Bis vor kurzem wohnte ich mit meinen Eltern in Frankfurt. In einer kleinen Wohnung direkt am Zoo. Wenn ich in meinem Zimmer auf dem Bett lag, konnte ich die Schreie der Affen und die Rufe der Vögel hören. Dann träumte ich davon, einmal im Zoo zu arbeiten. Als Tierpflegerin oder als Zoodirektorin. Als Tierpflegerin würde ich Gorillababys oder kleine Bären mit der Flasche aufziehen. Vielleicht würde ich aber auch nur die Gehege schrubben und die Kacke von Zebras und Kamelen wegräumen. Als Zoodirektorin musste man das natürlich nicht machen. Auf jeden Fall hätte ich keinen weiten Weg zur Arbeit. Ich konnte mir keinen besseren Ort zum Leben vorstellen.
Eines Abends saßen wir beim Essen und Mama guckte mich ganz komisch an.
„Merle, Schatz, ich habe doch letztes Jahr das Haus von Onkel Ewald geerbt, den Hinkelhof. Leider will ihn niemand kaufen, und jetzt überlegen wir, einfach selber einzuziehen.“
Mir fiel fast das Essen aus dem Gesicht.
„Ich zieh doch nicht in so ein Kuhdorf!“
„Du kennst Kleinkrähwinkel doch kaum“, sagte Papa. „Es ist wirklich nett dort, und zu dem Hof gehören auch noch drei Hühner. Im Moment sind sie woanders einquartiert.“
„Du könntest dich als Tierpflegerin üben“, fügte Mama hinzu.
Natürlich erinnerte ich mich an Kleinkrähwinkel. Ein Kaff am Arsch der Welt.
„Meint ihr, drei Hühner können mich von Frankfurt weglocken? Vergesst es!“ Ich wollte weiteressen. Aber mein Hals war auf einmal so eng, dass ich kaum schlucken konnte. Ich schob den Teller weg.
Papa sah mich an.
„Um ehrlich zu sein, haben wir keine andere Wahl. Die Miete hier in Frankfurt ist viel zu hoch. Mein letztes Buch hat sich gar nicht gut verkauft."
„Und ich will mir eine richtig große Werkstatt einrichten“, sagte Mama. „Dann kann ich Kurse geben, 'Keramik-Workshops auf dem Hinkelhof'. Das hört sich doch gut an!“
Für mich hörte sich das überhaupt nicht gut an. Wir zogen aus Frankfurt weg und keiner hatte mich gefragt. Und das nur, weil Mama und Papa keine normalen Berufe hatten. Konnten sie nicht wie andere Leute morgens in irgendein Bürohochhaus gehen und Geld verdienen? Stattdessen schrieb Papa Ratgeberbücher über alles Mögliche und Mama töpferte krumme, pickelige Vasen, die man in keinem anständigen Laden kaufen konnte.
Drei Tage lang sprach ich sehr wenig. Noch weniger als sonst. Das fiel meinen Eltern allerdings nicht auf. Sie dachten nur noch an den Umzug.
Von da an war ich viel allein. Mama und Papa renovierten mit ein paar Handwerkern das Haus in Kleinkrähwinkel. Jedes Mal, wenn sie dorthin fuhren, nahmen sie in unserem alten Transporter ein paar Möbel mit, jedes Mal ein Stück von meinem Zuhause.
Einmal fuhr ich mit zum Hinkelhof und schaute ihn mir genauer an. Vor den morschen Holzfenstern des Wohnhauses hingen die Rollläden schief herunter. Überall blätterte der Putz ab. Vom Dach der Scheune waren Ziegel auf die verbogenen Regenrinnen gerutscht.
„Onkel Ewald konnte sich eben nicht mehr um alles kümmern“, sagte Papa.
Ich fand das ganze Haus abbruchreif. Das Einzige, was ich mochte, war die große Wiese mit den alten Obstbäumen, auf der es stand. In den Hecken um das Grundstück nisteten bestimmt immer viele Vögel. Ich mag Vögel gern. Man kann überall welche sehen, auch in der Stadt. Im Frühling nehme ich ihre Stimmen mit dem Handy auf. Ich habe schon eine richtige Sammlung.
Hinter Onkel Ewalds Haus entdeckte ich den Hühnerstall mit dem großen umzäunten Auslauf. Die drei Hühner waren noch nicht wieder eingezogen. Und das sollte nun der Ersatz für den Frankfurter Zoo sein.
Später half ich Mama. Wir lösten im Erdgeschoss alte Tapeten von den Wänden. Papa werkelte im Obergeschoss herum.
„Sibylle, Merle!“, rief er plötzlich. „Unter dem Bodenbelag im Kinderzimmer liegen
Verlag: BookRix GmbH & Co. KG
Tag der Veröffentlichung: 21.06.2017
ISBN: 978-3-7438-1917-7
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