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Die kleine Kneipe

Ich fuhr mit meinem Motorrad durch die Straßen hier in unser Kleinstadt. Wollte sehen, ob es irgendwo etwas Neues gab. Die kleinste Art der Veränderung würde mir schon reichen. Doch so sehr ich auch fuhr, ich fand keine Veränderung, außer einigen, wenigen Plakaten die auf Ankündigungen von Schützenfesten, Kirmes oder Veranstaltungen in Festzelten hinwiesen, und die waren alt. Die Termine längst vergangen. Man hatte die Plakate wohl hängen lassen, damit die Menschen dort sehen, dass es mal etwas gab.

Die Schützenbruderschaften hier waren längst in Schützenbruder- und Schwesternschaften umbenannt worden, weil es immer weniger neuen Zulauf gab. An den Bushaltestellen saßen einige Jugendliche, die sich dort eine Flasche Bier teilten. Sie hatten, außer der Dorfdisko im Pfarrheim jeden Freitag von 20:00 bis 23:00 Uhr, sonst keinerlei Möglichkeiten sich zu vergnügen. Sie hatten den Platz meiner „Gang“ an der Bushaltestelle übernommen. Doch selbst meine Gang war seit 30 Jahren keine mehr.

Die Hausfrauen saßen damals schon zu Hause, vor den neuesten Katalogen der Versandhäuser, denen ihnen die Nachbarin geliehen hatte, weil diese ihren Papiermülleimer nicht mehr zu bekam. Sie suchten schicke, warme Pullover für ihre Männer, für die harte Arbeit. Fanden Herren-Pullover mit Golfspielern und Bären aber nicht besonders schick, bestellten eilig Arbeitshose, Arbeitsschuhe und, für sich selbst, einen schicken, neuen Kittel für die Arbeit im Haus. Das tun sie heute noch, nur eben online. Aus den Kitteln fürs Haus wurden Hausanzüge, die Arbeitshosen und Arbeitsschuhe wurden gleich ganz aus dem Sortiment genommen, weil die beim Discounter billiger sind, und die Herren-Pullover mit Golfern und Bären darauf, die gibt es immer noch.
Die Männer gingen immer noch wochentags auswärts arbeiten und die harte Arbeit der Hausfrauen wurde immer noch nicht so richtig wahrgenommen. Die Alten, unsere Rentner, saßen schon vormittags auf ihrem Stammplatz in ihrer Stammkneipe. Dort fühlten sie sich am wohlsten. Sie hatten es aufgegeben über die Ungerechtigkeiten des Lebens zu reden oder sich überhaupt noch darüber aufzuregen. Sie hatten es aufgegeben zu denken und tiefere Gefühle zu entwickeln und saßen stumm vor ihrem Bier. Das war gut für den Wirt und gut für sie.

Bei meiner Fahrt durch die Straßen sah ich auch mit Bedauern, dass die wenigen, kleinen Läden, die vor einigen Wochen erst eröffnet wurden, schon wieder geschlossen waren. Große, schnelle Veränderungen waren hier nicht üblich und nicht erwünscht. Zumindest bei den Alten nicht. Sie hatten Angst davor. Es ist, in der Hinsicht, einfach zu viel passiert.

Jede Kneipe hatte ihre eigenen Kneipenfliegen. Jede Kneipenfliege ihren eigenen Stammplatz, der auch wacker verteidigt wird. Darum geht man ja schon so früh dort hin. Was den Hindus ihre Kaste, ist den Kneipenfliegen ihre Kneipe.

Ich machte mir nie was aus Kneipen. Obwohl ich den Wirten ihr bisschen Geld gönnte, war das einfach nur nicht meine Welt. Vielleicht lag das an der einzigen Biersorte, die man hier ausschenken durfte, weil man einen Vertrag mit der Brauerei hatte, von der man das Bier günstig und exklusiv kaufen sollte. Meine favorisierte Biersorte gab es dort auch, aber es schmeckte fad, weil es zu wenig Durchlauf hatte, und niemand sonst diese Biersorte trinken wollte. Ich bestellte es trotzdem immer, aber dann gleich aus Halbliter-Gläsern, und dann auch nur mit dem Hinweis, es bitte in drei anstatt in sieben Minuten zu zapfen. Bier, das sieben Minuten gezapft wird, ist tot!

Nun trank ich schon fast vier Jahre nichts mehr.
Ich kam an einer der ganz alteingesessenen Kneipen vorbei, wahrscheinlich die älteste noch bestehende im Dorf. Als Anti-Alkoholiker hatte man in einer Kneipe schlechte Karten. Man kam sich etwas vor wie auf einem Trip ohne Sprachkenntnisse in Frankreich. Man wurde, wenn überhaupt, nur sehr widerwillig, schleppend und ungern bedient.

Ich sah den Günther, der immer noch lebte, in dieser alten Kneipe. Die Tür dort stand offen und er war nicht zu übersehen. Seine Schwester war hier legendär bei den Alten im Dorf. Man nannte sie Catchers Ellie, weil sie groß und stark war, wie ein Kerl, und auch so boxen konnte. Ich denke mal, dass mein Vater mit zu den wenigen gehörte, der mit ihr befreundet war, und keine auf das Maul von ihr bekam. Ich ging rein zu Günther
und bestellte ein Malzbier, fügte der Bestellung vorsichtshalber das Wort „erstmal“ hinzu. Der Wirt dort traute mir nicht recht, zapfte es aber. Ich trank, sprach kurz mit Günther und ging danach wieder. Ich gab dem Wirt gerne einen Euro Trinkgeld mehr. Vielleicht war mir ja mal wieder nach einem schönen, kalten Malzbier.

Einige Wochen später fuhr ich wieder mit dem Motorrad dort vorbei. Die alteingesessene Kneipe war zu. Der Wirt war gestorben. Es stand eine kurze Notiz in der lokalen Zeitung. Die Söhne hatten kein Interesse am Fortführen der Kneipe. Es fand sich aber schnell ein neuer Wirt. Nur zwei Wochen später berichtete die lokale Zeitung von der „großen Wiedereröffnung des Traditionslokals".

Ich ging zur Neueröffnung nicht hin, da ich dort „das Dorf“ nicht treffen wollte. Es waren sehr viele Leute recht früh dort, weil es Freibier in begrenzten Mengen geben sollte. Leute, die von den alteingesessenen Kneipenfliegen als störend empfunden worden, weil sie eben einer anderen Kaste angehörten. Die Fremden wollten einfach mal so schauen, was es dort gab. Revierdiebstahl betreiben.

Ich ging einige Tage später hin und sah, dass die Kneipe fast leer war. Ein bis zwei Kneipenfliegen-Anwärter saßen dort auf den Stühlen, wo sonst die alteingesessenen Kneipenfliegen saßen. Ansonsten war alles leer. Der Wirt sah betrübt aus, wusste wohl nicht, was er falsch gemacht hat. Er hatte sich wirklich bemüht, damit seine erste eigene Kneipe ein voller Erfolg wird. Er wollte doch so gerne frischen Wind in dieses Dorf bringen und Jung und Alt verbinden.

Ich hatte Mitleid mit ihm. Ich kannte mich mit verkrachten und gescheiterten Existenzen bestens aus. War selbst ein glühendes Beispiel dafür! Ich ging fast täglich hin und trank mein schönes, kaltes Malzbier. Ein Großes. Ich sah mir an, was der Wirt alles anstellte, um wieder neue Kundschaft zu gewinnen. Er wollte anfangs auch die alte Kundschaft wiedergewinnen, einige Tage später verfluchte er die alte Kundschaft, die ihm angeblich das Geschäft kaputt gemacht hat. Er wurde leicht paranoid darüber.

Er kaufte neue, kleine Käsehappen am Stiel, kaufte neue Packungen Erdnüsse und warf die alten Packungen weg. Keiner kam. Dann stellte er ein Dartgerät auf. Keiner kam. Er dekorierte die Kneipe zuerst von außen neu. Neue Neonwerbung, ein Aufsteller mit den neuesten „Häppchen des Tages“, wechselte die alte, vergilbte Preisliste im Schaukasten draußen aus. Keiner kam. Dann gab es Cocktails und Happy-Hour Angebote. Zwei junge Paare kamen, bei denen er sich sicher war, dass sie nicht einmal in die Kneipe durften. Er bediente sie trotzdem. Die Jugend brauchte schließlich auch Spaß und Unterhaltung.

Er veranstaltete kleinere Tanzabende mit „Freibier in begrenzten Mengen“, gab sein letztes Geld für diese Investition und die Anzeige in der lokalen Zeitung aus. Das Lokal war an dem Abend gut gefüllt. Ich sah es mir von außen an. Er hatte wieder Hoffnung und plante schon die alte, defekte Kegelbahn wieder in Betrieb setzen zu lassen. Doch einige Tage später ereilte ihn das gleiche Schicksal wieder. Keiner kam mehr.

Er hatte noch die alten, hölzernen Tresenhocker gegen neue, moderne aus Metall ausgetauscht. Damit hatte er dann sogar die Kneipenfliegen-Anwärter vertrieben.

Er stand einige Tage mit den Händen in die Hüfte gestemmt, vor seinem Lokal und hielt demonstrativ Ausschau. Ich sah seinen Untergang kommen. Es gibt nichts, was mehr das eigene Geschäft schädigt, als vor dem eigenen Unternehmen, welcher Art auch immer, zu stehen. Ein Armutszeugnis. Nur die professionellen Nutten dürfen das!

Ich ging noch einmal hin und redete mit ihm, im Vertrauen. Ich gab ihm Tipps. Er war so verbittert und so voller Zukunftsangst, dass er meine Worte wie einen Schwamm aufsaugte. Aber ich hätte es auch einem Taubstummen besser erklären können. Es half nichts. Ich trank mein letztes Malzbier aus, legte ihm einen Fünfer hin, und ging.

Wenige Tage später war das Lokal geschlossen. Der Wirt hatte alles versucht, was er nur konnte, in gerade mal zwei Monaten.

Es ist heute noch geschlossen. Die Söhne des früheren Besitzers haben den Eingang irgendwann zugemauert, die Fassade bei gestrichen und an den Stellen, wo früher der Eingang und das große Fenster waren, schöne Blumenkästen mit leuchtend roten Geranien montiert. Ein schönes Mahnmal!

Unser Dorf war wieder etwas mehr ausgestorben. Nach einem kurzen Aufbäumen, bekam es seinen endgültigen Todesstoß, und die Natur holte sich die Gegend um die Kneipe herum Stück für Stück zurück.
Diese kurze wahre Geschichte über die kleine Kneipe ist aber nicht nur geschrieben worden, wegen der kleinen Kneipe. Sie enthält, wie fast jede meiner Geschichten, einen tieferen Sinn, eine Art Metapher.

Sie soll uns zeigen, dass auch eine Kneipe eine Art Wirtschaftsunternehmen ist, welches der Gesetzmäßigkeit und Empfindlichkeit des wirtschaftlichen Handeln und Planens unterliegt. Die Wirtschaft ist ein empfindliches Gebilde. Nimmt man zu schnell und in einem zu großen Maße Veränderungen auf der einen Seite vor, kommt es zu einer verheerenden Reaktion und einem Ungleichgewicht auf der anderen Seite der Waagschale.

Wer als Unternehmer oder selbst als freischaffender Künstler wirklich dauerhaft etwas bewirken will, braucht Zeit und Verständnis für die kleinen Macken der Gesellschaft. Der Mensch ist ein Gewohnheitstier und, das gerne. Er will Beständigkeit, will sehen, ob jemand am Markt bleibt, oder, wie all die vielen Versprecher davor schon, nach dem ersten, großen Trubel wieder in der Versenkung verschwindet.

Der Mensch braucht Sicherheit, um vertrauen zu können. Er will sehen, dass der Neue da am Markt sich selbst und seinen Idealen treu sein kann. Nur dann kann auch der Mensch dem Neuen vertrauen. Wenn ihr euer eigenes Ding macht, stellt euch auf einen langen Kampf ein. Auf einige karge Jahre. Mit dem Mainstream kann jeder für kurze Zeit schwimmen. Jeder kann kurzzeitig einen Erfolg verbuchen und, wenn man denn dieses als einzige Triebfeder sieht, schnelles Geld verdienen.

Wer sich aber wirklich und beständig selbst verwirklichen will. Wer sich dauerhaft im Markt des Lebens und auch der Kunst etablieren will, muss Beständigkeit beweisen, muss sich selbst und seinem Vorhaben treu bleiben und sein eigenes Ding machen. Es hilft nichts das Ding der Leute machen zu wollen, nur, um zu gefallen. Das geht nur kurze Zeit gut und bringt nur kurzzeitig auch Erfolg. Man muss Beständigkeit leben und die eigenen Ziele verfolgen. Auch, wenn es einige arme und karge Jahre und wenig „Lohn“ bedeutet.

Nur diesem Menschen folgt man dauerhaft, der diese ewigen Gesetze befolgt. Nur diesem Menschen vertraut man, weil dieser Mensch sich selbst und dem, was er macht auch selbst vertraut und damit innere Stärke, Durchsetzungskraft, Sicherheit, Eigenständigkeit beweist und letztendlich eine eigene Persönlichkeit entwickelt und ausstrahlt.

Macht euer eigenes Ding und bleibt dabei!

Impressum

Texte: Ralf Dellhofen
Bildmaterialien: Ralf Dellhofen
Tag der Veröffentlichung: 26.08.2017

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