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Logbuch Eintrag Nr. 1

Stell dir einmal vor, du wirst von einer Zeitarbeitsfirma eingestellt und sollst in einem Neubaugebiet mit im Bau befindlichen Wolkenkratzern an jeder Tür die Klingeldrücker montieren. An jedem Drücker befinden sich vier Schrauben und jeder einzelne Wolkenkratzer hat Tausende von Wohnungen.

Stell dir weiterhin vor, du bist morgens schon müde von der Menge der zu befestigenden Drücker, du arbeitest dort ganz alleine, ausgerüstet nur mit einem alten, abgenutzten Schraubendreher. Und du musst jede einzelne Wohnung mit je einem Klingeldrücker a vier Schrauben versehen.

Du weißt, du schaffst maximal fünfzig Wohnungen am Tag, während du aus dem Flurfenster der ersten Etage des Wolkenkratzers Nr. 1 schaust und siehst, dass nebenan schon wieder mindestens zehn neue Wolkenkratzer hochgezogen werden. Und das alles sollst du alleine bewältigen.

Bildlich umschrieben, war das mein Leben!

Ich hing bei meiner Mutter herum und schaute desillusioniert aus dem Fenster ihres Schlafzimmers. Wir nannten als Kinder die alten Leute, die mit dem Kissen unter den Ellenbogen gebettet aus dem Fenster schauten und die sich schrecklich langweilten, immer scherzhaft »Fenster-Tauben«. Jetzt war ich wohl die Fenster-Taube. Und ich war erst siebenundvierzig!

Im Hintergrund sprach meine Mutter aus ihrem Wohnzimmer zu mir und ich sagte nur »ja ja!«. Keine Ahnung, was sie schon wieder von mir wollte. Was es wieder Wichtiges, ja lebensbedrohliches gab.

Sie hatte gerade ihren achtzigsten Geburtstag gefeiert, ohne mich, denn ich wurde ausgeladen. Sie hörte auf den schönen Namen Helga-Elise-Charlotte und ist die Tochter eines Berufsmusikers, der am Staatstheater der ehemaligen DDR die erste Trompete geblasen hatte. Auch ihr Bruder, also mein Onkel, war über fünfzig Jahre Berufsmusiker. Mutter stöhnte ständig herum. Mein Vater, ihr Ehemann, lebte schon siebzehn Jahre nicht mehr. Und sie stöhnte immer noch. Ich musste auf Durchzug stellen und sie ignorieren. Als Kind durfte ich schon immer regelmäßig für sie einkaufen. Sie hatte nie das Haus verlassen. Sie ist weder gehbehindert, noch sonst irgendwie körperlich beeinträchtigt.

Unser Vater war ein krankhaft eifersüchtiger Alkoholiker. Mutter durfte nie aus dem Haus, durfte keine Freunde haben und war auch nicht ein einziges Mal mit dem Tyrannen in den Urlaub gefahren. Kannst du dir das vorstellen? Sie haben 1955 geheiratet und waren bis zu seinem Tod im Jahr 2000 nicht ein einziges Mal Urlaub machen?

Ich hatte jetzt bereits neunzehn Jahre keine Urlaubsreise mehr unternehmen können. Und ich drehte bald durch. Vater hatte sie mit sechs Söhnen »beschenkt« und ihr drei Fehlgeburten getreten. Ich war der Jüngste von den sechs Söhnen, obwohl ich mir oft wie eine der drei Fehlgeburten vorkam.

Die Mutter hatte zweimal Krebs und einen schweren Leberabszess, an dem sie fast gestorben wäre. Zum Geburtstag bekam sie von dem Tyrannen eins in die Fresse und zu Weihnachten einen schön verpackten Tritt in den Arsch. Wir Kinder übrigens auch. Es gab auch noch genügend kleinere »Geschenke« von ihm so über das Jahr. Manchmal hatte er so eine kleine, lustige Axt unter dem Kopfkissen, mit der er uns, wenn wir schliefen, überraschen wollte. Deswegen schlief ich die meiste Zeit sitzend auf den Holzstufen in unserem Treppenhaus. Ich empfand es auch als unheimlich entspannend und Lungen fördernd, wenn er betrunken nach Hause kam, ich mich schlafend stellte und er mir ein Kissen auf das Gesicht drückte, damit ich wach wurde und mir seine Art Späße anschaute.

Lachen fällt einem unheimlich schwer, wenn man nichts zu Lachen findet!

Ich wusste nicht, warum sich unsere Mutter niemals wirklich von dem Tyrannen hat scheiden lassen. Sie war zweimal bei einem Scheidungsanwalt, doch der Tyrann bettelte sie dann plötzlich wieder an, doch bei ihm zu bleiben. So blieb sie und wir ertrugen weiterhin seine Späße.

Meine Mutter und ich haben ihm schon einmal Quecksilber aus alten Fieberthermometern in den Nachtkaffee getan, damit wir ihn doch noch irgendwie loswerden. Nach einem durchkotzten Morgen ging es ihm aber rasch wieder besser. Unkraut vergeht nicht!

Jetzt war der Tyrann, der übrigens John Wayne sehr ähnlich sah, schon siebzehn Jahre tot. Und sie stöhnte immer noch, als ob sie gerade Sex mit seinem Geist hatte.

Nach dem Tod des Tyrannen musste ich zwangsläufig Ersatzvater spielen. Die fünf älteren Brüder waren zu nichts zu gebrauchen. Das, was unser Vater zu Lebzeiten seinen Söhnen nicht geben und vermitteln konnte, versuchte Mutter ihnen doppelt und dreifach wiedergutzumachen. Und erzog sich damit fünf verwöhnte und unfähige Idioten, die vom Leben und Überleben kaum eine Ahnung hatten. Sie wurstelten sich so durch. Mehr oder weniger gut. Lebten in den Tag hinein, ohne größeren Plan für eine nahe oder ferne Zukunft.

Ich schreibe bewusst von fünf Brüdern, weil ich sehr früh aus dem Elternhaus ausgezogen bin und selbständig mein Leben auf die Reihe bekam. Ich war gerade dreiundzwanzig, als ich die erste eigene Wohnung hatte, einen festen Job, eine schöne, voll ausgestattete Wohnung mit eigener Waschmaschine und Einbauküche.

Vor einigen Monaten wurde Mutter dann plötzlich pflegebedürftig. Sie bekam ein Arzneimittel-Exanthem am gesamten Körper. Ihr fiel die stark nässende und schuppende Haut in Lappen herunter. Während sie sich nicht aus dem Haus traute, nicht zum Arzt wollte, sahen die Brüder ihr wie dumme, unfähige Hunde dabei zu, wie sie langsam dahin witterte und schon Vergiftungserscheinungen bekam. Bis ich die Sache mal wieder in die Hand nehmen musste und eine Einweisung in die Hautklinik erzwang.

Nachdem ich mich vor siebzehn Jahren von ihr wieder einfangen ließ und unfreiwillig zum Ersatzvater hatte ausbilden lassen, musste ich mich nun seit einigen Monaten intensiv um sie kümmern. Ich war ohnehin schon seit siebzehn Jahren fast täglich bei ihr eingespannt. Nun war ich jeden Tag, von morgens um 08:00 Uhr bis abends um 18:00 Uhr bei ihr, an sechs Tagen die Woche. Sonntags schlief ich dann mal ausnahmsweise bis um 09:00 Uhr.

Meine Kumpels im Dorf zogen mich damit auf. Sie fragten ständig, wieso ich denn schon wieder zur Mutter fahre. Ob es mir denn im Hotel-Mama so gut gefällt, dass ich da ständig hin will. Ich habe mir nie die Mühe gemacht, es ihnen zu erklären. Sie würden damit hoffentlich, vielleicht in ähnlicher Form, einmal konfrontiert werden, wenn bei ihnen in der Familie so ein Fall vorlag.

Ich musste das eigene Leben fast komplett aufgeben. Und wieso?

Weil sich die fünf älteren Brüder nicht um unsere Mutter kümmerten. Sie waren zu unfähig und zu dämlich auch nur die geringsten Dinge für sie zu regeln. Sie brauchten drei Tage um bei ihr eine leere Scheißhaus Rolle auszutauschen. Drei der Brüder kauften gelegentlich für sie ein, aber erst, wenn unsere Mutter genügend gebettelt hatte. Sie kauften in getrennten Läden ein. Mutters Kühlschrank war danach aber immer noch leer. Worte wie »Organisation« und »Bevorratung« waren sowohl ihnen als auch der Mutter völlig fremd.

Ich kaufte für sie in einer halben Stunde mehr ein, als drei der Brüder zusammen in einer Woche. Wenn ich bei ihr spülte, den überquellenden Müllbeutel wechselte, den Küchenboden putzte und danach noch das Badezimmer säuberte, sah es am nächsten Tag dort schon wieder aus, als ob drei verzogene Kleinkinder geplanscht und gematscht hatten.

Ich traute ihnen durchaus zu, dass sie sich nach dem Onanieren noch nicht einmal die Hände wuschen. Sie brauchten eine ganze Woche, um der Mutter ein Rezept oder Geld von der Bank zu holen. Ich erledigte so etwas in einem Rutsch, innerhalb einer halben Stunde. Sie waren gesunde Burschen und ich war herzkrank.

Ich habe keine Ahnung, wie solche Missgeburten überleben konnten. Wie sie es überhaupt im Leben bis hierhin schafften. Hätte ja noch Verständnis mit ihnen, wenn sie jemals Verständnis für meine Lage und meine Gesundheit aufbrachten, wenn sie nicht immer so stinkend faul wären. Sie reagierten nicht auf Motivation oder Lob und Belohnung. Sie waren wie jene junge Welpen oder Kleinkinder, die unbedingt so lange nerven mussten, bis sie endlich bestraft wurden. Pervers, oder?

Am liebsten war es ihnen natürlich, wenn man sie in Ruhe ließ, wenn man sie möglichst mit nichts belastete und ihnen nichts auftrug. Das bewirkte bei ihnen dann, dass man sie mittags am Kiosk sitzen sah, wo sie Bier tranken. Abends kauften sie sich ihre sechs Flaschen Billigbier in Plastikflaschen und ihre Schmankerl für den Fernsehabend. Und zu einem gesunden Schlaf gehörte für sie ein Wecker mit einer schönen und sanften Melodie, die nicht vor 11:00 Uhr, besser noch erst gegen 13:00 Uhr erklingen durfte.

Korrespondenz funktionierte bei ihnen überhaupt nicht. Weder untereinander noch im Sinne unserer Mutter. Die einfachsten, zu erledigenden Briefe und Rechnungen blieben tagelang liegen. Manche davon Wochen. Man musste ihnen schon das Wort »Mahnung« mit einem Diaprojektor unter das Augenlid projizieren und selbst dann wurden sie erst so langsam wach, wenn der Zusatz »zweite« davor stand.

Sie taten für ihre Mutter, die jahrelang deren vollgeschissenen Kackwindeln entsorgt und deren Ärsche abgewischt hatte, nur das, was sie machen mussten, nachdem man es ihnen befohlen hat. Mutter konnte nichts befehlen. Der Tyrann hatte sie zu Lebzeiten dermaßen klein gehalten, dass sie ihren Kindern gegenüber nicht streng sein konnte. Sie war nicht einmal in der Lage nett Aufgaben zu delegieren. Ich musste es meinen Brüdern befehlen, obwohl ich der Jüngste war und selbst nichts befehlen wollte. Musste mich ständig zum harten Knochen, zum Arsch machen, nur, damit endlich etwas geschah.

Sie taten dann aber nur genau das, was man ihnen auftrug und keinen Handschlag mehr, bevor sie wieder in ihren Dämmerzustand verfielen. Und, ich spreche hier nicht von Kindern, sondern von erwachsenen Männern im heutigen Alter zwischen fünfzig und einundsechzig Jahren!

Wenn du jetzt vielleicht denken solltest, dass ich übertrieben hartherzig meinen armen Brüdern gegenüber bin, dann lade ich dich gerne einmal ein, nur einen einzigen Tag mit ihnen zu verbringen. Glaube mir, du kotzt nach nur einer Stunde!

Ich hatte unserer Mutter in den vergangenen Jahren so oft das Leben gerettet, während die stumme Bande da glotzend vor ihr saß und ihren Kaffee schlürfte. Den Kaffee bezahlte Mutter von ihrer Rente. Die Bande ließ sich ihre frische Wäsche einpacken, die Mutter regelmäßig für sie wusch. Waschmittel, Weichspüler, Strom und Wasser bezahlte sie natürlich auch. Und anstatt einen Arzt zu kontaktieren oder die 110 zu wählen, sah die Bande ihrer eigenen Mutter erst einmal ausgiebig beim Leiden zu, während sie sich vor Schmerzen wandte.

Und so blieb mir nichts anderes übrig, als Mutter in den vergangenen siebzehn Jahren regelmäßig beizustehen, damit wenigstens ich Dank ihr gegenüber Ausdruck verlieh, dafür, dass sie mich geboren und für mich gesorgt und mir einen Teil ihres Lebens geopfert hatte.

Im gleichen Zuge, wie die Brüder sie nun immer öfter alleine ließen, nahm ihre Angst und ihre Unsicherheit zu. Und die Arbeit sie zu pflegen wurde zu einer körperlichen und psychischen Tortur, die mich allein in den vergangenen fünfzehn Monaten ganze dreiundvierzig Kilogramm an Körpergewicht kostete.

Unsere Mutter war in den vergangenen drei Monaten in drei verschiedenen Krankenhäusern und zur Kurzzeitpflege in einer Pflegeresidenz. In Zweien der drei Krankenhäuser war ich mit ihr ganz alleine. Die Brüder hatten sich dort nicht ein einziges Mal blicken lassen. Ich wusch täglich ihre voll urinierte und voll geblutete Wäsche, erledigte alles für sie innerhalb der Krankenhäuser. Musste mich dort sogar noch das ein oder andere Mal von Ärzten und Pflegern kritisieren lassen, weil ich angeblich nicht genügend für sie tat, während die fünf Brüder bei Grillwurst und Bier in ihren Gärten saßen und die Sonne putzten.

Ich sorgte für ihre leerstehende Wohnung, weil die Brüder auch dorthin nicht mehr kamen. Es gab ja schließlich keinen kostenlosen Kaffee, keine frisch gewaschene Wäsche und kein kostenloses Essen mehr. Die Bienenkönigin war ausgeflogen und das Nest verwaist!

Man hatte unserer Mutter sogar das Portemonnaie in einem der Krankenhäuser gestohlen. Sie hatte kein Geld bei sich, ich musste ihr danach aber alle Papiere neu besorgen, musste sogar zu den »Freunden« bei der Polizei um dort Anzeige zu erstatten. Und das alles managte ich auch noch alleine.

Nebenbei wusch ich auch noch die Ohrenschmalz-Handtücher meines Bruders, der so lange regelmäßig zur Mutter kam, wie frischer Kaffee und warmes Essen auf dem Tisch stand, und er ihr von den Problemen mit seiner philippinischen Frau und den verzogenen Kindern erzählen konnte.

Als unsere Mutter dann vor circa zwei Monaten in das dritte Krankenhaus und danach in die Kurzzeitpflege kam, knickte ich selbst gesundheitlich ein. Ich wurde psychisch schwer labil. Dazu kam, dass ich monatelang mit einer verschlossenen Gallenblase herumlief, die bereits Magen, Nierenleiter, Leber, Bauchspeicheldrüse und Milz entzündet hatte.

Während mir kein anderer Ausweg mehr blieb, den Brüdern zum ersten Mal in unserer »Beziehung« zueinander mit gerichtlichen Schritten zu drohen, bewirkte eben diese Drohung, dass sie sich zwar allesamt gegen mich verschworen, ich aber letztlich damit ins Rollen brachte, dass sie endlich ihre faulen Ärsche in Bewegung setzten und anfingen ihrer Mutter zu helfen.

Zu der Zeit war ich längst im Krankenhaus um das eigene Leben zu retten.

Jetzt war unsere Mutter seit einem Monat aus dem Pflegeheim zurück. Sie konnte sich einfach nicht von ihrer viel zu großen Wohnung im zweiten Stock eines acht Parteien Hauses trennen. Es gab nicht einmal einen Aufzug in diesem Haus. Sie saß dort lieber weiterhin alleine, fügte sich in ihr ewiges Schicksal und stöhnte vor sich hin. Sie durfte ja nicht leben und hatte es auch jetzt noch nicht vor. Ihr Mann war erst siebzehn Jahre tot und sie musste weiterhin das beschissene Leben führen, das er ihr damals aufbürdete. Anstatt, dass sie sich nun endlich befreit und wenigstens die letzten Jahre ihres Daseins noch aktiv lebt und genießt.

Nun stöhnte sie wieder. Sie hatte immer noch keine Freunde, die sie besuchen kamen, außer dem Pflegedienst, der nun wenigstens nach ihr sah und sie regelmäßig wusch und ihr die Beine wickelte. Und der Ärztin, mit den schönen Brüsten, die alle zwei Wochen nach ihr sah und sie mit Pillen zuballerte, während ich akribisch aufpasste, dass man ihr keine Neuroleptika unterjubelte.

Die Brüder kamen zwar jetzt regelmäßig immer dann dorthin, wenn ich nicht da war und halfen ihr, doch rein organisatorisch gesehen, bekamen sie immer noch nichts auf die Reihe. Im Kühlschrank herrschte immer noch gähnende Leere und der Mülleimer quoll fast über.

Auch saßen sie immer noch, jeder für sich, zu Hause in ihren schönen Wohnungen, mit einer Matratze auf dem Boden, ihren ungewaschenen Ärschen auf einem einfachen Campingstuhl, der als Wohnzimmersessel reichen musste. Das Bier hatten sie im Waschbecken des Badezimmers, weil ihre Unfähigkeit nicht zuließ, sich einen einfachen Kühlschrank liefern zu lassen. Sie taten das, was sie schon immer gut konnten. Und worin sie einfach meisterhaft waren. Nichts!

Und die Brüder hassten mich noch mehr als jemals zuvor. Ich hatte hart für die drei Facharbeiterbriefe und den Meistertitel gearbeitet. Sie hatten nicht einmal einen Hauptschulabschluss, woran ich natürlich schuld war und nicht etwa ihre eigene Faulheit.

Und ich hatte sie und ihre Mutter angeblich im Stich gelassen, weil ich einfach so egoistisch und dreist war ins Krankenhaus zu gehen, nur, weil meine Gallenblase kurz vor dem Platzen stand.

Ich stand nun am Fenster im Schlafzimmer der Mutter und spielte Fenster-Taube.

Während sie drüben stöhnte und immer noch mit mir sprach, obwohl sie wusste, dass ich in ihrem Schlafzimmer am Fenster hing und sie gar nicht verstehen konnte. Sie war nicht die Spur dement. Sie löste immer noch die schwersten Rätsel und Sudoku, wusste noch alle ihre Daten abzurufen und machte uns allen noch etwas vor, wenn es um Gameshows im TV ging.

Und sie war immer noch meisterhaft darin, bescheiden und lieb zu tun, Leute clever gegeneinander auszuspielen, einem jede Menge kleine Aufträge zu geben und an der richtigen Stelle zu jammern, wenn etwas nicht so nach ihrer Vorstellung lief.

Sie lockte ihre Söhne gelegentlich mit kleineren Geldgeschenken oder der Ankündigung von finanzieller Unterstützung. Und das, bei ihrer kleinen Rente. Einer Verlockung, der ich regelmäßig entsagte, während die Brüder nur nichts annahmen, wenn ich zufällig in der Nähe war.

All diese Jahre und besonders die vergangenen Monate, ließ ich am geistigen Auge noch einmal Revue passieren, während ich an ihrem Fenster stand und in die Wolken schaute.

Plötzlich wurde meine Gedankenkette unterbrochen, als ich einen mir nicht unbekannten Hund sah, der unten auf dem Gehweg herumstolzierte. Ein kraftvolles, schön gebautes Tier.

Erst sah ich nur diesen großen, weißen Boxerhund. Der einzige dieser Art im Dorf. Danach die lange, braune Leine und dann das Frauchen, das zu dem Hund und der Leine gehörte.

Logbuch Eintrag Nr. 2

Ich hatte die sonderbare Eigenschaft mit fremden Hunden zu reden. Lächelte zwar auch kurz deren Besitzer an, um ihnen zu zeigen, dass von mir keine Gefahr ausging, doch dann sprach ich wieder leise mit den Hunden.

Mir war egal, ob mich die Besitzer der Hunde für etwas sonderbar hielten, solange es die Hunde nicht taten. Ich liebe Hunde. Hunde sind reine, liebe Seelen. Wenn ein Hund eine Macke bekam, war das in 99 Prozent aller Fälle die Macke des Besitzers.

Das Mädchen am anderen Ende der Leine hatte eine Macke, aber eine lustige!

Ich hatte sie schon einige Male von Mutters Schafzimmerfenster aus gesehen, aber bisher niemals von nahem und immer nur von der Seite oder von hinten. Sie ging wohl täglich dort mit ihrem Hund vorbei.

Alles an ihr war pure Hektik. Sie ging so schnell, als ob sie gerade immer einen Termin verpasste. Mal sprach sie laut mit dem Hund, dessen Name ich nicht wusste, dann sprach sie wieder mit sich selbst. Sprechen ist vielleicht nicht ganz das richtige Wort. Sie motzte vor sich hin, fluchte dabei. Schien über irgendetwas total verzweifelt und enttäuscht zu sein. Wahrscheinlich über das Leben generell. Ich war sofort Feuer und Flamme für sie, noch bevor ich ihr Gesicht überhaupt richtig zu sehen bekam.

Ich war manchmal selbst die Hektik pur. Doch meist nur, wenn man mich überforderte. Ich sprach die meiste Zeit und sehr gerne mit mir selbst, aber leise, da es mich beruhigte. Und im Fluchen hatte ich bereits auf der Schule eine Eins.

Viel Zeit sie mir richtig anzusehen, ließ sie mir nicht. So schnell, wie sie da unten entlang ging. Ich sah nur noch, dass sie weiß-schwarze Leggings trug, dass sie klein und ausgemergelt dünn war, dass sie rauchte und immer eine schwarze Schiebermütze trug.

Ihr Styling erinnerte an die 80er Jahre Wave-Punks in Berlin. Ich lief damals auch so herum. Viele Jahre übrigens. Auch gelegentlich in Berlin. Man bleibt sein Leben lang Schwarz und Punk. Das war nicht nur eine vorübergehende Modeerscheinung, sondern das war dein Leben. Und zwar für immer!

Als sie da unten fast am Haus der Mutter vorbei war, knutschte ich dem Hund laut hinterher. Ich dachte mir nichts dabei, es war eher Gewohnheit und reiner Reflex. Der Hund zuckte schreckhaft zusammen und sah mit seinen Blut unterlaufenen Augen zu mir hoch. Er war lieb, das merkte man sofort.

Das Mädchen drehte sich kurz um und sah verlegen zu mir hoch. Sie dachte wohl, der Knutscher galt ihr. Ich beschloss kurzerhand, dass der Knutscher beiden galt.

Ich sah nur kurz ihre Augen. Sie schien ein einfaches Mädchen zu sein. Ihre Haare waren irgendwie dunkelbraun, mit selbst gefärbten, blonden Lichtreflexen. Ihre Augen schienen schwarz zu sein, sofern ich das von dort oben am Fenster beurteilen konnte.

Ich konnte Frauen mit dunklen Haaren noch nie widerstehen. Und, wenn sie dann noch zusätzlich dunkle Augen hatten, schmolz ich direkt dahin. Meine große Liebe, Heike, hatte dunkelbraune Haare und fast schwarze Augen. Doch Heike war tot. Sie starb früh an Lungenkrebs. Heike starb mit einunddreißig.

Das Mädchen da unten gefiel mir außerordentlich gut, von dort oben betrachtet. Ich schätzte sie auf vielleicht fünfunddreißig. Plus minus zwei Jahre. Im Schätzen war ich stets gut gewesen. Auf meinen Baustellen konnte ich bis auf fünf Minuten die Uhrzeit erraten, wenn ich aus lauter Dusseligkeit mal wieder die Armbanduhr zu Hause vergessen hatte.

Nachdem das Mädchen verlegen zu mir hoch geschaut hatte und ich nichts weiter zu ihr herunterrief, fiel sie wieder zurück in ihre Hektik und zog an der Leine des Hundes, stupste seinen schwerfälligen Boxer-Hintern neckisch mit ihren Stiefeln und schimpfte und fluchte mit ihm.

Eine wie sie konnte ich auf dem Schiff meines Lebens gut gebrauchen. Sie war eindeutig ein wenig verrückt, so wie ich!

Aber mit welchem Lasso sollte ich sie einfangen, so schnell wie sie immer ging?

Ich war hin und weg von dem Mädchen. Und während ich noch nicht ganz mit meinen Gedanken am Ende war, hatte sie bereits das Ende der Straße erreicht, bog um die Ecke in Richtung Flussdamm und war weg.

Abends versuchte ich etwas im TV zu schauen, konnte mich aber auf nichts konzentrieren. Dann versuchte ich es mit lesen. Das half meistens.

Ich brauchte eine viertel Stunde um zehn Sätze zu lesen, musste den vorherigen Satz immer noch einmal nachlesen. Wusste gar nicht, was ich da jetzt gelesen hatte, worum es in dem Kapitel ging und wer überhaupt der Autor von dem Buch war, dessen Titel mir gerade nicht mehr einfiel.

Dann gab ich es auf, legte das Buch in die Schublade des Sekretärs und ging schlafen. An Schlaf war gar nicht zu denken. Was war los mit mir?

Ich dachte die ganze Zeit an die flüchtige Begegnung mit einem mir völlig fremden Mädchen, mit dem ich nie gesprochen hatte, von der ich nicht einmal den Namen kannte. Geschweige denn, den Namen ihres Hundes. Und von der ich von weit unten, von der Straße aus, nur mal einen kurzen Blick zugeworfen bekam.

Was war nur los mit mir? War ich verrückt? War ich so einsam, dass sich meine Seele schon von einem einzigen Blick ernährte? Einem Blick, den sie wahrscheinlich vielen Menschen an einem Tag zuwarf und der für sie das normalste Ding der Welt war!

Ich hatte so viele schlechte Versuche unternommen, die Frau fürs Leben zu finden, nachdem ich Heike verloren hatte. Habe mir die meisten Chancen stets selbst verbockt und mich dämlicher angestellt, als es sein musste, als die ganze Sache überhaupt wert war.

Ich hatte irgendwann aufgegeben und wollte von Beziehungen und trauter Zweisamkeit rein gar nichts mehr wissen. Hatte mir fest vorgenommen niemals mehr der Verlockung und dem Schmerz des Verliebtseins zu verfallen! Ein Schmerz, der für mich oft mehr weh tat, als jeder gewöhnliche Knochenbruch. Und jetzt war ich wieder einmal auf dem besten Wege mich zu verlieben? Ich wollte das nicht!

Wollte kein weiteres Chaos in mein Leben gebracht haben. Ich kam ohnehin kaum mit mir selbst zurecht, wie sollte ich mich dann liebevoll und aufopfernd um ein Mädchen kümmern? War die Liebe in mir nicht längst tot?

Ich musste die Gedanken an sie verdrängen, bevor das Fieber kam. Gedanken, an dieses einfache Mädchen von der Straße, das vielleicht auch schon den ein oder anderen Schiffsbruch erlitten hatte und ihrer Liebe kaum noch eine reale Chance gab. Und die vielleicht einen guten Lotsen brauchte und jemanden, der ihr half, das Schiff ihres Lebens zu reparieren.

Ich musste sie vergessen!

Logbuch Eintrag Nr. 3

Am darauffolgenden Tag saß ich alleine im strömenden Regen an der Bushaltestelle vor Mutters Haus. Eines ließ ich mir nicht entgehen. Bei strömendem Regen im Freien zu sein.

Hatte wohl mehr von einer Pflanze oder einem Baum, als von einem Menschen. Brauchte den Regen, wie eine Pflanze ihr Wasser.

Ich hatte eben die Mutter mit Frühstück von der Bäckerei nebenan versorgt und jetzt erst einmal »Freizeit«. Ein Diskopumper fuhr mit seinem Fahrrad vorbei. Ich sah ihn manchmal im Fitnessstudio hier nebenan, wo er mit den Mädels Aerobic machte. Das heißt, er versuchte es zumindest, weil er nach fünf Minuten am Arsch abbrach, während die Mädels sich gerade warm gemacht hatten. Er fuhr mit dem Fahrrad vorbei und zog ein Gesicht, als ob er gerade im Begriff war sich aufzulösen. Der Regen setzte diesem echten Kerl wohl mächtig zu. Was für traurige Waschlappen!

Ich sah von dem Mädchen mit dem weißen Boxer noch nichts. Ich war extrem schüchtern und wünschte mir insgeheim, dass sie heute hier nicht vorbeikam. Keine Ahnung, was ich ihr hätte sagen sollen. Ein simples »Hallo« würde mich schon schwer in Verlegenheit bringen.

Ich konnte äußerst dreist und schlagfertig Menschen gegenüber sein und auch Frauen gegenüber. Aber nicht gerade, wenn ich auf dem besten Weg war mich in jemanden zu verlieben. Das war für mich eindeutig zu viel!

Weit und breit war kein weißer Boxer am Horizont zu sehen. Nicht einmal eine Leine und sie schon gar nicht. Wartete zwei ganze Busse ab und die Busfahrer wurden schon langsam sauer, weil ich immer vergaß, sie durchzuwinken. Sie hielten extra für mich an. Dabei hatte ich auf einer dieser Bänke hier an der Bushaltestelle schon vor circa fünfunddreißig Jahren mit unserer Gang gesessen und Bier getrunken. Da waren einige der Busfahrer wahrscheinlich noch nicht geboren oder liefen erst mit ihrer Blechtrommel um den Weihnachtsbaum.

Ich wollte gerade gefrustet den Rucksack nehmen und gehen, da fuhr das Mädchen mit ihrem Discounter-Fahrrad an mir vorbei. Man konnte es nicht als fahren bezeichnen, sie blitzte vorbei. Wieder konnte ich ihr Gesicht nicht vollständig erkennen. Würde ich sie jemals richtig und von nahem betrachten können?

Sie hielt mit ihrem Fahrrad am Haus gegenüber der Straßenseite an, pfiff laut auf ihren Fingern zu einem der Balkons hinauf, pfiff noch einmal, bekam aber keine Antwort. Dann fluchte sie wieder laut vor sich hin, schwang sich auf ihr Fahrrad und blitzte wieder an mir vorbei.

Als sie vorbeifuhr, schaut sie kurz schräg herüber und nickte mir kurz zu. Ich sah nur ein paar braune Augen unter einer Schiebermütze hervorlugen. Die sahen etwas enttäuscht und ernst aus.

Dann war sie auch schon wieder weg!

Logbuch Eintrag Nr. 4

Nur einen Tag darauf hatte ich sie schon etwas vergessen. Fand mich damit ab, dass der Typ, den ich abends noch auf besagtem Balkon gegenüber des Hauses meiner Mutter sah, eventuell ihr Freund war.

Jede Frau hat einen Freund. Wieso auch nicht! Jeder Schwule hatte seinen Freund und jede Lesbe ihre Freundin. Oder mehrere, je nachdem. Nur ich Idiot, der nicht mal so schlechte Qualitäten hatte und auch nicht besonders hässlich war, blieb alleine. Ob man mir meine Verachtung auf den Großteil der Menschen erschnüffeln konnte?

Oder verteilten die Götter die Männer und Frauen untereinander und gaben mir nichts ab, weil ich eben nichts verdient habe? Weil ich ihrem veralteten Masterplan nicht folgen wollte?

Ich schwang mich aufs Motorrad und fuhr zu einem anderen Flussdamm, um die Gedanken zu ordnen.

Wir hatten hier drei Flüsse, die ineinander flossen. Ein kleinerer, der in einen mittleren floss und dann in den Rhein mündete. An Flüssen, Flussdämmen, Natur und Bänken zum Sitzen, mangelte es hier nicht.

Ich fuhr von der Garage, wo das Motorrad stand, an einem unserer Büdchen vorbei. Es war Mittag und einige Handwerkskollegen standen dort, drehten sich belegte Brötchen rein und tranken ihr erstes Bier. Ich nickte ihnen kurz zu, obwohl ich kaum jemanden von ihnen kannte. Handwerker-Ehre!

Mitten unter ihnen stand das Mädchen mit dem weißen Boxer. Der Boxer kaute an einem zähen Stück Brötchen herum, das einer der Handwerker ihm wohl gegeben hatte.

Das Mädchen unterhielt sich laut mit ihnen und alles lachte. Sie fuchtelte wieder hektisch mit den Armen herum und sprach laut und ordinär. Was sie sprach, konnte ich nicht verstehen. Ich hatte nur den Eindruck, dass sie das lockere Gespräch mit den Handwerkern genoss, während die sie anschauten um abzuchecken, ob sie wenigstens zu einem kurzen, harten Fick zu gebrauchen war. Man nahm sie sichtlich gar nicht ernst.

Aber vielleicht reichten ihr die Gespräche mit den Handwerkern auch. Vielleicht war sie auch auf nichts Weiteres als einen schnellen, harten Fick aus.

Doch wie kam es dann, dass sie enttäuscht, fluchend und voller Hektik durch ihr Leben lief? Für mich war das eindeutig ein sichtlicher Beweis von Unzufriedenheit.

Vielleicht war sie auch noch weit irrer, als ich es war. Vielleicht war Hektik und Fluchen bei ihr keine Berufskrankheit, wie sie es bei mir war, sondern eine echte Geisteskrankheit.

Ich fuhr langsam weiter, ohne sie zu grüßen. Sie sah mir auch gar nicht nach.

»Viel Spaß bei deinem schnellen, harten Fick mit den Handwerkern«, dachte ich mir noch.

Es war im Leben nicht förderlich sich zu viele Gedanken zu machen. Es war auch nicht förderlich allzu intelligent zu sein. Zumindest nicht öffentlich. Es brachte einem oft nur Ärger ein. Die einfachen Arbeiter, die sich nicht viel Gedanken machten, sondern einfach nur ihr Leben lebten und jede Gelegenheit voll konsumierten, waren oft die Glücklichsten.

So vergaß ich sie schnell wieder und fuhr zum Flussdamm.

Logbuch Eintrag Nr. 5

Am großen Flussdamm machte ich mir, wie so oft, Gedanken über alles. Ich nannte das nicht Brainstorming, sondern scherzhaft »Kopfwichsen«.

Es gehörte zu mir, wie die Liebe zum Regen und zu den Tauben auf dem Dach. Meine tägliche Dosis Kopfwichsen gib mir, oh Herr!

Ich hatte den Großteil der Kindheit in Büchereien und Antiquariaten verbracht. Während die Jungs sich auf dem Bolzplatz in die Zähne kloppten oder sich ihre verschorften Wunden zeigten, las ich Biografien über Maler, Musiker und Autoren. Während sie in der Disko herumzuckten, wie Epileptiker, hörte ich im stillen Kämmerlein über Kopfhörer Jazzmusik. Während sie Dirty Dancing sahen, den ich nicht ein einziges Mal sehen wollte, sah ich Filme mit Fred Astaire und den Hollywood Diven.

Ich weigerte mich auch strikt, Bücher übers richtige Flirten zu lesen. Vielleicht hätte ich das mal besser machen sollen, aber das alles wirkte auf mich so fantasielos, so künstlich.

Ich war der Meinung, man sollte sich so natürlich geben dürfen, wie man eben war. Flirten war für mich, als ob jemand versucht dir ein gebrauchtes Schrottauto, als Neuwagen zu verkaufen. Was war daran ehrlich? Man missbrauchte sein Gegenüber mit falschen, verschönten und verschleierten Worten, die weder einem selbst noch dem Gegenüber zu Gesicht standen. Anstatt, dass sich jeder Mensch von vornherein so gab oder geben durfte, wie er eben war. Und damit von Beginn an klarstellte – das bin ich! So wie du mich jetzt siehst und kennenlernst, so bin ich auch! Könntest du damit leben, oder nicht?

Beziehungen fangen ja meist ganz nett an. Jeder styled sich schön, malt sich die verfaulten, stinkigen Zähne weiß an. Klatscht sich pfundweise Make-up und Parfüm ins Gesicht, trägt zum ersten Rendezvous Klamotten, die man noch nie zuvor aus dem Schrank gekramt hatte. Übermalt sich die verpilzten Fußnägel und legt sich tolle Worte für das bevorstehende »Verkaufsgespräch« zurecht. Und wozu diese ganze Lüge, die ohnehin früher oder später auffliegen wird? Nur, damit man einmal bis zweimal abspritzen konnte, damit man einen weiteren Eintrag ins Trophäenbuch vornehmen kann?

Und nur, weil ich diesen ganzen Zirkus nicht ehrlich fand und nicht mitmachen wollte, weil ich die Frauen ernst nahm, war ich alleine? Nur weil ich so kreativ war und eigene Ideen zum Kennenlernen entwickeln wollte, die in keinem Buch standen, weil ich eben so fantasievoll war, mir selbst was ausdenken zu wollen, passte mein Schlüsselcode auf keine Menschen?

Noch gestern sah ich eine neue Statistik in den Nachrichten. Jeder dritte Mensch in Deutschland gibt zu fremd zu gehen. Ja wieso denn bloß? Ich war in meinem ganzen Leben nicht ein einziges Mal fremd gegangen. Und das war ich dann wohl auch selbst schuld, oder?

Und das alles nur, weil ich kein fantasieloser Egoist war, der so ehrlich blieb, den Mädchen kein altes Auto als Neuwagen verkaufen zu wollen. Kranke Welt, oder?

Ich küsste den Tank des Motorrads. Ein vorbeikommendes, älteres Ehepaar sah mich an, als ob ich sie nicht mehr alle habe. Ein anderes Paar sah es auch und lobte mich für das schöne, alte Motorrad.

Gab es noch Hoffnung für die Menschen? Oder war alles nur noch ein einziger Konsum!

Logbuch Eintrag Nr. 6

Es war Freitag und ich fuhr mit der alten Peugeot Limousine auf den Parkplatz vor Mutters Mietshaus. Ich wollte gerade aussteigen, da ging das Mädchen mit dem weißen Boxer an meinem Wagen vorbei. Ich blieb im Auto sitzen, bis sie vorbei war. Sie schaute zurück auf den Wagen.

Dann stand sie wieder unterhalb des Balkons und pfiff und rief zum Balkon des Typen hoch, von dem ich nicht wusste, ob es ihr Freund oder ihr Bruder war. Sie bekam wieder keine Antwort. Fluchend ging sie an meinem Auto vorbei.

Nachdem ich die Mutter versorgt hatte, machte ich mich mit dem Rucksack auf in Richtung des kleinen Flussdamms, der direkt hinter dem Haus entlang führte.

Ich sah das Mädchen auf der großen Wiese mit ihrem Hund. Sie sah mich und nickte mir kurz zu. Sie redete mit mir über irgendetwas, was ich nicht verstand, weil sie viel zu weit weg war. Ich hob die Hand und antwortete, »ja, das stimmt!«. Keine Ahnung, wovon sie sprach. Ich wollte es aber trotzdem erwidern.

»Ja, das stimmt!«, passte wohl nicht ganz als Antwort und sie musste es gemerkt haben. Sie drehte sich desinteressiert weg und fluchte und schimpfte wieder mit ihrem Hund. Der sah an ihr hoch und wusste gar nicht, was er angestellt hat, außer da zu stehen und abwechselnd an den Blumen und an ihrem Bein zu schnuppern.

Wie gerne wäre ich mal einen Tag an der Stelle des Hundes gewesen. Ich hätte mich ganz und gar nicht beschimpfen lassen, so viel steht fest! Aber ihr Fluchen und das Schnuppern an ihr würde mir schon gefallen. Soviel stand auch fest!

Ich ging weiter zum kleinen Flussdamm und spazierte dort mehr als eine ganze Stunde entlang. Dass sie mich gegrüßt und zu mir etwas gesagt hatte, was es auch immer war, reichte schon wieder aus, um die Fantasie, das ewige Kopfwichsen, das Gedankenkarussell kreisen zu lassen.

Konnte man einen Menschen mit den eigenen Gedanken an ihn misshandeln? Wenn die Gedanken rein, aufrichtig und ehrlich waren? Sie waren doch nur in meinem Kopf und niemand sollte je davon erfahren, wenn ich sie nicht eines Tages aufschreiben und veröffentlichen würde. Ob ich das einmal mache?

Mein Leben war schon zu sehr von Träumen geprägt. Von Tagträumen noch weit mehr, als es von den Träumen in der Nacht bestimmt war. Ich hatte nachts kaum noch Träume, wenn ich recht überlegte. Oder, sie kamen mir am Morgen danach nicht mehr ins Bewusstsein. Früher hatte ich abwechselnd Flugträume und auch Alpdrücken. Die Flugträume waren wunderbar und ich vermisse sie heute, obwohl Sigmund Freud mir einmal erzählte, dass Flugträume einen sexuellen Hintergrund haben. Auf ständiges Alpdrücken und die dabei empfundenen Visionen konnte ich getrost verzichten. Auch sie sind mittlerweile ganz verschwunden.

Und so hing ich eben meinen Tagträumen nach, die so zahlreich waren, dass ich mir damit bereits eine eigene Welt geschaffen hatte, in der ich die meiste Zeit herum hing und lebte.

Und die mir langsam gefiel!

Logbuch Eintrag Nr. 7

Mit jedem verstreichenden Tag, an dem ich sie nicht sah, mit jeder neu erdachten Geschichte und Mutmaßung über sie, wurde ich immer unsicherer darüber, ob ich sie jemals wirklich kennenlernen würde. Und, ob sie überhaupt nur annähernd so war, wie Eindruck und Geschichte im eigenen Kopf es zuließen.

Es vergingen Tage, an denen ich nichts von ihr sah oder sie nicht von mir. Je nachdem, wie man es sehen wollte.

Ich hatte mal wieder einen anstrengenden Vormittag bei der Mutter hinter mir und musste raus, bevor ich anfing einen Wohnungskoller zu entwickeln. So ging ich zum kleinen Flussdamm.

Ich hatte im Grunde genommen keinen Nerv irgendjemanden dort zu treffen. Wollte einfach einmal abschalten und den Kopf freibekommen. Nachdem ich eine ganze Stunden gewandert war, kam ich die Schleife über den Damm zurück ins Dorf.

An der letzten Bank des Damms stand das Mädchen mit dem weißen Boxer. Sie warf gerade einen Stock für den Hund. Ich hatte ihn noch nie so quicklebendig gesehen, wie an diesem Tag. Er schien mir immer etwas depressiv. Wahrscheinlich musste man morgens, nach dem Aufstehen, erstmal einen kleinen Spiegel vor sein Gesicht halten, um zu sehen, ob dieser Spiegel noch Beschlag hatte und der Hund noch lebte.

An diesem Tag sprang er vergnügt dem Stock hinterher. Das Mädchen warf den Stock absichtlich in den Bach, damit er sich nass machen musste. Sie hatte eine leicht zänkische, sadistische Art, so vermutete ich. Wohl eher aus Unzufriedenheit.

Da er den Stock nicht direkt mit der Pfote aus dem Wasser ziehen konnte, musste er, wohl oder übel, ins kalte Wasser springen. Ich sah sie das erste Mal lachen.

Sie war allein, wie immer. Ich wäre sicher an ihr vorbeigegangen, aber sie sprach mich einfach an. Sie sagte, »herrliches Wetter zum Spazieren!«. Dann fügte sie noch hinzu, »zum Glück regnet es nicht wieder!«.

Oh je! Mit der Bemerkung über den Regen konnte sie bei mir nicht ganz punkten. Ich liebe Regen, bin stark pluviophile, seit der Kindheit bereits.

Ich antwortete ihr, »schade, dass es nicht regnet, ich liebe Regen!«.

Sie sah mich einen kurzen Moment so an, als ob sie prüfen muss, ob sie mal wieder jemand verarscht. Als ich mir nichts anmerken ließ, nahm sie es eben hin.

So kamen wir zu unserem ersten Gespräch.

Sie begann zu plaudern und ich merkte, dass sie nicht wirklich jemanden hatte, der ihr Verständnis entgegenbrachte. Und wahrscheinlich nicht einmal richtig zuhören konnte oder wollte. Sie sprach gehetzt und erschöpft, klagte in einer Tour. So etwas kannte ich bis dahin nur von mir selbst oder meiner Mutter. Mutter hatte mir diese schlechte Angewohnheit beigebracht. Ich versuchte sie mühsam zu unterdrücken und ganz loszuwerden.

Ich erfuhr zwar immer noch nicht ihren Namen und auch nicht einmal den Namen des Hundes, aber mir würde schon ein Name für sie einfallen, in meinen Träumen. Und den Hund nannte ich eben »Boxer«, wie auch sonst?

Sie erkundigte sich, was ich denn so beruflich mache, weil ich immer noch mit einer schwarz-grauen Arbeitsjacke herumlief. Ich sagte ihr, dass ich selbständiger Malermeister war und jetzt in EU-Rente bin, weil ein Herzschrittmacher notwendig wurde.

Ich konnte einfach das Maul nicht halten. Kam selbst so wenig zum Reden, mit den Menschen, dass ich immer gleich alles brühwarm ausplauderte und ihnen die halbe Lebensgeschichte in einem Satz vermittelte. Wen interessierte schon mein doofer Herzschrittmacher?

Die Leute hatten selbst ihre ureigenen Probleme und mehr als genug zu bereden. Sie bedauerte mich kurz und erkundigte sich sehr höflich nach meinem Alter. Ich sagte ihr, dass ich schon siebenundvierzig Jahre alt bin.

Sie sagte, »so jung und schon einen Schrittmacher?«.

Ich gab mit meiner Krankheit ein wenig an und erwiderte, »den habe ich schon seit sieben Jahren, der tut mir aber nicht weh. Was sein muss, muss eben sein!«.

Dann schaut sie mir zum ersten Mal von da unten tief in die Augen. Sie hatte wunderschöne Augen, klar und ehrlich. Ich konnte schon immer gut in Gesichtern lesen und las in ihrem, dass sie schon einiges mitgemacht haben musste. Sie hatte keine großen Falten und war alles andere als hässlich. Aber es gibt bestimmte, kleinere Linien, um den Mundwinkel und die Augen herum, aus denen sich schließen lässt, dass man oft in Augenblicken der Anspannung und des Kummers lebte oder gelebt hat.

Ihr Gesicht war auf seine Art schön. Sie hatte etwas von einem verschmitzten, jungen Mädchen. Als ich mich, in Bezug auf ihr angenommenes Alter, gerade bestätigt fühlte, sagte sie zu mir, »ich bin schon fünfundfünfzig«.

Ich konnte und wollte ihr das nicht abnehmen. Das nette, kleine Puppengesicht, das mich von da unten anschaute, sollte fünfundfünfzig Jahre alt sein?

In Bezug auf ihr Alter machte ich ihr ein ehrliches Kompliment. Ich machte nicht oft Komplimente und warf damit auch niemals leichtfertig herum. Auch gab es bei mir so etwas wie »Schmeichelei« nicht. Schmeichelei ist Eigennutz, sie ist unehrlich und verlogen. Sie ist das genaue Gegenteil eines Kompliments. Wenn ich etwas ehrlich zu loben fand, sagte ich das auch. Ansonsten hielt ich mich eher zurück und sagte lieber gar nichts dazu.

Nach meinem Kompliment bezüglich ihres Alters, schaute sie mir wieder tief in die Augen und man sah förmlich, wie eine bereits im Stadion des Verblühens befindliche Blume ihre Frische und Schönheit wiedererlangt.

Sie sah mich erneut so an, als ob sie prüfen muss, ob ich sie nicht doch verarschen will. Aber ich meinte es ganz ehrlich.

Dann war sie beruhigt. Sie gab sich höflich und dankbar. Höflichkeit und Dankbarkeit sind die Früchte der feinen Leute. Man muss nicht reich und adelig sein, wenn man nur einige, wenige Regeln im Umgang mit Menschen beherrscht. Nur ein paar klitzekleine Eigenschaften erkennen ließ. Und die besaß sie ohne Zweifel! Sie wollte wissen, wo ich wohne. Sie nahm an, dass ich im Haus meiner Mutter wohnen würde. Ich sagte ihr, dass ich meine Mutter pflege, weil meine Brüder sich nicht ausreichend um sie kümmern. Ich konnte das Maul einfach nicht halten und posaunte dieser mir doch noch fremden Frau alles aus. Aus reinem Frust und Vertrauen.

Sie fluchte über die Bande von Brüdern und lobte mein edles Verhalten. Dann sagte sie etwas, dass mich kurz stutzig werden ließ. Sie sagte, dass sie gerade zur Probe in einem Altenheim gearbeitet hatte und sie es dort aber nicht aushielt. Die schwere Arbeit mit den alten Menschen hätte sie schnell an die Grenze ihrer Leistungsfähigkeit gebracht. Sie würde es aber noch einmal zur Probe in einem anderen Altenheim versuchen wollen.

Mich machte es stutzig, wenn eine mir unbekannte Person auf meinen Lebensweg einging. Ich wusste nicht, ob das, was sie mir da erzählte, tatsächlich stimmte, oder ob sie die Geschichte mit den alten Menschen deswegen erfand, weil ich ja meine Mutter pflegte. Ob sie mir praktisch diese Geschichte auftischte, damit ich gut über sie dachte und sie mir damit gefallen könnte.

Mir war immer sehr daran gelegen, dass die Menschen mir gegenüber absolut ehrlich sind. Man konnte mich kaum beleidigen. Außer, wenn man mich belog oder mir Dinge nicht zutraute. Beides war für mich ein totaler, unüberwindbarer Vertrauensverlust!

Dem Menschen, den man belog oder dem man etwas bewusst verschwieg, traute man automatisch nicht zu, dass er mit der Wahrheit umgehen kann. Und nicht mit der Wahrheit umgehen zu können, hieße gleichzeitig, dass man ihn für unfähig hielt.

Sie wollte dann wissen, was ich denn zurzeit so mache. Ich sagte ihr, dass ich manchmal einem befreundeten Malermeister stundenweise helfe, auf Euro 450,00 Basis.

Sie bedauerte, dass sie gerade eine neue Wohnung unter dem Dach, gleich in der Straße meiner Mutter bezogen hat und dort gut einen Maler hätte gebrauchen können. Ob sie jeden Handwerker so einspannte? Vielleicht auch die Jungs vom Büdchen? Ein reines Abchecker-Mädchen? Was ich habe, habe ich?

Während sie da so redete, zweifelte ich etwas an ihrer Aufrichtigkeit. Hatte sie Interesse an mir, weil sie einen Maler gebrauchen konnte? Oder einen schnellen, harten Fick? Wenn man mir reinen Wein einschenkt, bin ich auf dafür gerne und oft zu haben. Auch ich bin ein Mann und habe damit überhaupt keine Probleme. Besser, man klärt die Interessen vorzeitig.

Ich war ein guter Maler, ließ mich aber weder direkt einspannen noch irgendwie ausnutzen. Dafür war ich dann doch zu gerissen und zu schlau so einen Versuch zu bemerken. Hilfsbereit war ich alle Male, doch musste man mir gegenüber auch hilfsbereit sein und mein Vertrauen und meine Freundschaft erst einmal mit ein klein wenig mehr, als nur mit einem flüchtigen, netten Gespräch verdienen.

Vielleicht war ich auch aus dem Grund alleine, weil ich ein wählerischer Idiot in Bezug auf wahre Freunde war!

Der Boxer kam aus dem Wasser und schüttelte sein nasses Fell genau neben mir aus. Sie schimpfte und fluchte mit ihm und ich konnte ihr alles verzeihen.

Der beste Sex mit ihr, so empfand ich es, würde sein, wenn sie mich eine Stunde lang mit Flüchen belegt. Ich war vielleicht doch etwas pervers?

Sie kam ins Plaudern und wurde immer jünger und frischer. Gleichzeitig ließ sie endlich einmal von ihrer fahrigen Art mit den Armen zu fuchteln ab und verlor sogar ihre Hektik. Ihr Gesicht entspannte sich merklich. Es bekam jugendliche, strahlende Züge und ihre Stimme wurde zunehmend entspannter und ruhiger.

Und das alles nur, weil ihr endlich einmal jemand nur zuhörte und ihr Verständnis entgegenbrachte. So einfach waren verrohte Menschen gestrickt. Mit einem offenen Ohr und ein paar Blumen konnte man ihr Herz und ihre Seele reinigen. Und das hatte ich bei ihr wohl irgendwie geschafft. Ohne, dass ich bewusst etwas dazu tat, außer dort zu stehen und ihr zuzuhören.

Wir kamen noch auf einige Themen mehr zu sprechen. Sie sagte, dass sie kaum Geld hat und das die beim Arbeitsamt sie sanktioniert hatten und sie nun hier und da Schulden in der und der Rate zurückzahlt. Ich gab ihr da einige nützliche Tipps, wie man gegen diese Bastarde angehen muss. Ich hatte all diese Geschichten selbst hinter mir. Der Vorteil, der sich mir dabei bot, war, dass ich selbst einmal für zwei Jahre beim Arbeitsamt gearbeitet hatte und wusste, wie unsauber und link diese Institutionen ticken. Bei mir hat sich kein Amt der Welt je getraut mich zu sanktionieren oder mit einer Sperre zu belegen. Dafür war ich viel zu clever und hatte viel zu viele Bücher im Kopf. Man muss nicht besonders schlau sein und man muss nicht alles wissen. Man muss aber zumindest wissen, wo alles steht. Und die Bücher hatte ich alle gelesen!

Sie war Feuer und Flamme für einige der Tipps, sah wieder Hoffnung in Bezug auf ihre Armut und ihre zahlreichen, viel zu hohen Raten.

Ich hatte im zurückliegenden Leben immer nur genau so viele Schulden gemacht, wie ich auch zurückzahlen konnte. Wenn ich etwas nicht unbedingt benötigte, schaffte ich es mir erst gar nicht ab. Ich las nur sehr wenige Prospekte, schaute im Fernsehen keine Werbung. Zahlte die wenigen Raten, die ich hatte, immer erst korrekt ab, bevor ich mir was Neues, unbedingt notwendiges anschaffte. Denn auch viele kleine Raten pro Monat ergaben eine große Summe am Ende der Abrechnung.

Sie hatte wohl nie eine Ausbildung gemacht. Sie hatte ein ganz gutes Abitur gemacht. Ich war nur Hauptschüler gewesen. Habe meine mittlere Reife auf der Abendschule nachgemacht. Sie hatte keinen Beruf gelernt, sondern nur hier und da gekellnert. Welche Frau hatte das nicht!

Ich wusste nicht, wie lange wir bereits dort gestanden haben. Wie viel Zeit vergangen war. Hörte ihr so gerne zu, obwohl ich eine meiner besten Eigenschaften schon verloren hatte. Konnte damals stundenlang zuhören, ohne selbst reden zu müssen. Mit den Jahren habe ich diese gute und nützliche Eigenschaft immer mehr verloren. Vielleicht auch deswegen, weil ich mich, wie die Kumpels im Dorf immer sagten, zu viel bei meiner Mutter aufhielt und mir diese ständig die gleichen Dinge vorjammerte.

So verlor ich mit den Jahren die Fähigkeit zuhören zu können. Wer anderen zuhört, kann viel lernen und schafft sich viele, dankbare und echte Freunde.

Während sie mir eine Leidensgeschichte aus ihrem Leben nach der anderen erzählte, wurde mein Wunsch endlich den Hund zu streicheln immer größer. Er schnupperte schon an der Arbeitsjacke, verlor aber sein Interesse schnell, da ich ihn nicht hinter den Ohren kraulte. Er hatte mir schon seinen Kopf eine ganze Weile hingehalten.

Ich unterbrach das Mädchen ab und zu, um auch einmal zu Wort kommen zu können. Ich sagte ihr, dass die ganze Welt verrückt geworden ist. Und jene, die uns für verrückt halten, die eigentlichen Verrückten sind. Sie stieg da erst nicht ganz durch. Ich auch erst nicht. Dann fanden wir es aber beide ganz gut und sinnig.

Anschließend setzte ich noch einen drauf und sinnierte:

»Sag einem neuen Freund ruhig, was du magst,
er könnte dich damit beschenken.
Aber sag ihm niemals, was du hasst,
er könnte es später als Waffe gegen dich verwenden!«.

Das war einer der vielen Sprüche, die ich so an einem Tag erfand.

Sie hielt mich wohl für eine Art modernen Poeten und ich schätze mal, damit lag sie gar nicht so falsch!

Mit jedem Leid, dass mir das kleine 55-jährige Mädchen da klagte, kam eine andere, schlechte Eigenschaft in mir wieder zum Vorschein. Ich hatte einen krankhaften Beschützerinstinkt. Eine Art »Samariter Effekt«.

Wenn es jemand geschafft hat, Vertrauen und Mitleid bei mir zu wecken und damit den Samariter Effekt aktiviert, kann ich extrem beschützend sein. Und die Leute, die der Person, die ich dann unbedingt beschützen muss, ein Leid antun, haben verdammt schlechte Karten. Das sind dann meist Momente, in denen die Polizei kommen muss.

Ich hatte halbwegs gelernt mit dieser schlechten Eigenschaft umzugehen. Da ich weder die zu beschützende Person noch mich selbst in eine gefährliche Lage bringen wollte.

Deswegen sagte ich dem kleinen Mädchen mit den gütigen Augen und dem jugendlichen Gesicht nun, dass meine Mutter wartet und ich leider gehen muss. Sie war nicht einmal pampig deswegen. Manche Frauen wurden ja gleich pampig, wenn man so etwas wie einen Flirt oder eine Anbahnung von was auch immer, abbricht. Sie nahm es mir nicht einmal übel und ich wusste, dass ich es mit keinem Egoisten-Weib zu tun hatte.

Wir gaben uns die Hand. Ihre Hand war warm und klein, meine Hand war leicht feucht und riesig. Ich glaube, sie hat meine großen Hände einen Augenblick lang bewundert.

Diese Hände würden ihr nichts tun. Zumindest nichts Schlechtes.

Diese Hände gehören einem Samariter!

Logbuch Eintrag Nr. 8

Nachdem ich die Mutter versorgt und der Pflegedienst übernommen hatte, fuhr ich mit dem Auto nach Hause. Ich war irgendwie froh, dass sich das Mädchen, dessen Name ich immer noch nicht kannte und ich ausgesprochen hatten.

Als wir uns am Damm verabschiedeten, sagte sie noch, »vielleicht sieht man sich ja mal wieder«.

Und ich erwiderte, »ja, das wäre toll. Das Gespräch mit dir hat mir sehr gefallen. Man kann sich super mit dir unterhalten«. Und das meinte ich ehrlich!

Ich hatte keine Ahnung, was Menschen meinen, wenn man ihnen etwas erzählt und sie ihr dämliches »okkkkaaaayyyy!« nachplappern, nur, weil alle es sagen. Einfältig ohne Ende. Keine Funken eigene Fantasie!

Ich hatte auch Bücher über Menschenführung, über die Kunst eine Rede zu halten, über Rhetorik, Gestik und Mimik gelesen. Aber mich interessierte das meiste, künstliche Gehabe in diesen Lehren einfach nicht. Es ist gut sie zu kennen. Doch für mich musste sich niemand anders geben, als er eben war. Solange man mir nicht doof kam.

Manche Frauen wollen, dass Männer sich für ihr gemeinsames Kennenlernen Zeit nehmen. Andere wiederum wollen, dass man direkt zum Zug kommt. Dann gibt es noch die Profi-Schlampen, die sich, nach amerikanischem Vorbild, nur noch mit Speed-Dating und den vermeintlich besten Alphamännchen abgeben. Bei denen man schon untendurch ist, wenn man sich nur falsch hinstellt und falsch »guten Tag« sagt. Die alles haben wollen, aber selbst nichts geben, weil ihre Mama das schon so gemacht hat und ja schließlich ihren Papa geangelt hatte. Einen echt reichen und coolen Typen … bla bla!

Diesen falschen Fotzen mit ihren kreisrunden, unnatürlichen Brüsten, würde ich nicht einmal die Hand geben, weil ich eine Allergie gegen zehn Pfund Handcreme und drei Liter Nagellack habe.

Na und die würden mir ja auch nicht mal die Hand geben wollen. Wenigstens darin waren wir uns einig.

Ich saß im Auto, in meiner Garage und war irgendwie überwältigt und platt gleichzeitig.

Zu Hause, in der kleinen Dachwohnung wartete niemand auf mich. Nicht einmal ein Hund. Die Massen an Fruchtfliegen und Spinnen, die mich im Sommer immer besuchen kamen, hatten längst ihre Koffer gepackt und sich ein neues Urlaubsparadies gesucht.

Ich war alleine. Was hätte ich an diesem Abend dafür gegeben, dieses Mädchen neben mir im Bett zu haben. Den Hund quer über unseren Knien. Sie hätte mir noch das ein oder andere aus ihrem Leben erzählt. Vielleicht auch mal etwas Gutes, wenn es denn etwas gab. Ich hätte uns leise, irische Musik dazu laufen lassen.

Ich sah auf den kleinen Traumfänger, der im Auto am Spiegel baumelte. Ob er all meine Träume geklaut hat? Ob er sich von ihnen ernährt?

Ich startete den CD-Player. Peter »Spider« Stacy sang gerade:

»But I know that you
With your heart beating
And your eyes shining
Would be dreaming of me
Lying with you
On a Tuesday morning«

Ich träumte vor mich hin, dass ich mit ihr durch Dublin laufe und wir uns ein nettes Wochenende dort machen. Das ich ihr eine richtig, echte irische Schiebermütze besorge. Und keine, aus einem deutschen Warenhaus!

Logbuch Eintrag Nr. 9

Ich sah das Mädchen mit dem weißen Boxer einige Tage nicht mehr, hielt fast jeden Tag Ausschau nach ihr, oben von Mutters Schlafzimmerfenster aus.

Dann begann ich abermals sie zu vergessen. Es war vielleicht auch gut so.

War es nicht traurig, dass so manche liebe und gute Seele an den Klippen der Ereignisse zerschellt, weil diese Seele das eigene Schiff des Lebens nicht mehr zu navigieren weiß?

Weil es gehetzt und verfolgt von den Phantomen, die kein eigenes Leben und keine eigene Seele besitzen, und die sich in das Leben anderer Seele schleichen und dieses versuchen mitzuzerstören, letztendlich bis in den frühen Seelen-Tod gejagt wird?

Ich fuhr weitere Tage später zufällig zur Apotheke. Mutter brauchte mal wieder etwas. Das heißt, sie brauchte es gar nicht, aber die Pflegedienst-Mafia wollte es so. Es würde ohnehin nur bei ihr herumliegen, weil sie so gut wie alles ablehnte. Ich besorgte es praktisch umsonst.

Ich kam aus der Apotheke und lief dem Mädchen mit dem weißen Boxer genau in die Arme. Sie sah mich von unten her etwas schüchtern, ja schon leicht verliebt an. Oder ich bildete es mir nur ein. Ich bildete mir schon viel ein.

Auf jeden Fall sah sie mich etwas verschüchtert und verlegen an. Ich sah an mir herunter und prüfte, ob mein Hosenstall vielleicht aufstand. Dem war aber nicht so.

Sie sagte leise »Hi!« und ich sagte laut »Heeeeyyyy!«.

Der Hund zuckte zusammen, sie strich sich noch verlegen durch die Haare und war schon wieder verschwunden. Während ich noch überlegte, was ich ihr noch nachrufen kann, war sie schon um die Ecke gebogen.

Sie schien vom Bahnhof zu kommen. Da hing mein Bruder mit seinen Junkie Freunden herum, die auf ihre Metadon-Vergabe warteten. Ich hoffte nicht, dass sie Drogen nahm oder mit einem der Jungs da abhing oder dealte. Ich kannte den Großteil davon. Es waren keine schlechten Menschen und sie waren nicht besser oder schlechter, als du und ich. Sie hatten alle ihr Leben zu meistern und ihr eigenes Päckchen zu tragen. Einige ein etwas größeres und andere wiederum ein etwas kleineres Päckchen. Nur wollte ich eben nicht wahrhaben, dass sie vielleicht auch drauf ist oder sich ihr Geld, mit dem Dealen aufbessert.

Ich hatte in den Tagen, als ich sie nicht sah, wieder zahlreiche Tagträume ausgelebt. Hatte meinen Kopf richtig abgewichst!

Ich sah sie schon mit mir durch die Stadt tingeln. Ich wollte ihr Leben verbessern und sie von all den Arschlöchern fernhalten, die in der Vergangenheit ihr Leben mürbe gemacht hatten. Wollte sie beschützen und ihr Halt geben. Plante sie komplett neu aufzubauen und zu bestärken.

Deswegen wollte ich auch nicht wahrhaben müssen, dass sie vielleicht irgend etwas mit den Leuten am Bahnhof zu tun hatte.

Ihr verlegenes Lächeln machte mir wieder Hoffnung. War diese Hoffnung unbegründet?

Logbuch Eintrag Nr. 10

Zwei Tage später sah ich sie vor dem Balkon gegenüber des Hauses meiner Mutter stehen. Sie knallte ihr Fahrrad fast gegen den Zaun.

 

Sie war wieder in ihre alte Hektik verfallen. Der Typ, der oben wohnte, ließ sie immer noch nicht rein. Sie pfiff mehrere Male auf den Fingern, klingelte dort Sturm, rief zu ihm hoch, fluchte und schimpfte vor sich hin.Sie war so aufgewühlt, dass sie nicht einmal zu mir hochschaute. Den Hund hatte sie wahrscheinlich zu Hause gelassen. Zumindest war er nicht bei ihr. Sie hatten mir erzählt, dass sie noch einen weißen Boxer hatte, diesen aber weggeben musste, weil sie das einfach nicht mehr auf die Reihe bekam. Ich vertraute jedoch darauf, dass es beiden Hunden gut ging. Was mit ihr los war, konnte ich mir nicht denken, hoffte aber, dass sie keinen Affen schob.

 

Danach sah ich sie mehrere Tage gar nicht mehr. Alles, was ich mir von und mit ihr erträumt hatte, löste sich langsam auf. Es war wirklich besser so! Wir waren beide schon zu verkorkst. Ich wollte kein Lückenfüller in ihrem Leben sein und mein Leben würde ihr ganz bestimmt auch nicht gefallen. Manchmal war es einfach besser, die Dinge nur in der eigenen Fantasie auszuleben, auch, wenn das vielleicht egoistisch und feige ist, so zu denken und zu handeln. Letztendlich tut man sich gegenseitig keinen Gefallen, mit einer weiteren, halbherzigen Beziehung.

 

Logbuch Eintrag Nr. 11

Am darauffolgenden Wochenende sah ich sie vom Fenster der Mutter aus mit einem kleinen, rundlichen Typen da entlang spazieren.

Sie trug schwarze Leggings. Darüber einen schönen schwarzen Tüllrock. Ein paar schöne schwarze Stiefel, eine weiße Bluse und ihre schwarze Schiebermütze.

Sie sah umwerfend schön aus. Ich wusste, dass sie so gestyled und aufgeblüht herumstolzierte, weil der kleine, rundliche Typ da neben ihr, wahrscheinlich ihr neuer Freund war. Ich kannte dieses Verhalten von einigen Frauen aus meinem Dorf nur zu gut. Sie präsentieren stolz ihren Neuen, machen Schaulaufen durchs Dorf, zeigen, dass sie wieder dazugehören, nicht mehr alleine sind. Eine Warnung an alle anderen Typen im Dorf, dass sie sich dem neuen, dicken Igel besser nicht nähern. Ich musste von da oben schmunzeln. Es war schon traurig, aber auch irgendwie immer dasselbe.

Sie gingen nicht Hand in Hand. Aber sie wirkte so frisch, als ob dieser kleine, dicke Igel da unten eben noch seinen Speckschwanz in ihr drin hatte. Er musste in etwa so alt sein, wie mein Junkie Bruder. Mit Mitte fünfzig wurden die Männer klein, dick und knorrig. Und sahen aus wie weibliche Igel.

Fragt sich nur, wer da wen gerade erlegt hatte!

Mir war sie egal geworden. Vielleicht führten die Kneipengänger-Typen hier ihre ureigene Strichliste mit den Namen der Frauen, wo sie schon ihren Speckschwanz drin hatten. Und vielleicht führten die Festzelt-Schlampen hier in diesem hoch katholischen Dorf auch so eine ähnliche Liste. Und wahrscheinlich sprachen die Kneipengänger-Typen nicht untereinander darüber, wenn sie Gemeinsamkeiten auf ihrer Liste fanden, weil sie zu stolz waren, zugeben zu müssen, dass sie bereits Nummer soundso auf der Liste sind, die der Alten auf den Leim gingen.

Und die Festzelt-Schlampen lachten eher untereinander, wenn sie Gemeinsamkeiten auf ihren Listen fanden, weil sie sowieso alle eine lesbische Ader hatten und es ihnen ganz gleich war, wo der Typ alles noch seinen Rotz unterbrachte. Dieser und jener hatte den linken Hoden tiefer hängen. Der eine hatte einen Schwanz wie ein Pferd, der andere wiederum nur so einen, wie ein Boxerhund. Wer weiß!

Ich hatte gar keine Liste hier in diesem Dorf und war auch ganz froh darüber. Mein Schwanz war mir heilig!

Logbuch Eintrag Nr. 12

Es vergingen zwei weitere Wochen. Ich hatte einen Termin fürs Krankenhaus.

Gute fünfzehn Monate lief ich jetzt bereits mit einem doppelten Leistenbruch herum, der nun endlich geflickt werden sollte.

Meine Kaldaunen hingen schon so weit aus der Bauchdecke, dass es aussah, als ob ich vier Hoden habe. Das machte mich vielleicht attraktiver für die Festzelt-Schlampen!

Nun kam es auf die faulen, unfähigen Brüder an, ob sie unsere Mutter am Leben erhalten konnten. Ihr ging es schon wieder recht gut. Dank meiner Fürsorge, den Drogen von Frau Doktor und der Behandlung des Pflegedienstes.

Ich hoffte, dass die Bande von Brüdern unsere Mutter nicht schon aufgefressen hatten, wenn ich aus dem Krankenhaus zurück war. Aber, ihre Baby-Gehirne ließen so eine grausame Tat gar nicht zu. So konnte ich beruhigt ins Krankenhaus fahren.

In Gedanken ging ich die Liste der Dinge durch, die ich in die Tasche fürs Krankenhaus packen musste. Ich stand dabei am Schlafzimmerfenster der Mutter und schaute in die Wolken. Spielte Fenster-Taube.

Dann hörte ich ein Hecheln, gefolgt von einem Fluchen und einem Schimpfen.

Das Mädchen mit dem weißen Boxer ging unten entlang, blieb an dem Baum vor dem Haus stehen, schaute einmal kurz in Richtung unseres Hauseingangs und stupste den schwerfälligen Hintern des Hundes mit ihrem Stiefel an.

Sie sah so ärmlich und verwahrlost wie zuvor aus. War der neue Freund schon passé?

Bevor sie weitergehen konnte, hatte ich bereits einen lauten Knutscher hören lassen. Der Hund zuckte zusammen und sah mit seinen blutunterlaufenen Augen zu mir hoch.

Dann schaute sie zum Fenster hoch, winkte mir zu, lächelte wie ein junges Mädchen und ging langsam die Straße entlang. Sie hatte es gar nicht mehr so eilig.

Einige Meter weiter drehte sie sich erneut um und schaut noch einmal nachdenklich zu mir hoch. Ich hauchte ihr eine Kusshand zu, die sie ordentlich beschämte.

Sie schimpfte nicht mehr … und leider fluchte sie auch nicht mehr!

Logbuch Eintrag Nr. 13

 

Abends lag ich in einem Krankenhausbett und las eines meiner alten Bücher, Borstal Boy, während die Opas neben mir schon um die Wette schnarchten, röchelten, husteten und furzten.

Ich konnte mich auf das gute Buch nicht konzentrieren und spielte wieder Kopfwichsen.

Ich dachte an das Mädchen mit dem weißen Boxer.

Wir gingen durch das nächtliche London und schauten uns die Schaufensterauslagen an. Ich hatte nie viel Geld, doch in meinen Träumen war ich reich. So durfte sie sich all die schönen Dinge aussuchen, die sie in ihrem zurückliegenden Leben niemals haben konnte.

Zunächst musste sie eine richtige Schiebermütze haben. Dann ein solides Steuerrad aus dem Antiquitätenladen an der Ecke, mit einem Kern aus Messing. Und einen soliden Mantel, mit einem schönen festen Riegel, großen Stulpen, mindestens zweireihig knöpfbar und ordentlich tailliert.

Dann »segelten« wir mit der alten Peugeot Limousine zum Hafen. Dort legten wir an, ich schob die CD in den Player und startete ihn, während sie ganz gemächlich und sanft ihren Kopf an meiner Schulter bettete:

 

 

 


»Now, the story is nearly over
We may never find out what it means
Still there's a light I hold before me
You're the measure of my dreams
The measure of my dreams«

Inspirations and Influences

 

With special thanks to

 

Mr. Brendan Behan for the book »Borstal Boy«

 

Mr. Peter "Spider" Stacy of The Pogues for the song »tuesday morning«

 

Mr. Shane MacGowan of The Pogues for the song »a rainy night in soho«

 

 

 

Nachtrag

Vor einigen Monaten, ich weiß nicht genau, war es März 2018? Ich traf einen guten, alten Bekannten, Nils, der mit seiner Yorkshire Terrier Hündin Candy spazieren ging.

Nils war seit dem neunzehnten Lebensjahr bei der Bundeswehr, hatte mittlerweile dort durchgehend 23 Jahre gedient und wurde beim Bund verrentet.

Ich hatte schon immer vorgehabt, über seine Hündin, Candy, einen Scherz zu machen. Einen, nach der guten, alten »Highlander« Tradition:

»Hi, ich bin Candy!«
»Natürlich bist du das!«

Ein echter Klassiker an Sprüchen, den wir schon zu unserer Wehrdienstzeit zum Besten gaben. Ein Spruch, aus dem Film »Highlander«.

Nils und ich sprachen auch über sein Vorhaben, einen Teil seiner Abfindung, die er beim Bund erhalten hatte, in eine Harley zu investieren. Seine Ehefrau Gabi, die ich schon seit 1976 kenne und mit deren Schwester ich in meiner Kindheit befreundet war, hatte sich mit einem Nagelstudio selbstständig gemacht. Sie war recht erfolgreich und das alles freut mich sehr. Nicht jeder in diesem verfluchten und angestaubten Dorf ist etwas geworden.

Wir sprachen auch kurz über unseren gemeinsamen Freund, Sascha, der schon seit fast zehn Jahren tot ist. Sascha war an einer Überdosis Heroin gestorben. Viele Jahre zuvor hatte ich Sascha einmal bei mir aufgenommen, da er obdachlos wurde. Er tauchte einmal bei mir auf, mit einer Mappe, in der gepanschtes, gestrecktes Heroin in Spritzen aufgezogen war. Man nennt es in der Szene »Schore«.

Da einer meiner Brüder seit seinem sechzehnten Lebensjahr abhängig ist, habe ich Sascha damals vor die Wahl gestellt. Entweder, ich schmeiße ihn aus meiner Wohnung heraus oder wir zerbrechen die Spritzen in der Toilette und spülen das verfluchte Zeug dort herunter.

Wir haben es in der Toilette vernichtet. Ich hatte und habe niemals Drogen genommen, nicht einmal an einem Joint gezogen. Und darauf bin ich verdammt stolz!

Mein Leben war verdammt hart verlaufen und ich habe sehr viel mehr im Leben mitmachen müssen, als so mancher Mensch. Trotzdem habe ich mich bis heute ohne Drogen durchs Leben gekämpft.

Plötzlich und aus heiterem Himmel sprach Nils mich auf das Mädchen mit dem weißen Boxer an. Er würde manchmal ein Stück mit ihr und den beiden Hunden spazieren gehen. Es war seltsam, dass er mich deswegen aus heiterem Himmel und ohne ersichtlichen Grund ansprach. Es kam mir so vor, als ob entweder Nils, Gabi oder vielleicht sogar das Mädchen mit dem weißen Boxer selbst von meinem Buch erfahren haben.

Ich bin ein guter Schauspieler, besonders dann, wenn ich etwas erahne!

Ich ging nicht direkt auf seine Andeutungen ein, ließ ihn aber wissen, dass ich dieses Mädchen mag, ihren Namen aber nicht weiß. Ich stelle mich dann bewusst naiv an. Es ist ein Trick!

Er sagte, man nennt sie Biene.

Ich traf »Biene« dann noch einmal an der Bushaltestelle gegenüber dem Haus, in dem meine Mutter wohnt.

Sie war nicht mehr ganz so hektisch und sie sprach auch mit mir eher ruhig. Sie kam gerade aus dem Krankenhaus, wo man ihr Tumore aus der Schulter entfernt hatte. Biene wusste nicht, ob die Tumore gutartig waren. Sie nahm es jedoch an, da sie schon einmal damit zu tun hatte.

Sie wartete auf den Bus, der verspätet kam. In diesem Dorf kamen die Busse generell verspätet. Hier tickten die Uhren anders, gingen nach der Kirchturm-Uhr.

Ich sagte ihr, »ich muss meiner Mutter eben etwas zu essen aus dem Grill holen. Falls dein Bus noch nicht da war, wenn ich wiederkomme, fahre ich dich zu deinem Termin«.

Als ich wiederkam, war sie bereits weg.

Seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen.

Alles Gute dir, liebe Biene. In der Hoffnung, dass deine Tumore nicht bösartig waren und niemals bösartig werden. Und, dass ich eines Tages, vielleicht, wenn du das hier gerade liest, doch noch den Namen des weißen Boxers erfahren werde. 

Impressum

Texte: Ralf Dellhofen
Lektorat: Ralf Dellhofen
Satz: heiße Ohren!
Tag der Veröffentlichung: 06.10.2017

Alle Rechte vorbehalten

Widmung:
Gewidmet dem Mädchen mit dem weißen Boxer. Damit ihr wenigstens einer mal etwas Gutes in ihrem Leben schenkt. Und sei es auch nur eine Geschichte. Gewidmet dem weißen Boxer und allen Hunden sonst wo. Gewidmet meinen Freunden auf Bookrix, Facebook und im nicht-virtuellen Leben. Und meiner Mom! Nicht gewidmet meinen Bruder-fressenden Brüdern!

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