anderen Menschen, schon gar nicht Evelin, zumuten würde. Für sie wollte ich meinen letzten Cent geben, damit sie bei mir alles Notwendige hat.

Lieber wollte ich selbst hungern und es hätte mir nichts ausgemacht. Im Gegenteil, ich würde es nicht einmal als hungern registrieren.

Könnte ich nur die Blockaden beseitigen, die da wie eine Mauer aus Beton zwischen uns standen.

Ihr Freund, der sich scheinbar nicht besonders für sie interessierte. Als sie bei mir war, hatte sie nicht einmal einen Anruf oder eine Nachricht von ihm erhalten. Er war das kleinste Übel und ich hatte null Respekt und Mitleid mit und für ihn übrig.

Aber was war mit den beiden anderen, immer noch im Raum stehenden Aussagen, dass sie nicht verkuppelt werden will und, ganz besonders übel für mich, ich darüber hinaus auch gar nicht ihr Typ bin? War ich ihr damals wirklich so egal gewesen? Sollte ich mich in dem Gefühl dermaßen getäuscht haben? Oder war es ein Ausdruck später Rache gegen mich? Rache an mir, einem menschlichen Hund? Wo ich sie so sehr liebe? War Liebe nicht Liebe und kein Krieg?

Gut, bei unserem ersten Treffen jetzt, sagte sie, dass ich dicker geworden bin. Sie hatte nicht ganz Unrecht. Damals zu Schulzeiten wog ich nur 79 Kilogramm, war muskulös und dreißig Jahre jünger. Doch sie wusste auch nicht, dass ich bis vor ungefähr zwei Jahren noch 125 Kilogramm wog. Ich hatte nun bereits 40 Kilogramm an Gewicht verloren. Ich wog jetzt gerade einmal 6 Kilogramm mehr, als noch zu den gemeinsamen Schulzeiten, war momentan alles andere als dick. Und keiner von uns beiden sah wirklich wie achtundvierzig aus. Wir konnten beide locker für Mitte dreißig durchgehen. Wenn sie mich nur lieben lernt, würden wir beide bald wieder sechzehn sein!

Konnte ich diese Mauer aus Beton, die sie vor mir errichtet hatte und die auch gleichzeitig ihre eigene war, überwinden und sie doch noch ganz für mich gewinnen? Ich plante es zumindest.

Sie hatte ihren zweiten Besuch für das darauffolgende Wochenende angekündigt. Ich las noch einmal einige Worte und Sprüche aus einem meiner eigenen E-Books. Zum Beispiel diesen hier,

»für den Einsamen ist die Frau mit ADS / ADHS ein Segen, um sie kann er sich wenigstens kümmern. Das bringt ihm Heilung! Während sie nur geheilt werden kann, sobald sie aufhört zu begehren!«.

Ich hatte ihn einige Monate zuvor, lange bevor ich wieder Kontakt zu Evelin fand, für einen Freund geschrieben, der an ADHS litt. Ich sehe das, was nach ICD so voreilig als Krankheiten bezeichnet wird, eher als eine natürliche Begabung an. Syndrome wie Asperger, ADS, ADHS und andere, sogenannte Erkrankungen, die in dem Sinne keine sind, sondern, meiner Meinung nach, Talente darstellen.

Bevor ich einschlief, weil der erste, wunderschöne Tag mit Evelin mich schier umgehauen hatte, schrieb ich noch einen Spruch in mein Buch,

»ich kann nicht sagen, du bist genau mein Typ, auch, wenn es stimmt, weil typisieren heißt, dass man Vergleiche zieht, und du bist unvergleichlich. Dich gibt es nur einmal. So, wie mich, und darum passt es«. Evelin nannte Männer »Typen« oder »Kerle«. Wie gefühlskalt. Dann schlief ich ein.

In der Nacht träumte ich zum ersten Mal im Leben von Evelin. Ich lag auf einem großen Sofa, das mit einer Menge übergroßer Decken und Kissen überhäuft war. Ich suchte Evelin in diesem Durcheinander und hatte Angst, dass sie darin ersticken konnte. Ihr Kopf ragte bis zum Nacken irgendwo heraus und ein Arm. Ich befreite sie aus diesem Berg an Decken und Kissen. Sie fror direkt. Die winzig kleinen Haare an ihrem Arm und die im Nacken, die wie dünne Goldfäden aussahen, stellten sich auf und ich fuhr sanft mit meinen Lippen über diese Goldfäden.

Dann räkelte sie sich unter diesem Berg und versuchte mich zu verdrängen, doch ich küsste sanft ihren Arm, dann ihren Nacken.

Und endlich ließ sie es sich gefallen.

 

Es verläuft im Sande

Ich erwachte mit Kopfschmerzen. Es fühlte sich an, als ob ich Alkohol getrunken hatte, doch ich war nun schon seit mehr als vier Jahren absoluter Anti-Alkoholiker. Ich nahm nicht einmal mehr Medikamente, in denen Alkohol steckte.

Dass Evelin am vorherigen Tag bei mir war, kam mir noch immer irreal vor. Doch es war schön. Noch am Vorabend, also an dem Abend ihres Besuches bei mir, hatte ich ihr eine SMS geschickt und mich für den schönen Abend und die tollen Geschenke bedankt.

Sie hatte ja versprochen bald wiederzukommen, mir noch weitere Einrichtungsgegenstände zu bringen, auf die ich primär gar keinen so großen wert mehr legte, wenn sie, als Gegenstand, nur bei mir sein würde. Evelin plante mit mir in einen großen Möbelmarkt zu fahren, um dort etwas zu stöbern. Der Möbelmarkt interessierte mich nur am Rande, wenn ich nur mit ihr zusammen im Auto sitzen konnte, ihren Gesprächen lauschen, ihre Art von Musik kennenlernen durfte und ihr im Gegenzug dafür einen schönen Tag biete, an dem wir viel gesprochen, viel gelacht haben und uns vielleicht Stück für Stück ein wenig näher kommen.

Ich lag noch einige Minuten im Bett und malte mir Dinge aus. Dinge, die mir spontan einfielen und die ich auch heute noch genauso sehe.

Ich war schon mehr als zwanzig Jahre nicht mehr in den Urlaub gefahren. Mit Urlaub meine ich, eine größere Urlaubsreise. Ich habe viel auf Konzerten und Festivals gelebt, auf dem ein oder anderen Campingplatz, habe Freunde innerhalb Deutschlands besucht, doch die letzte, größere Urlaubsreise lag schon sehr weit zurück. Ich erinnere mich, dass ich zuletzt im Jahre 1998 in Spanien war. Dort hatte ein inzwischen verstorbener Freund eine eigene Finca. Wir arbeiteten dort beide als Maler. Mit ihm hatte ich auch schon in Belgien und Holland gearbeitet. Es war mehr arbeiten, als wirklicher Urlaub. Trotzdem machte es Spaß.

Ich hatte für Ende Mai 2018 einen Kurztrip nach Bray, 19 Kilometer entfernt von Dublin, Irland gebucht. Die Reise stand kurz bevor. Ich brauchte auch dringend Urlaub und Tapetenwechsel. Hatte erst wieder neu angefangen zu arbeiten, nur wenige Monate zuvor, wenn auch nur einen Minijob. War umgezogen und hatte beide Wohnungen alleine in einem Rekordtempo renovieren müssen. Die Batterien waren so gut wie leer. Gerade jetzt, wo ich all meine Energie für sie, für Evelin brauchen konnte, waren meine Batterien so gut wie leer.

Mir kam die Idee nach Irland zu fliegen. Ich würde ohnehin nur fünf Tage weg sein und, da Evelin ohnehin einen Freund hatte, würde sie mir sicher nicht weglaufen können. Ich versuchte ihr zunächst ein guter Freund und vertrauter zu werden. Im Inneren wünschte ich, dass ich sie von mir abhängig machen kann, im positiven Sinne abhängig, da ich ihr im Gegenzug längst verfallen war. Ich würde diese Abhängigkeit in etwas für sie Positives verwandeln. Ich plante, nicht sie zu ändern, sondern ihr bei ihrer Entwicklung zu helfen, sie dadurch glücklicher werden zu lassen und unser beider Leben zu bereichern.

Malte mir aus, wie wir ab und zu essen gehen, dass wir gelegentlich Ausflüge unternehmen, mit dem Auto, dem Motorrad. Wir würden Konzerte meines Freundes, Carsten Klatte, in Berlin besuchen oder eine Ausstellung von Manja McCade, eine mit mir befreundete Kunstmalerin, die in Leipzig ihr Atelier hat. Arlene Johnson, eine alte Lady, die ich schon seit mehr als fünfzehn Jahren kenne, die in Wales lebt, hatte mich schon oft eingeladen, sie und ihren Partner, John, besuchen zu kommen. Ich würde mit Evelin nach Wales, für ein Wochenende. Plante, sie für einen Kurztrip nach Irland mitzunehmen. Evelin hatte mir ja erzählt, dass auch sie schon längere Zeit keine Urlaubsreise mehr machen konnte. Ich wollte ihr dieses ermöglichen. Zwischenzeitlich hätte sie ihre so notwendigen Auszeiten nehmen können, die für ihre Regeneration wichtig waren, in der stillen und beruhigenden Gewissheit, dass ich ihr bestimmt nicht weglaufen würde. Das ich ihr niemals weglaufen könnte.

Ich wäre sogar soweit gegangen, mich irgendwann wieder gesundheitlich aufzurappeln, um mit ihr eine Selbstständigkeit zu überdenken. Ich hatte den Malermeister in der Tasche, war gelernter Industriekaufmann und Haustechniker. Sie hatte im Büro gelernt und putzte im Nebenjob für alte Leute deren Wohnungen. Es hätte alles so wunderbar gepasst!

Nur eine Woche darauf kam Evelin mich erneut besuchen. Sie trug ein helles Shirt mit einem großen Herzen darauf. Oh je! Ich hatte nur einen Tag zuvor das Bett mit einer Wäsche bezogen, die ihrem Shirt ähnelte. Ich hoffte, dass sie es nicht als spontane Einladung ansah.

Für wen sie das Shirt wohl angezogen hatte? Für ihren Freund? Etwa für mich?

Evelin zeigte mir ihre neuen, langen Wimpern, die sie sich nur ab und an mal gönnen konnte. Ich hätte den letzten Cent dafür gegeben, damit sie sich alles leisten kann, was sie mag. Ich war mir gegenüber schon immer äußerst sparsam gewesen, lebte gerne nur von Brot und Tee. Es war für mich Normalität. Man vermisst nicht, was man nicht kennt, oder?

Davon abgesehen, sahen ihre neuen, langen Wimpern toll aus und ich hoffe, in einem der zahlreichen Bücher übers Kennenlernen, Flirten und die feinen Umgangssprachen, ist das Wort »toll« nicht gleich eine totale Beleidigung. Ich sage und meine die Dinge immer so, wie ich sie empfinde. Ich stehe zu meinen Worten und Taten, ganz gleich, was einem Individuum die vorgefertigten, fantasielosen Bücher über Benimmregeln vorschreiben wollen. Toll bedeutet für mich immer noch toll.

Sie kam gerade aus dem Fitnessstudio und hatte eine Sporttasche dabei, plus zwei bis drei zusätzliche Taschen, mit weiteren Utensilien für die neue Wohnung. Ich wollte nicht, dass sie sich für mich so ins Zeug legt, dass sie sich so abschleppte, mir direkt zu viel ihrer Zeit opfert und es am Ende dann für sie in Arbeit ausarten wird. Sie sollte doch wiederkommen und, gerne wiederkommen.

Sie sortierte mein Deospray aus, weil sie es für unpassend für einen Mann hielt. Ich hatte mich schon sehr viele Monate zuvor von allen Hygieneartikeln getrennt, die Aluminiumchlorid / Aluminiumsalze enthalten. Ich besaß keine Zahncreme mehr, die Fluorid, SLS und Minzöl enthielt. Was Gesundheit und Naturheilkunde angeht, bin ich absolut fit. Evelin war immer das Covergirl der nächsten, großen Modezeitschriften. Und, was das betraf, nahm ich sie eben so, wie sie ist. Sie war schon immer so, bereits in der Schule, kurz nach der eigenen Befreiung aus der satanischen Pflegefamilie.

Evelin hielt mich wohl für nicht besonders männlich, doch ich hatte eine eigene Einstellung zur Männlichkeit.

In der Gesellschaft herrscht leider immer noch ein falsches Bild über Männlichkeit. Ständig laut sein und einen auf dicke Hose machen, ist für mich nicht männlich. Es ist Ausdruck einer permanenten Unsicherheit und einem Mangel an Selbstbewusstsein. Ein Mann, der seiner Frau nur in guten Tagen beisteht und nur auf seinen eigenen, multiplen Orgasmus fixiert ist und seiner Frau keinen Orgasmus bescheren kann, ist für mich kein Mann, sondern ein egoistischer Waschlappen. Ich brauche kein männliches Gehabe, kein männliches Auto, keine männliche Kleidung und Duschmittel extra »for men«, um mich als Mann zu fühlen. Ich bin geboren als Mann. Es steht in meinem Pass.

Wir saßen uns dann wieder gegenüber, im Wohnzimmer am Tisch und redeten. Ich hatte zwei große Stücken Käsekuchen von meiner Mutter bekommen, da ich aufgrund des Jobs als Maler nicht groß zum Einkaufen kam und es ja immerhin Sonntag war.

Den Kuchen hatte Mutter von einem ihrer Söhne im Discounter kaufen lassen. Evelin dachte, er wäre selbstgemacht und lobte ihn. Ich ließ sie in dem Glauben, da ich weder sie und die Situation bloßstellen noch die eigene Mutter blamieren wollte. Manchmal ist verschweigen auch eine Art von Lüge, manchmal eben nicht, wenn sie einem besseren, edleren Zweck dienen kann.

Evelin interessierte, ob meine Mutter sie mögen würde. Ich gab ihr mutig zur Antwort, dass Mutter sie ganz sicher lieben wird. Ich sprach nicht nur ehrlich und im Sinne der Mutter, sondern versuchte damit noch einmal auszudrücken, dass, wenn die Mutter sie schon liebt, der Sohn sie noch einmal umso mehr lieben wird. Und der Sohn liebte sie abgöttisch, seit vielen Jahren.

Evelin brachte ein Logik-Spiel mit. Es war für Kinder und Erwachsene gedacht. Man musste Autos und Lastwagen auf einem kleinen Plateau so verschieben, dass man ein bestimmtes Auto aus diesem herausfahren konnte. Dafür musste man überlegen, welches Fahrzeug man zuerst wohin verschiebt. Sie hatte es während einiger Aufenthalte in Kliniken und Therapien immer dabei. Sie liebte das Spiel. Und, da ich sie liebte, spielte ich mit dem Spiel, während sie unaufgefordert und aus freiem Willen die gesamte Wohnung putzte. Ich wollte nicht, dass sie bei mir putzt, doch ich wusste, dass sie nicht lange stillsitzen kann, dass es sie verunsichert und sie eben dann ihre Putzeinheit als Möglichkeit braucht, sich ablenken und auspowern zu können. Das Spiel machte mir schon Freude, kindliche Freude. Doch während ich sie in dem Badezimmer und der Küche schuften hörte, dachte ich daran, wie schön es gerade in dem Moment wäre, wenn ich mit ihr auf dem Sofa oder im Bett liege, ich nicht über sie herfalle, um nur mal eben den eigenen Trieb an ihr zu befriedigen, sondern wir uns einfach nur gegenseitig Wärme und Liebe spenden. Und zwar so lange, bis sie ihre innere Unruhe verliert, sich nicht mehr gehetzt fühlt, sondern friedlich und körperlich unbenutzt neben mir einschläft. Sie all die Anspannung, das Leid, ja die ganzen Phantome der vergangenen Jahrzehnte verlieren kann und endlich Erlösung findet, in meinen Armen.

Sie blieb bei mir länger, als sie es geplant hatte. Normalerweise hatte sie ein Ritual, welches so aussah, dass sie abends gerne alleine zu Hause ist, sie sich zu einer gewissen Uhrzeit zurückziehen kann und den Abend allein ausklingen lässt. Rituale sind wichtig. Sie führen uns zurück in unser Inneres oder verbinden Menschen untereinander. Ich liebte sogar ihr Ritual und es war mir so heilig, wie sie es war. Trotzdem blieb sie an dem Abend länger bei mir, als es ihr Ritual normalerweise vorsah. Und das rechnete ich ihr hoch an.

Ich begleitete sie zu ihrem süßen, kleinen Auto und stellte mir selbst die Frage, wie sie ihren Wagen wohl nennt. Ich nenne meinen Franzosen »Fabrice«, eine treue, alte Peugeot 306 Limousine.

Sie lehnte es strikt ab, sich von mir ihre Sporttasche tragen zu lassen. Ich gab es zu dem Zeitpunkt auf den Gentleman zu spielen, als sie mir drohte, dass sie mir die Tasche schon um die Ohren schlagen würde, wenn ich sie ihr nicht trage. Wie süß sie war!

Dann, als wir an ihrem Wagen standen, sagte sie etwas, was für mich wie ein plötzlicher Schlag in den Magen war. Sie sagte, dass sie sich erst wieder in einigen Wochen melden wird, da sie einen neuen Job in Aussicht hat und dafür einen freien Kopf braucht.

Ich verstand zum einen dieses Argument, zum anderen liebte ich sie bereits wieder so stark, dass ich gar nicht wollte, dass sie überhaupt wegfährt. Zurück in das, was sie für sich als Leben ansieht. Zurück in ihren Alltag und zu ihrem Freund, dem sie reichlich wenig bedeutete. Und der nicht einmal annähernd in ihr sehen würde, was ich seit mehr als drei Jahrzehnten in ihr sah. Für die Männer war sie, in meinen Augen, nicht mehr als eine Durchgangsstation zur nächsten Frau. Nicht mehr, als ein großes, zu Fleisch gewordenes Kondom, dass man mal eben benutzt und im Zweifelsfall auswaschen, trocknen, pudern, zusammenrollen und nach Lust und Laune wieder hervorholen kann. Niemand hatte je in Evelin gesehen, was ich in ihr sah. Es machte mich entsetzlich traurig, dass selbst sie es nicht einsah. Das sie sich so derart wegwirft, wo sie einige gute Qualitäten hat.

Als ihre Seele die Wohnung verlassen hatte, war es wieder, wie auf dem Friedhof. Die Nachbarn, die sonst schon immer einmal Laute von sich gaben, Besuch bekamen, Musik hörten oder was im TV schauten, ließen mich an diesem Tag mit ihrem Krach völlig alleine.

Ich lag auf dem Bett und ließ den Tag an mir Revue passieren.

War ich Gentleman genug? Hatte ich sie irgendwie bedrängt? War ich zu passiv? Bin ich zu langweilig? Zu fordernd? Zu wenig fordernd? Bin ich ihr zu nahe getreten? Würde sie jemals wiederkommen?

Ich hätte sie sicherlich auf das Bett werfen und über sie herfallen können, doch dann wäre ich keinen Deut besser gewesen, als all die anderen Kerle, die das in der Vergangenheit mit ihr gemacht haben. Und die sie immer nur an ihren Pflegevater erinnern. Ich wollte ihr anders sein, wollte sie endlich befreien helfen.

Ich plante gar nicht, sie zu ändern. Sie sollte unbedingt gewisse Charakterzüge behalten. Doch ich musste ihr bei ihrer weiteren Entwicklung helfen. Aus den Gesprächen mit ihr hatte ich erfahren, dass sie auf dem Weg war, innerlich zu verrohen. Sie sagte es nicht direkt so, doch ich hörte es heraus. Sie begann gute und schlechte Menschen nicht mehr voneinander unterscheiden zu können, reflektierte diffus Verhalten und sie war auf dem schlechtesten Wege, dass aus einem wirklichen Engel einmal ein Rache-Engel wird, weil das Leben sie unnötig hart werden ließ.

Ich wollte das nicht. Ich war nicht bereit Evelin aufzugeben. Es lohnte sich, um sie zu kämpfen. Wenn ich auch selbst mein Leben lang habe kämpfen müssen und des Kämpfens müde war, so wollte ich wenigstens diesen einen letzten Kampf für sie ausfechten. Sie war es mir wert.

Ich musste die Gedankenkette an sie unterbrechen. Sie bekam eine SMS von mir, in der ich ihr für ihren erneuten Besuch dankte und ihr schrieb, dass ich die Wohnung wieder durcheinanderbringen werde, damit sie recht bald wiederkommt. Und, dass ich sie sehr vermisse.

Vielleicht war diese Nachricht bereits zu viel? 

Der erste Todesstoß

Wenn du etwas in Herz und Seele trägst, einen Plan, schiebe ihn niemals auf. Sobald dein Plan feststeht, schiebe niemals die Umsetzung des Plans für die Zukunft auf. Du verpasst den wichtigsten Moment deines Erfolges und alles geplante wird fruchtlos vergehen. Du wirst dir Vorwürfe machen, dein Leben lang. Was wäre gewesen, wenn?

Tue die Dinge, die Herz und Seele bestimmen, immer sofort. Solltest du dann trotzdem scheitern, hast du von deiner Seite aus alles versucht, was in deiner Macht stand und du hast dich deiner Liebe zumindest erklärt. Alles andere liegt dann an ihr und du kannst den Ausgang nicht mehr allein entscheiden ohne, einen Zwang herbeizuführen.

Einen Zwang in die Liebe bringen, geht niemals gut aus. Alles Gezwungene strebt irgendwann wieder nach Freiheit. Was wäre gewesen, wenn ich, nur um mein eigenes Ego zu befriedigen, Evelin an mich gerissen, sie ins Bett gezerrt oder auf irgendeine andere Weise etwas von ihr verlangt hätte, ohne das ihr Herz ganz bei mir ist? Was, wenn der nächste, der an ihr Interesse vorgibt, dann das Gleiche mit ihr macht, ohne sie zu fragen? Ohne, auf ihre Wünsche und Bedürfnisse überhaupt zu reagieren? Und sie hätte sich wieder willenlos überfallen, sich die eigene Entscheidung wegnehmen lassen und dieser nächste, neue Typ würde sie mir dann abspenstig machen?

Nicht nur ein Mann muss wissen, wohin sein Herz gehört, sondern auch eine Frau. Kein Mann der Welt wird einer Frau lange treu und ergeben sein, wenn sie sich nicht die Mühe macht, seine Mühen anzuerkennen, in welcher Form und Intensität auch immer. Das einfache System von Geben und Nehmen.

Manchmal kann ein Mann seiner Frau nicht ansatzweise wiedergutmachen, was sie für ihn getan hat. So, wie Kinder ihren Eltern oft nicht wiedergutmachen können, was sie ihnen getan haben. Und manchmal kann auch die Frau das nicht. Doch zu wissen, dass der Partner sich aufrichtig bemüht und nicht von vorne bis hinten bedienen lässt, immer nur fordert, ohne im geringsten eigenen Einsatz zu bringen, ist für den Partner oft schon Grund und Anlass genug, alles für die Liebe zu tun.

Ich traf letzte Vorbereitungen für die anstehende Reise nach Irland. Am liebsten hätte ich Evelin mitgenommen, doch die Buchung war schon viele Wochen zuvor erfolgt, das Zimmer schon gebucht, andere Zimmer bereits belegt und außerdem stand Evelin kurz vor Abschluss eines neuen Arbeitsvertrages. Sie hätte ohnehin nicht mitkommen können.

Wenige Tage vor der Abreise erhielt ich einen Anruf von Evelin auf das Smartphone. Ich war so glücklich ihren Namen nur allein im Display zu lesen. Ich hatte eine Verabredung mit dem gemeinsamen Schulkollegen, für den ich arbeitete. Soweit ich mich erinnere, renovierten wir das Zimmer seiner Tochter.

Evelin hatte frische Waffeln gebacken und bat mich darum, vor der Verabredung noch auf die Werkstatt kommen zu können, um meinen Anteil an den Waffeln abzuholen. Ein Nein akzeptierte sie nicht und die Verabredung hatte zu warten. Mir war alles recht, nur um sie vor der Abreise noch einmal sehen zu können.

Als ich die Arbeit auf der Baustelle beendete und auf den Betriebshof fuhr, putzte sie gerade an dem Auto ihres Freundes, das sie sich geliehen hatte. Ich war wenig begeistert diesen Wagen zu sehen und noch weniger zu hören, wie toll und erfolgreich er war. Sollte ich mich bezüglich Empathie so in Evelin getäuscht haben? Wusste sie nicht, wie sehr ich sie liebe und wie sehr sie mir mit ihren Worten und Taten wehtat? Wie hätte sie an meiner Stelle selbst empfunden?

Für mich war meine Liebe und Zuneigung zu ihr keine Viruserkrankung, die nur mich etwas anging und die ich gefälligst auszuschwitzen habe. War es wirklich zu viel verlangt, von Menschen etwas zu erwarten, was sie selbst auch von anderen erwarten würden, sobald es sie betrifft? Ich hasste gerade diese Art von Tests, die einer Frau zeigen sollen, ob ein Mann für sie bereit ist zu kämpfen. Würde sie bereit sein für mich zu kämpfen, wenn sie so verliebt gewesen wäre? Diese Art von Test behandelten einen Mann wie einen Hund und nicht, wie einen gleichwertigen Partner, den man ernst nahm. Ich hätte ihr diesen Test, von meiner Seite aus, ganz sicher erspart. Diese Art von Tests entzweien Menschen eher, als das sie diese zusammenführen.

Evelin trug dreiviertel lange Hosen, hell beige mit einem dezenten Muster. Sie hatte ihr schönes, mit Farbreflexen durchsetztes Haar zu einem seitlichen Zopf gebunden, der zu einer Seite herunterhing und im Zuge ihrer Bewegung hin und her schaukelte.

Wir unterhielten uns irgendwie leise und sehr sanftmütig miteinander. Es war plötzlich wieder, als ob wir zusammen am Strand der Weser lieb zueinander sein konnten. Plötzlich fühlte ich auch das Band, das uns einmal verknüpft hatte. Ich kniete neben ihr nieder und sah sie einfach nur voller Liebe an. Wie verdammt schön sie war. Die Sonne leuchtete sie voll aus und setzte sie in Szene, wie die Statue einer Göttin.

Das, was sie über ihren ach so tollen Freund erzählte, völlig pietätlos mir gegenüber, der dort gerade neben ihr starb, blendete ich mühsam aus. Ich war müde von der Arbeit und nahezu willenlos, beim Anblick ihrer Zärtlichkeit. Sie flüsterte mit mir. So, wie sie es damals in der Schule oft getan hatte, wenn sie mit ihrer engsten Vertrauten flüsterte. Konnte ich nicht ihr engster Vertrauter werden? Ihr einziger enger Vertrauter?

Ich sprach sanft, leise und verständnisvoll zu ihr, um den für mich magischen Moment nicht zu zerstören. Die Verabredung mit dem Kollegen wartete und ich musste in den sauren Apfel beißen und mich von Evelin verabschieden. Wieder unterdrückte ich den großen Drang sie an mich zu nehmen, ganz sanft und sie in meine Arme zu schließen.

Sie gab mir die gut verpackten Waffeln mit. Als ich diese am späten Abend allein in der neuen Wohnung aß, sah ich, dass sie sich extra die Mühe gemacht hatte, sie auf Papptellern mit Piratenmotiv zu betten. Sie wusste, dass ich auf alles stand, was mit Schiffen, dem Meer und Piraten zu tun hat. Ich bekam den Ehrentitel »Captain of Honor« einmal vom Michigan Institution of Technologie, MIT, der Universität Michigan, da ich sechzehn Jahre lang mehr als zwanzigtausend Petitionen im Bereich der Menschen- und Tierrechte und speziell für die Gefangenenhilfe amerikanischer Gefangener in Todeszellen unterzeichnet und ins Leben gerufen hatte. Evelin assoziierte den Captain scherzhaft mit etwas Verrücktem, einer Art Fetisch, den sie bei mir annahm. Sie dachte wohl, ich würde mich tatsächlich für einen Kapitän oder Piraten halten. Die Sache lag etwas anders, etwas normaler und mehr auf den Menschen als auf Piraterie bezogen. Trotzdem liebte ich das Meer und die Piraten.

Dass sie die Pappteller für die Waffeln aussuchte, konnte kein Zufall sein. Sie hatte die Teller entweder ausgesucht, um mir zu gefallen oder weil ich begann ihr doch etwas zu bedeuten. Wie unendlich ich sie dafür liebte.

Am nächsten Tag nahm ich mir frei und fuhr in die Stadt. Ich kannte ihr Lieblingsparfüm, das ich in ihrer Sporttasche gesehen hatte, als sie mich besuchen kam. In drei Tagen würde ich nach Irland fliegen, ohne sie und ich musste handeln, und zwar sofort. Musste irgendetwas tun.

Ich kaufte ihr einen neuen Flakon ihres Parfüms, da ich wusste, dass ihr Flakon fast leer war. Ich legte Euro fünfzig mit in das Päckchen und schickte es mit der Post an ihre Adresse. Das Parfüm war als Zeichen meiner Zuneigung gedacht, die Euro fünfzig für ihre Reinigungsarbeiten in der neuen Wohnung und die Einrichtungsutensilien.

Am Abend zuvor hatte ich schon einen längeren Brief für sie geschrieben. Ich hatte das Gefühl, dass sie sich aufrichtig für Menschen interessiert und ganz bestimmt auch dafür, was ein Mensch, der versucht ihr nahezustehen, in den vergangenen Jahren so erlebt hat. Ich schrieb darin auch, was ich edles über sie denke, was ich als Problem ansehe, bei ihrer weiteren Entwicklung im Leben und wie es um meine noch immer vorhandenen Gefühle für sie steht. Vermied es jedoch von der ganz großen Liebe zu ihr zu schreiben, da ich wusste, dass sie oft von Zukunftsängsten befallen wird und mit allzu schnellen Veränderungen in ihrem Leben und Gefühlsleben nicht klarkommt. Am Ende dieses gut sechsseitigen Briefes, ließ ich sie wissen, dass ich immer für sie da bin und sie jederzeit, auch unaufgefordert zu mir kommen kann. Ich hätte sie nachts am Ende der Welt abgeholt, wenn sie in Not geraten wäre.

Ich bat sie dann noch, sich bitte Zeit zu lassen, um die Informationen in diesem Brief verarbeiten zu können und bat sie abschließend darum, sich erst dann wieder bei mir zu melden, wenn sie den Brief verarbeiten konnte. Man durfte Evelin nicht überfallen. Ich hätte Evelin all das von Angesicht zu Angesicht selbst einmal erzählen wollen, doch sie hatte Probleme damit, längere Zeit konzentriert zuhören zu können. Was sollte ich also anderes tun, als es ihr zu schreiben?

Ich flog wenige Tage später nach Irland und traf Paul und Jackie, die Gastgeber vor Ort. Als ich abends in dem kleinen Dachzimmer in Paul und Jackies Haus lag, gewitterte und regnete es heftig, da es tagsüber heiß war. Ungewöhnlich heiß, für Irland, um die Jahreszeit Ende Mai. Ich versuchte mich abzulenken, schaltete den Fernseher ein und sah mir ein Hurling Match an. Es hätten auch ganze Horden nackter Frauen dieses Match bestreiten können, es wäre mir völlig gleichgültig gewesen. Ich dachte nur noch an Evelin.

Dachte an meine kleine Piratin und ihren wunderschönen Zopf, der seitlich ihres Schopfes in der Sonne schaukelte. Würde ihr Schiff den Weg durch den Regen zu mir finden. Ich sah mit einem kindlichen Ausdruck im Gesicht aus dem offenen Fenster, während eine starke Brise hineinblies. Ich hatte nur dieses eine Gesicht. Meine Liebe zu ihr war unermesslich. Ich versuchte so gut es ging Urlaub zu machen. Wanderte viel, lief am Strand hin und her, ging einige Male essen, unterhielt mich viel mit Paul und Jackie, fütterte ihre Hühner im Garten hinter dem Haus. Lernte andere Gäste aus anderen Kulturen kennen. Eine afrikanische Prinzessin und zwei ewige Studenten aus Slowenien. Doch sobald ich abends wieder auf dem Einzelzimmer war und in dem schönen, weichen Bett lag, überkamen mich die Gedanken an Evelin wie eine Sturmflut. Gedanken der Liebe und der Sehnsucht.

Deutschland interessierte mich nicht mehr, hatte es irgendwie auch noch nie. Der Minijob rückte von mir weg, meine Mutter, die ich mit pflegte und die Brüder waren mir sowas von egal, in dem Moment. Ich dachte nur noch an sie, meine Piratenbraut.

Am Tag vor der Rückreise nach Deutschland kaufte ich Souvenirs für Freunde und Familie. Für Evelin wählte ich einen Kaffeebecher aus, der auch einen Porzellanlöffel trug, mit lustigen Schafen darauf. Dann flog ich zurück nach Deutschland, mit einem Gefühl, dass ich dir jetzt und hier schlecht beschreiben kann.

Zukunftsangst? Angst davor, bei Evelin auf Ablehnung zu stoßen? Angst, etwas falsch gemacht zu haben und sie für immer zu verlieren, wo ich gerade erst dabei war, sie wiederzufinden? Ja, genau das beschreibt meine Gefühle. 

Das Ende

Als ich wieder in Deutschland war, meldete ich mich sofort wieder zur Arbeit. Ich gönnte mir keine Pause zur Akklimatisierung, trotz eines starken Sonnenbrands in Gesicht und Nacken. Man darf die irische Sonne niemals unterschätzen.

Sofort versuchte ich durch den gemeinsamen Schulkollegen, für den ich arbeitete in Erfahrung zu bringen, ob er etwas von Evelin gehört hatte. Er war in der Zwischenzeit bei ihr und hatte ihren Balkon verputzt. Er wusste nur vage, dass sie das Päckchen mit dem Flakon, Geld und Brief per Post erhielt. Evelin hatte ihren neuen Job angetreten und steckte bis zum Hals in Arbeit. Sie würde die nächsten zwei Wochen total zu sein mit Arbeit und bekam Angst wieder in den Zustand der Überforderung zu geraten. Ihr ADS machte sich bemerkbar. Mir war es nur recht, da sie so mehr Zeit haben würde, meinen Brief vollständig zu verstehen. Sie könnte zwischen den Zeilen lesen lernen und gewisse Analogien zwischen ihrem Charakter, ihrem Lebensverlauf und dem meinen erkennen. Wir waren uns in einigen Dingen ähnlich und ich hoffte, dass sie es erkennen würde.

Doch mit jedem Tag kam mehr innere Unruhe und Ungeduld in mir auf. Ich versuchte es zu unterdrücken, ihr zuliebe, doch es ging nicht lange gut. Sie fehlte mir einfach zu sehr.

Zum einen hatte ich ihr ja geschrieben, dass sie sich erst wieder melden soll, wenn sie den Brief verarbeiten kann, gleichzeitig wollte ich sie aufgrund der neuen Jobsituation nicht bedrängen, vermisste sie jedoch entsetzlich.

Der gemeinsame Schulkollege hatte bei ihr noch weitere Arbeiten am Balkon auszuführen und ich wartete abends sehnsüchtig auf jeden Fetzen an Informationen, die er mir über Evelin berichten konnte. Ich erfuhr, dass sie sich momentan von der Gesamtsituation total überfordert fühlte und in dem neuen Kontakt zu mir eher nur weitere Probleme auf sich zukommen sah. Ich versuchte durch den Kollegen ausrichten zu lassen, dass ich es nur gut mit ihr meine, sie gar nicht belasten will, sondern, ganz im Gegenteil, für sie da sein mag, wann immer sie es mir gestattet. Tat wirklich alles, um sie und ihre Situation zu verstehen und ihr so weit es ging entgegenzukommen. Das ich ihr helfen werde, wo und wann ich nur kann und darf.

Es nutzte nichts mehr. Nur wenige Tage nach meiner übermittelten Botschaft und auch mehreren, gut gemeinten Versuchen des Kollegen, für mich Partei zu ergreifen, ließ sie mich per SMS wissen, dass sie keinen engeren Kontakt mehr zu mir wünscht. Sie wollte dann tatsächlich noch wissen, ob ich das »erstmal« so akzeptieren kann.

Was blieb mir anderes übrig? Und, was hieß dann das Wort »erstmal« in diesem Kontext von »keinen engeren Kontakt mehr«? Wollte sie sich ein Hintertürchen aufhalten? Wieso sagte sie es mir dann nicht? Wieso konnte sie nicht ein einziges Mal ihre Spielchen seinlassen und ehrlich und aufrichtig mit mir, einem Freund, den sie seit 38 Jahren kannte, kommunizieren? Hatte ich all ihr Misstrauen verdient?

Ich war am Boden zerstört, brachte es aber noch gerade so zustande, ihr eine SMS zurückzusenden, in der ich ihr noch einmal versicherte, dass ich gar nicht vorhatte sie zu belasten, sondern ihr Leben nur zu bereichern plante. Ich wünschte ihr letztendlich noch alles Gute für die Zukunft und, dass es ihr niemals schlecht ergehen soll.

Danach herrschte in mir eine unendliche Trauer. Es kam mir vor, als ob ich aus dem paradiesischen Irland geradewegs ans Ende der Welt oder gleich in die Hölle katapultiert wurde. Die neue Wohnung wurde mir mit einem Schlag zur Grabstätte.

Von Dale Carnegie wusste ich, dass es nahezu unmöglich ist, einem Menschen ein Ja zu entlocken, sobald dieser einmal bei einem Nein angelangt war. Gute Verkäufer werden speziell darin geschult ihren Kunden erst einmal ein Ja zu entlocken.

Ich hatte früh Aktienfonds verkauft, nach der Ausbildung zum Maler und einiges an Schulungen im Callcenter hinter mir. War ich eigentlich zu dumm Evelin ein erstes Ja zu entlocken?

Doch ich hatte niemals vor Evelin zu kaufen. Ich wollte ihr nur Gutes tun, mich um sie kümmern, so, wie sie es verdient hat und so, wie noch niemand zuvor sich um sie gekümmert hat.

Ich ließ ihr durch den Kollegen noch die Tasse mit den Schafen darauf zukommen und sie ließ mir im Gegenzug noch eine Tasche mit buddhistischen Figuren aushändigen, die sie mir damals zu Beginn des ersten Treffens in Aussicht gestellt hatte.

Bekam nicht den Hauch einer Chance mehr, mich ihr persönlich erklären zu dürfen. Sie hatte null Vertrauen. Danach versuchte ich es mit einer letzten MMS in der ich mich freundlich für die buddhistischen Figuren bedankte und in der ich mich für den langen und belastenden Brief entschuldigte. Ich ließ sie auch noch wissen, dass ich geplant hatte sie mit auf die Konzerte befreundeter Musiker zu nehmen und ihr eine Reise nach Irland spendieren wollte. Ich bat sie von Herzen, sich die ganze Sache noch einmal ganz in Ruhe zu überlegen, da ich wusste, dass sie zu voreiligen Panik- und Kurzschlussreaktionen neigte. Sie sollte weder ihr eigenes noch unser gemeinsames Glück wegwerfen. War sie nicht schon zu oft geflüchtet? Wollte sie letztendlich kein Glück, keine Liebe und keine Heimat mehr, weil die schrecklichen Phantome der Vergangenheit über sie gesiegt hatten?

Eine Woche später erhielt ich eine letzte SMS von ihr, in der sie mich kurz und knapp bat, das Logik-Spiel mit den Autos, welches sie mir leihweise daließ, dem gemeinsamen Schulkollegen mit auf die Werkstatt zu geben, damit sie es sich dort einmal abholen konnte. Ein Versuch ihrerseits mit mir Kontakt aufzunehmen? Oder die letzte, endgültige Botschaft an mich, aus ihrem Leben zu verschwinden? Vielleicht benutzte sie mich auch nur, um den Kontakt zum gemeinsamen Schulkollegen aufrechterhalten zu können, der sie gelegentlich mit Geld unterstützte. Gerade Typen wie er,  hatten eine Mitschuld daran, dass Evelin immer wieder in eine gefährliche, finanzielle Abhängigkeit geriet, weil sie permanent versuchte, ihren Lebensstil künstlich luxuriös zu halten. Er machte sich sozusagen zu einer Art »Zuhälter« und sie gleichzeitig zu einer Art von »abhängiger Nutte«. Es war Jahre her, dass ich geweint hatte. An diesem Abend weinte ich.

Ich war plötzlich zum ersten Mal richtig sauer auf ihr übertriebenes Misstrauen mir gegenüber. Ich hatte ihr nichts getan, außer mich ihr gegenüber fair zu verhalten und ihr entgegenzukommen, wo ich nur konnte. Um ihr meine Aufrichtigkeit zu demonstrieren, gab ich das Spiel bereits am nächsten Morgen dem Kollegen in die Werkstatt, schrieb ihr eine weitere MMS darüber und wünschte ihr endgültig alles Gute.

Meine MMS endete mit folgenden Worten,

»bitte verspreche mir noch eines. Bitte pass gut auf dich auf. Erkenne deinen wahren Wert im Leben. Du bedeutest mir mehr, als 99 Prozent der Menschen auf diesem Planeten und ich war der größte Narr all die Jahre keinen Kontakt zu dir zu halten. Habe nun nicht mehr die Chance es korrigieren zu können. Gib gut auf dich und deinen weiteren Lebensweg Acht. Du wirst immer in meinem Herzen sein. Ich habe dich unsagbar lieb. Alles Gute dir, Ralf«. 

Die Hülle eines Geistes

In der Folgezeit verlor ich jegliche Energie, schwankte erstmals seit Jahren wieder zwischen starken, depressiven Phasen, exzessivem Schreiben an Büchern, der Hoffnung, dass irgendwann ein kleines Wunder geschieht und sie sich doch noch einmal meldet, immer wieder komplette Kraftlosigkeit, Fragen nach dem Warum und Wieso, dem Zweifel am eigenen Charakter, dann wieder exzessives arbeiten, als Therapie für das Ausblenden der sich ewig drehenden Gedankenketten, bis hin zu finsteren Gedanken, das eigene Leben durch einen Sprung von den irischen Cliffs of Moher zu beenden.

 

Momentan fühle ich mich wie eine leere Hülle, aus der man Herz und Seele herausgerissen hat und sie den Höllenhunden zum Fraß vorwarf. Die Hülle eines Geistes, wenn man versteht, dass Geister ja keine Hülle in dem Sinne besitzen, so benutze ich diesen Satzkonstrukt, um den Ausdruck der totalen Leere zu verdeutlichen.

 

Ich weiß nicht genau, was ich falsch gemacht habe, da ich keinerlei Feedback bekam und folglich nichts aus der Sache für die Zukunft lernen kann. Ich fühle mich hässlich und gemieden, wie Frankensteins Monster und Quasimodo in Personalunion, wie in einem schlechten Film, mit einem Monster, dessen getretene Wünsche, Sehnsüchte und Gefühle allen egal sind. Und den man mit seiner Art zu lieben, den Gedanken und der Trauer, die aus diesen Gedanken resultieren, allein gelassen hat. Wie jemand, der es absolut verdient, dass man ihn einfach so übergehen kann.

 

Dabei habe ich Evelin immer nur Gutes gewollt und Gutes getan.

 

Die neue Wohnung ist ohne Seele und ich lasse sie so langsam verkommen. Das Haus in meinem Inneren, wo einst ihr Herz und ihre Seele einzogen und wir zusammen gute 32 Jahre wohnten, gleicht einem verlassenen Waisenhaus.

 

Es kommt mir vor, als ob sie tot ist, dabei bin nur ich es, der so langsam lieb- und leblos vor sich hinstirbt.

 

Sie ist in unerreichbare Nähe verzogen, obwohl sie gerade einmal gute zehn Minuten von mir entfernt residiert, lebt und atmet. Ich könnte vor ihrem Balkon weinend und flehend zusammenbrechen, es würde mich nur immer noch weiter von ihr weg katapultieren, da sie nur den Reichen, erfolgreichen und starken Einlass gewährt. Dabei habe gerade ich mein Leben lang immer an allen Fronten gekämpft und kämpfen müssen. Habe mal mehr, mal weniger erfolgreich gearbeitet und gutes Geld verdient. War, trotz Erkrankungen und damit verbundenen Berufswechseln und einigen, sehr harten Schicksalsschlägen, immer wieder aufgestanden, habe weitergekämpft und damit mehr als einmal Stärke bewiesen. Während andere nur selbstgefällig funktionierten, entwickelte ich mich weiter. Nur sehen tat es wohl nie jemand. Ich fühle mich gerade wie einer der Protagonisten in Balzac´s oder Zola´s Büchern.

 

Sie hat mich schachmatt gesetzt und sehr wahrscheinlich verdiene ich es auch nicht anders, da ich mir in der Vergangenheit ihrer zu oft unsicher war, sie habe warten lassen und mich damit als wenig konsequent und vertrauenswürdig erwiesen habe.

 

An diesem Morgen kommt es mir wieder einmal so vor, als ob man sich mit jedem vergehenden Tag meilenweit von einem geliebten Menschen weg bewegt, den man vermisst und nicht mehr wiedersehen wird, und zwar mit einer Geschwindigkeit, die so immens ist, dass ein lebenslanger Flug in einem Überschallflugzeug nicht wieder näher bringen wird, was ein einziger Moment und die endgültige Entscheidung in diesem Moment getrennt hat. Der einzelne Mensch wird niemals alleine in der Lage sein, über den auferlegten Schatten der Bestimmung zu springen. Ich kann kein Mensch sein. Ich muss ein Geist sein, der permanent versucht gegen seine Bestimmung zu handeln, über seine Schatten zu springen und damit die Phantome der Vergangenheit zu besiegen, denn im Grunde meines Herzens habe ich weder eine festgelegte Bestimmung, noch Schatten, noch Phantome. Ich bin ein freier, reiner Geist, der sich von der Knechtschaft der Irdischen zu befreien sucht.

 

Der Mensch bekommt was er verdient, nicht mehr und nicht weniger, oder?

Ein paar Worte des Abschieds

Keiner hat das Recht dir zu sagen, du musst dich ändern, doch ein guter Freund und Partner sollte dir sagen können, wann es an der Zeit ist, sich zu entwickeln.

Ein wirklicher Freund und Partner lässt dich gehen, wenn du gehen magst und kommen, wann immer du kommen magst. Denn er hat Vertrauen genug zu wissen, dass du weißt, wo dein Herz hingehört. Da auch du wissen solltest, dass er weiß, wo sein Herz hingehört.

Kein Mensch ist perfekt. Wer sich für perfekt hält, läutet den eigenen Stillstand ein. Jeder weiß, wie toll es sich anhört, wenn man gesagt bekommt, »bleib so wie du bist«, doch im Grunde ist es ein völlig veralteter Ausspruch der Verlegenheit und der Nachlässigkeit den Freunden, dem Partner und der Familie gegenüber. So zu bleiben, wie man ist, heißt das nicht auch irgendwie zu meinen, »bleib da wo du bist«, auf die Entwicklungsstufe bezogen?

Niemand, der dich ernsthaft einen Freund oder Partner nennt, kann von dir wollen, dass du dich nicht weiterentwickelst. Du kannst mit jedem Menschen Party machen und jeder kann dich Freund nennen. Doch wer bleibt, wenn die Party aus ist? Wer weiß nach Jahren noch, wer du bist, was du magst oder eher nicht magst oder an welcher nächsten Entwicklungsstufe du gearbeitet hast?

Ich sehe gewisse, nach ICD katalogisierte Krankheiten nicht als solche an, sondern als Talente. Ich habe einen kleinen Prozentsatz des Asperger Syndroms, wie Gary Numan ja auch. Ein Musiker.

Van Gogh hatte bipolare Störungen, die ihn tagelang exzessiv arbeiten und wirkliche Meisterwerke haben schaffen lassen, in deren Ausdruck diese Phasen zum Vorschein kamen. Seine Gemälde leben und atmen seine Seele. Balzac hatte sich mit Anfang fünfzig exzessiv ins Grab geschrieben.

Die Weltgeschichte ist voll von sogenannten Sonderlingen, die durch allzu große Liebe, Leidenschaft oder Trauer ihre nächsten Entwicklungsstufen nahmen.

ADS und ADHS, zum Beispiel, sind Talente, die einen Menschen, der an dieser »Krankheit« leidet, sehr belasten und auch durch die Umwelt als störend und sonderbar aufgenommen werden, doch verliert jede dieser Krankheiten, die ich als Talente sehe, nicht auch einen großen Teil ihres Schicksals, wenn man sie bei sich und anderen als gegeben akzeptiert und als Besonderheit ansieht, als dem eigenen Charakter zugehörig, wie dein eigenes Kind, an dessen Entwicklung du ja auch interessiert sein müsstest?

Jeder körperlich und geistig schwer Behinderte, der morgens um 07:00 Uhr an der Bushaltestelle steht und sich auf seinen Job in der Behindertenwerkstatt freut, ist an der eigenen Entwicklung interessiert. Und nicht nur daran, täglich zu funktionieren. All diese Lebewesen jammern nicht täglich über ihr verkorkstes Leben und ihre schlechte Genetik herum, sondern versuchen heute, hier und jetzt, das Beste aus ihrem Leben zu machen. Sie werden niemals genauso sein, wie ihre Idole. Doch am Ende ihrer Entwicklung und ihres ureigenen Lebens, werden sie das beste Ich-Selbst gewesen sein, das sie sein konnten.

Carnegie sagt, »weine nicht über vergossene Milch!«. Er sagte aber auch, »wenn das Leben dir eine Zitrone gibt, mache Limonade daraus!«. Evelin und ich hatten uns auf der Abschlussfahrt in Brake einmal einen kalten Becher Limonade geteilt, den ich spendierte. Jeder von uns macht Fehler, aus denen man lernen kann, wenn man sie als solche wahrnimmt. Jeder von uns stürzt einmal ab, jammert und weiß nicht mehr weiter. Aufzugeben und sich das Leben nehmen zu wollen, ist keine Option oder wie mein Freund, Carsten Klatte, scherzhaft schreibt, »Heroin ist keine Lösung!«, menschlich und chemisch gesehen.

Leben heißt, immer einmal mehr wieder aufzustehen, als man hinfällt. Entwickele dich positiv weiter, denn jeder von uns ist ein Individuum, von Natur aus. Wir sollten an unserem eigenen, inneren Golem arbeiten und ihn recht schön und hilfreich gestalten.

Ich schließe dieses Buch nun, das ich genau für dich geschrieben habe, liebe Evelin. Es ist ein reines Buch der Liebe und Zuneigung, nicht der Rache und Diffamierung. Du wirst das, was ich versuche dir zu vermitteln, lange Zeit als Probleme sehen, die ich zusätzlich versuchte in dein Leben zu bringen. Ich wünschte, du könntest das Konstruktive darin erkennen.

Viele Menschen, zu viele, haben dich wie den letzten Dreck behandelt. Haben dir keine Heimat geboten, keine Schulter zum Weinen, haben deine Gefühle und Wünsche ignoriert. Dich benutzt, wie und wann sie es wollten.

Ich gehöre sicher nicht zu denen, die diese Absicht hatten.

Meine Liebe zu dir ist aufrichtig und beständig. Sie ist keine Viruserkrankung oder ein Fieber, das man nur lange genug ertragen muss, damit es von alleine weggeht.

Ich bin auch nicht irre oder nicht mehr Herr meiner Sinne. Ich bin ein wenig verrückt, so wie du, doch auf eine genauso lustige Art und Weise, wie du.

Und ich bin verrückt nach dir!

Du kannst dir nicht mehr vorstellen, dass jemand aufrichtig etwas Gutes für dich tut, dass jemand aufrichtig Liebe und Zuneigung für dich empfindet. Dann kennst du mich nicht, denn ich liebe dich!

Du hast dich entschlossen zu gehen, dann gehe. In 52 Jahren, wenn du Mutter Erde einmal verlässt und auch von Berufswegen ein anerkannter Engel bist, wird kein Putzeimer dein Grab schmücken. Du bekommst dann einen Stein aus weißem Marmor, mit goldenen Lettern und einem Engel aus Kristall darauf. Dafür sorge ich persönlich, wenn ich dann selbst noch dazu in der Lage bin.

Auf allen deinen Wegen alles Gute dir.

 

Du bist ein Engel, du weißt es nur noch nicht. Eines Tages wirst du es wissen!

Dein unbekannter Freund, Ralf 

Der geheime Ort

Es gibt einen Ort in mir, es ist ein großes Haus mit zwei Eingangspforten. Zwei Eingangspforten, die zu meinem Herzen und der Seele führen. Dieses Haus heißt Herz und Seele. Es ist nicht wirklich organisch, sondern eher feinstofflich gelagert. In diesem Haus wohnen Individuen, die ich in meinem Leben traf. Mensch und Tier gleichermaßen. Die Gesamtheit nenne ich »die innere Familie«. Sie ist mir heilig! Auf den Menschen bezogen waren es Individuen, die, wie das Wort schon vermuten lässt, individuell in mein Leben kamen und ebenso individuell wieder verschwanden. Jeder dieser Menschen war und ist noch etwas Besonderes für mich. Sie haben Spuren in meinem Leben hinterlassen und ich habe versucht auch Spuren in ihrem Leben zu hinterlassen. Positive Spuren, die möglichst so tief sind, dass man sie wiederfinden kann. Ein Pfad führt zu dem Haus, das ich Herz und Seele nenne, im Inneren meines Landes.

Spuren hinterlässt man auf Pfaden, die Pfade verbinden die Individuen miteinander. Der Winter des Lebens kann über das äußere Land ziehen und Spuren und Pfade unkenntlich machen, doch niemals ganz im Inneren meines Landes. Natürlich habe ich Evelins Zugang zu diesem Haus weder ausgelöscht noch gesperrt. Wie könnte ich auch! Ihr Zugang ist ihr niemals verwehrt. Manchmal muss ich sie vor sich selbst schützen, vor unüberlegten und voreiligen Panikreaktionen. Trotz dessen, gibt es von meiner Seite her nichts, was ich noch tun kann, um unser gemeinsames Band erneut zu knüpfen. Den Pfad in ihre Richtung kann und werde ich nicht mehr alleine von Schnee und Eis befreien können, da ich mit der Räumung des Schnees vor den Eingangspforten genug Arbeit habe. Ich bitte um Verständnis!

Nachwort

25. Juli 2018

Wenn du auf ein Individuum triffst, das sich nur rein über Geld definiert und materialistisch auch nur so funktioniert, dann schaue, dass du nicht in den Bann dessen Materialismus gerätst. Du könntest dich diesem Materialismus anpassen, dich daran gewöhnen und letztendlich davon abhängig werden. Bewahre deine Eigenständigkeit und Unabhängigkeit, die du dir mühsam erarbeitet hast.

Lass dich nicht kaufen, lass nicht zu, dass dieser Materialist deine Freundschaft erkauft und dich und dein Gewissen damit in Abhängigkeit und Zugzwang zu ihm bringen kann.

Du würdest dich selbst der Sklaverei aussetzen und müsstest dich gefühlsmäßig Zwangsprostituieren.

Materialistische Menschen werden niemals die Qualitäten und den Wert eines wahren Freundes erkennen.

Wenn du ihnen sagst, dass es dir schlecht geht, denken sie, du möchtest ihr Geld. Wenn du ihnen allerdings sagst, dass du ihr Verhalten für schlecht hältst, bist du gegen sie und ihr stures, festgefahrenes System, das aus reiner Funktion und nicht aus Entwicklung besteht. Sie lassen dich dann verhungern. Sie wissen auch nach vielen Jahren noch nicht, wann du überhaupt Geburtstag hast. Was sie persönlich nicht interessiert, dass interessiert sie auch an dir nicht. Sie wissen weder was du magst, noch, womit sie dir eine Freude machen könnten. Sie wissen aber genau, was du nicht magst, weil sie diese Informationen im Ernstfall als psychische Waffe gegen dich benutzen können.

Bleibe lieber frei und unabhängig, als deine guten Charakterzüge von materialistischen Menschen verderben zu lassen.

Wahre Freunde finden auch in Armut zueinander, gehen gemeinsam durch die Zeiten der Armut, wachsen gemeinsam und bereichern ihr Leben gegenseitig. Sie werden reich durch das Immaterielle, das sie sich gegenseitig und bereitwillig geben.

Materialistische Menschen finden erst gar keine wahren Freunde, sondern höchstens einen folgsamen Hofstaat, der auch nur solange funktioniert, wie Geld vorhanden ist und die Geldquelle fließt.

Ein wahrer Freund sagt dir auch einmal Worte, die sich nicht so nett für dich anhören, die dich jedoch konstruktiv aufbauen können, weil er weiß, dass nur die netten Worte, die dir nur schmeicheln sollen, dich nicht wirklich weiterbringen, in deiner Entwicklung. Schmeichelei ist das genaue Gegenteil eines aufrichtigen Kompliments. Schmeichelei ist eigennützig. Materialistische Menschen schmeicheln dir, aus Eigennutz. Sie interessieren sich nicht wirklich für dich und deine weitere Entwicklung. Sie benutzen dich zu ihrem Vorteil, ignorieren deine Belange und Gefühle und entsorgen dich eiskalt, sobald du ihnen nicht mehr von Nutzen bist. Materialistische Menschen haben Geld genug, um Menschen für deren unterdrücktes Verhalten und Schweigen zu bezahlen, Problemlösungen durch Zahlungen zu umgehen und sogar das Fehlen eigener Emotionen und Gefühle durch Zahlungen zu kompensieren. Sie glauben sogar, fehlende Charaktereigenschaften durch Zahlungen ausgleichen zu können. Sie geben dir im mindesten etwas, weil sie etwas von dir verlangen, was ihren Einsatz bei weitem übersteigen muss und höchstens etwas, um herauszufinden, ob sie zu so etwas wie einem falschen, schlechten Gewissen und Mitleid noch fähig sind. Weder das eine noch das andere hat man wirklich nötig! Wahre Freunde spenden einander Energie, während materialistische Menschen deine Energie fressen.

Eine angemessene Bescheidenheit ist immer noch eine Tugend, während zu viel Geld immer noch den Charakter verdirbt.

Ich glaube immer noch an Evelins ursprüngliche Reinheit!

 

Ralf Dellhofen

Leverkusen, Deutschland

 

Impressum

Texte: Ralf Dellhofen
Cover: with thanks to ArtsyBee via pixabay
Lektorat: Ralf Dellhofen
Satz: heiße Ohren!
Tag der Veröffentlichung: 16.07.2018

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet Evelin-Esther, in deren Güte und Person ich mich nie getäuscht habe!

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