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Entwickeln!

Vorgestern habe ich eine neue Baustelle angefangen.

 

Ich wollte gerade die Wandflächen, wie vom Auftraggeber verlangt, ein wenig beispachteln und habe gesehen, dass der Handwerkskollege, der mit dem Entfernen der Tapete beauftragt wurde, wohl so etwas wie einen Wutanfall bekommen haben musste und ganze Wandflächen tief zerkratzt und mit dicken Löchern versehen mir hinterließ. Ich kenne den Kollegen, mit dem ich bereits Mitte der 90er Jahre auf Baustellen gearbeitet hatte. Er macht allgemein gute Arbeit und ist eher fair zu Kollegen aus anderen Gewerken. Ich schob, als geborener Widder, natürlich erst einmal einen dicken Hals und war tierisch sauer, da ich nun ganze Wandflächen zweimal komplett abziehen muss. Der Handwerkskollege befand sich nicht mehr vor Ort und das war auch besser so, für uns beide. Es hätte nur böses Blut gegeben.

 

Ich füge mich immer schnell in mein Schicksal, wenn ich es aus eigener Kraft nicht mehr ändern kann, und in letzter Zeit auch immer schneller. Gestern war ich schon gelassener. Der Kollege kam auf die Baustelle und ich nahm ihn zur Seite.

 

Erst einmal habe ich ihn für seine tadellose Arbeit gelobt, die er in der Vergangenheit abgeliefert hat und seine Fähigkeit als Handwerker herausgestellt. Ich mache niemals unbedacht Komplimente und lobe auch niemals unaufrichtig, wenn es nichts zu loben gibt. Niemand braucht falsche Schmeichelei. Dann habe ich mir die Hände des Kollegen zeigen lassen und ihn dafür bedauert, wie viel Arbeit ihm das Entfernen der Tapete bereitet haben muss, da ich es ja an dem Zustand der Wände ausmachen kann. In dem Moment wusste er schon, was ich von ihm wollte, ohne, dass ich mich mit ihm streiten musste.

Was wäre passiert, wenn ich mich mit ihm streiten würde? Er wäre natürlich sofort in Verteidigungshaltung gegangen und hätte alles abgestritten. Bei nächster Gelegenheit hätte er geschaut, wo er Fehler bei mir finden kann. Der Kreislauf des Krieges wäre in Gang gesetzt worden!

 

Die große, weite Welt dort draußen steckt voller Kriege. Wie soll es jemals auch nur ansatzweise friedlich und gemeinschaftlich zugehen, wie die Menschen zusammen wachsen, wenn der Krieg schon in jeder kleinsten Einheit einer menschlichen Behausung tobt? Der Handwerkskollege und ich werden auch in Zukunft gut miteinander auskommen, weil ich nicht mein Ego an ihm befriedigt habe, sondern ihm die Möglichkeit gab, sein Gesicht und sein Ansehen als Handwerker und Mensch zu wahren. Ich hätte ihn sicherlich bei der Wohngesellschaft melden können, aber wozu?

Man stellt niemals ein menschliches Wesen vor versammelter Mannschaft zur Rede. Jeder von uns hat seine ureigenen Probleme und den eigenen Tag zu überstehen. Die Dinge, die wir tun, tun wir aus einem inneren Antrieb und Grund, der uns mehr oder weniger bewusst und vertraut und in Fleisch und Blut übergegangen ist. Aus Gewohnheit, Prägung oder Tradition. Die persönlichen, zwischenmenschlichen Dinge, klärt man untereinander, damit sie Bestand bekommen und beständig bleiben. Sie verbinden uns persönlich. Es wird einem auch als Charakterschwäche ausgelegt, wenn man sich vor versammelter Mannschaft derart gehen lässt.

Was du nicht willst, was man dir tut, das füge auch keinem anderen zu. Was im Umkehrschluss bedeutet, was du gerne hättest, was man dir tut, das gestehe auch deinen Freunden zu. Empathie entwickeln!

 

Es gibt sicherlich unbelehrbare Menschen, die aus ihrer Kopfschleife nicht mehr herauskommen und die gleichen Fehler immer und immer wieder begehen. Während sie andere für dumm halten, erkennen sie ihre eigenen Fehler nicht, weil sie zur Selbstanalyse nicht fähig scheinen. Und es gibt Strickmuster.

Es gibt Menschen, die kennen eine Menge anderer Menschen, die sie ihre Freunde nennen, doch, wer von diesen Freunden ist wirklich da, wenn die Jahreszeit des Lebens sich einmal verfinstert und man jemanden braucht? Und es gibt Menschen, die kennen eine Menge anderer Menschen, doch, sie fühlen sich trotzdem immer einsam. Liegt es an den »falschen« Freunden oder der eigenen Einstellung und Sichtweise auf die Dinge im Leben, die wirklich zählen? Pflegt man Freundschaften und Beziehungen aufrichtig und wird diese Pflege erwidert?

Mein Vater hat seinen sechs Söhnen sein Leben lang vorgehalten, dass sie Dinge nicht kapieren, dass er ihnen rein gar nichts zutraut und sie zu dumm für alles sind. Ganz übel sind solche »Erziehungsmethoden« natürlich in der wichtigsten Prägephase einer Kindheit. Schlechtere und dauerhaftere »Lehren« kann man seinem Kind nicht mit auf den späteren Weg geben. Diese Aussage führte irgendwann dazu, dass sie es verinnerlicht haben und es heute noch glauben. Sie nehmen es mittlerweile als gegeben hin und akzeptieren es, kämpfen nicht einmal mehr dagegen an. Sie fügen sich ihrem Schicksal, das nicht das ihre ist. Jeder für sich genommen, sind es wunderbare Menschen und jeder von ihnen hat schlummernde, unterdrückte Talente und Fähigkeiten, die sich nicht entfalten konnten. Sie verkümmern!

Ist es wirklich so schwer, ja unmöglich, den miesen, alten Pfad zu verlassen und dem eigenen Leben eine bessere Richtung zu geben? Ewiges Opfer zu sein, heißt, die Rolle, die unsere Phantome der Vergangenheit uns zugesprochen haben, anzunehmen und in deren verschrobenen Sinn zur ewigen Tradition zu machen. Entwickeln!

Ich werde auch weiterhin um und für die Menschen kämpfen. Nicht, für die Unbelehrbaren, sondern für jene, in denen ich noch Hoffnung, Menschlichkeit und Potenzial erkenne. Und die von selbst nicht aus ihrer Kopfschleife und ihrem eingefahrenen Strickmuster herauskommen, weil ihr Kopf permanent von Zukunftsängsten, unerledigten Phantomen und andauernder Unterdrückung angefüllt ist. Und die nicht mehr glauben, dass da draußen wirklich noch etwas Besseres auf sie wartet, weil, das kann ja nicht sein, denn es war nie so.

Analysiere dich selbst so, wie du andere analysierst. Erkenne dich selbst so, wie du meinst, andere erkennen zu können. Entwickele dich. Ich praktiziere das selbst jeden Tag. Es ist ein permanenter Prozess. Wer aufhört besser zu werden, hat aufgehört gut zu sein!

Impressum

Texte: Ralf Dellhofen
Bildmaterialien: Ralf Dellhofen, Gregory-John McCormick (Itchy)
Cover: Ralf Dellhofen, Gregory-John McCormick (Itchy)
Lektorat: Ralf Dellhofen
Satz: heiße Ohren!
Tag der Veröffentlichung: 08.06.2018

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet all denen, die zwar manchmal schwächeln, so wie ich, aber immer wieder kämpfen...bis zum Umfallen oder bis zum bitteren Ende

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