Wie zwei kleine Puppen saßen Du und ich auf Mutter Erde Schoß.
Es war sehr weit von der linken Seite des Schoßes, wo Du saßt, bis zur rechten Seite, da wo ich saß.
Weder majestätisch noch besonders erhaben, ihren Schaukelstuhl an die wärmende Sonne gerückt, betrachtete sie uns von oben herab, mit einem etwas sorgenvollen Blick. Aus ihrem gutmütigen Mundwinkel drang ein Seufzer, den sie schon viele Male hören ließ. Unbewusst schon zu viele Male hören ließ.
Als sie uns so ansah, kamen wir ihr vor, wie zwei antike Puppen. Du, wie eine adrette Katze, noch jung und voller Stolz, doch schon erwachsen genug, die Kleider einer schillernden Prinzessin zu tragen. Ich, wie ein alternder Teddy, noch etwas Jugend im Gesicht, aus dem sicher bald das erste Stroh hervorkommen würde. Meine Augen waren zwar noch frisch und stark, passten nur so gar nicht zu der schlichten Kleidung eines Arbeiters. Etwas war in mir.
Unser beider Köpfe ruhten an ihrem Bauch, der so groß war, dass wir uns gegenseitig nicht einmal sehen konnten. Wir waren beide etwas müde, horchten an diesem warmen Bauch, in dem es gluckerte und bebte, sich langsam hob und senkte, wie in einer alten, fast schon ausgedienten Maschinenhalle. Die Geräusche da im Bauch, hatten etwas so beruhigendes, permanent und gleichförmig hypnotisches, dass Du und ich darüber einschliefen.
Bald ging ein leichtes Zittern über unsere geschlossenen Augenlider, als ob wir dort von den Innenseiten her eine Botschaft ablesen würden. Was wir nicht wussten, war, dass Mutter Erde ihren schlafenden Kindern traumhafte Geschichten erzählte. Geschichten, die soviel Herzenswärme hatten, dass sie Generationen an Puppen mit Wärme und Liebe speisten.
So träumten wir alsbald, angeregt von der Erzählung der Mutter, die unser Unterbewusstsein erreichte.
In unserem Traum gingen wir durch ein Kornfeld, dessen Ähren uns bis zu den Knien reichten. Du hattest Dich unter meinem Arm eingehakt, was mich ziemlich stolz machte. Es hatte so etwas von einem alten Paar, in einer Zeit, als alte Paare rar wurden.
Man hatte uns beiden beigebracht, dass Worte der „Sitz des Beginns der Verderbnis“ sein können. So schwiegen wir. Mit der Hand pflückten wir von Zeit zu Zeit einzelne Ähren ab, auf denen kleine poetische Verse standen, die wir uns gegenseitig schweigend zeigten.
Wie alles an dieser traumhaft schönen Landschaft, wo jedes Detail vor Frieden und Ruhe nur so strahlte, so kam mir auch der Stand des Korns seltsam vor. Es war fast Frühling!
Wir gingen sehr langsam, denn wir fühlten, dass uns keine Schrecken oder Phantome hier je erreichen würden. Wir waren sicher und behütet. Die Felder endeten irgendwann und wir kamen an ein kleines Haus, dessen Dach jedoch so groß war, dass ein ganzes Feld es bedeckte.
Es war ein freundlich blickendes Haus, mit einem Zaun davor, dem man ansah, dass er nicht zur Abwehr oder zum Schutz aufgestellt wurde, sondern „weil das nun einmal dazu gehörte“. Ein alter Mann mit einem weißen Bart, der bis ins Gras reichte, nickte uns freundlich zu. Er schwieg ebenfalls und goss Sternenstaub aus einer alten Eisenkanne auf kleine Bäume, die ihm gerade bis zur Brust reichten. Und die noch in den Kinderschuhen der Baumschule steckten. An ihnen hingen kleine Planeten.
Mit einer weit ausladenden Handbewegung öffnete er das Tor und bedeutete uns ins Haus zu gehen.
Das Haus wirkte von außen sehr klein, in seinem Inneren glich es jedoch einem alten Schloss. Der Butler dieses Hauses, der dem Gärtner, mit Ausnahme der Garderobe, aufs Haar glich, sagte sanft und ganz bestimmt, doch mit vor Stolz geschwellter Brust:
„Ihr habt das äußerst seltene Privileg für einige Stunden Gast in unserem besonderen Kreis zu sein. Der Besuch hier hat einen tieferen Sinn. Ihr sollt hier etwas fürs Leben lernen“.
Wir waren also Gäste im Haus der Seelen. Dort hatten, nach Mutter Erde Sage, nur Paare ihren ewigen Wohnsitz, die einst im Leben eine besondere „unsterbliche“ Beziehung zueinander hatten.
Etwas scheu und unsicher gingen wir durch den uns viel zu großen Saal, in dem sich, auf der rechten Seite liegend, einige bezaubernde Paare in edlen Roben an einem riesigen Kaminfeuer die Hände wärmten. Was wohl dieses Feuer bedeutete? Zu Beginn des doch schon warmen Frühlings!
Wir trauten uns nicht, diese besondere Runde zu stören, und hätten sicher den Ort schleichend und unbemerkt wieder verlassen, als ein Paar auf uns zukam. Diesem Paar, das in der Blüte ihrer Liebe und ihres Lebens stand, sah man etwas an. Etwas, dass mir sagte, sie haben erst nach einem langen, unnötigen Kampf ihren Frieden gefunden. Sie waren miteinander einig und unsterblich miteinander verbunden. Sie bildeten eine Einheit. Jeder für sich anders doch zusammen ergänzend. Alles an ihnen war Harmonie.
Sie stellten sich uns als Heathcliff und Catherine vor. Heathcliff sagte:
„Wir haben viele Stunden unseres Lebens damit vergeudet uns selbst und anderen das Leben schwer zu machen, dabei ist alles so einfach. Die Menschen denken, dass nur das wirklich wertvoll wird, was man sich hart erkämpfen musste. Sie erfinden darüber selbst Phantome des Leidens und der Kriege“.
Catherine sagte:
„Anstatt zu finden, schauen die Menschen nur zu lange in der Weltgeschichte herum. Sammeln fremde Eindrücke, die ihnen nicht zu Gesicht stehen. Der Weg ist das Ziel, hat man ihnen einst gesagt. Doch das ist Unsinn! So suchen und suchen sie. Ihr Leben besteht aus warten und suchen. Dazwischen ist selbstgemachtes Leid und gegenseitige Seelenpein. Über all das andauernde Leid verfallen sie in eine Schwermut, aus der sie nicht mehr herauskommen. Dabei liegt das Glück ihnen meist vor der Nase, doch sie sehen es nicht. Nicht nur die Hölle ist einen Schritt weit weg, bis zum Himmel ist es nicht viel weiter“.
Gemeinsam sagten sie:
„Wir wissen leider nur zu gut, wovon wir reden. Und wir sind im Haus der Seelen, damit wir niemals vergessen, welche Umwege wir gingen, um uns zu finden“.
Damit wiesen sie auf einen alten Mann, mit einem langen weißen Bart, der bis auf den Boden reichte. Er saß vor dem Kamin in einem Sessel und las den zuhörenden Paaren, wie ein alter „Lehrer fürs Leben“ aus seinen Büchern vor. Zwischendurch sagte der alte Mann mit lustiger Bestimmtheit „ich mache aus euch wahre Engel. Bis dahin müsst ihr sorgsam meinen Worten folgen. Bedenkt, nicht jeder kann Engel werden, wir nehmen nur die Guten!“.
Ich sah ein großes Regal, groß wie das gesamte Firmament, mit alten und neuen Büchern. Auf ausziehbaren Laden standen Jahrhunderte, fein säuberlich katalogisiert. Ich konnte durch die Ritzen der Laden sehen, dass dort alte und neue Bücher lagen, an denen man immer noch schrieb. Sie sollten längst fertig sein, doch gewisse Ereignisse machten es notwendig, die Bücher, die eigentlich schon in die Geschichte eingegangen sind, noch einmal zu erweitern. Der alte Mann, gutmütig wie er war, brachte es nie über das Herz, eine Geschichte endgültig und traurig enden zu lassen. Hier endete alles gut.
Ein weiteres Paar kam auf uns zu. Es stellte sich als Etienne und Catherine vor.
Während Du ihnen gespannt zuhörtest, kam ich ins Grübeln. Ich kombinierte diese Namen der Paare mit den Büchern hier und den Büchern, die ich einmal gelesen hatte. Dieser Mann hier, der leibhaftig vor uns stand, musste demnach Etienne Macquart-Lantier sein. Emile Zola´s „Etienne“ aus dem unsterblichen „Germinal“, dessen zarte junge Beziehung zu Catherine so früh und so tragisch endete. Hier waren sie jedoch vereint. Und glücklich!
Auch an ihrem Buch wurde gearbeitet. Der alte Trickser hatte es nicht übers Herz gebracht, dass alles so in Tränen endet. Einmal, wenn ihr Buch beendet war, würden sie Engel sein.
Der Abend verging für uns schneller, als uns lieb war. Hier fand man eine Geborgenheit, die uns beiden lange gefehlt hat. Wir wünschten uns, dass wir ewig hier bleiben könnten, doch wir waren ja kein Paar, und unser beider Unsterblichkeit an Liebe hatte nie stattgefunden.
Als wir vom Butler zur Tür begleitet wurden, mehr langsam, um uns nicht das unbedingte Gefühl zu geben, dass wir jetzt gehen müssen, sagte der Butler noch:
„Schaut auf diesen Schrank dort. Er ist etwas Besonderes!“.
Mir fiel dieser schöne jedoch fremdartige Schrank, eine Art Anrichte, schon beim Betreten des Saales auf. Er stand links vom Eingang. Das Besondere an ihm war, dass seine zahlreichen Fächer alle anders aussahen. Keines glich dem anderen. Der Butler sagte:
„Ihr Menschen seid wie die Schubladen dieses Schrankes und deren Inhalte. Niemand von euch ist gleich, jeder Mensch ist ein Unikat. Geht miteinander um, als ob ihr immer den letzten Tag eures Lebens lebt. Nutzt diesen Tag und begegnet Menschen so, als wenn ihr sie niemals wiedersehen werdet!“. Er sagte noch warnend und mit gehobenem Zeigefinger:
„Menschen leichtfertig in fremde Schubladen zu stecken, sie mit anderen zu vergleichen, ist wie die Kommerzialisierung der Seelen. Darüber hinaus ist es nicht besonders fair!“.
Dann lächelte er versöhnend, öffnete uns die Tür und wir gingen hinaus. Draußen dämmerte es schon leicht. Dein „Einhaken“ unter meinem Arm, hatte mir gefehlt. Wir nickten dem alten Gärtner zu, der so fleißig sein Tagewerk im Garten beendet hatte. Er sah erschöpft aus.
Er hielt mich noch einmal zurück, während Du Dir das Leben in den kleinen Bäumen anschautest.
Dich interessierten die fremdartigen Planeten dort in den Ästen. Dir war kein Universum zu groß, während ich das alles in Deinen Augen fand, was für mich die Erfüllung war.
Deine Augen hatten das Braun der Erde, das Grün des Wassers und ein ganz klein wenig vom Himmelblau. Ein anderer Mann, der diesem hier sehr glich, hatte all das einmal in Deine Augen gemalt. Hatte sich dabei besondere Mühe gegeben, seine besten Farben verwendet.
Von Dir unbemerkt, gab mir der alte Gärtner etwas in die Hand. Es war ein Bruchstück seines Herzens. Ein kleines Rosalia-farbiges Herz, das aussah, wie ein Kristall.
Ich sah einen kleinen Schwan auf dem Herzen, links unten. Das Symbol der ewigen Treue der Paare. Schwäne, so hatte ich gelesen, bleiben ein Leben lang vereint. Selbst wenn einer von ihnen in ein anderes Reich abgerufen wird, so bleibt die halbe Seele allein zurück. Bis zu viel Sehnsucht sie wieder vereint und sie auf Ewigkeit miteinander verbindet.
Der alte Mann wies mich an, das Herz in meiner Hand zu verbergen. Du solltest es nicht sehen. Dann öffnete er seine linke Hand. Auf ihrer Innenfläche lauter Straßen und Wege. Eine große und alte Hand, mit vielen Furchen.
Dort lagen einige einzelne Saatkörner, auf denen ich folgende Botschaft lesen konnte:
„Nimm diesen Herzkristall. Es ist der Einzige, den du jemals besitzen wirst. Gebe ihn nur an einen sorgfältig ausgewählten Menschen weiter, an jemanden, der dir alles bedeutet, was einem ein Mensch auf Erden bedeuten kann“!
Als ich aus meinem Traum erwachte, war es, als ob Mutter Erde sich kleiner gemacht hatte. Sie hatte ihre Knie angezogen, so das ich Dich sehen konnte. Du lagst noch in tiefem Schlaf und ich betrachtete Dich einige Zeit. Dann wurde ich durch etwas gestört, was in meiner Brusttasche war, und das mich etwas drückte. Ich nahm es heraus. Es war ein kleines Rosalia-farbiges Herz, ein Kristall, der mit soviel Liebe funkelte, dass selbst Mutter Erde einen Fluss an Tränen der Rührung auf den Weg schickte.
Ich nahm das Herz, legte es in eine Schachtel, fischte etwas Herzblut-Sand vom Grund des Flusses, pflückte einige Blüten, um es sicher zu betten, setzte es auf den Fluss …
Und schickte es auf die Reise zu Dir …
Texte: Ralf Dellhofen
Bildmaterialien: Ralf Dellhofen
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2017
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Widmung:
Gewidmet meiner damaligen Bekannten, Kathi, die in Irland lebte, studierte und wunderschöne Gedichte schrieb. Foto lizenzfrei von Larisa-K (Russia) über pixabay