Ich habe mal eine sechs monatige Fortbildung gemacht, Fachkraft für Rechnungs- und Personalwesen. Das Arbeitsamt Leverkusen dachte, da ich Kaufmann bin und zwei Jahre beim Arbeitsamt in Köln im Büro gute Dienste geleistet hatte, das wäre genau was für mich. Menschen oder Institutionen, die harmoniesüchtig sind, versuchen ja ständig etwas passend zu machen, und andere Menschen und Institutionen, ob man will oder nicht, einfach miteinander zu verkuppeln. Ich spielte also mit. War neugierig!
Das war so Herbst 2002 bis Frühling 2003. Ich hatte zu der Zeit mal wieder kein Auto, fuhr jeden Morgen mit dem Bus von Leverkusen bis Bergisch Gladbach über eine Stunde. Ich hatte morgens im Regenwetter mein erstes Handy auf dem Sitz an der Bushaltestelle verloren. Oder es wurde mir geklaut, als ich dort saß. Auf jeden Fall war es weg. Ich konnte mir so schnell kein Neues leisten und überlegte, wie ich an Ersatz kam. Das Handy hatte damals 49 Euro gekostet und, da es mein Erstes überhaupt war, hing ich schon etwas daran (Alcatel one Touch easy db). Einige Tage später fand ich an genau der gleichen Bushaltestelle einen 50 Euro Schein im Matsch. So etwas passierte mir zu der Zeit andauernd. Vielleicht hat mich Gregory´s viel zu früh verstorbene Mama den Schein finden lassen, weil ich mich damals schon um ihren Sohn kümmerte. Ich glaube an so etwas!
Ich fuhr also jeden Morgen im Dunklen fast alleine mit dem Bus über eine Stunde nach Bergisch Gladbach. Die Fortbildung fand in einer kleinen Privatschule statt, die vom Arbeitsamt gut bezahlt wurde, dafür, dass sie mich im Unterricht in Ruhe meine Bücher lesen ließen, weil der Lernstoff mich so langweilte. Ein paar Straßen weiter wohnten Heidi Klum´s Eltern und ich musste immer daran denken, wie mein Schlosserkumpel und ich dort mal Edelstahlgeländer montiert hatten. Der alte Klum war schon in Ordnung, nett und sehr großzügig, inklusive Frühstück und Trinkgeld. Ich hatte damals so einen schweren Nappaleder Mantel von X-TRA. Der hatte fast 1000 DM gekostet. Cavalry Style mit sechs oder acht emaillierten Löwenköpfen, tailliert und mit Riegel. Von Ashys London. Ich könnte mich heute noch in den Hintern treten, dass ich den verkauft habe. Ich vermisse den Mantel!
Im Bus hatte ich damit morgens immer die hinterste Reihe für mich, weil die Gastarbeiter, die zur Schicht nach Krüger fuhren, dachten, ich wäre ein Nazi! Ich und ein Nazi!
Ich las jeden Morgen im Bus meine Bücher, weil die Fahrt mir so unendlich lange vorkam. Ohne meine Bücher wäre ich auch sofort eingeschlafen. Der Bus hielt in jeder Dorfstraße und fuhr auch wirklich in die entlegensten Winkel um vorwiegend Zeit- und Gastarbeiter aufzupicken.
Auf jeden Fall hatte ich in den ersten Wochen alle Bücher von Bukowski schon durch, außer die Gedichtbände, die mich nicht interessierten, weil ich meine für besser hielt. Ich konnte mit Burroughs nichts anfangen, weil mir mein eigener Junkie Bruder schon auf die Nerven ging. Ich fing also an mir Henry Miller vorzunehmen. Einige waren langweilig, aber andere waren echt guter Lesestoff für morgens um 05:30 Uhr in einem halbdunklen Bus, mit lauter finster und abwertend drein schauenden Gastarbeitern, denen ich Tag für Tag unangenehmer wurde. Nach einigen Tagen hielten mich die Arbeiter nicht nur für einen Nazi, sondern auch noch für einen hoffnungslosen Intellektuellen. Für die war wahrscheinlich jeder, der mehr als Groschenromane und Comics konsumierte, ein Intellektueller. Die hatten wahrscheinlich nicht einmal ihre Schulbücher gelesen. Ich ja auch nicht. Habe mir nur im Biologiebuch den Typen mit dem Tumor am Kopf angeschaut oder weibliche Anatomie Zeichnungen. Wenn ich überhaupt einmal in der Schule vorbeigeschaut habe!
Henry Miller konnte ganz normale Storys schreiben, über seinen Alltag und die zahlreichen Jobs. Geschichten von der Straße und seinen Freunden und Frauen. Seiner Zeit in Frankreich. Sehr unterhaltsam und zum Teil auch lustig beschrieben. Wenn er seine fünf Minuten bekam, wenn sein Schreiben apokalyptisch wurde, wusste ich nie, wo er sich gerade befindet und was in ihm vorgeht. Noch weniger, wovon er da gerade schreibt. Da war mein Intellekt und meine Intelligenz am Ende. So ging es mir davor nur bei James Joyce, Baudrillard und Sartre. In den vergangenen Tagen, seit ich so langsam wieder meinen inneren Frieden gefunden habe, und mich innerlich sammeln kann, zur Ruhe komme, beginne ich zu verstehen, in welcher Stimmung er sich beim Schreiben dieser apokalyptischen Phasen innerhalb seiner Bücher befunden haben muss. Das waren die Phasen, die ich selbst kannte. Wenn ich bipolare Störungen hatte und so langsam wieder herunterkam. Zum Glück werden diese Phasen bei mir immer seltener.
Als ich mit Henry Miller fertig war, schon fast gegen Ende der Fortbildung, schon fast gegen Ende des Winters, las ich im Bus Louis – Ferdinand Celine. Guignol´s Band war mein Liebstes, aber auch Reise ans Ende der Nacht und die Deutschland-Trilogie waren unterhaltsam. Ich las das Buch halblaut im Bus vor mich hin und lächelte hier und da. Dann sah ich die Gastarbeiter fluchend den Bus verlassen, obwohl es noch gar nicht ihre Haltestelle war. Draußen zeigten sie auf mich, flüsterten untereinander und spuckten demonstrativ und laut auf den Boden. Sie hatten endgültig genug von mir, dem Schwein!
Dem Schwein war es egal. Ich hatte den Bus für mich alleine, morgens um 05:30 Uhr! Der Busfahrer pfiff ein fröhliches Lied.
Und, falls Ihr Euch fragt, was diese kleine (wahre) Geschichte soll?
Überall begegnen mir, als Deutschen, der sich ja auch nicht ausgesucht hat, hier geboren zu sein, Vorurteile. Trage ich einen schwarzen Ledermantel, bin ich ein Nazi. Lese ich bestimmte Bücher, bin ich ein Nazi. Ein Wunder, das man mich noch nicht gelyncht hat, weil ich hellblond bin und meine Augen im Prisma blau erscheinen. Augen, die ich mir ja auch nicht ausgesucht habe.
Ich habe mir immer gewünscht eine nicht deutsche Frau kennenzulernen, aber auch da werde ich spätestens von ihrer Familie gelyncht, wenn ich, als Deutscher, nur daran denke, mich deren Tochter, so ehrlich meine Absichten auch sein mögen, zu nähern.
Wer ist denn da der Nazi? Ich nicht! Ich bin weltoffen, lese Bücher von Franzosen und Amerikanern, esse gerne Chinesisch, Indisch und Italienisch, bin mit Siebenbürger Sachsen aufgewachsen, höre kaum deutsche Musik, hatte einen schönen schwarzen Ledermantel aus England.
Bin kein Nazi!
Texte: Ralf Dellhofen
Bildmaterialien: Ralf Dellhofen
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2017
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